Nichts als Reichtum von abgemeldet (~*~) ================================================================================ Kapitel 3: ~Fremde Welten~ -------------------------- ~*Kapitel 3 – Fremde Welten*~ Ungewöhnlich früh lasse ich die prunkvolle, aus Glas bestehende Eingangstür des Firmengebäudes hinter mir. Ich betrete das große Foyer und sogleich zieht mir eine angenehme Wärme entgegen. Meine Hände verlassen die tiefen Taschen des wärmenden Mantels, ich ziehe die Handschuhe aus, in schnellen Schritten direkten Kurs auf den Fahrstuhl nehmend. Die Halle ist nicht sonderlich viel begangen, nur hie und da herrscht geschäftige Hektik. Meine Angestellten eilen von einem Gang zum nächsten. Sie balancieren schwere Aktenstapel und als sie mich sehen, laufen sie noch schneller. Sie alle fürchten mich, sie alle fürchten eine fristlose Kündigung, zu der es schnell kommen kann, sollte ich Grund zur Annahme haben, in meiner Firma wird Däumchen gedreht. Viele Menschen verloren bis zum heutigen Tag durch meine grenzenlose Unzufriedenheit ihre Stelle. Ich verlange nicht viel, vertrete auch nicht die Meinung, sie zu überschätzen. Zu dem, was ich schaffen kann, müssen auch sie imstande sein. Andernfalls verdienen sie es nicht, einen Teil zu der Weiterentwicklung dieses Weltkonzerns beizutragen. Meine Firma ist perfekt und für mich stellt sogar ein falsch gebundener Schlips einen Schandfleck auf den weißen Flügeln meines Erfolges dar. Ich besitze dennoch die Kontrolle, ohne viel dafür tun zu müssen, sie wird mir auf einem goldenen Tablett gereicht und ich bin erbarmungslos, sollte mir etwas missfallen. Ich bin ein Chef, vor dem jeder große Furcht und unbeschreiblichen Respekt hegt. Nichts entgeht mir, das Wort "Mitleid" ist mir gänzlich unbekannt. So muss man sein, andere Menschen, die augenscheinlich zu leichtgläubig und anfällig für Mitleid und Gnade sind, sind nicht dazu imstande, eine Firma zu der Nummer Eins der goldenen Liste aufsteigen zu lassen. Dessen bin ich mir sicher, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. "Herr Kaiba, Verzeihung." Höflich und zurückhaltend meldet sich der ältere Mann zu Wort, der seinen Platz hinter dem Empfang gefunden hat. Er richtete sich flink auf, rückt an seiner Brille und ringt sich zu einem leisen Räuspern durch. Ich verlangsame meine Schritte, mache kehrt und gehe auf ihn zu. Wortlos reicht er mir einen säuberlichen Zettel und ich nehme ihn an, mustere ihn mit flüchtigem Blick und führe meinen Weg fort, ohne dem Mann die geringste Beachtung zu schenken. Er nimmt wieder auf seinem Stuhl Platz und setzt seine Arbeit am Computer fort. In säuberlicher Schrift ist ein Anruf notiert, der vor kurzem hier eingegangen ist. Mein Termin am heutigen Tag verlangt nach einem frühzeitigen Telefonat. Vor einem der Fahrstühle bleibe ich stehen, lasse die Handschuhe in meiner Manteltasche verschwinden und warte. Die Kabine trifft ungewöhnlich schnell im Erdgeschoss ein. Es scheint, als wüsste sie genau, wer sie zu benutzen wünscht. Die Türen öffnen sich lautlos, ich trete ein und wende mich um. Beiläufig tasten meine Fingerkuppen nach dem Schalter mit der Aufschrift „43“, die Türen schließen sich und die Kabine beginnt sich zu bewegen, ohne dass man es spürt. Ich schicke dem Zettel einen erneuten Blick, lasse ihn dann sinken und bearbeite meine Unterlippe mit den Zähnen. Mir verlangt es danach, mich in sinnlose Arbeit zu stürzen, die als einzige dazu fähig ist, andere Gedanken aus meinem Kopf zu entfernen, sie regelrecht abzutöten. Später dann, werde ich die Niedergeschlagenheit, die ich nur mit einer leblosen und finsteren Miene auszudrücken vermag, mit offenen Armen empfangen. Nun werde ich mich von ihr losreißen, sie bekämpfen, auf dass sie mich heute Abend mit verstärkter Kraft heimsucht, mich tiefer und tiefer in die Verzweiflung hineindrängt, als würde auch sie mich hassen und es genießen, mich zu verspotten. Als die Kabine am Ziel innehält und sich sogleich die Türen öffnen, blicke ich auf, kehre in die Realität zurück und werde mir darüber bewusst, von neuem abgedriftet zu sein. Ich verfange mich in Wunschvorstellungen. Sie halten an, bis ich wieder zu mir komme und die wahre Welt erblicke, durch die ich wie in einem Alptraum wandle… die mich nicht loslassen will, obgleich wir beide für den anderen von keinem Nutzen sind. Ja, Alpträume… Ich erliege ihnen tagtäglich. Jedes Gesicht, jedes Wort lässt einen düstren Nebel in mir aufsteigen, der mir das Gefühl verleiht, kein Teil von dem Ganzen zu sein. Richtig, ich bin ausgegrenzt von allem, ganz gleich wo ich mich befinde. Ich verlasse die Kabine, betrete einen breiten, hell erleuchteten Flur. Hier wirkt alles ebenso trostlos. Weiß bedeckt die Wände, nur das schimmernde Laminat lässt ihn edel wirken, weniger die Lampen. Sie sind teuer, jedoch uninteressant. Auf meinem Weg ziehe ich an vielen Türen vorbei. Hinter ihnen befinden sich lediglich Archive, Bibliotheken und Lagerräume. Die oberste Etage gehört mir allein, sie symbolisiert meinen Platz an der Spitze. Hier hat es keine Büros zu geben, unter mir wird gearbeitet. Gleichermaßen möchte ich Gedränge und Hektik in meinem Umfeld vermeiden. Nur wenige Angestellte betreten den 43. Stock, um Besorgungen von Material vorzunehmen. Ich biege nach links, kann bereits die Glastür meines Büros erkennen, was mich nicht mit Freude erfüllt. Als ich mich dem Raum nähere, gestehe ich mir ein weiteres Mal ein, dass ich mehr zu tun hätte, hätte ich mich nicht hier oben verkrochen. Es ist zu spät, um eine Änderung vorzunehmen, außerdem gefällt mir diese Abgeschiedenheit. Sie ist gleichsam eine Versicherung, dass man mich nur mit dem Nötigsten belästigt. Und genau das stellt mein Problem dar. Ich drücke die Klinke hinab, öffne die Tür und betrete mein Reich, mein Gefängnis. Ist diese frühere Planung als Fehler anzusehen? Würde es mir besser gehen, wenn ich mir den Zentralpunkt für mein Büro gewählt hätte? Im zwanzigsten Stock. Wäre ich ausgeglichener, wenn ich meinen Angestellten die Erlaubnis erteilt hätte, mit jeder Unklarheit zu mir kommen zu dürfen? Ich kann diese Fragen nicht beantworten, unbefriedigt spuken sie in meinem Kopf umher. Mein Büro ist wesentlich größer, als die durchschnittlichen Arbeitsräume dieses Gebäudes, jedoch gleichermaßen auch lebloser und abschreckender als sie. Im Gegensatz zu dem kahlen Schreibtisch, auf dem der Computer, zwei Laptops und einige Telefone stehen, wirken die weißen leeren Wände erfrischend und belebend. Das Laminat verliert in dieser Konstellation ebenfalls seinen Reiz. In den wenigen Regalen sind lediglich Akten zu sehen, Dateikarten und andere Dinge, die für mich wichtig sind, jedoch selten benutzt werden. Es gibt hier nichts, das ein privates Leben beweist. Ich habe ein Bild von Mokuba, ja, doch dieses verbirgt sich in der untersten Schublade meines Schreibtisches, obgleich ich es mir oft betrachte. Ich hasse diesen Raum - er stellt mein Leben dar und diesem kann ich nicht entfliehen. Ich hasse mein Leben. Sobald ich den Raum betreten habe, werde ich ruhiger und verliere einen großen Teil meiner Eile. Vor anderen Menschen bin ich stets unbewusst darauf aus, beschäftigt zu wirken. Doch hier, wo mich keine Menschenseele stört, brauche ich mich nicht zu verstellen. Ich schlüpfe aus dem Mantel, werfe ihn über die Lehne des Stuhles, der hinter dem Schreibtisch steht und lasse mich anschließend auf ihm nieder. Er ist gemütlich. Zuerst lehne ich mich zurück, dreh mich samt Stuhl zu der großen Fensterfront um und blicke hinaus, blicke über Domino. Ich könnte diese Stadt verlassen, weggehen, an einen Ort, an dem mich niemand findet. Ich