Nichts als Reichtum von abgemeldet (~*~) ================================================================================ Kapitel 2: ~Kontrolle~ ---------------------- ~*Kapitel 1 - Kontrolle*~ Die Nacht hält noch an, als sich mein Wecker mit seinem gleichmäßigen Piepen meldet und mich schnell aus dem Schlaf holt. Bereits nach dem ersten Geräusch öffne ich die Augen und richte mich auf. Und während die hellen, beinahe schrillen Signale ertönen, blicke ich mich um. Mein Schlafzimmer ist sehr groß, jedoch nicht sonderlich viel möbliert. Es gibt lediglich einen großen leeren Tisch, wenige Stühle und einige Schränke, in denen ich meine privaten Besitztümer aufbewahre. Größtenteils sind es nur Bücher über Geschäftswesen. Es gibt auch ein paar mathematische und naturwissenschaftliche Bücher. Fachwissen regiert, literarische Werke besitze ich kaum. Das saubere und helle Parkett wirkt recht kahl. Es gibt keinen Teppich, der etwas Farbe in diesen Raum bringt. Ich bin zu selten und zu ungern hier, als dass ich daran etwas ändern würde. Außerdem bevorzuge ich es so. Bereits nach wenigen Sekunden bin ich hellwach und mein Wecker verstummt, als wüsste er es. Es ist jeden Tag dasselbe. Ich brauche ihn nicht auszuschalten. Langsam greife ich nach der Decke und ziehe sie zur Seite. Mein Bett ist sehr groß. Zu groß für mich allein. Es steht nicht weit über dem Boden, die Matratze ist angenehm weich und doch halte ich mich nie überflüssig lange auf ihr auf. Nein, das ist nicht meine Angewohnheit. Noch an gleicher Stelle erhebe ich mich, gehe einen Schritt auf die Bettkante zu und bleibe stehen, bevor ich sie erreiche. Die langen dunklen Gardinen, deren Enden sich auf dem Boden ausbreiten, sind zurückgezogen. So wie immer. Durch die hohen breiten Fenster kann ich nach draußen schauen. Die Gegend ist finster, der volle Mond steht noch tief am Himmel. Er wird bald untergehen. Die Krone des Baumes, der nicht weit von meinem Fenster steht, ist schwer belastet mit weißem Schnee, der im grellen Licht des Mondes schimmert. Es ist ein schöner Anblick und doch wende ich mich ab, ohne auf ihn zu achten. Ich steige von dem Bett, lasse alles so wie es ist und verlasse den Raum. Es ist noch zu früh, um aufzustehen. Erst in drei Stunden muss ich aufbrechen, um mich einem neuen Tag zu unterwerfen. Einem neuen Tag voller Routine und Qual. Und doch bin ich schon wach. Bis ich mein Haus verlasse, mache ich nichts. Logisch gesehen ist es sinnlos, zu so früher Stunde das Bett zu verlassen. Als ich in den schmalen Flur der ersten Etage hinaustrete, herrscht Totenstille um mich herum. Die finsteren Türen, die sich in großer Entfernung voneinander an den Wänden entlang reihen, verbergen keine Geheimnisse hinter sich. Nur vier leere Wände und ein kahler Boden. Ich will sie nicht öffnen, habe es noch nie getan, denn diese Zimmer erinnern mich an meine Seele. Leer, kalt und dunkel. Dennoch greife ich nach einer Klinke, kurz nachdem ich nach links gebogen bin und öffne eine Tür. Es ist mein Bad, das ich wie jeden Tag zuerst aufsuche, nachdem ich aufgestanden bin. Als sich das Licht automatisch anstellt, erblicke ich die weißen Fliesen am Boden. Sie ziehen sich auch die Wände empor, bis sie einen Meter vor der Decke einer teuren Tapete den Vortritt lassen. Dieses Zimmer ist sehr kantig und unproportional geschnitten, möchte auf viele Menschen äußerst abenteuerlich und wundersam wirken. Mein Interesse jedoch, hat es schon vor langer Zeit verloren. In langsamen Schritten lasse ich die große Eckbadewanne und die Dusche hinter mir und nähere mich einer breiten Ablage, die vor einem großen Spiegel liegt, sich von einer Ecke zur anderen zieht und von zwei Waschbecken aus Marmor unterbrochen wird. Schon von weitem erblicke ich den jungen Mann, der sich mir langsam nähert und dann bleibe ich stehen, stütze mich ab und lehne mich etwas nach vorn, um mich genau betrachten zu können. Wieder sehe ich die trüben blauen Augen, die nur einen abgestumpften Ausdruck zulassen. Wieder sehe ich die finstere Miene, die verzweifelte und stahlharte Verbissenheit, die sich tief in meinem Gesicht verankert hat, die ich nun nicht mehr loswerde. Ich blinzle, wende den Blick ab und richte ihn auf den Marmor der Ablage. Ihn starre ich an, ohne an irgendetwas zu denken. Das helle, beinahe schon unangenehm grelle Licht der Lampen ist nicht dazu fähig, die Dunkelheit zu verbannen. Die Stille umgibt mich. Wie jeden Tag auch, wirkt sie wie eine undurchdringliche Mauer. Eine Mauer, die auf die erste folgt, die zu durchstoßen ich nicht imstande bin. Meine Augen tasten nun die geschwungenen Muster des Marmors ab. Ich weiß nicht, warum ich es mache, es bringt mir nichts. Als ich mir dessen bewusst werde, lenke ich meinen Blick auf den Spiegel zurück. Zögerlich, beinahe schon verunsichert bleibt er an meiner nackten Brust hängen. Ich betrachte mir die glatte Haut, die leichten Wölbungen meiner Rippengegend. Tiefer sehe ich den flachen Bauch; an ihm entdecke ich keine Wölbungen. Nein, er ist perfekt. Meine Arme. Keine Narben bedecken sie, keine Sehnen stechen hervor. Die Muskeln an meinen Schultern, die Senkungen über meinem Schlüsselbein. Der schmale, beinahe schon zierliche Hals. Ich hebe den Kopf, der junge Mann starrt mich nun direkt an. Nichts ist in seinen Augen zu lesen, nur ein flüchtiges Zucken in seinem Gesicht, das mir verächtlich und zugleich gequält erscheint. Ich wende mich ab, meine Hand streift den glatten Marmor, bevor ich sie sinken lasse. Ich verlasse das Bad, habe keinen Grund, hier zu sein. Wieder trete ich in den Flur hinaus. Er ist noch immer düster und ich will ihn verlassen. In langsamen Schritten steuere ich auf die breite Treppe zu, die mich in das Erdgeschoss meines Hauses führt. Ich fühle mich, als würde ich noch immer schlafen, als wäre nur mein Körper hier. Meine Seele scheine ich zurückgelassen zu haben. Ich weiß nicht, wo. Der weiche Teppich, der über den Stufen liegt, schmiegt sich an meine nackten Füße, verleiht ihnen eine gewisse Wärme. Meine Hand tastet sich an dem kunstvollen Geländer entlang, bis sie dessen Ende erreicht. Ich betrete ein Foyer. Auch diesem Raum fehlt es an Zierde. Ich durchquere ihn, ohne aufzublicken. Einst hatte es prunkvolle Bilder gegeben, die einluden, dieses Haus zu erkunden. Nun gibt es nichts mehr, das auch nur etwas Wärme ausstrahlt. Alles ist kahl, selbst meinem Haus fehlt es an Leben. Ich lasse einen arkadenförmigen Eingang hinter mir, gehe durch einen kleinen Durchgangsraum und betrete die Küche. Deren Ausstattung habe ich gleichgültig dem Mann überlassen, der auch als Koch tätig ist und sich um Mokuba kümmert, wenn ich, der große Bruder, arbeite. Dieses Zimmer ist wohl das einzige, das zum längeren Aufenthalt zwingt. Hier gibt es Bilder, die Schränke und Arbeitsplatten sind in warmen Farben gestrichen. Auch verschiedenfarbige Tassen und Schüsseln sind durch die Glastür eines Schrankes hindurch zu sehen. Auf dem rechteckigen