Walking proud von abgemeldet
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Kapitel 1: 1
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Walking proud
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Autor: Clea
Pairings: Lasst euch überraschen *träller*^^
Kommentar: Mir gefällt einfach die Vorstellung von Visus an deutschen Schulen
^.~
Teil 1
"Ach sch-----!!"
Toshiya knallte seine Haarbürste wütend auf das Waschbecken, das mit einem
sehr ungesunden Knacken antwortete.
"Hör auf zu toben und komm runter, du kommst zu spät!", drang die gereizte
Stimme seiner Mutter durch die verschlossene Badtür.
" Hai, sofort!", brüllte der Schwarzhaarige wütend zurück und versuchte ein
letztes mal verzweifelt die wirren Strähnen auf seinem Kopf zu bändigen. Wieso
klappte das nur bei seinen Haaren nie?! Und warum sahen sie ausgerechnet dann
wenn er in die Schule musste am grauenvollsten aus?
"Leg nen Zahn zu, ich muss auch noch da rein!"
Und das war sein Bruder.
".......außerdem.........", kam ein Flüstern (in Kombination mit einem leisen,
fiesen Lachen) von draußen, "....wirst du es sowieso nie schaffen, gibs auf. Es
wird immer scheiße aussehen......"
Schritte entfernten sich von der Tür, bewegten sich den Flur entlang und die
Treppe hinunter.
" Klappe Uruha.......", murmelte Toshiya mit zusammengebissenen Zähnen und
Tränen in den Augen. " Du und Saki, ihr habt ja kein Probleme mit eurem
Aussehen.......und ihr seid beliebt.......ach zum Teufel!!"
Einige Minuten später schlich ein (noch sehr zerzaust aussehender) Toshiya die
Treppe hinunter und verließ (nach einem kurzen Zwischenstopp in der Küche um
sein bento einzupacken) das Haus. Ohne die Anderen auch nur ein einziges mal
anzublicken.
Uruha verfolgte durchs Küchenfenster die zusammengesunkene Gestalt seines
Bruder mit den Augen bis er außer Sichtweite war. Langsam und bedächtig nippte
er an seinem Kaffee.
"Heiß.........Sah schon wieder ein wenig verpennt aus, unser Totchi, ne...und
diese Frisur....."
Er schüttelte grinsend den Kopf, nahm noch einen Schluck aus seiner Tasse und
setzte sich dann zu seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder an den Tisch.
"Ihr solltet damit aufhören, ihn auszulachen. Beide. Ihr wisst wie sensibel er
ist", entgegnete die Mutter scharf und blickte ihre beiden Söhne durchdringend
an.
"Mamas Liebling", nuschelte Sakito in seinen Kakao und Uruha setzte ein noch
breiteres Grinsen auf, was den beiden nur einen weiteren tadelnden Blick von
Seiten ihrer okaasan einbrachte.
Schließlich stand Sakito auf, packte sein Bento ein und flüsterte kichernd in
das Ohr seines älteren Bruders: "Er ist eben nicht so kawaii wie ich...."
Uruha trank unbeeindruckt seinen Kaffee aus.
" Ja.......so klebrig........", flüsterte er schließlich zurück und
platzierte die leere Tasse mit einem lauten Knall mitten auf dem Tisch.
"Uruha!", rief seine Mutter erschrocken aus, doch besagter Junge war zu diesem
Zeitpunkt schon nicht mehr anwesend.
" Hat sich ins Bad verzogen um "seiner Frisur den letzten Schliff zu geben" wie
er immer sagt.....", erklärte Sakito der verwirrten Frau mit gewichtiger Mine.
" Gütiger Himmel", stöhnte seine Mutter zur Antwort und schlug die Hände vor
dem Gesicht zusammen. Warum ausgerechnet ihre Söhne? Was kamisama hatte sie nur
falsch gemacht?
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Sakito seinerseits hatte schon in Windeseile seine Tasche gepackt, die Jacke
angezogen, seinem großen Bruder, der wieder oben an der Treppe erschienen war
die Zunge rausgestreckt, ein "Ja, ne" zurück über die Schulter geworfen und
war aus dem Haus gestürmt.
Bereits nach kurzer Zeit hatte er Toshiya eingeholt, der mit gesenktem Kopf und
hängenden Schultern im Schneckentempo vorantrottete.
" Jetzt warte doch, du Heulsuse!!"
Toshiya blieb abrupt stehen.
" Bitte?!"
Er warf dem Kleineren einen vor Wut funkelnden Blick zu. Dieser lächelte
entschuldigend.
" Auf was anderes hörst du ja nicht ..."
Toshiya schnaubte wütend und setzte seinen Weg fort, diesmal mit längeren,
schnellen Schritten.
" Bist du jetzt sauer?"
Keine Antwort.
" Sei doch nicht so empfindlich!"
Nur die festen Schritte auf dem Asphalt.
" Es ist mir wichtig, wie es dir geht, bin doch dein Bruder ...."
Keine regung.
" Ach verdammt, mach doch was du willst! Die kann man echt nicht mehr helfen
...."
Sakito blieb stehen und schaute seinem Bruder wütend nach. "Ich nehm nen
anderen Weg, das is ja nicht auszuhalten ..."
Noch ein paar Meter bis zum Schulhof. Toshiya konnte bereits das Gewirr
hunderter Stimmen hören. Er schritt durch das große Schultor und blieb einen
Moment stehen.
" ......ist es dir nicht ....."
Dann lief er schnell über den von Schülergrüppchen bevölkerten Hof, drängte
sich durch die Menschen und verschwand im Schulgebäude.
" Notieren Sie das bitte."
Ein missmutiges Murren von der Klasse.
" Hara-san, haben Sie die Hausaufgabe aufgeschrieben?"
Tadelnde Blicke in Toshiyas Richtung, der zusammengesunken in seinem Stuhl hing
und auf den Boden starrte.
" Und setzten Sie sich richtig hin, wir sind ja hier nicht im Kindergarten."
Unterdrücktes Kichern von der Klasse.
" Hai .... Camui-sensei ....", antwortete der Angesprochene kaum hörbar mit
brechender Stimme und errötete. Dass dieser Lehrer ihn pausenlos bloßstellen
musste! Er war schließlich nicht der einzige, der mit den Gedanken nicht ganz
bei Englisch war.
Es läutete.
" Kami-sama, arigatou ...", murmelte Toshiya und erhob sich seufzend. Doch noch
bevor er sich mit seine, bento bewaffnet in Richtung Tür bewegen konnte, hatte
sich ein großer Junge mit nachtschwarzen Dreadlocks vor ihm aufgebaut. Sein
hübscher, geschminkter Mund kräuselte sich zu einem bösen Lächeln.