könnte von neuem beginnen, mich gegebenermaßen vielleicht auch einem anderen Fach zuwenden. Einem Fach, das ich nicht mit größter Perfektion beherrsche. Doch welche Möglichkeiten hätte ich? Ich weiß es und sie gefallen mir nicht. Sie alle würden mich nicht weiterbringen. Schule abschließen und studieren? Was studieren? Dinge, die mehr oder weniger wichtig sind, lernte ich bereits. Der Rest der Welt interessiert mich nicht. Und diese, mir fremden Richtungen einzuschlagen, stellen meine einzigen Möglichkeiten dar. Hoffnungslose jedoch... es ist sinnlos. Nichts und niemand zerreißt das Netz, in dem ich erbarmungslos hänge. Ich hebe die Hand, neige mich zur Seite und stütze den Ellbogen auf die gepolsterte Armlehne des Stuhles. Ich reibe mir den Mund, blinzle unbewusst und schließe kurz die Augen. Mich für andere Berufe bewerben... Jeder würde mich einstellen, ohne dass ich viel dazu beitragen müsste. Ich würde alles erreichen, mit dem Bekanntheitsgrad und dem hohen Rang, den ich mir erarbeitet habe und seit langem besitze. Doch es ist unter meiner Würde, mich zu bewerben. Hier erreiche ich alles mit einem lässigen Fingerschnippen, hinzukommend lässt mein Interesse zu Wünschen übrig. In nehme ein leises Geräusch wahr, lasse die Hand sinken und blicke auf. Die Tür meines Büros öffnet sich, ein Junge tritt ein, mich mit einem strahlenden und unbesorgten Lächeln begrüßend. Und sobald ich ihn erblicke, setze ich eine schmerzhafte Maske auf. Ich hasse sie, und doch besteht eine unbeschreibliche Angewiesenheit zu ihr. Ich spüre, wie sich meine Miene erhellt, wie beinahe schon krampfhaft und zuckend ein sanftes Lächeln an meinem Mundwinkel zerrt. Es kämpft gegen die Verbitterung an, worauf diese nur um ein Stück zurückweicht um mir diesen kurzen Augenblick zu gönnen. "Mokuba?" Ich richte mich langsam auf, bin ehrlich gesagt überrascht von seinem unerwarteten Erscheinen. Mein Bruder löst die Hand von der Klinke und sie verbirgt sich wie die andere auch, hinter seinem Rücken, als er auf mich zukommt. Er ist bei ausgesprochen guter Laune, was keine Seltenheit seines Wesens darstellt. Er ist immer glücklich und eine alles überschwemmende Freude durchflutet sein junges zierliches Gesicht, wenn ich ihm mit einem Lächeln begegne. Er schenkt dieser Geste Glauben und ich danke seiner unschuldigen Naivität. "Du fragst dich sicher, weshalb ich nicht mehr in der Schule bin." Vor meinem Schreibtisch bleibt er stehen, legt verspielt den Kopf schief und zwinkert. "Ich hatte gaaanz viel Ausfall und bin in die Firma gekommen, weil ich etwas für dich habe." Daraufhin kichert er voller Vorfreude, kneift die Augen zu und zeigt mir seine Zähnchen. Ich starre ihn an. Zugegeben, ich bin verwirrt. "Willst du wissen, was es ist?", fragt er mich verspielt, bevor auch nur ein einziges Wort über meine Lippen kommt. Dann dreht er sich zur Seite, wandert an dem Schreibtisch vorbei und kommt direkt vor mir zum Stehen. Noch immer hält er beide Hände auf dem Rücken versteckt. Und er beginnt zu erzählen, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. "Alsooo", er rollt mit den Augen, während ich vor ihm sitze und sein Verhalten ein weiteres Mal mit purer Irritierung studiere, "ich habe lange darüber nachgedacht, denn du magst ja keine Geschenke. Aber trotzdem möchte ich dir eines machen." Ich lehne mich langsam zurück, das Leder knackt unter diesen Bewegungen. Richtig, Geschenke sind sinnlos, ich verachte sie und er weiß es genau, weshalb er sich mit seiner Großzügigkeit mir gegenüber auch zurückhält. Und nun? Ich kann es nicht verhindern, das Misstrauen ergreift mich. "Es mangelt an deinen schulischen Leistungen", spreche ich meine logische Schlussfolgerung aus und Mokuba erschrickt. Er weitet die Augen, schüttelt kurz darauf jedoch in einer hektischen Verneinung den Kopf. "Das ist nicht wahr!" Das Temperament ist aus seiner jungen Stimme deutlich herauszuhören. Nur selten hat er unter schlechten Leistungen zu leiden und solche Vorwürfe fasst er mit bitterer Empörung auf. "Eine andere Begründung sehe ich nicht", erwidere ich erbittert in dem Versuch, entspannt zu wirken. "Ich liebe dich, Seto!" Er bläht die Wangen auf, seine Augen beginnen zu funkeln und kurz darauf wird sein Gesicht rot. "Ist das vielleicht ein Grund für ein Geschenk?" Ich wende mich ab, flüchte vor dem Blick eines Kindes. Solche Missverständnisse liegen an der Tagesordnung. Er ist ein zu gutherziges Wesen, als das ich ihn verstehen könnte und eine leise Beschämung bricht in mir aus. Mokuba ist als einziges dazu imstande, eine solche Reaktion in mir wachzurufen. "Ich habe mir Mühe gegeben und lange nachgedacht." Er beginnt sich zu bewegen. Er zieht die Hände hervor und ich starre noch immer auf den Boden. "Hier." Er reicht mir entschlossen einen Flyer und endlich blicke ich auf. Ich betrachte ihn mir nur flüchtig, greife nach ihm und schenke ihm meine vollendete Aufmerksamkeit. Und während ich schweigend lese, spüre ich regelrecht den erwartenden Blick meines kleinen Bruders auf mir. Ich muss mich nur kurz in den Flyer vertiefen, um zu verstehen, worum es sich handelt. Alles dreht sich um die nobelste Kureinrichtung weltweit. Das Gebäude ist sehr groß und besteht vollends aus Marmor; an ihm sind keinerlei Mängel auszumachen. Es befindet sich auf einer der kleinen Inseln, die zu den Philippinen gehören. Um es zusammenzufassen: Ein Treffpunkt des reichen Standes, der nach Verwöhnung und Erholung giert. Menschen des normalen Standes werden sich auch nur drei Tage Aufenthalt nimmer leisten können. Gleichermaßen wären sie nicht dazu imstande, den Wert eines solchen Geschenkes zu begreifen. Es läge außerhalb ihres Vorstellungsvermögens, und ich, dem diese Möglichkeit nun offen steht, wirke nicht sonderlich begeistert und bin es auch nicht. Es stellt keine Außergewöhnlichkeit für mich dar, hinzukommend sehne ich mich nicht nach Verwöhnung und Erholung. Den puren Luxus, der dort überall zu finden ist, empfinde ich nicht als Besonderheit und der Gedanke, zwei Wochen keinen Finger krumm machen zu müssen, erfüllt mich mit bloßem Entsetzen. Ich runzle die Stirn, scheue mich nicht, meine Meinung über all das zum Ausdruck zu bringen. Dann blicke ich auf. Mokubas Augen sind trotzig auf mich gerichtet und er erhebt die Stimme, bevor ich auch nur daran denke. "Es ist die letzte Schulwoche", sagt er, und er ist sicher in seinem Entschluss. "Dann haben wir zwei Wochen Ferien." "Daran liegt es nicht." Ich werfe den Flyer auf meinen Schreibtisch und atme tief durch. Ich habe noch keinen Gedanken an diese Möglichkeit verschwendet. Alles in mir sträubt sich dagegen, aus welchem Grund auch immer. "Dir ist bekannt, wie ich zu solchen Dingen stehe. Wenn du dir allerdings eine Kur wünscht, dann erteile ich dir meine Erlaubnis." "Ich?" Er hebt die Augenbrauen, wirkt überrascht. "Ich möchte dort überhaupt nicht hin! Du brauchst Entspannung!" "Ich brauche keine Entspannung", widerspreche ich, ohne das Gesagte auf mich einwirken zu lassen. Mokuba verschränkt die Arme auf dem Bauch; auf eine Diskussion dieser Art will er sich nicht einlassen, denn stets ist er es, der mir meinen Glauben lassen muss. "Weißt du, was ich machen musste, um dir dort einen Platz zu sichern?", sagt er stattdessen. "Stets ist es ausgebucht, denn für die zwei Kurwochen werden jeweils nur zwanzig Teilnehmer zugelassen. Dort herrschen sehr strenge Regeln und ich habe es trotzdem geschafft." "Du meldest mich an, ohne dass ich meine Zustimmung gab?" Ich zeige mich unbeeindruckt, beinahe schon gelangweilt und desinteressiert. "Denkst du, dadurch würde ich meine Meinung ändern?" "Seto." Er erwidert meinen Blick