Tisch steht eine Vase. Ein Strauß bunter Blumen fühlt sich in ihr wohl. Ich mag diesen Raum nicht - die Farben sind zu belastend, der Duft der Blüten ist für mich nicht mehr als Gestank. Ich möchte nicht lange hier bleiben. Sicher legt sich meine Hand um den blauen Griff des Kühlschrankes. Ich öffne ihn und schaue hinein. Süßigkeiten von Mokuba nehmen den meisten Platz ein, Gemüse und Salat sind in einer der untersten Schubladen verborgen. Ich sehe grelle Verpackungen, glänzendes Papier. Pralinen, Lakritze, Riegel... ich selbst greife nur nach einer Flasche Wasser, wende mich ab und schließe den Kühlschrank, indem ich mich dagegen lehne. Und während ich dann darauf achte, dass meine Aufmerksamkeit nicht wieder auf die Farben gezogen wird, schließe ich die Hand fest um den Deckel und beginne zu schrauben. Ein Schluck Wasser - das ist mein Frühstück. Mehr vertrage ich nicht, mehr stößt mein Körper ab. Gewohnheit. Ich setze die Flasche an meine Lippen, fühle sofort die kühle Frische an meinen Zähnen, spüre, wie sie durch meinen Hals rinnt und sich in meinem Bauch ausbreitet. Und schon verlangt es mir nach etwas anderem. Ich nehme die Flasche mit und mache mich auf den Rückweg nach oben. Wieder durch das Foyer, die Treppe hinauf. Die Durchquerung des Flurs. Das Erreichen meines Schlafzimmers. Diesmal schalte ich das Licht an; grelle Lampen an den Wänden leuchten auf und ich blinzle. Säuberlich hängt meine Schuluniform über der Lehne eines Stuhls. Die Hose, die Jacke... nach all den Jahren schmerzt dieses Blau in meinen Augen. Es ist widerlich. Ich durchquere den Raum, mein Blick streift diesen Störfaktor nur flüchtig, bevor er sich wieder auf den Boden richtet. Als ich den Tisch erreiche, stelle ich die Flasche auf ihm ab und greife in derselben Bewegung nach einer schwarzen, aufwendig verzierten Schachtel. Ich öffne sie, wende dem Tisch den Rücken zu und lehne mich gegen seine Kante. Wie lange ich dem Tabak schon verfallen bin? Ich weiß es nicht. Ich habe irgendwann angefangen, ohne den Grund dafür zu kennen. Weshalb auch Gründe besitzen, um das eigene Handeln zu rechtfertigen? Ich benötige keine Gründe, was ich mache, das mache ich. Ich ertaste den rauen Filter einer Zigarette und ziehe sie heraus. Sie findet den direkten Weg zu meinem Mund, klemmt kurz darauf zwischen meinen Lippen. Beinahe schon automatisch lege ich die Schachtel auf dem Tisch ab, meine Hand kehrt mit dem Feuerzeug zurück. Es ist eine Prozedur, die ich jeden Morgen durchlaufe. Und ich weiß es genau. Lange werde ich hier stehen, den Rauch gen Zimmerdecke aufsteigen lassen und vor mich hinstarren, ohne einen Gedanken zu verfolgen. Phlegmatisch ist meine morgendliche Beschäftigung. Sinnlos in jeder Einzelheit. Keine Minute zu spät, keine Minute zu früh, sitze ich auf dem Rücksitz des schwarzen Wagens und lasse mich fahren. Heute bin ich allein. Ich bewege mich kaum, schenke der Umgebung, die gemächlich an mir vorbeizieht, keinerlei Aufmerksamkeit. Ich erblicke dieselben Häuser, dieselben Bäume... es läuft vor mir ab wie ein Stummfilm. Jeder Tag trägt seinen Teil zu der Endlosschleife bei. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freue, ohne Gesellschaft hier zu sitzen. Der Mann am Lenkrad, mein Fahrer, starrt auf die Straße und spricht kein Wort, so wie ich es bevorzuge. Es weckt stets eine für mich unverständliche Freude in Mokuba, wenn er länger schlafen kann. Nun, unter anderen Umständen würde auch ich es vielleicht bevorzugen. Der Tag wäre kürzer, den sich stets wiederholenden Plan müsste ich umschreiben. Ich weiß nicht, weshalb ich mich stets so früh von den Träumen losreiße. Meine täglichen Beschäftigungen und meine Routine sind sinnlos. Gegen meinen Willen bleiben meine Augen an einem Geschäft für Kinderspielzeug hängen. Ich kann nichts dagegen tun, es ist immer so. Für kurze Zeit sehe ich die lächelnden Puppen in dem Schaufenster. Sie strecken die Arme nach vorn, als wollen sie sagen: "Nimm mich in den Arm und hab mich lieb.". Die flauschigen Bären mit den Knopfaugen, Figuren aus Holz und Keramik, die meiner Meinung nach, kläglich an dem Versuch, schön auszusehen, scheitern. Die Schaufenster strahlen eine ungeheure Heiterkeit aus, die Verachtung, ja, beinahe schon Übelkeit in mir hervorruft. All das Lächeln, das Lachen, die Unbeschwertheit der leblosen Gestalten. Sie soll sich auf Menschen übertragen. Unrealistische Denkweise ist es in meinen Augen. Die gnadenlose Ausnutzung der menschlichen Angewiesenheit auf Zuwendung, des Unwissens der Kinder. Nicht mehr. Nachdem ich jenes Geschäft hinter mir gelassen habe, wende ich mich von dem leicht verdunkelten Fenster ab. Ich beginne meine Hände zu reiben und sie zu betrachten. Sie stecken in schwarzen dünnen Handschuhen. Und nebenbei zähle ich die Sekunden. Das Ziel ist nicht mehr fern. Der Wagen biegt um die Ecke, dann kommt er zum Stillstand. Noch immer schweigt der Mann, der vorne sitzt. Nicht einmal eine Bewegung ist seinerseits auszumachen. Er wartet und ich lasse ihn nicht lange warten. Meine Hand tastet nach der Tasche, dann öffne ich die Tür. Langsam, beinahe schon träge, setze ich die Sohle meines festen Stiefels in den weißen Schnee, bevor ich aussteige und mich aufrichte. Ein schwarzer Baumwollmantel schützt mich vor dem schneidigen Wind, der mir sofort entgegenpeitscht. Den weiten Kragen habe ich hochgeschlagen, er verdeckt einen Teil meines Gesichtes, das durch die klirrende Kälte etwas schmerzt. Während ich mich flüchtig und desinteressiert umschaue, hebe ich die Hand, erreiche mit ihr die Tür und schließe sie. Und sobald ich dies getan habe, setzt sich der Wagen in Bewegung. Er rollt durch den Schnee davon, ich sehe ihm nicht nach. Ich bleibe noch etwas stehen. Der Gurt der Tasche findet seinen Platz über meiner Schulter, eine scharfe Böe erfasst meinen Mantel. Er bäumt sich auf, eine Gänsehaut zieht sich kalt über meine Beine. Der niedrige, weiß glänzende Zaun des Schulgeländes ragt direkt hinter mir aus dem Boden. Viele Schüler sind hinter ihm zu sehen. Zitternd verbergen sie sich in ihren dicken Jacken, Bewegungen sind ihnen in dieser Kälte unangenehm. Doch lachen können sie. Die belastenden Geräusche mischen sich unter das leise Pfeifen des Windes, dringen an meine Ohren. Ich verberge die Hände in den tiefen Taschen meines Mantels, balle sie zu entspannten Fäusten. Und während ich weiterhin die abscheulich bunten Gardinen mustere, die vor eines der Fenster des gegenüberliegenden Hauses gezogen sind, beginnt es wieder zu schneien. Bewegungen sind am weißen Himmel auszumachen. Sanft legen sich die Schneeflocken auf meine Schultern und als ich das Gesicht hebe und aufblicke, schmilzt eine auf meiner Nasespitze. Ich zwinkere, meine Pupillen wandern nach links. Dort neben mir erstreckt sich der Gehweg bis in weite Ferne. Der Schnee auf ihm ist bereits zertreten; viele Schuhe tragen daran die Schuld. Ich beobachte einzelne Schüler, die herangeeilt kommen, kurz vor mir abbiegen und das Schulgelände betreten. Sie alle warten auf den Einlass, hoffen auf warme Räume. Sie mögen keine Kälte. Mir ist und war es immer gleichgültig. Wärme gar Hitze schadet mir nicht, vor klirrender Kälte scheue ich gleichermaßen nicht zurück. Das Klima ändert nichts an meinem Leben. Wenn man es recht bedenkt, sind es auch die Jahreszeiten, die sich endlos wiederholen. Immer und immer wieder. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Nur ihre lange Dauer machen sie in gewisser Hinsicht erträglich. Alles auf dieser Welt ist verabscheuungswürdig, denke ich mir und schließe die Augen. Da ertönt die leise Melodie der Schulglocke hinter mir. Diese beruhigenden Töne... sie künden das Grauen an. Jeden Tag meldet es sich zur gleichen Zeit und nichts ändert sich an der Situation. Jeder Tag wird von Beginn an wie der andere. Ich blicke auf. Die Schüler stöhnen in einer großen Erleichterung und beginnen zu drängeln. Ich muss mich nicht umdrehen, um es zu wissen, denn es ist jeden Tag so. Sie benehmen sich töricht und dumm, stellen sich an, als hielten sie es keine Sekunde länger außerhalb des Hauses aus, als würde sie der Tod ereilen, wenn sie sich an den Versuch heranwagen würden. Sie drängeln und schubsen, schieben sich durch die schmale Tür gleich eines jaulenden Hunderudels, das gepeitscht wird. Ihr Benehmen ist unsinnig und primitiv. Ich bleibe stehen und warte, schließe mich ihnen nicht an. Wenn man es recht bedenkt, benehmen sich alle Jugendlichen anormal und lassen aus einer Sinnlosigkeit heraus, Streit entstehen. Sie sind sich darüber bewusst, dass sie sich das Leben erschweren, verschwenden jedoch keinen Gedanken daran und folgen ihrer menschlichen Natur. Die menschliche Natur... ich verstehe sie nicht, denn ihr fehlt es an Perfektion. Hält man sich an sie, ist man wie die anderen. Man verschreibt sich einem Leben voller Fehler und Mängel, man verschreibt sich der Norm. Wo, frage ich mich, ist in dieser Tatsache der Vorteil zu finden. Langsam wende ich mich zur Seite und gehe los. In der Zwischenzeit wirkt der große Platz vor dem weißen kahlen Gebäude leer und trist. Ich sehe nur noch wenige, die die Stufen hinaufeilen und im Vorraum verschwinden, als flüchteten sie vor etwas. Diese Menschen... Ist es die weit verbreitete Primitivität, die sie die Sinnlosigkeit des Lebens nicht erkennen lässt? Viele von ihnen sind in meinem Alter und ihnen sind das falsche Glück und die geheuchelte Freude hold. Ich kenne viele, die stets ein Lächeln mit sich umhertragen. Dieses Lächeln erscheint mir wie eine Maske, die sie sich aufsetzen und des Nachts ablegen. Es erscheint mir unnatürlich und verkrampft. Ich weiß nicht, warum es eine solche Wirkung auf mich hat. Es ist möglich, dass ich ihre Gründe nicht sehe. Und ich sehe sie nicht, weil die Aufgabe, diese Geste zu ergründen, meiner nicht würdig ist. Unrealistisch sind sie alle. Sie besitzen falsches Glück, geheuchelte Freude und meine tiefe Verachtung. In sicheren Schritten überquere nun auch ich das Gelände. Die wenigen Überreste des Schnees knacken unter meinen Stiefeln. Die Flocken fallen nun dichter, dennoch lasse ich mir Zeit. In dem großen Vorraum, an dessen Wände sich die Spinde entlang reihen, stehen nur noch wenige Schüler. Sie unterhalten sich, wechseln Erlebnisse aus, die sie während der Freizeit gemacht haben und verstummen, als ich eintrete. Diese Geste des erschütternden Respekts erlebe ich oft und sie kommt mir gelegen, wirkt angenehm. Ich nähere mich meinem Spind und sie lassen die Stufen hinter sich und betreten, die Gespräche leise wieder aufnehmend, das Schulhaus. Nicht den kleinsten Teil meiner Beachtung widme ich ihnen. Ich ziehe die Hände aus den Taschen des Mantels und bringe den Gurt meiner Tasche mit einer gemächlichen Bewegung dazu, über meine Schulter zu gleiten. Ich stelle sie auf einer der wenigen sauberen Stellen ab, tippe den fünfstelligen Code auf dem kleinen Display und öffne die Tür meines Fachs. Ich blicke einem langen Schultag entgegen, der jedoch auch eine positive Tatsache mit sich bringt. Mir wird weniger Zeit bleiben, mich in meiner Firma aufzuhalten. Ein Termin erwartet mich dort, ein Treffen und ein ausführliches Gespräch mit einem unbedeutenden Geschäftpartner, dem ich dennoch meine Zeit opfern muss. Ich schlüpfe aus meinem Mantel, greife nebenbei nach meinem Bügel und hänge den leicht nässenden Stoff säuberlich darüber. Ordnung ist mir wichtig. Sie trägt einen bedeutsamen Teil zur völligen Perfektion bei. Ich klemme den Bügel über den Haken, trete zurück und hebe die Hand, um mich abzustützen. Meine andere Hand fährt unter das linke Hosenbein, tastet nach dem weit oben liegenden Reißverschluss des Stiefels und zieht ihn hinab. Ich wechsle meine Schuhe, schlüpfe in die weißen Hauspantoffeln und schließe meinen Spind, nachdem ich dies erledigt habe. Bevor ich dann nach meiner Tasche greife und hineingehe, richte ich mich noch einmal auf und betaste den Kragen der Schuluniform. Er ist geschlossen, alles stimmt. Ich richte ihn kurz, meine Hand fährt auch durch mein Haar, bevor sie sich gen Tasche senkt und diese aufhebt. Wieder gehe ich durch die sauberen Gänge. Die Schüler, die eng beieinander stehen, wirken wie ein Haufen gleichfarbener Ameisen auf mich, heben sich lediglich durch die hellblauen oder weißen Pantoffeln voneinander ab. Diese Schule brachte mich bereits oft zum Grübeln. Jeder Klassenraum gleicht dem anderen, es ist unübersichtlich. Jeder Schüler gleicht dem anderen, die strenge Kleiderordnung lässt keine Diskriminierung zu. Die Gänge sind in weißer Farbe gestrichen, nur zwei von ihnen wirken bereits wie ein Irrgarten auf Fremde. Hier gibt es nichts Außergewöhnliches. Alles symbolisiert die völlige Ordnung und Disziplin, ein Symbol der Freude ist nirgends zu sehen. Keine Bilder, lediglich Glaskästen, in denen man die zahlreichen, vor Protz sprudelnden Urkunden der Schule bestaunen kann. Dem Gebäude fehlt es an Leben, außen wie auch innen. Ich fühle mich hier wohl, denn es gleicht meinem Haus. Ich achte auf nichts und niemanden, lasse die plappernden Gruppen hinter mir und steuere auf die Treppe zu. Ein Lehrer kommt mir entgegen, zieht grußlos an mir vorbei. Jeder Schüler verbindet die gnadenlose Härte und Strenge mit ihm, hegt Furcht in seiner Gegenwart. Mit ihm wird jede Unterrichtsstunde zu einem einprägsamen Zuchtprogramm. Der Mann besitzt den größten Teil meiner eher schlicht ausfallenden Sympathie, was die Schule betrifft - so müssen Lehrer sein. Ich erreiche die erste Etage, biege nach rechts und betrete somit das Klassenzimmer. Ein heller Raum mit großer Fensterfront. Müdigkeit beginnt hier erst später zu herrschen. Noch sind die, die ich unwillig als meine Mitschüler bezeichne, bei ausgesprochen guter Laune. Sie haben sich in ihren Gruppen zusammengefunden, kauern auf, an oder neben den Tischen und betreiben Konversation. Niemand senkt die Stimme, als er mich bemerkt. Hier schenkt man