" Interessante Frisur, Hara ...", sagte er laut und erntete damit ein paar
hämische Lacher von den hinteren Reihen.
" Ausm Weg, Hakuei ...", murmelte Toshiya ohne den Anderen anzublicken. Er
spürte schon wieder Tränen in sich aufwallen und diesen Triumph wollte er
seiner Klasse nicht gönnen.
" Sag mal ... wieso sitzt du eigentlich als einziger hier alleine?" Mit
gespielter Verwunderung musterte er den zusammengesunkenen Jungen vor sich.
" Ach, stimmt ja ..." Er schlug sich entsetzt vor den Kopf.
" Da will ja niemand sitzen! Kann ich sogar verstehen .....", und er beugte sich
zu Toshiyas Ohr und fügte flüsternd hinzu, " hässliche Kröte .... wenn ich
du wäre, würde ich mich echt umbringen ....." Hakueis Freunde gröhlten vor
Schadenfreude, als Toshiya zur Tür hinausstürmte.
Erst als er sich in einer Kabine auf dem Klo eingeschlossen hatte, kam er wieder
einigermaßen zur Ruhe. Fünf Minuten später hatte er dann sein seelisches
Gleichgewicht wiedergefunden (von Gelassenheit konnte trotzdem keine Rede sein),
verließ die Kabine und drehte den Wasserhahn auf. Gedankenverloren wanderten
Toshiyas Augen über sein verquollenes Gesicht, das ihm aus dem Spiegel vor ihm
entgegenstarrte. Nein, nicht besonders schön ......wo war nur die Seife hier?
Ah, genau, keine da wie immer. Langsam wurde der Wassherhahn zugedreht. Der
Schwarzhaarige hing in gedanken noch immer bei Hakuei. Verdammt, wie machte er
das mit der coolen Frisur. Und diese Gelassenheit! Insgeheim beneidete er den
Anderen um Beliebtheit und Aussehen. Toshiya selbst stand morgens bereits
Todesängste vor dem ersten Blick in den Spiegel aus, was seine Brüder absolut
übertrieben fanden. Das einzige, was einigermaßen akzeptabel an ihm war, das
war seine Figur. Aber die zu zeigen traute er sich nicht (so à la oben ohne,
oder hautenger Pulli oder so).
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"Hey ..... äh ..... nimms nicht so ernst, die meinen das nicht so....."
Toshyia wirbelte herum.
Woher kam die denn auf einmal?
Neben ihm wusch sich nun ein sehr schlankes Mädchen mit goldblond gefärbten
Haaren die Hände und lächelte ihn schüchtern an.
"Äh, nani?"
Er war im Augenblick zu perplex um depressiv zu sein. Was meinte sie mit die
meinen das nicht so?
" Naja ..... hakuei und so ....."
" Genau, Shinya hat Recht, lass dich von diesen Kröten doch nicht
verarschen....", stimmte ein sehr sympathisch aussehender Junge mit feuerroten
Haaren, der neben das Mädchen getreten war. Er kaute an einem Wurstbrot.
Toshiya errötete schlagartig. Also hatte es sich mal wieder rumgesprochen? Er
war doch wirklich das Gespött der ganzen Schule.
" Woher.....", begann er heiser, obwohl er die Antwort schon wusste.
" Er hats von nem Freund gehört, der in deine Klasse geht", erklärte Die
mampfend.
" Aha", gab Toshiya zurück.
Dann stutze er.
Und blinzelte.
Moment mal.
Richtig.
Da war doch was.
Männertoilette.
Er.
ER???!!!!!
Noch einmal schaute der Schwarzhaarige hin und jetzt sah er es auch. Wie konnte
er Shinya nur mit einer Frau verwechseln. Normalerweise pflegte er Visus zu
meiden, aber das war ja auch kein Problem, da es meistens er war, der gemieden
wurde. Er musste sich also fast nie die Mühe machen. In diesem Falle allerdings
.....
Er überlegte kurz. Dann brachte er ein schiefes Lächeln zustande.
" Arigatou."
" Geht doch!", rief Die freudig aus und schlug ihm mit der flachen Hand so
kräftig auf den Rücken, dass nach vorne über das Waschbecken fiel.
" Ups", grinste der Rotschopf verlegen und schob sich den Rest des Brötchens in
den Mund.
Shinya bedachte seinen Freund mit einem strafenden Blick und sagte dann zu
Toshyia gewandt: " Du musst ihn nicht beachten. Viele hier führen auf diese
Weise ein ruhiges und angenehmens Leben. Was Hakuei angeht: Kaoru Niikura, der
in deine Klasse geht, hat uns erzählt, wie er dich behandelt. Nimms nicht so
schwer, gibt noch andere Menschen auf der Welt."
Es läutete.
Der Blonde schenkte Toshiya ein warmes Lächeln, das irgendwas in seinem Herzen
löste. Im war auf einmal zum Heulen zumute - vor Erleichterung.
" Übrigens: Ich bin Shinya - das Teil ist Die!", rief er dem Schwarzhaarigen
noch zu, bevor beide aus der Toiletten und in das nächste Klassenzimmer
rannten.
<>, beschloss Toshiya und machte sich
auf den Weg in den eigenen Klassenraum, ganz am Ende des Ganges.
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Die beiden waren ihm nie wirklich aufgefallen. Dabei gab es an ihrer Schule gar
nicht so viele Visus. Irgendwie nett.
Als er sich in seine Bank fallen ließ, überhörte er auch Hakueis Kommetar zu
seinem Abgang. Er war im Augenblick einfach nur froh.
Kaoru Niikura.
So unauffällig wie möglich versuchte Toshiya sich umzudrehen. Das war doch der
Kerl der hinter ihm saß.
" Würden Sie sich bitte zur Tafel wenden Hara-san!", fuhr ihn der Lehrer
gereizt an. Toshiya versank ins seiner Bank und errötete. Das Rätsel um
Shinyas und Dies Freund musste er wohl oder übel nach dem Unterricht lösen.
Zwölf Uhr fünfzig und dreißig Sekunden.
Zwölf Uhr zweiundfünfzig, fünzehn Sekunden.
Genau zwölf Uhr vierundfünfzig.
Noch dreißig Sekunden.
Zwanzig.
........ drei ........
Es läutete zum letzten mal an diesem Montag. Die gesamte Klasse seufzte laut
hörbar auf. Ihr Lehrer warf ihnen noch einen endgültigen, irritierten Blick zu
und verkrümelte sich aus dem Klassenzimmer.