unbeeindruckt und beginnt wie ein Erwachsener zu sprechen, was in vielerlei Situationen vorkommt. "Ich richte mich nicht oft mit Bitten an dich. Und wenn ich es mache, dann sind es Bitten nur zu deinem Besten. Und immer lehnst du ab! Kannst du mir nicht wenigstens einmal einen Gefallen tun? Kannst du dich nicht ein einziges Mal zusammenreißen und nur an dich denken? Denk nicht an die Arbeit, denk nicht an die Schule. Erhol dich und kehre gestärkt nach Domino zurück." Über die Worte des Jungen, die mit aller Ernsthaftigkeit ausgesprochen wurden, bin ich gezwungen, zu schmunzeln. Nur an mich denken, zieht mir ein Gedanke sarkastisch lachend durch den Kopf. Jeden Tag denke ich nur am mich, bade in meinem Egoismus und verfluche meine Mitmenschen. Ich sinniere auch wenig über die Schule und meine Arbeit, obgleich mein Leben lediglich aus diesen zwei Faktoren besteht. Es erscheint mir sinnlos, dies zu tun. Schule und Arbeit schließen sich zusammen und bilden mein Leben. Und mein Leben ist sinnlos, meiner Gedanken nicht mehr würdig. Selbst Erholung ist nicht dazu befähigt, etwas daran zu ändern. Entspannung - eines der wenigen Dinge, die ich nicht beherrsche. Während meine Augen gedankenverloren auf einem nicht existenten Punkt verweilen, muss ich strikt darauf achten, meine Gesichtszüge vor der brutalen Kälte zu schützen. Keine Sekunde lang darf meine Maske an Kraft verlieren. Ich bin auf sie angewiesen und halte aus genau diesem Grunde stand. "Wie auch immer", reißt mich Mokubas heitere Stimme aus meiner Abwesenheit. Ein verunsichertes Lächeln huscht über mein Gesicht, ich weiß mit der geheuchelten Freude nicht umzugehen. Meinem kleinen Bruder gelingt dieses Lächeln besser als mir. Er kratzt sich am Kopf und lacht leise. "Du kannst ja darüber nachdenken. Ich gehe jetzt jedenfalls in die Cafeteria und hole mir mein Mittagessen. Nachher komme ich dich noch einmal besuchen, klar Seto?" Beinahe automatisch und reflexartig wirkt das Nicken, mit dem ich ihm antworte. Er kehrt in schlendernden Schritten und feixenden Bewegungen zur Tür zurück, öffnet sie und dreht sich noch einmal zu mir um, bevor er das Büro verlässt. "Aber denk auch wirklich darüber nach", bittet er eindringlich und wieder nicke ich ohne zu zögern. Diese schlichte Geste scheint ihm zu genügen. Ich sehe ihm nach, wie er die Tür schließt und in eiligen Schritten auf den nächsten Querflur zusteuert, hinter dessen Ecke er letztendlich verschwindet. Und sobald dies geschehen ist, gerät der Flyer in Vergessenheit und ich wende mich erneut dem Fenster zu, um hinauszuschauen. Was habe ich heute zu tun? Ich werde einige Anrufe tätigen, anschließend fahre ich in mein Labor. Das beschließe ich mit unüberlegter Spontanität. Die Hoffnung erwacht in mir zum Leben, dort etwas zu finden, womit ich mir die Zeit vertreiben kann. Von dieser Zeit habe ich zuviel. Ich sollte einige Angestellte entlassen, denke ich mir, während ich mich wieder meinem Schreibtisch zuwende und nach dem Kärtchen greife, dann bliebe mir mehr Arbeit. Meine andere Hand schiebt unbewusst den Flyer bei Seite, denn er ist im Weg. Anschließend ziehe ich eines der Telefone zu mir. Jener Termin wird abgesagt und es kommt mir gelegen. Die restlichen Anrufe bringe ich schnell hinter mich und nachdem ich das letzte Mal aufgelegt habe, erhebe ich mich. Ich möchte nicht trödeln, obgleich ich die Zeit in rauen Mengen besitze. Ich werde mich nicht setzen, um zu essen, ich werde keine Pause einlegen, denn diese Eile entspricht meiner Gewohnheit. Ich ziehe mir den Mantel über, ergreife meine Tasche und bin bereits dabei, mein Büro zu verlassen, als ich inne halte. Ich drehe mich um, unweigerlich fällt mein Blick auf den Flyer. Er liegt nahe der Kante des Schreibtisches, wirkt nicht wie ein Störfaktor und dennoch will ich ihn beseitigen. Ich kehre zu dem Tisch zurück, greife nach ihm und lasse ihn in den Papierkorb fallen. Der Vorschlag meines kleinen Bruders hat nie mein Interesse geweckt, ich verwarf seine Worte, sobald sie über seine Lippen kamen. Somit verlasse ich den Raum und begebe mich auf den Weg nach unten. Der Schnee knackt unter meinen Stiefeln. Ich gehe zu langsam; aus meinem Unterbewusstsein steigt die Angst empor, etwas verpassen zu können. Ich vergeude Zeit. Meine Hände verweilen angespannt in den Taschen meines Mantels, der kühle Wind zerzaust mein Haar. Ich bin nicht im Labor, nein, ich gehe durch den Park. Neben mir läuft Mokuba. Er lacht, versucht die Flocken mit den Händen zu fangen. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich reitet, ich weiß kenne den Grund meines Aufenthaltes in diesem Park nicht. Er bat mich und das mechanische Nicken zwang mich zur Einwilligung. Ich bin verwirrt, bis in meines tiefstes Ich verunsichert. Ich fühle mich hier nicht wohl. Die Umgebung glänzt und schimmert in reinem Weiß; es erscheint mir trügerisch, gleich einer Landschaft, die aus Träumen geboren wird. Es ist eintönig, der Wind pfeift in meinen Ohren. Der Winter ist widerlich. Ich schaue mich um, misstrauisch, als würde hinter jedem Baum ein Feind lauern. Mokuba kauert sich in den Schnee und formt einen Schneeball. Ich bleibe stehen. Ich fühle mich, als würde ich durch einen Traum wandeln, alles scheint unwirklich und grau. In meinen Augen nimmt der Schnee düstre Farben an. Die Flocken, die durch die Böen des Windes tanzen, formen sich zu abscheulichen Fratzen. Die kahlen Äste der Bäume krümmen sich wie Totenfinger. Ein Lachen wird durch den Wind zu mir getragen. Er lacht mich aus. Hohn und die bloße Irritation drücken mich nieder. Ich gehe nicht durch den Park, ich gehe nicht spazieren, nicht mit Mokuba. Ich sehe ihn an, er richtete sich auf und zeigt mir seine Kreation. Ich nicke anerkennend, Worte stehen mir nicht zur Verfügung. Lob kann ich nicht ausdrücken, nicht einmal Zufriedenheit, da ich sie nie verspüre. Mokuba wirft den Schneeball weg, zieht eine meiner Hände aus der Tasche und umfasst sie stürmisch. Er eilt weiter, ich lasse mich ziehen. Weshalb bin ich hier? Dies ist nicht Teil meiner Gewohnheit. Ich drehe mich um, schaue zurück. Unendlich wirkt der Weg, den ich bereits hinter mir ließ. Ich erblicke die weiße Ebene, dann versperren die Schneeflocken meine Sicht. Es gerät außer Kontrolle. Ich weigere mich, diese Einsicht anzuerkennen und doch entspricht sie unweigerlich der Realität. Dinge geschehen außerhalb meines strikten Planes. Ich wollte in das Labor, nun bin ich hier und weiß nicht damit umzugehen. Ich bin verwirrt und fühle mich abscheulich in dieser Situation. Mokuba zieht mich weiter, ohne ein genaues Ziel vor Augen zu haben. Sein Benehmen ist sinnlos, mir unerklärlich. Ich erreiche das Ende des Waldweges und wieder schweifen meine Augen über eine weite weiße Fläche. Im Winter findet man nirgends Unterschiede. Nur wenige dunkle Bäume bilden einen unauffälligen Kontrast, das Schneetreiben verliert an Kraft, der weiße Himmel an Leben. Ich blinzle, noch immer hält der kleine Junge meine Hand. Orientierend mustert er die Umgebung, ihn fasziniert deren Glanz. Dann juchzt er auf und zieht mich über den Schnee, der das Gras unter sich begrub. Ich liebe ihn - er liebt mich. Doch was, frage ich mich, ist liebenswertes an mir? Ich erschuf meine eigene Welt, eine Tür, die ich hinter mir schließe, die anderen das Eintreten verwährt. Selbst mein Bruder vermag sie nicht zu öffnen. Wir sehen uns zu selten, mein Blick ist zu gefühllos, als dass wir sich liebende Brüder darstellen könnten. Er sieht mein Lächeln… er sieht es wie jeder andere auch, doch hinter diesem Lächeln verbirgt sich ein zweites Gesicht, das er nicht imstande ist, zu erkennen. Er empfindet eine kraftvolle