mir keine Beachtung, man hat sich längst an mich gewöhnt. Ich lasse den Türrahmen hinter mir, wortlos und unauffällig durchquere ich die Tischreihen. Ich fand meinen Platz in der hintersten Reihe am Fenster. Eliteschüler werden prinzipiell nach hinten verbannt, um den weniger Gebildeten und Aufnahmefähigen das Lernen zu erleichtern. Ich bin froh über meine abgeschiedene Ecke. Keine versteckten Blicke treffen meinen Rücken, der Lehrer spricht mich nur selten an. Ich übe mich darin, den Anschein zu erwecken, als wäre ich für nichts zugänglich, als läge um mich herum ein Schutzschild, der keine Stimmen durchlässt. Abwesend und gedankenverloren mag ich anderen vorkommen, doch ich sehe und höre alles. Meine Bewegungen wirken, als würde ich sie unter strenger Kontrolle durchführen. Jeder Handgriff passt, jeder Schritt ist sicher, doch das alles ist lediglich routiniert und geht automatisch vonstatten. Ich bin perfekt, sogar bis hin in die kleinste, unbedeutende Geste. Ich ziehe meinen Stuhl zurück, lasse mich auf ihm nieder und stelle die Tasche auf meinem Schoß ab. Noch immer schenke ich meiner Umgebung keinerlei Beachtung. Ich weiß wie das Zimmer aussieht, ich kenne das Benehmen meiner Mitschüler bis in das kleinste Detail, ohne es studiert zu haben. Gemächlich, beinahe schon lautlos, lege ich die Bücher auf meinem Tisch ab, lasse die Tasche neben ihm verschwinden und lehne mich zurück, ohne die geringste Entspannung zu finden. Erst dann blicke ich auf. Überprüfend und abwägend tasten meine Augen das Umfeld ab. Größtenteils mit Desinteresse, teilweise auch mit Verachtung, fange ich wenige Worte der einzelnen Gespräche auf. Die Themen, über die man sich unterhält, begründen dieses Desinteresse. Aussageschwach und unbedeutend sind sie allesamt. Sie beweisen ein weiteres Mal, dass es zuviel Freizeit gibt, die für manche negative Auswirkungen hat. Die Jugendlichen, die mich von Tag zu Tag umgeben, führen ein normales, minderbemitteltes Leben und doch sind sie mir ein Mysterium. Ich kenne ihr Benehmen, kann es mir jedoch nicht erklären, es gar begründen. Alles wirkt so sinnlos auf mich. Die Lehrerin tritt ein, mein Blick streift sie nur flüchtig und richtet sich anschließend stur nach vorn. Dort trifft er auf einen bestimmten Punkt und bleibt ausdruckslos an ihm hängen. Vor mir sitzt ein junger Mann, mit dem ich immer wieder zu tun habe, obwohl ich es mit allen mir zu Verfügung stehenden Mitteln verhindern will. Ich gerate oft in Konflikt mit ihm, bin jedoch froh, noch nie von ihm abhängig gewesen, oder gar auf ihn angewiesen zu sein, so wie es bei einem anderen Mitschüler der Fall ist. Ein gewisser Junge, mein persönliches Synonym für das vollständige Nichtskönnen, für die vernebelte Denkweise und die Vorliebe für das Unrealistische. Yugi Muto nennt er sich. Ein Junge, an den ich freiwillig keinen Gedanken verschwenden will. Ich habe ihn nicht angesehen, noch immer ist mein Blick auf den blonden ungekämmten Schopf gerichtet, der sich vor mir hin und herbewegt. Katsuya Jonouchi. Er ist wohl der einzige, der kein Mysterium für mich darstellt. Nein, ich weiß alles über ihn. Viel hat er in seinem tristen Leben nicht zu bieten, das sich erforschen lässt. Er ist durch die Primitivität geschwächt, war noch nie dazu imstande, intelligente Gedanken zu führen. Er symbolisiert den typischen Durchschnittsbürger für mich, mehr nicht. Und selbst mit dieser Einschätzung übertreibe ich vielleicht. Wenn man es recht bedenkt: Jonouchi weiß nichts, Jonouchi kann nichts, Jonouchi ist ein Nichts. Und so wird es immer bleiben. Er ist nicht einmal meines Mitleides würdig. Seine falsche Entschlossenheit und der stetige Optimismus behagen ihm nicht. Seine seelische Weichheit und der übertriebene Sinn für Freundschaft und Zusammenhalt machen ihn für mich schier unerträglich. Ja, früher war er mir ein Dorn im Auge. Er störte meine Konzentration bereits mit einem seiner Atemzüge. Vernahm ich seine Stimme, wuchs der Zorn in mir, wobei es gleichgültig war, ob seine Worte mir galten oder auch nicht. Seine Anwesenheit war der auffälligste Störfaktor in meinem Leben. Doch dieses Problem habe ich behoben. Es stellte eine kurzweilige, jedoch äußerst erfrischende Herausforderung in meinem Alltag dar, über ihn hinwegzukommen und dabei keinen Schaden an mir selbst anzurichten. Wie alles in meinem Leben, glückte auch dieses Vorhaben. Heute beachte ich ihn lediglich mit flüchtigen Blicken, die jedoch sehr aussagekräftig sind. Ich spreche ihn nicht an und gebe auf seine Worte nur selten eine Erwiderung. An manchen Tagen verlangt es mir sogar nach einer Selbstbelügung. Beinahe schon kindisch erscheint mir der Gedanke, Jonouchi sei nicht anwesend sei, obwohl ich ihn deutlich vor mir sehe. Anders ausgedrückt, vertiefe ich mich zu sehr in die völlige Übersehung und Nichtbeachtung des jungen Mannes, als das ich ihn beachten könnte. Mazaki und Honda sind mir zu unbedeutend, als dass ich meine Gedanken an ihnen verschwende. Sie sind nur Anhänger in meinen Augen. Sie begleiten, ohne sich einzumischen oder ihren Teil beizutragen. Mit Otogi hatte und habe ich nichts zu tun und Bakura lerne ich jeden Tag von neuem kennen, so unauffällig und unwichtig ist er. Als eine weitere Melodie den Beginn der Stunde ankündigt, breche ich meine Beobachtung ab. Ich senke den Blick und nagle ihn regelrecht an der weißen Arbeitsfläche meines Tisches fest. Die Tür schließt sich, die Schüler sitzen still und schweigend. Auch ich bewege mich nicht. Und das nicht aus dem Grund, weil ich streng an der Disziplin teilnehme. Nein, die Haltung wirkt gemütlich auf mich und ich betrachte mir die kaum sichtbare Holzmaserung. Die Lehrerin erhebt die Stimme. Sie ist leise, wankt und zittert verunsichert. Sie hat nie die Kraft besessen, eine gewisse Autorität auszustrahlen. Es ist vielmehr Mitleid, welches die Schüler zum Benehmen anregt. Mitleid habe ich mit dieser Frau nicht. Sie ist zu schwach und weich; so etwas braucht die Menschheit nicht und läge die Vollmacht in meinen Händen, wäre sie arbeitslos. Sie spricht über organisatorische Maßnahmen und Veränderungen, dabei knetet sie die Hände ineinander und verlagert das Gewicht von einem Bein auf das Andere. Schwankend steht sie vor der Klasse und wünscht sich, sie wäre woanders. Woanders zu sein, wünsche ich mir auch. Überall, nur nicht in der Firma. Ich brauche mich nicht zu konzentrieren, um jedes ihrer Worte aufzufangen und flink zu verarbeiten. Ich präge mir alles ein, lasse nichts außer Acht, und das bereits unbewusst. Vor mir beginnt sich Jonouchi zu bewegen. Er rutscht auf dem Stuhl hin und her, lehnt sich zurück und streckt die Beine bequem von sich. Er ist gelangweilt und scheut jegliche Anstrengung, diese Tatsache zu verbergen. Ich beobachte ihn nicht, starre weiterhin auf meinen Tisch und dennoch entgeht mir keine seiner schwerfälligen Bewegungen. Nach wenigen Minuten kommt die Lehrerin zu dem Lernstoff. Sie unterrichtet uns in