" Der is wirklich immer der erste der geht", hörte Toshiya plötzlich eine
leise Stimme neben sich. Als er den Kopf ein Stück zur Seite wandte, blickte er
direkt in das feine, anmutige Gesicht von Kaoru Niikura. Knallviolette
Strähnen, zerrissene Jacke, dunkelblaue Chucs - er war es wirklich. Toshiya
hatte ihn sich noch nie so genau angesehen, so antwortete er ziemlich
überrumpelt: " Äh, stimmt. Man könnte meinen er hat Angst."
Schüchternes Lachen.
Kaoru zog sich einfach einen Stuhl vom Nachbartisch heran und ließ sich darauf
nieder. Eine Weile sprach keiner von beiden, sie beobachteten nur, wie sih das
Klassenzimmer leerte. Toshiya schielte hinüber zu seinem Klassenkameraden.
Seine Art hatte etwas absolut beruhigendes.
<>, dachte er verwirrt.
" Es tut mir leid, was heute passiert ist", sagte Kaoru mit seiner leisen
Stimme.
" Äh? Wie bitte?"
Toshiya starrte den Jungen an.
" Das war ja wohl echt nicht deine Schuld!"
Kaoru lächelte traurig.
" Ja, aber ich hätte es verhindern können. Gomen nasai."
" Mh, schon okay", gab der Schwarzhaarige sehr verwirrt zur Antwort.
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Kaoru lächelte wieder sein beruhigendes Lächeln, seufzte laut, erhob und
streckte sich.
" Wenn du willst, gehen wir ein Stück zusammen. Du wohnst doch in der gleichen
Richtung. Mann war das ein Tag!"
Toshiya konnte nur Nicken, mehr brachte er einfach nicht fertig. Einige
Augenblicke später waren die Beiden schon auf dem Nachhauseweg, Toshiya in
seinem üblichen, schleppenden Gang, Kaoru mit gleichmäßigen Schritten, den
(von tausend Bildern geschmückten) Eastpak lässig über die linke Schulter
geschwungen. An der zweiten Straßeneke verabschiedeten sie sich und jeder ging
seines Weges.
Wie im Traum schloss Toshiya kurze Zeit später die Haustür auf. Etwas
derartiges war ihm seit dem Kindergarten nicht mehr passiert. Gleich drei Leute
hatten ihn freundlich angesprochen, Kaoru wollte sich anscheinend zusätzlich
noch mit ihm anfreunden. Und weil er bisher keinen richtigen Freund gehabt
hatte, war Toshiya so aufgeregt und glücklich wie ein kleines Kind an seinem
Geburtstag.
" Was geht denn mit dir?"
Sakito, der eben die Küche betreten hatte, warf seinem Bruder einen scheelen
Blick zu und stellte dann zwei große Tüten auf dem Tisch ab. Den Kommentar
ignorierend, half Toshiya dem Jüngeren dabei, die Einkäufe zu verräumen,
immer noch mit einem beseelten Grinsen auf dem Gesicht.
" Lass das, man kann deine Zähne sehen", stellte Sakito fest und schlug die
Kühlschranktür zu.
" Giftzwerg!", kommentierte Toshiya, schloss aber augenblicklich seinen Mund.
Eine Weile wurde er von Sakito aufmerksam gemustert, dann seufzte der Kleinere
und knallte eine Packung Gemüse auf den Tisch.
"Hier, machen wir uns was zu essen."
Und dann: " Nun sag schon, warum bist du so glücklich?"
" Darf ich das nicht sein?", kam promt die totzige Antwort zurück.
Sakito begann an einer Möhre rumzuschälen und beäugte den Anderen
misstrauisch.
" Hakuei ist tot?"
Toshiya starrte ihn an. Dann begriff er.
" Nein, das nicht. Besser." Er wägte kurz ab, ob er seinem Bruder von seinem
Tag und den neuen Bekanntschaften erzählen sollte und beschloss dann, dass der
Kleine ihm eigentlich nichts böses wollte.
" Hakuei hat mich aufgezogen, aber in der Pause hab ich zwei Jungen getroffen,
Die und Shinya. Sie haben mir echt Mut gemacht und waren total freundlich." Er
unterbrach sich.
" Was los?"
Sakito starrte seinen Bruder mit großen Augen an, während er noch das letzte
Drittel der Karrotte in den Abfalleimer schälte.
" Ni-nichts", erwiderte er schnell und schnappte sich ein neues Gemüse. Toshiya
runzelte kurz die Stirn, fuhr dann aber fort.
" Und nach der Schule hab ich mich mit Kaoru aus meiner Klasse unterhalten. Wir
sind zusammen nach Hause gegegangen. Und- WAS IST LOS??" Verärgert warf Toshiya
einen Blick auf den Apfel (wieso Apfel???), dessen Schale inzwischen kleine,
feine Löcher in Sternchenform zierten.
" Uh -oh", machte Sakito mit erschrockenem Blick auf seine Hände, halbierte die
Frucht schnell und warf sie dann kurzer Hand in die Pfanne zum anrösten.
" Jetzt noch Öl", murmelte er und begann fieberhaft in den Schränken zu
kramen. Toshiya stand daneben, innerlich aufgewühlt von einer Mischung aus
Freude und Trotz. Und Belustigung. Nein. Kochen konnte der Kleine wirklich
nicht.
" Warum reagierst du so? Sag schon!", drängt er den Jüngeren.
Sakito warf ihm einen kurzen Seiteblick zu.
" Naja ....", setzte er an und ließ drei Kirschen in die Pfanne fallen. Dann
pulte er noch schnell ein halbes Kilo Erbsen und gab sie dem Mischmasch hinzu.
Mit offenem Mund beobachtete Toshiya wie sich die Kirschen mit den Erbsen zu
einem grau-lila Brei vermengten (ja, Sakito matscht das alles zusammen; dabei
ist er sonst so ein guter Junge y.y).
" ..... Also .....Die und Shinya sind sehr bekannte Visus. Sie sehen echt toll
aus, haben ihren ganz persönlichen Look und nen riesen Fanclub."
" Fanclub??"
" ..... und Kaoru. Kaoru ...... er ...... sieht ..... auch toll aus ..... isn
interessanter Kerl. Jeder Mensch dieser Welt wäre glücklich von ihm
angesprochen zu werden, glaub mir, selbst Hakuei. Leider will Kaoru mit dem
nichts zu tun haben. Er sucht sich seine Freunde gut aus. Kannst dich also mehr
als geehrt fühlen", brabbelte Sakito beschäftigt ohne Luft zu holen.
Erneut legte Toshiya die Stirn in Falten.
" Woher weißt du das alles von Kaoru?"
" Intuition", gab Sakito mit einem halben Lachen zurück. Dann eine kurze Stille
in der nur das Brodeln der Pampe zu hören war.