brüderliche Liebe gegenüber des Mannes, auf dem ein Fluch lastet. Hinter ihm steige ich einen Abhang hinab; er führt mich geradewegs zu einer eisbedeckten Fläche. Vor kurzem befand sich hier ein See. Ich folge ihm bis zu dem Ufer, er möchte mich weiterziehen, doch ich bleibe stehen, mache ihm verständlich, dass ich das Eis nicht betreten werde. Er lässt meine Hand los, ohne mich anzusehen, läuft weiter und rutscht über den glatten Boden. Dabei rudert er mit den Armen und lacht. Es sind nicht viele hier, die es ihm gleichtun. Kleine Kinder trafen sich, sie tollen, lassen ihrer Freude freien Lauf. Ich ertrage das heitere Lachen nicht, es schmerzt in meinen Ohren. Mokuba läuft weiter, der See ist nicht groß, er erreicht seine Mitte schnell und dreht sich schlitternd zu mir um. Wieder hebt er die Arme und winkt, meine Miene gewinnt nicht an Ausdruck, als er juchzend meinen Namen ruft. Ich beobachtete ihn, ohne seine Gesten wahrzunehmen. Mehr erwartet Mokuba nicht von mir, er wendet mir den Rücken zu, um weiterzulaufen, doch während er sich dreht, stößt er mit einem Anderen zusammen, der sich ebenfalls über das Eis kämpfte. Der Berührung fehlt es an Kraft und doch verlieren beide das Gleichgewicht und stürzen. Und als Mokuba auf dem Eis aufschlägt, erwache ich aus der Abwesenheit. Ein schmerzhaftes Zucken fährt durch all meine Glieder und reißt mich in die Realität zurück. Ich erschrecke, verabscheue den Gedanken, Mokuba verletzt zu sehen. Eng beieinander bleiben beide liegen und ich gehe los. Ich gehe schnell, doch meine Schritte sind zu sicher, als dass ich ausrutschen könnte. Ich gehe ohne zu wanken und als ich kurz davor bin, Mokuba zu erreichen, richtet sich dieser auf und reibt sich den Hinterkopf. Auch der andere beginnt sich zu regen, doch ich schenke ihm keine Aufmerksamkeit. Ich fixiere mich auf meinen kleinen Bruder, bin zu besorgt, als dass ich den Schuldigen rügen könnte. Während sich dieser auf den Knien aufrichtet, hocke ich mich vor Mokuba, betrachte mir kurz sein Gesicht und wische ihm den Schnee von den geröteten Wangen. Er lächelt mir zu - es geht ihm gut. Ich erhebe mich, greife nach seiner Hand und ziehe ihn vorsichtig auf die Beine. Er lacht und rückt an seinen Handschuhen, ich befreie auch seine Jacke von dem Schnee, bearbeite sie vorsichtig, stets darauf achtend, ihm nicht wehzutun. Er genießt meine Fürsorge und die Aufmerksamkeit, die ich ihm widme, tätschelt meinen Schopf, als ich mich nach vorn beuge und auch seinen Rücken abwische. Ich möchte nicht, dass er unter einer Influenza zu leiden hat. Schnell ist der Schnee entfernt und ich richte mich auf, um ihn erneut zu mustern. Während dieser Bewegung schweifen meine Augen zur Seite und ich erblicke Katsuya Jonouchi. Er kauert dort auf dem Boden, stützt sich ab und blickt zu mir auf. In seinen Augen liegt eine leise Angst. Ihm ist meine Schwachstelle bekannt. Die Liebe zu meinem kleinen Bruder, gleichermaßen die verzweifelte Angewiesenheit, die zu ihm besteht. Das wichtigste in meinem Leben ist er, der Grund zu leben... er. Er weiß um meine Wut, die durch jede Fehlhandlungen in Bezug auf Mokuba entsteht, so klein und unbedeutend sie auch sein mag. Quälen darf man nur mich, nicht ihn. Doch neben der Angst fällt mir auch eine gewisse Verwunderung auf, die in den trotzigen Augen des blonden Rebellen schimmert. Was, fragt er sich, tut Seto Kaiba an solch einem Ort? Nie zuvor sah man mich hier, nie sah man mich mit Mokuba einen Spaziergang unternehmen. Einen Spaziergang ohne Grund und Ziel. Nicht nur ihn beschäftigt diese Frage, nein, auch ich stelle sie mir, ohne die leiseste Hoffnung zu hegen, auf eine Antwort zu treffen. Wir sehen uns nur kurz an, Mokuba tastet nach meiner Hand und Jonouchi reißt sich los. Er grinst verunsichert und klopft meinem kleinen Bruder auf die Schulter. "Tut mir leid, Mokuba", entschuldigt er sich auf tiefstem Herzen ohne meiner Reaktion Beachtung zu schenken. "Ich habe dich nicht gesehen." Er hockt dort wie ein geprügelter Hund und duckt sich in reger Angst vor folgenden Strafen. Und ich stehe vor ihm und blicke auf ihn herab. Noch immer gewannen meine Augen nicht an Ausdruck. Ich betrachte ihn mir emotionslos, studiere sein Verhalten und aus meinem Unterbewusstsein steigt ein Fluch auf, den ich ihm zur Last lege. Mokuba lacht, winkt ab und zerrt vergnügt an meinem Arm. "Kein Problem, ist ja nichts passiert." Ich möchte hier nicht verweilen, ich möchte fort, denn die Anwesenheit des heiteren jungen Mannes, der unter keinen Problemen zu leiden scheint, verunsichert mich umso mehr. Bald, befürchte ich, werde ich nicht mehr dazu imstande sein, mein Verhalten zu kontrollieren. Meiner Gedanken bin ich schon seit langem nicht mehr Herr. Doch die Situation spitzt sich zu und das allein durch das Erscheinen zwei weiterer Menschen. Muto und Mazaki eilen über das Eis auf Jonouchi zu. Sie balancieren mit den Armen, bewegen sich nur langsam und erreichen uns dennoch zu schnell. Ein flüchtiger Blick von Seiten Mazakis trifft mich, dann beugt sie sich zu Jonouchi hinab und fasst ihn am Arm. "Komm schon", schnauft sie und ist ihm behilflich. Schnell kommt Jonouchi auf die Beine, kämpft kurz um Balance und schüttelt sich den Schnee aus den Haaren. Ich habe mich nicht bewegt, starre ihn noch immer an und bin mir dessen kaum bewusst. Mokuba blickt zu mir auf, Muto hebt die Augenbrauen und Jonouchi wird endlich wieder auf mich aufmerksam. Er sieht mich an und seine Miene befällt ein trotziger Ausdruck, nachdem er die meine studiert hat. "Hey, es tut mir leid", wiederholt er mit deutlichem Nachdruck. "Komm auf den Boden zurück, es war wirklich keine Absicht. Willst du mich jetzt umbringen?" Ich verstehe keines seiner Worte, zu abwesend bin ich. Das einzige, das Jonouchi erreicht, ist, mich aus der Geistlosigkeit zurückzuholen. Ich drifte zu oft ab. Ich bemerke es nicht und als ich blinzle und die Situation wahrnehme, erschrecke ich vor mir selbst. Ich entfremde mich mir. Ich wende mich wortlos ab und ziehe Mokuba mit mir. Er winkt und verabschiedet sich, während ich seine Hand halte und mir die Bewegungen betrachte, die sich im glatten Eis widerspiegeln. Auch diesen Tag durchlebte ich erfüllt von Verbitterung, geplagt von düstren Fantasien fand ich des Nachts in den Schlaf. Grausam ist dieser Tag gewesen, unerträglich. Er symbolisierte zweifellos den Beginn des Endes, falls ich dies nicht zu verhindern weiß. Ich hatte eine zurückhaltende Erleichterung verspürt, als ich mich niederlegte und die Augen schloss. Jener Tag lag nun hinter mir, andere würden folgen. Tage, die unter meiner vollkommenen Kontrolle stehen, dessen bin ich mir sicher. Nie wieder wird es geschehen, dass ich von dem Plan abweiche. Stärker muss ich werden, noch stärker. Stärker, um mich auch vor den unauffälligsten Fehlern zu schützen. Die Perfektion, die mir so wichtig ist, darf nicht leiden, sie darf nicht schwinden - dies wäre der letzte Schritt. Der letzte Schritt, den ich in die Leere setze, auf dass ich in den dunklen Abgrund stürze. Nie befand ich mich in solch einer Gefahr. Doch auch als jenes Piepen mich weckt und ich die Augen öffne, fühle ich mich nicht besser. Ich richte mich auf und schaue mich um. Die Verunsicherung, die durch den vergangenen Tag entstand, lässt mich noch immer nicht los. Ein unbeschreibliches Gefühl durchflutet mich, die Angst gleichermaßen. Die beklemmende Angst, weitere Fehler zu begehen. Vorsichtig muss ich sein, noch aufmerksamer, damit dies nicht geschieht. Ich stehe auf, achte mit strenger Genauigkeit auf meine Bewegungen. Ich folge dem Plan, setze konzentriert ein Bein vor das andere, als ich die