Astronomie. Und das tut sie auf eine Art und Weise, die den Zwang und die Lustlosigkeit deutlich werden lässt. Wieder kommt die triste Routine zum Vorschein, als sie zu erzählen beginnt und sich der Tafel zuwendet. Mit größter Selbstverständlichkeit beginnen sich die Schüler zu regen. Sie öffnen Schreibblöcke, zücken Stifte und machen sich Notizen. Außer der Lehrerin spricht niemand, auch die Disziplin, die hier herrscht, sagt mir sehr zu. Schneller als ich es erwartet hätte, neigt sich die Stunde ihrem Ende entgegen. Jene Melodie ertönt bald und die Lehrerin macht den Anschein, als erfülle sie diese Tatsache mit unbeschreiblicher Freude und Erleichterung. Sie beendet den Satz, den sie begonnen hat, nicht, wendet sich ab und kehrt zu dem Lehrerpult zurück. Ich lasse den Stift zwischen zwei Fingern wippen, während ich mir meine Notizen betrachte. Pure Theorie, niemals wird der Versuch unternommen, das Lernen angenehmer zu gestalten. An mir soll es nicht liegen, alles hier ist erfüllt von meiner Gleichgültigkeit. Während die junge Frau ohne auch nur die leiseste Verabschiedung den Raum verlässt, finden die Schüler zur Sprache zurück. Sie erheben sich und von neuem finden sich die Gruppen zusammen. Ich höre sie stöhnen, als hätte diese Stunde abscheulich an ihren Kräften gezehrt. Sie sehen sich als die Gequälten an, gleichermaßen sind sie sehr bestrebt in der Annahme, die Lehrerin sei für den Lernstoff verantwortlich, der ihnen zu schaffen macht. Ich bewege mich nicht, bin nicht darauf aus, mich der Hektik anzuschließen. Ich lasse mir Zeit und blicke erst auf, als ich eine bekannte Stimmte vor mir wahrnehme. Muto und Honda haben sich zu Jonouchi gesellt. Über ihre heiteren Gesichter brauche ich mich nicht zu wundern. Sie sind beseelt von ungestümer Freude, ganz gleich, was geschieht. Jonouchi jedoch, lässt es sich nicht nehmen, die Arme von sich zu strecken, auf dass ein leises Knacken von seiner Schultergegend ertönt. Er gähnt, lässt sich mit übertriebener Trägheit im Stuhl tiefer sinken und wirft den Kopf zurück. Wie ein Gepeinigter benimmt er sich. Welch ein unsinniges, von Dummheit geprägtes Verhalten. Als er den Hinterkopf in den Nacken legt, genüsslich den Mund öffnet und einen erschöpften Atem ausstößt, fixiere ich den Blick auf seine gesenkten Lider. "Ich finde es traurig, dass Frau Koda so ist", höre ich Muto mit dieser abscheulichen mitleidsvollen Stimme seufzen. Mitleid hat er gegenüber allen Lebewesen. Ich bewege mich nicht, bleibe sitzen wie eine Statue und führe meine Beobachtung fort. Muto fährt fort. "Ich glaube, früher war sie einmal anders." Endlich kehrt das Leben in den gemarterten Körper des Blonden zurück. Seine Lippen beginnen sich zu bewegen, wieder stöhnt er und dann heben sich seine Lider. Seine braunen Pupillen richten sich automatisch geradeaus und unsere Blicke treffen sich, denn noch nie bin ich davor geflohen. Selbst meine Augen drücken eine größere Macht und eine vollkommenere Stärke aus als die Seinen. Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, dann wird er den Blickkontakt abbrechen und ich bin mir des Sieges gewiss. Er sieht mich an und ich lasse mein Gesicht vereisen, hindere es an jeglichen Bewegungen, selbst, wenn es nur ein Zucken ist. Und dennoch mache ich eine Warnung deutlich. Er sieht mich an und auch in seinen Augen erkenne ich neben der Schwäche eine leise Verachtung meiner Person gegenüber. Es sind nur wenige Sekunden, dann flieht er. Er richtete sich auf, rutscht im Stuhl nach vorn und beginnt seinen Platz aufzuräumen, sich für die kommende Stunde vorzubereiten. Er erträgt den Blick nicht, den ich ihm zu Ehren entworfen habe. Er scheint sich regelrecht vor der klirrenden Kälte zu fürchten, die starr und beißend in meinen Augen liegt. Eine andere Erklärung finde ich nicht. Und ich gab mich nie einem Versuch hin, nach ihr zu suchen, denn so gefällt es mir. Ich folge dem Abbruch des Blickkontaktes schnell, beginne mich zu bewegen und greife nach meiner Tasche. "Sie lässt den Unterricht zu keiner besonderen Freude werden", bemerkt Honda, der augenscheinlich ebenfalls von leisem Mitleid befallen ist. "Wir sollten vielleicht mit ihr sprechen", wirft Muto ein. "Mit ihr sprechen?", meldet sich Jonouchi zu Wort. Er wiederholt Mutos Worte überrascht, gleichzeitig mit leisem Hohn, den nur ich in seiner rebellischen Stimme wahrzunehmen scheine. "Bist du wirklich der Meinung, dass ein Gespräch an alledem etwas ändern wird? Yugi, ich denke, wir müssen unsere Sorgen anderen Dingen widmen. Was hätten wir zu tun, wenn wir uns um alles kümmern würden?" Ich lasse die Bücher in der Tasche verschwinden und ziehe andere hervor, ohne der Konversation, die am vorderen Tisch betrieben wird, Beachtung zu schenken. "Aber Katsuya." Muto scheint von dem Desinteresse seines Freundes entsetzt. Er beugt sich nach vorn, stützt sich auf den Tisch und sieht den Blonden eindringlich, beinahe schon flehend an. "Sie ist erst seit kurzem so. Etwas muss passiert sein, das ihren Charakter so verändert hat." "Yugi." Jonouchis Stimme schwankt vor nervlicher Erschöpfung. "Ihr privates Leben hat uns nicht zu interessieren. Sie selbst ist dafür verantwortlich und wenn etwas geschehen sein sollte, dann muss sie selbst Sorge dafür tragen und sich zu helfen wissen." Diese scheinbar vernünftigen Worte wirken sich beinahe schon schmerzhaft auf mein Gehör aus, erscheinen mir nahezu unwirklich. Meinungen dieser Art ist man von Jonouchi nicht gewohnt. Gemächlich schiebe ich die Bücher in die linke Ecke meines Tisches und werde sogleich auf den Mann aufmerksam, der nun den Klassenraum betritt. Und mit seinem Erscheinen ändert sich die Atmosphäre unter den Schülern schlagartig. Sie sprechen leiser, mancher verdeckt seinen Mund gar mit der Hand, als würde er durch die plötzliche Gegenwart des Lehrers Todesangst verspüren. Während die Lautstärke binnen weniger Sekunden sinkt, fixiere ich den Mann unbeeindruckt, beinahe schon gelangweilt und unbeteiligt. Herr Sakuro nennt er sich, unter Schülern ist er jedoch eher unter dem Namen "Teufelsrochen" bekannt, was ich als überaus primitiv und fantasielos empfinde. Er ist nicht der Mann vieler Worte, doch die Worte die er spricht, besitzen eine große Wirkung. Sie lassen die Schüler erstarren, hören sich annähernd sogar nach einem Verbot gegenüber dem Atmen an. Vor ihm scheut sich jeder. Jeder hasst ihn auf angstvolle Art und Weise, mein zurückhaltender Respekt ist der einzige, den er besitzt. Er setzt sich hinter seinen Lehrerpult. Seine Haltung wirkt zusammengesunken und doch stellt er selbst in diesem Moment eine unerschütterliche Autoritätsperson dar. Er senkt das Gesicht, um in seiner Tasche zu wühlen, seine dunklen Pupillen jedoch, heben sich und tasten jeden Zentimeter des Raumes, jeden Schüler mit einer stählernen Härte und einer ebenso unerbittlichen Strenge ab. Seine Hände in der Tasche bewegen sich weiterhin, scheinen nach etwas zu suchen. "Dieser Mann", höre