" ...... gomen, ne ...... wegen heut morgen ......", murmelte Sakito verlegen
und fixierte die Pfanne in der sich nun große Blasen bildeten.
" Schon gut. Habs überlebt", sagte Toshiya achselzuckend. " Du, ich glaube
deine Apfelkerne brennen an."
" Ups, du hast recht, oh nein!!"
Zu spät, das Etwas kochte bereits über und verteilte sich gleichmäßig auf
dem Herd.
Pling.
Verwundert drehte Sakito sich um und schaute zu, wie sein Bruder aus dem Herd
eine dampfende Fertigpizza hervorzauberte.
" Komm essen. Das da auf Herd machen wir nacher weg ... wenn es dann noch nicht
mutiert ist", grinste er und stellte die Pizza auf den Tisch.
" Wie-"
" Naja, du warst so beschäftigt, da dachte ich, ich könnte mich anderweitig
nützlich machen."
Sakito stutze - und schenkte seinem Bruder dann ein breites Lächeln.
" Ich hatte Unrecht. Du kannst echt süß sein, wenn du willst", kicherte er und
setzte sich an den Tisch.
Der Unterricht am nächsten Tag verlief größtenteils reibungslos. Toshiya
ließ die Lehrer in Ruhe und die Lehrer ließen ihn in Ruhe.
<>, dachte er zufrieden und ließ seinen Kopf auf
die Arme sinken. Heute war der Schwarzhaarige unbschreiblich müde, da er die
halbe Nacht wach gewesen war und sich Gedanken um Gott und die Welt gemacht
hatte. Trotzdem wusste er noch immer nicht, wie er sich Kaoru und den anderen
beiden gegenüber verhalten sollte, um nicht sofort wie ein Idiot dazustehen.
Der Gedanke, dass er vielleicht bald gute Freunde haben würde, machte ihn
furchtbar nervös. Endlich läutete es zur ersten Pause. Toshiya ignorierte
Hakueis hämischen Kommentar zu seinem verpennten Auftreten und packte seine
Englischsachen weg. Auf einmal landete ein dunkelblauer Eastpak auf seinem
Tisch.
" Hier is doch frei, ne", fragte Kaoru und blickte Toshiya mit einem warmen
Lächeln an.
" Na-nani?", gab der Andere irritiert zurück.
" Ich würde mich gerne neben dich setzten", erklärte Kaoru schlicht und ließ
sich ohne eine Antwort abzuwarten in den Stuhl neben Toshiya fallen. " Von hier
aus sieht man viel besser auf die Tafel ...... und außerdem ist es nicht
richtig, dass du das ganze Jahr über alleine sitzt."
Toshiya hatte heulen können.
" Würden Sie sich wohl in die Pause begeben", hallte die gereizte Stimme des
Lehrers durch das Klassenzimmer. " Na los, Niikura-san, Hara-san, ein bisschen
schneller, wenn ich bitten darf!"
" Komm", sagte Kaoru und zog Toshiya schnell mit sich, vorbei an ihrem wütenden
Englischlehrer, in Richtung Männerklo. Als sich Toshiya kurz umdrehte, sah er
Hakuei vor dem Klassenzimmer stehen, einen Discman-Stöpsel im linken Ohr, und
ihnen fassungslos nachblicken.
" Da seid ihr ja!", rief Shinya freudig aus, als Kaoru mit Toshiya im Schlepptau
die Toilette betrat. " Wenn wir hier bleiben, werden wir in der Pause nicht in
die Kälte rausgeschmissen", erlärte Die kauend und klopfte den Ankömmlingen
zur Begrüßng auf die Schulter.
Toshiya hörte den aufgeregten Gesprächen seiner drei neuen Freunde
interessiert und glücklich zu. Zwar traute er sich nicht, sich richtig in die
Gespräche einzubringen, aber es reichte ihm, einfach dabeizustehen und sich
zugehörig zu fühlen. Nach fünf Minuten allerdings wurde die Tür aufgestoßen
und ein zierlicher Junge mit kinnlangem, schwarzem Haar betrat ängstlich die
Toilette.
" Ähm,'tschuldigung", meldete er sich schüchtern zu Wort und die vier Jungen
unterbrachen ihre Gespräche und wandten sich ihm überrascht zu.
" Ihr ....äh .... müsst in der Pause raus. Yoshiki-sensei schickt mich ..."
Die schluckte entnervt den letzten Bissen seines Brötchens hinunter und zog
dann ein neues aus der rechten Jackentasche.
" Ich wusste es doch", nörgelte er, " der Typ hat uns hier verschwinden sehen
und jetzt schickt er arme Mädchen aus der 5ten um uns rauszuschmeißen ....
typisch ...feige, wie eh und je unser lieber Direktor...."
Shinya warf dem Jungen einen kurzen Blick zu und legte Die beschwichtigend den
Arm auf die Schulter.
" Schon gut, Die. Wir gehen einfach mal raus, die frische Luft wird uns net
umbringen, ne."
Der Junge schnekte Shinya ein dankbares, sehr schüchternes Lächeln und wollte
gerade wieder verschwinden, als Kaoru ihn anredete.
" Du bist Ryutaro aus der zehnten, ne?" Ein Nicken von Seiten des Jüngeren
bestätigte seine Annahme.
" Zehnte?", überlegte Toshiya auf einmal laut, als er sich mit den anderen auf
den Weg zum Pausenhof machte.
" Sag mal, kennst du Sakito Hara?"
Ryutaro nickte.
" Hai. Er geht in meine Klasse." Wieder lächelte er schüchtern.
" Ich bin sein Bruder, Toshiya", erklärte Toshiya dem Kleinen. Der nickte
erneut und schaute betreten zu Boden.
" Er ist so cool. Aber er kann mich nicht ausstehen", sagte er leise und senkte
den Kopf, sodass sein Gesicht gänzlich von schwarzen Haaren bedeckt wurde. Eine
kurze Pause entstand, dann strömte plötzlich die ganze Welt in Richtung
Schulgebäude.
" Na toll!!", schimpfte Die. " Das hats jetzt gebracht! Jetzt kann ich nicht mal
mein Pausenbrot fertigessen! Super!"
"'tschuldigung", murmelte Ryutaro noch einmal, dann verschwanden sie alle in die
betreffenden Klassenzimmer.