Treppe hinabsteige, auf dem Weg in die Küche, um meine Pflicht zu tun. Die bunten Farben der Schränke und des Geschirrs, ich fixiere mich zu sehr auf die Flasche, als dass ich sie beachten könnte. Ich öffne den Kühlschrank, erblicke die Flasche und greife nach ihr. Und als ich sie in der Hand halte, den Kühlschrank schließe und mich abwende, richtet sich mein Blick auf die große Uhr, auf den dünnen Zeiger, der in gemächlicher Ruhe die Zahlen hinter sich lässt. Ich starre auf ihn, meine Hand tastet nach dem Flaschenhals und beginnt den Deckel zu drehen. Tick tack, tick tack... geht es in einem Zug. Eine Uhr, ja. Ich wende beinahe schon flüchtend den Blick ab und verfolge die Arbeit meiner Hand. Der Zeiger zieht Runde um Runde, ohne etwas anderes zu tun. Eine Endlosschleife, selbst in der kältesten Mechanik vorzufinden. Schnell setze ich die Flasche an den Mund und trinke. Alles ist so wie immer, sage ich mir, als ich die kühle Frische in meinem Hals genieße. Es ist ein Tag wie jeder andere auch. Ich lasse die Flasche sinken und als ich den Deckel hebe, werde ich mir einer grausamen Tatsache bewusst und halte sogleich in der Bewegung inne. Ein Fehler… Schon jetzt beging ich einen Fehler! Ich kann mich nicht bewegen, es scheint, als verweigerten all meine Glieder ihren Dienst. Meine Augen weiten sich vor Entsetzen und meine Hand gibt den Deckel frei, lässt ihn zu Boden fallen. Ich besuchte nicht das Bad, nachdem ich aufgestanden bin! Ich ging nicht hinein, um phlegmatisch in den Spiegel zu starren und nach einem Grund meines Aufenthaltes zu suchen. Ich habe mich nicht betrachtet, nicht unter den Augen gelitten, die mich kalt und erbarmungslos anstarren. Ich kann es nicht vergessen haben, der Besuch des Bades ist ein wichtiger Teil meiner Routine. Und wichtig ist er, weil er ein Teil des Ganzen ist - ein bedeutsamer Teil der Perfektion. Was soll ich tun? Ich lasse den Blick sinken und betrachte mir den Deckel zu meinen Füßen mit einer Miene, die bodenlose Erschütterung widerspiegelt. Drei Minuten verbringe ich tagtäglich damit, vor dem Spiegel zu stehen und nichts zu tun. In diesen Sekunden sollte ich dies tun. Hätte ich den Plan befolgt, würde ich nun im Bad stehen. Doch ich bin hier. Andere Menschen würden diesen Vorfall als eine "Unaufmerksamkeit" bezeichnen, doch für mich ist es weitaus mehr. Ich befürchte eine Änderung des gesamten Tages. Drei Minuten zu früh an der Schule, längeres Warten. Ich will den Plan nicht ändern! Ich will perfekt sein! Ich sitze auf meinem Stuhl, um mich herum herrscht reges Treiben. Ich bin in der Schule und die Fäden, mit denen ich mich und die Geschehnisse meiner Umwelt steuere, gleiten mir aus den Händen. Ich bin unruhig, bewahre mich davor, aufzublicken. Die Befürchtung, man könne die Verunsicherung in meinen Augen lesen, brennt lodernd in mir. Unsicherheit bedeutet Schwäche, doch ich bin nicht schwach! Ich bin es nicht gewesen und werde es nie sein. Ich verachte die Schwäche! Verwirrte Gedanken beherrschen mich, Kummer und Zorn gleichermaßen. Ich denke an das Bad, ich kämpfe um meine stählerne Fassung. Ich sitze nicht still, der Tisch vor mir ist leer. Ich habe nicht ausgepackt, ein Fehler, den mir die Grübeleien zu erkennen verbieten. Ich denke nach, ein Fehler den mir die Unsicherheit zu erkennen verbietet. Ich denke nie nach, wenn ich hier sitze. Ich mustere meine Umgebung, verachte meine Mitschüler mit missfälligen Blicken und genieße meine geistige Sicherheit, meine stolze Haltung, die keinen Zweifel an mir zulässt. Meine Bewegungen, ich brauchte sie nicht zu kontrollieren um sie perfekt erscheinen zu lassen. Nun schenke ich ihnen nicht einmal mehr Beachtung, ich bin abgelenkt und sie laufen fehl. Unter dem Tisch reiben sich meine Hände aneinander, mein Atem fällt schnell, ich vermag ihn nicht zu beherrschen, bin wehrlos. Ich bin nicht hier, nicht in der Schule, ich nehme mein Umfeld nicht wahr, vernehme kaum die Worte, die Jonouchi an seine Freunde richtet. Nur gedämpft und sonderlich leise dringen sie zu mir. Es scheint, als befände sich eine Mauer zwischen uns. Ein Fehler, der mir nicht hätte passieren dürfen, löst eine Kettenreaktion aus. Ich vergaß das Bad aufzusuchen, nun geht es mir noch schlechter und ich fühle mich, als wäre ich ein anderer Mensch. Nicht Seto Kaiba. In dieser Verfassung bin ich es nicht wert, mich so zu nennen. Die Verwirrung steigert sich, bis sie unerträglich wirkt und ein erschrockenes, beinahe schon schmerzhaftes Beben zieht durch meinen Körper, als ich die leise Melodie wahrnehme. Ich blicke auf, tauche nur langsam in die Realität ein und nehme flinke Bewegungen wahr. Meine Mitschüler kehren an ihre Plätze zurück und setzen sich, Gespräche werden eingestellt und die Stille tritt ein. Eine Stille, die leblos und zermürbend erscheint, sobald die Melodie verstummt. Die Lehrerin tritt vor die Tafel, faltet die Hände ineinander und nickt den Schülern begrüßend zu. Ich erkenne sie und ohne dass ich es meinem Körper befehle, richtet er sich auf. Ich lasse ihn gewähren, stütze die Ellbogen auf den Tisch und hole Atem. Und während die junge Frau die Stimme erhebt, klammere ich mich verbissen an die stählerne Härte. Ich lernte es, meine Miene den inneren Gefühlen nicht gleichkommen zu lassen. Ich muss mich konzentrieren, um zu bewerkstelligen, dass mein Gesicht zu Eis erstarrt, dass kein Muskel mehr zuckt und meine Augen die gnadenlose Kälte aufweisen. Erst dann bin ich wieder ich selbst und der Kampf, der rasant und unerbittlich in meinem Inneren tobt, lässt sich nicht im Entferntesten erahnen. Ich sitze dort, meine Augen fixieren sich auf die junge Frau, folgen jeder Bewegung, jeder Geste, die sie ausführt. Ich starre sie an und doch dringt keines ihrer Worte zu mir durch. Ihre Lippen bewegen sich lautlos, ich höre ihr nicht zu. Lange steht sie dort vorne, Handgesten schenken ihren Worten Ausdruck und des Öfteren streift ein Lächeln ihr Antlitz und sie lacht. Die Schüler wirken in ihrer Gegenwart entspannt. Sie genießen den Geschichtsunterricht, lassen die Heiterkeit der Lehrerin auf sich einwirken und sind zufrieden. Gleichermaßen beginnen sie auch leise Gespräche zu führen. Sie flüstern miteinander - die Lehrerin ist zu freundlich, als dass sie sie dafür rügen könnte. Auch Freundlichkeit macht schwach, denke ich mir, als ich den Blick abwende. Die Schüler wiegen sich in zu großer Sicherheit, die Disziplin verliert an Kraft, der Unterricht augenscheinlich an Erfolg. Wieder beginne ich mich auf dem Stuhl zu bewegen, ich schiebe mich zurück, meine Hände falten sich auf meinem Schoß ineinander und ich senke den Kopf, um sie zu betrachten. Ich nehme ein leises Brummen wahr, Jonouchi richtet sich aus der müden Haltung auf, seine Hände durchstreifen das blonde Haar, bevor sie hinabsinken und in geschäftiger Heimlichkeit unter dem Tisch verschwinden. Ich betrachte meine Finger und doch entgeht mir keine seiner Regungen. Er lehnte sich zur Seite, seine Füße verankern sich im Gestell des Stuhles, geben ihm Halt. Leise spricht er Muto an, der an der danebenliegenden Bank seinen Platz fand. Er tarnt das Wort mit einem leisen Husten, räuspert sich und duckt sich etwas. "Yugi", höre ich ihn wieder flüstern, als sich der Angesprochene nicht regt. Endlich wird Muto auf ihn aufmerksam und ich blicke auf, um das Geschehen mit scharfem Blick zu verfolgen. Schweigen soll er, der Bastard! Die wenigen Worte, die er sprach, sind störend und ich begegne ihnen mit unerfindlicher Aggression. Nicht so wie sonst. Ich bin zu angespannt, als dass sie ich sie überhören könnte. Der Junge dreht das Gesicht zur Seite, schickt Jonouchi einen fragenden