ich Jonouchi feindselig knurren. "Der hat seinen Beruf verfehlt." "Wie meinst du das, Katsuya?" Muto versteht es nicht, solch perfide Gedanken sind ihm gänzlich unbekannt. Der Blonde fasst mit beiden Händen nach seinen Büchern und rückt an ihnen; die Gesten wirken verbissen und angespannt. "Folterknecht", erklärt er leise brummend. "Das passt zu ihm." Taylor grinst in amüsierter Zustimmung, doch Muto ist anderer Ansicht. "Katsuya", sagt er ängstlich und schickt Sakuro einen verunsicherten Blick. "Das ist gemein von dir. Es gibt nun einmal solche Menschen und sicher existiert auch eine Erklärung für sein Benehmen." "Natürlich", erwidert Jonouchi daraufhin mit verächtlicher Ironie. "Sicher hat auch er unter einem schweren Leben zu leiden. Du solltest vielleicht mit ihm sprechen, Yugi. Und wenn du schon einmal dabei bist, kannst du dich gleich um den Rest des Lehrerstabes kümmern. Jeder von denen hat eine dringende Veränderung nötig." Muto kann nur die Stirn runzeln, bevor er beginnt, das Gesagte zu verarbeiten und zu durchdenken. Ich bewahre mich vor einem erschöpften Stöhnen, beuge mich nach vorn und reibe mir die Wangen. Es schmerzt. Einjeden Tag fügt mir das übertrieben soziale und fürsorgliche Verhalten des Jungen psychischen Schaden zu. Ich kann es nicht ertragen, ihn reden zu hören. Ob nun von der Freundschaft, mit der jedes Wunder möglich ist, oder von anderen Themen, die nicht weniger sinnlos sind. Was, frage ich mich ein weiteres Mal, wirkt so sympathisch an diesem Jungen? Welche Erklärung gibt es für den ausgedehnten Freundeskreis, den er sein Eigen nennt? Jonouchi, Honda, Mazaki, Otogi, Bakura... und sie sind nicht die einzigen, die dieser widerlichen Kröte zu Füßen liegen. Selbst Mokuba, mein eigen Fleisch und Blut hegt keinerlei Gräuel gegen ihn. Freundschaft. Ich weiß dieses Wort nicht zu definieren. Es ist mir ein Mysterium, vor dem ich mich scheue, Unverständnis und beinahe schon Angst empfinde. Freundschaft. Sie macht schwach, mehr weiß ich nicht über sie. Jonouchi ist das beste Beispiel für die Befürwortung dieser Behauptung. Er ist ein Nichts und ohne seine Freunde noch weniger. Ich breche mein tagtägliches Sinnieren ab, als sich die raue Stimme des Lehrers erhebt. "Bücher und Hefter in die Taschen", sagt er in einem Befehlston, der keinen Widerspruch zulässt. "Wir schreiben einen zweistündigen Test." Die Schüler verstummen, eine Totenstille bricht aus. Das Entsetzen, welches durch diese wenigen Worte zum Leben erwacht, ist deutlich zu spüren und ich bin wohl der einzige, der sich nicht überrumpelt fühlt. Das Wesen des Mannes ist von unglaublicher Gehässigkeit geprägt. Es ist zu erwarten, jeden Tag eine unangenehme Überraschung zu erleben. Mal beginnt er mündliche Leistungskontrollen, die er streng, beinahe schon ungerecht bewertet. Andere Male kommt er auf Themen zu sprechen, die für die Schüler zu hoch liegen, unverständlich und schwer auf sie wirken. Und damit noch nicht genug. Anschließend überlässt er es uns, dieses Thema zu erforschen und zu verstehen. Ein zweistündiger Test stellt für mich keine Ungewöhnlichkeit dar, nicht einmal ein mulmiges Gefühl weckt er in mir, die Angst vor einer schlechten Note. Ich bin der erste, der sich bewegt und den strengen Befehl befolgt. Die anderen sind bleich und Jonouchi zeigt seinen Gemütszustand deutlich. Er springt auf, der Stuhl rutscht quietschend zurück und stößt gegen meinen Tisch. "Das können Sie nicht machen!", höre ich ihn wütend protestieren. Er hat beide Hände zu Fäusten geballt, bekämpft den Lehrer mit tödlichen Blicken. "Sie müssen Tests ankündigen!" "Einen Teufel muss ich." Sakuro zeigt sich in keiner Weise beeindruckt. Er behält seine gefährliche Ruhe bei, lenkt jedoch einen warnenden Blick auf den blonden Rebellen. "Befolgen Sie meine Anweisungen, Jonouchi. Sonst ist dieser Test nicht das einzige, worunter Sie heute zu leiden haben." Die Worte sind von großer Wirkung. Der Blonde entspannt die Fäuste und lässt den Kopf sinken. Er kapituliert und der einzige Widerspruch, den er sich noch getraut, ist ein leiser Fluch auf den Lehrer und den gottverdammten Rest der Welt. Dann ist er still, seine Hand tastet nach dem Stuhl und er setzt sich. Bewegung kehrt zurück. Stockend und verunsichert lassen sich die Schüler an ihren Tischen nieder und verstauen die Utensilien, in denen sich all das ungelernte Wissen befindet, wie befohlen in ihren Taschen. Sie wechseln missmutige Blicke, die leise angenehme Melodie wirkt wie ein brutales und unbarmherziges Signal, dass das unvermeidliche Ende ankündigt. Die Schüler benehmen sich, als stünden sie vor dem Schafott und sähen dem Tod ins gehässige Antlitz und dabei hätte einjeder mit etwas derartigem rechnen müssen. Ich widme den geängstigten Seelen ein scharfes Grinsen, das verächtlich und zugleich höhnisch durch meine Miene zuckt und verschwindet, bevor es Aufsehen erregt. Doch Aufmerksamkeit schenkt mir nun niemand mehr. Sakuro erhebt sich, die Bewegung wirkt drohend, verbunden mit einer abscheulichen Freude auf das Kommende. In gewisser Art und Weise bin ich mit diesem Mann zu vergleichen. Wir beide genießen es mit größtem Entzücken, die Schüler schwitzen zu sehen. Leises Tuscheln herrscht eine kurze Zeit lang, wird durch ein scharfes "Ruhe!" vonseiten des Lehrers jedoch schnell abgestellt. Und ohne ein weiteres Wort legt Sakuro die Zettel auf den vordersten Tischen der einzelnen Reihen ab. Ich beobachtete die Schüler, wie sie zögerlich nach ihnen greifen und anschließend nach hinten reichen, an Schüler, die eine ebenso tiefe Angst verspüren. In meiner Reihe geht dies recht schnell vonstatten. Ich sehe, wie sich Jonouchi nach vorn beugt, wie er den Kopf senkt, um die Aufgaben kurz zu mustern und sich anschließend zu mir umdreht. Seine Miene ist befallen von purer Wut und er scheut sich nicht, sie an anderen auszulassen. So trifft mich sein lodernder Blick und seine Lippen verziehen sich verbissen. "Erstick dran", faucht er feindselig, während er die Aufgabenzettel auf meinen Tisch knallt und mir kurz darauf wieder den Rücken zukehrt. Ich entgegnete ihm nichts, kann es mir leisten, ruhig und bequem auf meine Genugtuung zu warten. Es wird nicht lange dauern, da wird die Verzweiflung den Platz seiner Wut einnehmen. Ich sehe ihn bereits vor mir, wie er kleiner und kleiner wird, wie er sich hastig durch das wirsche Haar fährt und armselig winselt. Ich werde mich an diesem Anblick ergötzen und getrieben durch diese Vorfreude, überhöre ich diese Provokation gern. Rascheln ertönt, die Aufgaben werden voller Pessimismus durchgeschaut, während sich Sakuro auf seinem Stuhl räkelt und zwei Stunden voller Ruhe auf sich zukommen sieht. Auch ich schiebe die Hand über den Tisch hinweg, auf die Blätter zu, lege jedoch nur den Zeigefinger auf eine der Kanten und drehe sie zu mir um. Anschließend geht meine Hand wieder auf Wanderschaft. Sie greift nach dem schwarzen goldumrandeten Füller und ich beginne zu