Zuhause angekommen, verschwand Toshiya gedankenverloren im Bad. Er hatte mit
Kaoru noch einige Worte gewechselt und war dann wie schon am Tag zuvor gemeinsam
heimgelaufen. Es war wie ein Traum. Diese drei Jungen kümmerten sich rührend
um ihn. Hakuei hatte in den gesamten Tag in Ruhe gelassen. Aber weshalb wollten
sich Kaoru und die Anderen gerade mit ihm anfreunden? Er, der von der ganzen
Klasse gehänselt wurde und neben den sich niemand setzten wollte? Mit
gemischten Gefühlen musterte er also sein Spiegelbild in der Hoffnung eine
Antwort auf seine Frage zu finden. Die Haare waren viel zu lang, langweilig
schwarz und hatten keine bestimmte Form. Dann diese Klamotten. Er trug jeden Tag
das gleiche, weil er sich nicht traute etwas neues oder anderes auszuprobieren.
Für diese Feigheit hasste er sich selbst. Wenn er genauer darüber nachdachte
fiel ihm auf, dass sich auch Ryutaro, dieser schüchterne, schmächtige
Zehntklässler, der eher aussah, wie ein Mädchen als ein Junge, visu-mäßig
kleidete. Seine Haare waren zwar nicht gefärbt, aber der Haarschnitt ziemlich
cool. Außerdem trug er Ohrringe.
<>, dachte er traurig. Und Sakito, ganuso wie Uruha, waren beide sehr
hübsch. Wieso hatte er nur nichts davon abbekommen. Wenigstens ein bisschen
Ähnlichkeit musste doch da sein.
Die Badtür ging auf. Sakito starrte seinen Bruder an.
" Oh, sorry, wusste nicht, dass du hier bist", sagte er überrascht.
" Normal hört man durchs ganze Haus, wo du dich gerade aufhälst."
" Ah ja?", gab Toshiya zerstreut zurück.
" Is irgendwas?", wollte der Jüngere wissen und runzelte die Stirn. Toshiya war
seit gestern so verändert. Ihn umgab zur Abwechslung mal keine depressive
Atmösphäre, er war nicht mies gelaunt, aber so verdammt neben der Kappe. Da
stimmte doch was nicht.
" Kennst du Ryutaro?", fragte Toshiya und folgte seinem Bruder ins Esszimmer.
Saktio verzog angewidert die Miene.
" Ryutaro? Klar kenn ich den. Is in meiner Klasse. Gott, das is so'n
langweiliger, peinlicher Spinner. Fast so wie du."
" Oh, danke", bemerkte der Schwarzhaarige kalt. Da riss dem Anderen der
Geduldsfaden.
" Teufel noch mal, diese Spannung halte ich nicht aus! Jetzt sag schon, worüber
denkst du nach!!", rief Sakito und folgte seinem Bruder aus dem Badezimmer, die
Treppe hinunter und in die Küche.
Toshiya lächelte auf einmal geheimnisvoll und setzte sich an den Tisch.
" Sei nicht so neugierig. Wann kommt Uruha?", antwortete er, schnappte sich
seinen Teller und beäugte ihn misstrauisch.
" Gegen fünf. Er wollte doch heute seinen Freund mitbringen." Und als er den
angewiderten Blick seines Bruder bemerkte, fügte er trotzig hinzu: "Ich hab
gekocht...."
" Ich seh's ......" Toshiya starrte auf dem Teller. Wenn er sich nicht irrte,
hatte sich gerade irgendwas im Kartoffelbrei bewegt.
" Sei mir nicht böse, ja, aber ich hab grad keinen Hunger." Er schob den Teller
von sich und stand auf. An der Treppe packte er seine Schultasche und schwang
sie über die Schulter. Gerade eben hatte er einen wichtigen Entschluss
gefasst.
" Ich koch uns heut Abend was, ok?" Mit diesen Worte stürmt er nach oben und
verschwand in seinem Zimmer. Sakito blickte schmollend auf den Teller, den sein
Bruder verwaist auf dem Tisch zurückgelassen hatte.
" Was hat er denn, schmeckt doch", schnaubte er und begann zu essen.
Nach einer Stunde war die Übelkeit wieder einigermaßen verflogen und der Junge
erhob sich schwerfällig und stöhnend vom Sofa.
<> Mit dem Plan erst
ein wenig Hausaufgabe zu erledigen und dann seine Haare zu färben, schleifte er
sich die Treppe hinauf. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Was war das
denn? Aus dem Zimmer seines Bruders drang Musik. Laute Musik. Und es klang nicht
wie Busted (Anmerkung d. Autorin: Uääääääääääh *würg*, ich HASSE
Busted!!!) oder Yvonne Catterfeld (Anmerkung d. Autorin: Keine echte
Alternative, aber immer noch besser als Busted ...).
" Kagerou?!", hauchte Sakito und mit drei großen Schritten war er an der
geschlossenen Zimmertür und drückte sein Ohr dagegen. Tatsächlich, das war
eindeutig XII Dizzy. In seinem eigenen Zimmer dann bemerkte er auch, woher sein
Bruder das Album hatte.
" Dieser verdammte..... er war an meinen CDs ..... aber wieso nur? Er hat sich
doch noch nie was aus visual kei und jrock gemacht....." Verwirrt stellte Sakito
fest, dass außerdem eine X Japan CD, das Déspairs ray Minialbum, etliche
Baroque Singles und einige anderen Dinge fehlten. Doch ausmahmsweise wollte er
seinen bruder diesmal nicht zur Schnecke machen. Ihm war klar, dass er keine
Lust hatte, mit seinem kleinen Bruder den Grund für sein plötzliches Verlangen
nach visual kei zu diskutieren.
<>, dachte Sakito
grimmig bei sich und vertiefte sich dann widerwillig in seine Mathehausaufgabe.
Als es um fünf Uhr, zehn Minuten und zweiunddreißig Sekunden klingelte, sprang
Sakito auf und stürmte mit flatternder Schürze in den Flur. Toshiya, der vor
seiner Zimmertür erschienen war, verfolgte lächelnd mit, wie der Jüngere an
die Tür stürzte.
<> Seufzend schlurfte er die
Treppe hinunter, Stufe um Stufe, die viel zu langen Ärmel seines verwaschenen
Jogging-Anzugs schlabberten ihm um die Arme. Jetzt ging die Schikane schon
wieder los und Uruha hatte sich auch noch Verstärkung mitgebracht. Eigentlich
wollte er in die Küche, und sah nur aus den Augenwinkeln wie Sakito die Tür
öffnete und zu einem fröhlichen " Konban wa" ansetzte. Plötzlich erstarrte er
und gab einen keuchenden Laut von sich. Toshiya blieb augenblicklich stehen und
beobachtete erstaunt, wie Sakitos Miene versteinerte. Einen Augenblick später
wünschte er sich, er wäre in seinem Zimmer geblieben, denn Uruha und sein
neuer Freund standen jetzt im Flur und warfen ihre klatschnassen Mäntel
(draußen regnete es) übers Treppengeländer. Der Gast schaute sich
interessiert um, erblickte der Schwarzhaarigen vor der Küchentür und grinste
böse.