Blick. Dieser ist vorerst nicht dazu imstande, zu antworten. Zu sehr konzentriert er sich in diesen Sekunden auf die Lehrerin. Diese wendet sich alsbald der Tafel zu und sogleich erhebt er die Stimme. Er spricht flüsternd und hinter vorgehaltener Hand. "Besuchen wir heute den Laden?", fragt er leise und dennoch werde ich auf die Aufregung aufmerksam, mit der er sich erkundigt. "Ich will in den Laden. Gehen wir?" Muto nickt, auch er wirkt freudig in Bezug auf dieses Vorhaben. Er wirft einen prüfenden Blick nach vorn, lehnt sich dann in Jonouchis Richtung und die beiden stecken die Köpfe zusammen. "Es wird bestimmt ein schöner Tag. Wir gehen alle gemeinsam." Jonouchi lacht leise, stimmt mit einem beinahe schon übertrieben wirkenden Nicken zu und richtet sich etwas auf. "Mensch", sagt er. "Wir nahmen es uns so lange vor und heute ist es endlich so weit." "Ja." Yugi lächelt und beide nehmen wieder Haltung an, als sich die Lehrerin kurz umdreht. Somit ist die Unterhaltung beendet, der Unterricht wird fortgesetzt und ich nehme wieder meine Hände in Augenschein. Ich bin gereizt. Gereizt durch mein Versagen. Ich wende mich nicht dem Unterrichtsstoff zu, ich mache mir keine Notizen, werde nicht auf den weiteren Fehler aufmerksam, auf das Versäumnis. Und so bleibt mein Tisch leer bis die Stunde endet und ich habe mich kaum bewegt. Erst als sich die junge Frau verabschiedet und das Leben in den Klassenraum zurückkehrt, richte ich mich auf und mustere meine Umgebung. Jonouchi und Muto finden sich zusammen, auch Honda und Mazaki leisten ihnen kurz darauf Gesellschaft und wieder wird freudig und heiter über jenen Laden diskutiert. Ich greife nach meiner Tasche und hebe sie auf meinen Schoß, ohne zu bemerken, dass die Bücher, die ich für die vergangene Stunde benötigt hätte, sie nicht verlassen hatten. Ich schicke ihr nicht einmal einen Blick, öffne sie lediglich und taste nach den Büchern, die ich für den kommenden Literaturunterricht brauche. Und während ich sie hervorziehe, stößt sich Jonouchi mit seinem Stuhl ab. Er lacht laut, hält sich den Bauch und die Lehne seines Stuhls donnert gegen die Kante meines Tisches. Dieser schlittert zurück, die gegenüberliegende Kante rammt sich in meine Rippen und die Bücher entgleiten meinen Händen, als ich zusammenzucke. Jonouchis Stuhl verliert an Widerstand, der junge Mann versucht sich mit den Armen auszubalancieren und rettet sich vor dem Sturz, indem er sich an meinen Tisch krallt, worauf sich der Druck der scharfen Kante auf meine Rippen sogleich erhöht. Gleich eines Vulkans bricht die Wut aus mir heraus, ich verabscheue primitives Benehmen und unüberlegtes Handeln und noch mehr verabscheue ich Katsuya Jonouchi! Mit voller Wucht stoße ich den Tisch von mir und ebenso schnell schlittert Jonouchi mit seinem Stuhl nach vorn und macht ebenfalls unweigerlich Bekanntschaft mit der Kante seines Tisches. Und während er ein erschrockenes Keuchen ausstößt, komme ich auf die Beine, lehne mich über meinen Tisch hinweg und greife nach vorn. Ich bekomme seine Schulter zu fassen, meine Hand schlägt sich in den Stoff der Schuluniform und ich zerre ihn zu mir. Er rutscht über seinen Stuhl und ich presse seinen Oberkörper auf meinen Tisch hinab. Dort räkelt er sich verwirrt, versucht sich abzustützen. Und ich stehe vor ihm, halte ihn unten und beuge mich nach vorn, bis ich ihn von oben herablassend anstarren kann. "Jonouchi!", zische ich und verlagere mehr Gewicht auf meinen Arm, auf dass er erneut keucht und das Gesicht zur Seite wendet. Seine Finger klammern sich um die Kante meines Tisches, rutschen in ihrer Hektik jedoch ab. "Wage es noch einmal und ich reiße dir beide Arme ab und schlage dich mit ihnen tot!" Worte, die in solch einer unkontrollierbaren Wut ausgesprochen werden, ist man von mir nicht gewohnt. Missfällige zugleich verachtende Blicke, jedoch nie Brutalität gegenüber einem anderen. Ich selbst bin von mir entsetzt, lasse jedoch nicht von ihm ab. Auch Jonouchi wirkt entrüstet. Er windet sich, sucht nach Worten und Honda ist es, der ihn letztendlich aus der misslichen Lage befreit. Er erscheint neben mir, seine Hand legt sich auf meinen Arm, der Jonouchi auf dem Tisch hält. "Hey...", er ist verunsichert, spricht nur leise auf mich ein, "...er hat es nicht mit Absicht getan, Kaiba. Es tut ihm leid." Jonouchi öffnet unentschlossen den Mund, das einzige, das über seine Lippen kommt, ist jedoch ein schneller Atem. Und ich lasse ihn los. Es ist nicht Honda zu verdanken, nein, ich wurde mir meines Handels bewusst und klammere mich an meine Fassung, um keine Fehler zu begehen, die noch schwerwiegender sind. Honda tritt zurück und Jonouchi richtet sich auf, sobald er spürt, wie sich meine Hand von seiner Schulter löst. Und sobald er dazu imstande ist, trifft mich sein Blick. Nur flüchtig streift er mich, bevor er sich fest auf meine Augen richtet. Ich glaube eine leise Enttäuschung in dem funkelnden Braun zu erkennen, nur unauffällig blitzt sie hervor und verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist. Sie weicht dem Entsetzen, das sich flink in Verunsicherung wandelt. Ich verenge die Augen, meine Hand tastet hinterrücks nach dem Stuhl und Jonouchis Lippen bewegen sich stumm. Kein Zucken seiner Gesichtszüge, keine feindliche Geste. Es ist das blanke Entsetzen, das ihn beherrscht. Nur langsam wendet er sich ab, seine Augen haften noch lange an mir, bevor er mir den Rücken zukehrt und ungläubig den Kopf schüttelt. Nicht ein Wort richtet er an mich, weder ein Wort der Verzeihung, noch ein Wort des sturen Widerstandes. Er ist so kleinlaut, wie man es nicht von ihm zu erwarten hat. Auch ich verliere das Interesse an ihm, lasse mich nieder und rücke meinen Tisch zurecht. Ich schenke Muto, Mazaki und den anderen keinerlei Aufmerksamkeit, doch eine gespenstische Stille herrscht in dem Raum, die nicht einmal von dem unauffälligsten Geräusch durchschnitten wird. Ich weiß es genau, sie bewegen sich nicht und starren mich an, bis in ihr Innerstes erschüttert über das Vorkommnis, dessen sie soeben Zeuge wurden. Es ist mir gleichgültig. Ihre Meinung über mich ist mir gleichgültig. Ich bücke mich nach meinen Büchern, Mazaki räuspert sich geängstigt und Jonouchi brummt verunsichert. Er beginnt seinen Tisch aufzuräumen; er ist nervös. "Guten Tag." Ein korpulenter Mann betritt den Raum, steuert zielstrebig auf den Lehrerpult zu und legt seine Tasche ab. Und mit seinem Eintreten beginnen sich die Schüler zu bewegen. Sie beginnen auch zu flüstern und allmählich kehrt die gewohnte Atmosphäre zurück. Honda und Mazaki wechseln flüchtige Blicke, dann wenden sie sich ab und kehren zu ihren Plätzen zurück. Nur Muto, er tätschelt Jonouchis Schulter und schickt mir einen beschwichtigenden Blick, bevor er es ihnen gleichtut. Jene Melodie ertönt, ich mustere die Bücher, bevor ich mich zurücklehne. Den Zorn, der aus diesem weiteren Fehler heraus entstand, verbannte ich in mein Unterbewusstsein, bevor er dazu fähig war, meine Gedanken zu kontrollieren. Ich werde mich nicht ablenken lassen, werde mich ihm später zuwenden, wenn ich mich der geliebten Einsamkeit hingeben, und die ungestörte Ruhe genießen kann. Der Lehrer beginnt sogleich mit sturer Theorie. Es dreht sich um einen berühmten Deutschen - Nietzsche, der in unserem Unterricht Erwähnung findet. Das Wesen dieses Mannes ist mir sympathisch. Ich beschäftige mich gern mit ihm, denn er sieht in den Menschen das, was sie wirklich sind. Er schreibt über sie in höchst interessantem Maße. Ich zwinge mich dazu, nicht einen einzigen Blick zu Jonouchi zu werfen, fixiere mich auf den Lehrer, der erneut über das Leben jenes bedeutenden Mannes