schreiben. Alles dreht sich um Logarithmusfunktionen und Exponentialgleichungen. Diese Worte klingen in manchen Ohren abscheulich. Sie wecken Vorurteile, lassen alles umso schwieriger wirken. Für mich jedoch, stellen sie keinerlei Geheimnisse dar. Ich habe sie erkundet, beherrsche sie perfekt. Während gedrücktes Schweigen um mich herum herrscht, streifen meine Augen flüchtig die erste Aufgabe und ich löse sie. Ohne auch nur die kürzeste Zeit inne zu halten oder gar zu zögern, erstelle ich drei breite Blöcke. Sie bestehen lediglich aus Zahlen, Buchstaben, Quadraten, Wurzeln, Kommas, Klammern und weiteren Zeichen, die das Erscheinungsbild dieser Gleichungen zu einem unglaublichen Gewirr werden lassen, das scheinbar keinerlei Sinn beherbergt. Für mich ist es alles andere als das. Ich unterstreiche das achtstellige Ergebnis und wende ich dem nächsten Block zu, ohne mein Geschriebenes noch einmal zu überprüfen. Meine Hand bewegt sich automatisch, scheint überhaupt nicht auf mich angewiesen zu sein, Grübeleien sind nicht von Nöten. Die Lösungen sehe ich bereits vor Augen, aus den Aufgaben lese ich wie aus offenen Büchern, die mir alles Wissenswerte verraten. Unbewusst stelle ich Sinne ab, die Geräusche der Umwelt wahrnehmen, vertiefe mich in meine Pflicht. Unter Störungen werde ich so nicht zu leiden haben. Flüssig arbeite ich mich weiter und blättere bald um, um mich der zweiten Seite zu widmen. Insgesamt sind es vier, ich werde wohl die ganze Stunde dafür benötigen. Ich lasse mich nicht unterbrechen, schreibe und zeichne, als folge ich einer routinemäßigen Arbeit. Und mehr als das ist es nicht für mich - Routine. Ich löse erst den Blick von meinem Blatt, als ich fertig bin. Es ging unerwartet schnell, mir bleiben noch wenige Minuten bis zum Stunden-Ende. Ich lege den Füller ab, schiebe meine Arbeit von mir und schließe somit mit ihr ab. Ich blicke auf, nehme mein Umfeld wieder wahr und treffe unausweichlich auf die Augen Sakuros. Er ist auf mich aufmerksam geworden, scheint durch meinen schnellen Erfolg jedoch nicht überrascht zu sein. Warum sollte er auch? Immer bin ich der Erste, immer ist meine Note die Beste. Gleichzeitig wenden wir die Blicke ab, was auf unser gegenseitiges Desinteresse zu schließen ist. Er wendet sich dem Buch zu, welches er liest, ich schaue mich langsam um. Die Verunsicherung, gleichermaßen die Verzweiflung sind lang anhaltend. Die Schüler kratzen sich und rutschen auf den Stühlen von einer Seite zur anderen, vor und zurück, als würden sie der Blamage dadurch entkommen. Sie verstehen nichts, nicht einmal diese einleuchtende Theorie. Ihre Primitivität ist erdrückend, ihre Faulheit dem Lernen gegenüber, ebenso. Man muss kämpfen, um Ziele zu erreichen. Solange sie sich dieser einfachen Regel nicht bewusst werden, verdienen sie die Misserfolge und die darauf folgenden Depressionen. Die Pausenmelodie bringt keine Erlösung mit sich. Die Pause wird durchgearbeitet, was nicht zu bedeuten hat, dass die dritte Stunde früher endet. Der Lehrer blickt auf, schaut durch das Fenster nach draußen und anschließend in die Klasse. "Kaiba", höre ich ihn sagen, einige der Schüler blicken neugierig auf. Dieses Geschehnis stellt eine willkommene Abwechslung für sie dar. Auch ich werde aufmerksam und wieder treffen sich unsere Blicke. "Geben Sie Ihre Arbeit ab und tragen Sie dafür Sorge, dass es bei keinen Betrugsversuchen bleibt." Auf diese Bitte hin, die keinen Widerspruch duldet, verdunkelt sich meine Miene ablehnend. Es ist immer so, wenn man mich darum bittet. Viele Lehrer nutzen die Gelegenheit, um sich zurückzuziehen und ihre Ruhe zu haben. Man überträgt mir Verantwortung, von der mein gesamter Alltag prinzipiell niedergedrückt wird. Dennoch erhebe ich mich bereitwillig und zugleich widerstrebend und mache mich mit meiner Arbeit auf den Weg nach vorn. Viele bewundernde Blicke haften dabei an mir, ich spüre sie regelrecht auf meiner Haut. Noch ehe ich den Lehrerpult erreiche und die Arbeit auf ihm abgelegt habe, ist der Lehrer bereits mit seinem Buch an der Tür, öffnet sie und verlässt den Raum. Mein abfälliger Blick folgt ihm, bis er auf dem Gang verschwindet und sich die Tür hinter ihm schließt. Lustlos und aufgezwungen wirken meine Bewegungen, mit denen ich nach dem gepolsterten Stuhl des Lehrers greife, ihn hinter dem Pult hervorziehe und mich auf ihm niederlasse. Kein warnender Blick ist von Nöten, damit die Schüler die Blicke wieder auf ihre Arbeiten richten. Vor mir haben sie nicht weniger Respekt als vor Sakuro, wenn nicht noch mehr und sie wissen genau, dass ich haarscharf auf sie achte. Die Tatsache, dass sie meine Mitschüler sind und wir eine Gemeinschaft darstellen sollen, hält mich nicht davon ab, Betrugsversuche zu melden und unbarmherzig zu sein. Und im Gegensatz zu Sakuro, der unaufmerksam in sein Buch starrt, sehe und höre ich alles. Alles, ausnahmslos. Ich verschränke die Arme vor dem Bauch, strecke die Beine von mir und musterte die Klasse. Und während ich dort sitze, denke ich, schaut mich an, ich bin das, von dem ihr träumt, es zu sein. Ich habe erreicht, was ihr nie annähernd erreichen werdet. Schaut zu mir auf, ich bin etwas Besseres! Leises Räuspern dringt an meine Ohren, Bleistifte kratzen unentschlossen über das Papier. Ich beobachte Muto, der die Anstrengung nicht scheut, seinen Missmut zum Ausdruck zu bringen. Er seufzt immerzu schwermütig und sitzt die meiste Zeit über reglos auf seinem Stuhl. Auch Hondas Miene wirkt verbissen. Mal und mal schüttelt er den Kopf, mit schnellen Bewegungen streicht er durch. Mazaki kämpft. Entschlossen klammert sie sich an ihr Durchhaltevermögen. Sie scheint weniger Probleme zu haben. Meine Pupillen schweifen nach rechts. Ich erkenne Jonouchi. Seine Lippen formen die stummen Worte bösartiger Flüche, sein Gesicht zuckt, die Hand klammert sich verkrampft um den Bleistift. Aus der Entfernung sehe ich ein Blatt vor ihm, das leicht zerknittert ist und bisher kaum beschrieben wurde. Ich lasse den Kopf sinken, starre auf den Boden. Meine Intelligenz bringt große Vorteile mit sich. Lehrer lieben Eliteschüler, mein allumfassendes Wissen ist ihnen sympathisch, weniger mein Charakter oder ich als Mensch. Ich genieße eine unauffällige höhere Stellung an dieser Schule, besitze in gewisse Hinsicht gleichermaßen mehr Rechte. Ich darf weiter gehen, darf mir mehr erlauben und auf einen Fehler, der von mir nicht zu erwarten ist und auch noch nie vorkam, würde niemand achten. Ich nutze die Vorteile jedoch nicht, leide viel zu sehr unter den Nachteilen, die ebenfalls entstehen. Meine Intelligenz schmerzt mir. Sie ist so hoch, dass mir nichts mehr als Herausforderung erscheint. Bewunderung und Respekt erhalte ich von anderen genug, doch es bringt mich nicht weiter. Nichts ist dazu imstande. Als ich mir ein weiteres Mal über diese Tatsache bewusst werde, verfällt meine Miene einem zunehmend verbissenen Ausdruck und ich fühle mich abscheulich. Ich bin zu gut für diese