" Hallo Toshimasa Hara", flötete er und legte Uruha besitzergreifend den Arm um
die Hüfte.
Toshiya bewegte sich wieder in Richtung Treppe.
" Hallo ..... Hakuei .....", antwortete er steif. Im nächsten Augenblick war er
nach oben verschwunden.
Dieser Abend würde gewiss die Hölle werden.
feedback, ne *liebguck* ?!
Kapitel 2: 2
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Walking proud
Autor: Clea
Pairings: Lasst euch überraschen *träller*^^ (hab da schon interessante Ideen;
natürlich darf niemand leer ausgehen)
Kommentar: Wo bleibt Kyo ist eine gute Frage *gg* .... keine Sorge, vergessen
hab ich ihn nicht ..... hähä, lasst euch überraschen!
Vielen Dank für euere Kommentare, Leute^.~ , hat mich sehr gefreut zu wissen,
dass sich jemand meine kranken Gedanken antut ... hier ist der zweite Teil
Teil 2
Die vier Jungen saßen schweigend am Tisch. Sakito rührte mit finsterer Miene
in seinem Auflauf herum. Toshiya kämpfte mal wieder mit den Tränen. Hakuei aß
zufrieden seinen Teller leer, er hatte den Klassenkameraden ein weiteres mal
nach Herzenslust schikaniert. Uruha seinerseits nippte grinsend an einem großen
Glas Cola. Deswegen liebte er diesen Jungen. Hakuei war stark, megacool und die
halbe Schule flüchtete panisch, sobald er sich blicken ließ. Außerdem, er
hatte Geschmack.
Unter der Tischplatte legte Sakito Toshiya die Hand auf den rechten Oberscheknel
um ihn zu trösten. Natürlich ließ er auch ab und zu mal bissige Kommentare
fallen, was das Aussehen seines Bruders anging, das war aber niemals verletzend
gemeint, Bruder ist Bruder.
::Allerdings::, dachte er mit finsterem Blick über den Tisch, ::das was Uruha
hier treibt ist einfach nur schäbig. Wieso ausgerechnet Hakuei? Dabei weiß er
doch ganz genau, wie sehr dieser Typ Toshiya fertigmacht und ich selbst kann ihn
auch nicht ausstehen. Allein schon aus Liebe zur Familie hätte er ihn mal von
unserem Haus fernhalten können!::
Der Jüngste war zum Teil furchtbar wütend und zum Teil unfassbar schockiert,
so eine Gemeinheit hatte er nicht mal Uruha zugetraut. Während des ganzen
Essens hatten die beiden Toshiya mit vereinten Kräften zusammengestaucht. Was
sollte das eigentlich?
"Das war gut, Kleiner!", seufzte Uruha zu dem Jüngsten gewandt und lehnte sich
zurück. Sakito schreckte aus seinen Gedanken auf.
::Wenn du wüsstest!::, dachte er wütend bei sich und warf Toshiya einen
prüfenden Seitenblick zu.
Eine Weile war es still. Die beiden Jüngeren räumten mit Grabesmienen den
Tisch ab, während Uruha von Hakuei auf den Schoß gezogen wurde. Die beiden
begannen sich in einen langen ausgiebigen Kuss zu vertiefen. Dann fing Hakuei
an, neckisch am Hals des Anderen herumzulecken und ihn mit kleinen Küssen zu
bedecken. Uruha kicherte und versuchte seinen Koi mit der Hand wegzuschieben.
"Das kitzelt, lass das ..."
" Wo ist dein Zimmer? Dann zeig ich dir das mal richtig ....", erwiderte Hakuei
mit schmutzigem Grinsen. Also erhoben sich die beiden Turteltauben und
schlenderten (Hand in Hand natürlich) zur Tür. Sakito bemühte sich, kein
Würgegeräusch von sich geben zu müssen und knallte stattdessen die Teller so
heftig in die Spülmaschine, dass kleine Scherben aus den weißen
Porzellanrändern bröckelten.
"Habt ja n nettes Haus ...", teilte Hakuei an der Tür mit.
"Wenn da nicht dieses schmutzige Pack wäre .... aber irgendein schwarzes Schaf
muss es in jeder Familie geben ..." Er bedachte Toshiya mit einem vernichtenden
Blick und schloss schnell die Tür, einen kurzen Augenblick zu früh, um den
schmutzigen Spüllappen abzubekommen, den Sakito wutentbrannt
dagegenschleuderte.
"Dieser Arsch, was bildet der sich ein, dieser arrogante, kleine!!!!!!! .....
und Uruha!!! Wie konnte er nur!!!! Dieses verdammte Arschloch!! Na
wartet......"
Mit gefährlich funkelnden Augen und sadistischem Grinsen begann er im
Kühlschrank herumzuwühlen.
"Ich mach den beiden Süßen einen kleinen Snack...", flötete er und warf einen
Blick, der wie das Höllenfeuer loderte, in Richtung Zimmerdecke.
Toshiya brachte ein halbes Lächeln zustande.
"Lass mal .... du würdest sie umbringen ...."
"DESWEGEN JA!!!!", brüllte Sakito und schmetterte wahllos alles was er finden
konnte in eine große blaue Schüssel und verrührte es anschließend zu einer
klebrigen mintfarbenen Masse. Toshiya zuckte traurig die Achseln.
"Schon ok ... ich bin selbst Schuld, ich wehre mich ja nicht ...", flüsterte er
und schniefte leise. War er wirklich so ..... häßlich und schlecht? Na toll,
er war schon wieder drauf und dran in einem Pfuhl aus Minderwertigkeitskomplexen
und Selbstmitleid zu versinken.... Eine Sekunde später hatte sich sein kleiner
Bruder vor ihm aufgebaut und schrie ihm wütend ins Gesicht.
" Pass auf, jetzt erzähl ich dir mal was!!! Als wir noch im Kindergarten waren,
wurdest du von allen verhätschelt und gelobt, weil du so ein talentiertes Kind
warst! Und hübsch obendrein!! Ich wette, du hast Ma noch nie danach gefragt,
wie es war, als wir klein waren, ne?! Mensch Totchi, was glaubst du, _warum_
Uruha dich seit Jahren fertig macht?! Er ist verdammt eifersüchtig, die
eingebildete, hinterhältige Kröte!!! Du warst damals nämlich immer viel
gefragter als er, Mutter war so stolz, weil sie ständig auf dich angesprochen
wurde .... und unser kleiner Uru-chan fühlte sich völlig vernachlässigt!! Er
konnte es nicht ertragen, dass sein Bruder so viel beliebter und begabter war,
als er ... seitdem hat er Angst davor, dass es wieder so werden könnte .... ich
dachte ja, das tut alles nichts zur Sache, aber jetzt hat er den Bogen eindeutig
überspannt. DAS. IST. ZUVIEL!! Lass mich jetzt alleine, ich muss mich
konzentrieren!"