spricht. Bewegung kommt auf, die Schüler schreiben. Auch ich schlage mein Notizbuch auf und notiere wichtige Fakten. Obgleich ich vor kurzem nicht ich selbst war, habe ich nun das Gefühl, die Kontrolle über meinen Körper und Geist zurückerlangt zu haben. Grübeleien unterdrücke ich, mein Interesse gilt lediglich dem Lernstoff, mein Gehör den Worten des Mannes. Außer ihm spricht niemand - er ist streng. Nach kurzer Zeit wendet er sich der Tafel zu, meine Augen haften an seiner rechten Hand. Er führt die Kreide flink. Und während er schreibt, spricht er weiter, unter anderem bittet er darum, gewisse Bücher aufzuschlagen. Ich lasse den Füller sinken, greife nach einem Buch, das in einen goldenfarbigen Umschlag gehüllt ist und öffne es. Zarathustra. Ein Meisterwerk ist es in meinen Augen. Ein Erfolg, der niemand imstande ist, auf jede nur erdenkliche Art und Weise zu wiederholen. Dennoch lese ich es nur während des Unterrichts, wenn es mir aufgetragen wird. Ich beschäftige mich nicht mit Büchern, ich finde Interesse an ihnen, was fehlt, ist die Zeit. "Wir wenden uns dem nächsten Kapitel zu." Der Lehrer legt die Kreide nieder, setzt sich hinter seinen Pult und überprüft anhand eines flüchtigen Blickes, ob die Schüler seiner Bitte Folge leisten. Erst dann öffnet er sein eigenes Buch und beginnt zu blättern. Ja, in der letzten Zeit lesen wir viel... "Seite 80 bis 83." Er befeuchtet seinen Zeigefinger mit der Zunge, blättert um. Geraschel ertönt, die Schüler tun es ihm gleich. Ich lese die Überschrift des Kapitels und sogleich erwacht das Bedürfnis in mir zum Leben, zu erfahren, was Nietzsche über dieses Thema schrieb. Er war ein Mann harter Worte und ich bete, dass er auch das am Menschen verurteilt, worüber das Kapitel handelt. Der Lehrer blickt auf, seine Augen schweifen suchend durch die Reihen. "Kaiba", vernehme ich seine Stimme. "Sie lesen." Gut, ich lese. Diese Aufforderung ist zu unbedeutend, als dass ich widersprechen dürfte. Ich zögere nicht, erhebe mich und greife nach dem Buch. Und sobald ich stehe, verstummt jeder Laut und ich beginne. "Vom Freunde." Ich räuspere mich. "Einer ist immer zu viel um mich, also denkt der Einsiedler, immer einmal eins das gibt auf Dauer zwei. Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche: wie wäre es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe?" Ich lese weiter und je mehr ich lese, desto mehr zürne ich Nietzsche, dass er die Freundschaft guthieß. "Unser Glaube an andere verrät, worin wir gern an uns selber glauben möchten. Unsere Sehnsucht nach einem Freunde ist unser Verräter. Und oft will man mit der Liebe nur den Neid überspringen. Und oft greift man an und macht sich einen Feind, um zu verbergen, dass man...", ich zögere mit den nächsten Worten, ohne mir darüber bewusst zu sein. Ich lese, meine Lippen bewegen sich stumm, bevor wieder ein Ton über sie kommt, "... angreifbar ist." Jonouchi beginnt zu sich zu bewegen. Langsam dreht er sich zu mir um. "Sei wenigstens mein Feind. So spricht die wahre Ehrfurcht, die nicht um Freundschaft zu bitten wagt. Will man einen Freund haben, so muss man auch für ihn Krieg führen wollen und um Krieg zu führen, muss man Feind sein können. Man soll in seinem Freunde noch den Feind ehren. Kannst du an deinen Freund dicht herantreten, ohne zu ihm überzutreten? In seinem Freunde soll man seinen besten Feind haben. Du sollst ihm am nächsten mit dem Herzen sein, wenn du ihm widerstrebst. Du willst vor deinem Freunde kein Kleid tragen? Es soll deines Freundes Ehre sein, dass du dich ihm gibst, so wie du bist? Aber er wünscht dich darum zum Teufel." Wieder stocke ich in meinen Worten. Der Text ist von hohem Schwierigkeitsgrad, selbst mir fällt es schwer, ihn zu verstehen und ich benötige kurze Zeit, um mir des Inhaltes annähernd bewusst zu werden. Und während ich schweige, blicke ich auf und erkenne Jonouchis Augen vor mir, die direkt und unausweichlich auf mich gerichtet sind. Ich starre sie an, versuche in ihnen zu lesen. Er erweckt den Anschein, mir einen leisen Vorwurf entgegenbringen zu wollen, so funkeln seine Augen. Er sieht mich an und ich höre seine Stimme in meinem Kopf, wie sie sagt: "Siehst du?" Ich wende mich dem Buch zu und lese weiter und er dreht sich nach vorn. "Sahst du deinen Freund schon schlafen, damit du erfahrest, wie er aussieht? Was ist doch sonst das Gesicht deines Freundes? Es ist dein eigenes Gesicht auf einem rauen unvollkommnen Spiegel. Sahst du deinen Freund schon schlafen? Erschrakst du nicht, dass dein Freund so aussieht? Oh, mein Freund, der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss." Ich lese. Und während ich Wort um Wort ausspreche, fühle ich mich unwohl. Dieses Kapitel ist mir ein Rätsel, das ich ergründen muss. Freundschaft, ich weiß dieses Wort noch immer nicht zu definieren und obgleich Jonouchi sich nicht mehr regt, spüre ich genau, wie er dieses Kapitel mit mir verbindet und sich denkt: >Freundschaft... dazu bist du nicht fähig, Kaiba. Sie ist zu bedeutend, als dass du sie verstehen könntest.< Ich lese weiter, sehne mir das Ende des Kapitels herbei. "Das Mitleiden mit dem Freunde berge sich unter einer harten Schale, an ihr sollst du dir einen Zahn ausbeißen. So wird es seine Feinheit und Süße haben. Bist du reine Luft und Einsamkeit und Brot und Arznei deinem Freunde? Mancher kann seine eignen Ketten nicht lösen und doch ist er dem Freunde ein Erlöser." Mutos leises Seufzen dringt an meine Ohren. Er genießt diese Worte wie kein Anderer. "Bist du ein Sklave? So kannst du nicht Freund sein. Bist du ein Tyrann? So kannst du nicht Freunde haben. Allzu lange war im..." Ich verstumme, als ein Geräusch verrät, dass sich die Tür öffnet. Ich blicke auf, die Schüler blicken auf, der Lehrer lässt das Buch sinken. Eine junge Frau betritt den Raum. Ich kenne sie. Sie ist die Sekretärin des Schulleiters. "Ja, bitte?" Der Lehrer rückt an seiner Brille, die Störung missfällt ihm augenscheinlich. Die junge Frau blickt sich um. "Katsuya Jonouchi?" "Ja?" Der Angesprochene hebt die Hand und die Frau bittet mit einem knappen Nicken darum, sie zu begleiten. "Ein dringendes Telefonat liegt für Sie vor“, meint sie anschließend. "Was?" Jonouchi hält in der Bewegung inne, soeben wollte er aufstehen. "Ein Telefonat?" "Ja." Die Sekretärin hebt die Hand, winkt ihn zu sich. Sie ist eine geschäftige Frau, hat keinerlei Zeit, die sie verschwenden kann. Nur zögerlich kommt Jonouchi auf die Beine, wirft Muto einen knappen Blick zu und zuckt mit den Schultern. Ich beobachte ihn nicht, als er nach vorn geht, an der Sekretärin vorbeizieht und so den Raum verlässt. Jonouchis Angelegenheiten liegen außerhalb meines Interessenbereiches. Und mein Interesse ist zu knapp, als dass ich sie an jeden und alles verschwenden könnte. Mein Blick richtet sich auf das Buch und die Tür schließt sich. Kurz darauf kehrt das Schweigen zurück und ich hole Atem. Ich überspringe einen Absatz, hoffe, dass es nicht auffällt. "Oh über eure Armut, ihr Männer, und euren Geiz der Seele! Wie viel ihr dem Freunde gebt, das will ich noch meinem Feinde geben, und will auch nicht ärmer damit geworden sein. Es gibt Kameradschaft - möge es auch Freundschaft geben." Somit lasse ich das Buch sinken und setze mich, ein zufriedenes Brummen vonseiten des Lehrers, damit ist es also abgeschlossen. Ich lege das Buch ab, lehne mich zurück und betrachte mir mit Zufriedenheit den leeren Stuhl vor mir. Ohne die Anwesenheit Jonouchis fühle ich mich wohler. Eine Tatsache, an die ich mich gewöhnen könnte. "Was will uns Nietzsche damit sagen?" Der Lehrer erhebt sich, steht erwartungsvoll vor der Klasse und verschränkt die Arme vor dem