Welt, weshalb muss ich sie dennoch durchleben? Ich verenge die Augen und der Hass erhitzt regelrecht meinen Körper, als ich von unten aufblicke und meine Mitschüler anstarre. Ich verachte sie! Ich beneide sie! Mein Wesen ist zu kompliziert, als dass ich mich für eines entscheiden könnte. Unerwartet verspüre ich die Lust, aufzustehen und die Schule zu verlassen. Nicht zur Firma, nicht nach Hause. Es kommt mir ein Gedanke und ich überdenke ihn intensiv, breche ihn nach kurzer Zeit ab und lasse ihn verschwinden. Der Alkohol könnte mir das Leben versüßen, wenigstens für einige Stunden, in denen ich dem Vollrausch erläge. Und wieder hindert mich die Verantwortung gegenüber meinem Bruder daran. Ich hänge in einem Netz fest, das ich mir Jahre über Jahre selbst gesponnen habe. Ich begreife jedes Fach, ich verachte jedes Fach. Nichts gibt es an der Schule das mich, wenn auch nur im geringsten, entzückt. Jedes Fach ist wie das andere, nur eine einzige Ausnahme existiert, die ich besonders abstoßend finde. Diese Ausnahme symbolisiert zweifelsohne der Sportunterricht, den ich zweimal wöchentlich über mich ergehen lassen muss. Ich bin im Besitz einer guten Kondition, Ausdauerlauf und Kraftübungen bereiten mir keinerlei Schwierigkeit. Meine Noten in diesem Fach heben sich nicht von den anderen ab und dennoch kann ich den Sportunterricht nicht so recht in meinen Alltag und die Routine integrieren. Jedes Mal ist es anders, jedes Mal ist es noch abscheulicher. Ich setze auf inneres Können, auf Intelligenz und Wissen, die Dinge, die man mir nicht ansehen, nicht an meinen körperlichen Fähigkeiten messen kann. Sport finde ich sinnlos. Meine Aggressionen kann ich auf diesem Weg nicht loswerden, auch beweisen brauche ich mir nichts. In der fünften Stunde stehe ich auf dem Baseballfeld und verfluche mich selbst, nachdem ich mich in der vierten Stunde Klimmzügen und Liegestützen unterziehen musste. Meine Nerven neigen sich ihrem Ende zu. Ich habe mich geweigert, an dem Spiel teilzunehmen, die Erlaubnis des Sportlehrers erhielt ich nach nur wenigen barschen Worten meinerseits. Ihm fällt es schwer, auf einen guten Spieler zu verzichten, meine Mitschüler jedoch, wirken glücklich und zufrieden, während sie werfen, fangen und sprinten. Heute werden sie vor mir bewahrt. Sie müssen keine Todesangst vor Fehlern verspüren und können sich frei bewegen, als wenn sie nicht auch in meiner Anwesenheit dazu imstande wären. Ich stehe in sicherer Entfernung außerhalb des Spielfeldes, habe die Arme vor dem Bauch verschränkt und verfolge das Baseballtraining mit einer Mimik, die jeden und alles verachtet. Ich verachte die Lust am Spiel. Sie ist sinnlos, ebenso wie das Spiel selbst. Ich verachte die Begeisterung, mit der meine Mitschüler an dieser Beschäftigung teilnehmen. Sie verbinden Baseball mit Nervenkitzel und wenn sie um Punkte spielen, sind sie in ihrem Element. Sie schreien, feuern sich an, fluchen und jubeln, als würde es ihnen etwas bringen, den Gewinn einzuheimsen. Nichts bringt es ihnen, die Begeisterung protzt vor Sinnlosigkeit. Und der größte Anteil meiner Verachtung gehört der Sportbekleidung, die zu tragen, alle verpflichtet sind. Ich stehe dort, in der kurzen schwarzen Hose, die knapp ein Drittel meiner Oberschenkel bedeckt und dem T-Shirt, das einen freien Blick auf meine Oberarme gewährt. Ich fühle mich nicht wohl und je mehr der Tag voranschreitet, desto aggressiver und verbissener werde ich. Spätestens nach der sechsten Stunde wagt es niemand mehr, mich anzusprechen. Ob nun Schüler oder Lehrer. Das schrille Geräusch der Pfeife ertönt, die Schüler halten nur ungern in ihren Übungen inne und wenden sich dem Sportlehrer zu, der als einziger das Recht besitzt, lange Hosen zu tragen, was für mich eine entsetzliche Ungerechtigkeit darstellt. Er kündigt ein Spiel an, die Jungen jubeln und besprechen sich untereinander. Und während sie die nötigen Vorbereitungen treffen, driftet mein Blick nach rechts. Nicht weit entfernt erstreckt sich eine Wiese, auf der die Mädchen die beiden Sportstunden verbringen. Sie laufen und kichern leise miteinander, selbst aus dieser Entfernung kann man das schrille Quietschen wahrnehmen. Mein Interesse an ihnen lässt zu wünschen übrig, nach wenigen Sekunden der Beobachtung wende ich mich ab. Die Jungen postieren sich überall auf dem Feld, Jonouchi spielt freudig mit dem harten Ball, während er zu seinem Platz schlendert. Meine Augen folgen ihm phlegmatisch. Und als das Signal aus der kleinen Pfeife ertönt, das den Beginn des Spieles ankündigt, gestehe ich mir ein, dass ich es hier keine weitere Minute aushalte. Die Atmosphäre lässt mich leiden, die Freude der anderen ertrage ich nicht. Mir kommt es nicht einmal im Entferntesten in den Sinn, meinen Entschluss zu überdenken. Ich wende mich ab und kehre in langsamen Schritten zu dem Schulgebäude zurück. Hinter mir ertönen die hitzigen Schreie der Jungen, der dumpfe Knall, als der Ball auf den Schläger trifft - ich will nur weg. Unter diesen Umständen bin ich gern dazu bereit, meine Zeit in der Firma zu verbringen. Die Wände meines Büros drängen sich von Tag zu Tag enger um mich, erdrücken mich regelrecht und nehmen mir die Luft zum atmen. Und doch ist mir der Gedanke lieber, als das heitere Spiel verfolgen zu müssen. Durch eine kleine Tür betrete ich das Gebäude, der Unterricht ist noch in vollem Gange, es herrscht eine angenehme Stille, als ich mich auf den Weg zu den Umkleidekabinen mache. Das verfrühte Verlassen der Schule kann ich nicht als Schwänzen bezeichnen. Ich werde arbeiten. Hinzukommend entschließe ich mich nicht oft dazu. Nur heute, denn meine Nerven und meine seelischen Kräfte neigen sich ihrem kläglichen Ende entgegen. Ich entziehe mich den Qualen, soweit es mir möglich ist. Endlich erreiche ich mein Ziel, öffne die Tür und betrete den großen, mit sauberen Fliesen ausgelegten Raum. Die einzige Besonderheit dieses Tages wird die Einsicht darstellen, dass ich mich weiter auf meinen persönlichen Abgrund, den Tiefpunkt meines Lebens zu bewege. Mir geht es schlecht und nichts besitzt die Fähigkeit, eine Änderung meines Gemütszustandes zu erreichen. In einer Ecke bleibe ich stehen. Seit langem habe ich sie für mich beansprucht, die nahen Kleiderhaufen befinden sich in einem sicheren Abstand auf der hölzernen Bank. Ich vergeude keine Zeit, erwecke den Anschein, mich einer wichtigen Angelegenheit widmen zu müssen. Es gibt keine wichtigen Angelegenheiten in meinem Leben, sie existieren schon lange nicht mehr. Ich knie mich vor die Bank, öffne meine Tasche und suche kurz in ihr. Ich brauche nicht lange zu suchen, werde schnell fündig und ziehe einen Pieper hervor. Dann blicke ich mich flüchtig um, betätigte eine Taste und lasse das Gerät wieder zwischen den Schulbüchern verschwinden. Ich benachrichtige meinen Fahrer, er wird bald hier sein um mich abzuholen und in die Firma zu bringen. ~*to be continued*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)