Resolut wurde ein verwirrter Toshiya zur Tür rausgeschoben und diese hinter ihm
zugeknallt. Er konnte nur noch gedämpft die Stimme seines kleinen Bruders
hören:
"Davon *SCHEPPER* .... hahahaaaaaa.... und ein wenig davon *KNALL* ...hihi und
hiervon......jajajahahaaaaaaaaa *MATSCH* uahahaaaaa ....."
Den Blick immer fest auf die Tür gerichtet entfernte sich Toshiya sehr langsam,
rückwärts von der Küche. Mit Sakito in diesem Zustand war nicht zu spaßen.
Als er an Uruhas Zimmer vorbeikam, vernahm er nur unterdrücktes Stöhnen und
Kichern von drinnen, er ging schnell weiter, bevor er sich noch eine Bild dazu
ausmalen konnte und er riskierte, dass ihm vor Übelkeit sein Essen wieder
hochkam. In seinem eigenen kleinen Reich angekommen, warf er die Tür hinter
sich zu und drehte erlöst den Schlüssel um. Endlich allein. Müde ließ sich
der Schwarzhaarige an der Wand hinunter zu Boden gleiten und verbarg sein
Gesicht in den Händen. Aus irgendeinem Grund allerdings war ihm das Weinen
vergangen. Er fühlte sich besser. Was hatte Sakito da gesagt? Als sich Toshiya
die Worte seines Bruders noch einmal durch den Kopf gehen ließ, musste er laut
aufkeuchen. Wenn das stimmte ..... Er erhob sich schwerfällig, schlenderte zum
CD-Player und legte baroque auf. Dann fläzte er sich auf sein Bett und ließ
die Musik alle unangenehmen Gedanken auswischen. Toshiya brauchte jetzt einfach
nur einen klaren Kopf. Und einen Plan.
Wie lange er so auf dem weichen Bett gelegen und an die Decke gestarrt hatte
wusste Toshiya nicht mehr, als ein lauter Knall ihn brutal aus den Gedanken
riss. Erschrocken schleuderte der junge Japaner seine Zimmertür auf und
stürzte beinahe die Treppe hinunter. Aus der Küche hörte er Sakito schon von
weitem vor sich hin maulen:
" Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt, verdammt, verdammt ..."
Nach kurzem Zögern öffnete Toshiya vorsichtig die Tür, während er noch
versuchte sein wild klopfendes Herz zu beruhigen. Die Küche sah ziemlich übel
aus. Auf dem Boden kniete sein kleiner Bruder und wischte eine undefinierbare
Flüssigkeit mit einem großen, braunen Lappen auf. Als er den Anderen bemerkte,
schaute Sakito kurz (mit sehr irren Augen) auf und murmelte: " Zuviel HCL....."
Toshiya starrte ihn an.
" HCL?", wiederholte er verwirrt.
" Salzsäure", antwortete Sakito düster und verfiel dann wieder in sein "
Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt"- Geflüstere.
" Ich ... äh ... lass dich dann mal allein, ne ....."
Erschaudernd schloss der Schwarzhaarige wieder die Tür. Ganz schön
beängstigend so ein kleiner Bruder .....
" Moin!", schallte Toshiya an einem trüben Mittwoch morgen entgegen, als er
müde das Klassenzimmer betrat. Irritiert nahm er einen Stöpsel seines Discmans
aus dem rechten Ohr und erblickte Kaoru, der ihn ferundlich anlächelte.
" Oh, ach so, morgen ....", antwortete er und zeigte ebenfalls ein Lächeln.
" Was hörst du da", wollte der Violetthaarige wissen und beäugte neugierig den
Discman in Toshiyas Hand.
" Mmh? Ah so, Kagerou ..."
" Woah, ich liebe Kagerou! Aber seit wann magst du die denn?"
" Seit gestern", antwortete der Schwarzhaarige mit verschmitztem Grinsen. Kaoru
lachte kurz und laut auf.
" Du bist irgendwie schräg", nuschelte er und begann dann die Bücher für die
erste Stunde auszupacken. Nach einer Weile blickte er wieder auf Toshiya, der
irgendwie gar nichts mehr sagte. Er stand nur neben seinem Pult und schien über
irgendwas nachzugrübeln. Kaoru wartete ruhig darauf, dass der Andere den Mund
auftat und ihn an seinen Gedanken teilhaben ließ.
"Ähm, Kaoru", meinte der Schwarzhaarige schließlich leise. Auf ein Nicken
seines Freundes hin, fuhr er fort.
"Könntest .... könntest du mir einen Gefallen tun?"
Kaoru nickte.
"Klar! Worum geht's denn, spucks schon aus." Leider betrat in genau diesem
Augenblick (wie immer zehn Minuten zu früh) ihr Englischlehrer Camui die Szene
.
"Ääh? Wir ham Englisch?", stutze ein Junge neben Toshiya. Dieser zuckte nur
die Achseln und stellte sich hinter sein Pult. Ihm war ziemlich egal, was sie
jetzt hatten, etwas viel wichtigeres brannte ihm auf der Seele. Mit ein paar
Zeichen kritzelte er erklär ich dir später auf Kaorus Block. Der Andere nickte
langsam, lächelte und schrieb zurück wenn du nichts dagegen hast, sind shinya
und die auch dabei. Vorne legte ihr Lehrer schon ohne Begrüßung oder Gebet
los.
::Na klar::, dachte Toshiya und nahm Platz, ::jetzt macht Hakuei schon blau, was
eigentlich auf einen angenehemen Tag hoffen ließe, und dann ist yoshiki-sensei
krank und wir haben zwei Stunden Englisch. Toll::
Düster beobachtete er seinen Lehrer, der wie immer einen eleganten Anzug ohne
Krawatte trug, die obersten Knöpfe seines weißen Hemdes provokativ geöffnet,
und schrieb schnell auf den Block klar, warum nicht. in der Pause dann. und
danke. Das letzte Wort unterstrich er fett.
::Ich ziehe das durch! Ich will endlich anders werden ...::
"Ok, worum geht's, Kleiner?", fragte Shinya, nachdem sie zwei Stunden später
wieder an ihrem Treffpunkt auf der Toilette zusammengekommen waren. "Und was is
mit dir schon wieder?!" Er drehte sich genervt zu Die um, der Shinya aus den
Augenwinkeln mit zusammengekniffenen Augen musterte und dabei laut schmatzend
einen Apfel verzehrte.