Bauch. Mein Blick trifft ihn. Er verlangt die versteckte Botschaft zu wissen? Wie töricht ist sein Glauben, auf eine zutreffende Antwort zu stoßen! Der Inhalt der Worte ist selbst mir ein Mysterium. Und wenn mir die Antwort verschlossen bleibt, so sind auch meine Mitschüler weit von ihr entfernt. Ich wundere mich nicht über die Totenstille, die auf diese Frage folgt. Der Lehrer wartet und ich kann mit fester Sicherheit behaupten, dass selbst er es nicht weiß. Zögerlich hebt sich eine Hand, der Lehrer nickt dem Schüler zu. "Dass... der Freund eigentlich der Feind ist...?" Wenn es so einfach wäre! Ich unterdrücke ein verächtliches Brummen und reibe meine Stirn. Die Freundschaft selbst ist mir mit jeder ihrer komplizierten Einzelheiten etwas Unbegreifliches. Man erwartet von mir die Antwort, ein erwartender Blick des Lehrers trifft mich, nachdem dieser verneinend den Kopf geschüttelt hat. Erwartet nichts, denke ich mir daraufhin und senke den Blick, ich vermag nichts dazu zu sagen. "Nun gut." Der Mann wendet sich ab und greift nach der Kreide, ohne seine Version zum Besten zu geben. Ich will nicht unverschämt sein und ihn darauf aufmerksam machen, dass er uns eine Antwort schuldet. Das Recht dazu besitze ich, doch bin ich nicht auf sinnlose Konfrontation aus. Also blättere ich in meinem Buch um und beginne das Kapitel erneut zu lesen. Währenddessen schreibt der Lehrer an die Tafel, murmelt etwas von Hausaufgaben und bittet anschließend, die Bücher zu schließen. Ich bewege mich nicht, starre auf die Worte und grüble. Ich nehme es mir nicht vor, auf die Lösung zu stoßen, habe eingesehen, dass es sinnlos ist, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Schämen brauche ich mich meines Unwissens in diesem Gebiet nicht. Es ist nicht wert, ergründet zu werden. Freundschaft macht schwach und verletzlich. Das ist es, was ich weiß und mehr brauche ich nicht zu wissen. Die Stunde geht weiter. Wieder kommt der Lehrer zur Theorie zurück, erzählt vom Leben Nietzsches und seinen bedeutsamen Werken. Ich höre nicht zu und blicke erst auf, als sich die Tür des Klassenzimmers erneut öffnet. Jonouchi kehrt zurück ich wende mich desinteressiert meinem Buch zu. Doch ich bewerkstellige es nicht, mich wieder darin zu vertiefen, denn ich sehe mich dazu gezwungen, wieder aufzublicken und Jonouchi genauer zu mustern. Während die Sekretärin neben dem Lehrer stehen bleibt und mit ihm flüstert, kehrt er zu seinem Platz zurück. Nur langsam und stockend setzt er ein Bein vor das andere, die Schultern sind kraftlos gesenkt, ebenso das Gesicht. Er bewegt sich, als hätte sich Eis in all seine Glieder gefressen, als wäre er kaum dazu imstande, sie großer Belastung auszusetzen. Er wirkt wie ein alter Mann, der das Leben hinter sich hat, dem es an Stärke mangelt. Ich betrachte mir sein Gesicht. Es hat jegliche Farbe verloren, erscheint totenblass und eingefallen. Es wirkt wie das Gesicht eines Menschen, der kurz davor ist, vor Kummer und Verzweiflung in die Knie zu gehen. Ich erkenne ihn nicht wieder, dennoch zeigt meine Miene keine Regung. Kurz bevor er seinen Platz erreicht, blickt er auf. Er scheint jegliche Sicherheit verloren zu haben, nervös und fahrig starrt er um sich, seine Augen richten sich hilfesuchend auf leblose Gegenstände, nicht etwa auf Schüler. Dann bleibt er stehen und stützt sich auf seinen Tisch, als wären seine Knie weich… als würde er schwach zu Boden gehen. Er schwankt wirklich, richtet sich jedoch auf und tastet nach seinen Büchern. Ich verfolge jede seiner Bewegungen genau. Sein Blick ist auf das Fenster gerichtet, während er die Utensilien zu sich zieht, er ist abwesend, als er in die Knie geht und nach seiner Tasche greift. Wieder erhebt sich leises Flüstern, nicht nur ich beobachte Jonouchi. Er starrt noch immer nach draußen, als er die Tasche öffnet und einzupacken beginnt. Er lässt alles in ihr verschwinden, lässt sich dabei jedoch Zeit. Er trödelt nicht, nein, er ist nicht dazu fähig, sich zu beeilen. Aus seinem Benehmen schließe ich, dass das Telefonat nichts Positives zutage gebracht hatte. Nach genaueren Möglichkeiten suche ich nicht, es interessiert mich nicht. Endlich zieht er sich den Gurt der Tasche über die Schulter und betrachtet sich seinen Platz. Er bleibt noch stehen, seine Fingerkuppen gleiten stockend über das glatte Holz des Tisches. Er betrachtet sich auch seinen Stuhl, streckt nach einem kurzen Zögern die Hand nach ihm aus und rückt ihn zurecht. Dies alles tut er mit größter Exaktheit und Vorsicht, so als würden ihm diese leblosen Gegenstände etwas bedeuten. Dann wendet er sich ab, seine Hand streift die Kante des Tisches, bevor er in denselben unsicheren Schritten nach vorn geht. Ich werde auf die Sekretärin und den Lehrer aufmerksam. Der Mann verzieht die Augenbrauen, rückt an seiner Brille und mustert Jonouchi eindringlich. Die Sekretärin richtet sich auf, macht sich auf den Weg zur Tür. Jonouchi folgt ihr kurz, hält jedoch inne, als er vor der Klasse steht. Ich schaue zu Muto. Der Junge sitzt reglos dort. Ich schaue zu Honda. Mit geweiteten Augen starrt er nach vorne. Ich schaue zu Mazaki. Besorgnis spiegelt sich in ihrer Miene wieder, sie hält die Hand vor den Mund, ist kurz davor, die Stimme zu erheben. Ich drehe mich nach vorn und Jonouchi wendet sich zögernd der Klasse zu. Seine Hand klammert sich um den Gurt der Tasche, die andere krallt sich in den Stoff der Hose. Stockend hebt er das Gesicht, mit bebendem Atem lässt er den Blick über seine Freunde schweifen, mich ignoriert er gänzlich. Die Sekretärin wartet, plötzlich scheint sie Geduld zu besitzen. Jonouchi senkt den Blick, zusammengesunken und wankend steht er dort vorne und sucht nach Worten. Stille herrscht, nur wenige Schüler bewegen sich auf ihren Plätzen und auch ich warte. Und ich warte lange, bis Jonouchi endlich die Stimme erhebt. Sie zittert, dringt nur gedämpft an meine Ohren. "Ich...", seine Hand, die den Gurt hält, entspannt sich kurz, klammert sich kurz darauf jedoch wieder in ihm fest, "Ich... muss weg", sagt er endlich und beißt sich auf die Unterlippe. Er kämpft mit sich, es fällt ihm schwer, die Fassung nicht zu verlieren und ich bin nicht der Einzige, dem dies auffällt. "Ich komme... erst einmal nicht mehr zur Schule." "Katsuya!" Muto fährt in die Höhe, der Stuhl rutscht quietschend zurück. "Was ist passiert?!" Jonouchi blickt erschrocken auf, trifft auf den Blick des Jungen und entflieht ihm sogleich wieder, als könne er ihn nicht ertragen. Er verkrampft sich zusehends, macht den Anschein, laut schreien zu wollen. Seine Hände zittern, er verschluckt sich am eigenen Atem, bevor er antwortet. "Ich bleibe nicht lange weg", sagt er beinahe schon flehend und schließt die Augen. "Ich... komme wieder." Auch Mazaki kommt auf die Beine, bringt es jedoch nicht fertig, etwas zu sagen. Ihre Lippen bewegen sich kurz, bevor sie sie mit beiden Händen verdeckt. Honda bewegt sich nicht, scheint zu Stein erstarrt zu sein. Und während Jonouchi verbissen schweigt und Muto verzweifelt nach Worten sucht, denke ich mir: Lügner! Er wird nicht zurückkommen, ich weiß es. Er kommt nicht wieder, aus welchem Grund auch immer. Es ist nicht schwer zu erraten, wenn man sein Verhalten studiert. Noch einmal blickt Jonouchi nicht auf, er nagelt den Blick am Boden fest, sein Gesicht zuckt, als er kurz die Hand hebt. "Ich komme wieder." Seine Stimme ist nicht mehr als ein gebrochenes kraftloses Hauchen, als er sich abwendet und in schnellen, beinahe schon fliehenden Schritten zur Tür geht. Und ohne sich ein letztes Mal umzuschauen, verlässt er den Raum. ~*to be continued*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)