Der Rotschopf schluckte und antwortete.
"Du genießt es, andere so anzureden, ne Shin-chan?", sagte er ernst, was ihm
einen heftigen Stoß in die Rippen einbrachte. " Itai! Wofür war das denn schon
wieder?"
Eine Weile grummelte Shiyna entnervt vor sich hin, dann brachte er wieder ein
Lächeln zustande, wobei er das Wort erneut an Toshyia richtete.
"Entschuldige die Unterbrechung. Wo waren wir stehengeblieben?"
"Grmpf, in Wahrheit bist du ein kleiner Teufel, Shin-chan ....", murmelte Die,
hielt sich die schmerzende Seite und schälte seine Banane.
Als Toshiya geendet hatte, sagte Shinya begeistert: "Das ist wunderbar. Leider
hab ich nachmittags keine Zeit, Totchi-chan, aber ich kann dir, wenn du willst
abends ein paar Dinge vorbeibringen ...."
Errötend blickte Toshiya zu Boden und murmelte glücklich: "Das wäre supernett
.... vielen Dank euch allen .... ne Kaoru ...."
Kaoru lächelte wieder sein warmes Lächeln und sagte leise: " Dazu sind Freunde
doch da Toshiya-kun ....."
Wäre in diesem Augenblick nicht die Tür aufgegangen und hätte einen zutiefst
verschüchterten Ryutaro hereingelassen, hätte der Schwarzhaarige einige
Tränen der Rührung mit Sicherheit nicht mehr zurückhalten können.
"Du schon wieder?!", rief Die aus und alle drehten sich zu dem schmächtigen
Jungen um, der in der Tür der Toilette stand und um Worte rang.
"'tschuldigung ...", nuschelte er in seinen karierten Schal. Dann begann er zu
weinen. So bitterlich, dass Die um ein Haar sein Stück Wassermelone fallen
gelassen hätte. Die vier starrten den Zehntklässler erschrocken an, dessen
Körper ununterbrochen von immer heftigeren Schluchzern geschüttelt wurde.
"Hey, kein Grund in Tränen auszubrechen, so hab ichs nicht gemeint!", rief Die
erschrocken aus, nachdem ihm Shinya einen zutiefst strafenden Blick zugeworfen
hatte.
"Er weint nicht wegen dir, Die", murmelte Kaoru und kniete sich zu Ryutaro, der
auf dem Boden zusammengesunken war. Die atmete laut auf.
" Kami-sama! Und ich dachte schon ..." Er steckte sich schnell den Rest der
Birne in den Mund und begann dann sich noch eine Banane zu schälen.
"Du bist so ein Trampel", zischte Shinya und hockte sich ebenfalls zu dem
kleinen Jungen auf den Boden.
"Was?!", schmollte Die und beobachtete Ryutaro misstrauisch. Toshiya stand
daneben, in seinem Kopf tausend Gedanken, in seinem Herzen ein riesiges
Gefühlswirrwar. Als er Ryutaro am Boden sitzen sah, erkannte er sich selbst
wieder. Wie sehr er sich manchmal gewünscht hatte, jemand wäre da und würde
versuchen ihn zu verstehen. Aus diesem Grund stieg der Drang in ihm hoch, dieses
kleine, elende Etwas einfach in die Arme zu schließen und zu trösten, aber
dank seiner vermaledeiten Feigheit konnte er sich einfach nicht von Fleck
rühren.
" Camui-se-sensei *hick*....", hauchte Ryutaro und starrte mit großen Augen zu
Boden.
" E-er ... m-mich ......"
Toshiya schnappte entsetzt nach Luft. Dieser Lehrer, er hatte ja gleich gewusst,
wie der tickt!! Während die anderen noch verzweifelt versuchten den Kleinen zu
beruhigen und die Wortfetzen die er ihnen hinwarf zu begreifen, glaubte er zu
verstehen.
::So etwas musste ja mal passieren, verdammt!!::
Mit einem Satz war er bei Ryu auf dem Boden und zog ihn in die Arme. Kaoru und
Shinya beobachteten die Szene erstaunt, Ryutaro eher erschrocken, Die stöberte
in seiner Tasche nach mehr Trauben.
" .... was wollte er von dir", fragte er leise und umschloss die zitternden
Schultern des anderen fest.
"Er hat gesagt", flüsterte Ryutaro apathisch, " dass er mich will. Nach der
Schule .... wartet er... nicht entkommen ---- mich in Ruhe ... ich ..."
Shinya klappte der Mund auf. Und Toshiya spürte, wie langsam aber sicher
lodernede Wut von ihm Besitz ergriff. Er hatte es satt so unbeschreiblich feige
und schwach zu sein. Solange es nur um ihn selbst ging, war es in Ordnung. Aber
der Junge in seinen Armen, das hätte ebensogut Sakito sein können. Solange er
anwesend war, sollte so etwas nicht mehr geschehen, er würde es nicht zulassen.
Jetzt, da er endlich Freunde gefunden hatte, die ihm sehr wichtig waren, konnte
er nicht zulassen, dass sie verletzt wurden. Natürlich gehörte Ryutaro
eigentlich nicht wirklich zu seinen Freunden, er wusste rein gar nichts von ihm
(naja, von Die, Shinya und Kaoru eigentlich auch nicht, aber hey: besser als
alles, was er vorher gehabt hatte!), aber er fühlte sich dem zerbrechlichen,
blassen Zehntklässler auf irgendeine Weise verbunden.
"Ryu, sollen wir dich nach Hause begleiten? Dann können wir mal mit deiner
okaasan reden ...", sagte Toshiya sanft, woraufhin sich Kaoru, Shinya und Die
einen sehr erstaunten Blick zuwarfen.
Toshiya hatte das Wort ergriffen! Dazu in so einer Situation.
"Meine Mutter ist nicht zu Hause", flüsterte der Kleine zur Antwort und verbarg
seinen Kopf an Toshiyas schützender Schulter. "Vater hab ich nicht."
"Dann kommst du mit zu mir", beschloss Toshiya kurzerhand.
"Kaoru und ich sind sofort nach Unterrichtsschluss vor deinem Klassenzimmer. Was
hast du in der sechsten?"
"Musik ...", nuschelte Ryutaro und schniefte.
:Stimmt, Sakito, die kleine unbegabte Nudel, hat schon nach der vierten aus,
weil er Kunst gewählt hat ....::
"Bis dann", sagte Toshiya, sprang auf und verließ die Toiletten, die anderen
folgten ihm verdutzt. Am Vorbeigehen wuschelte Die dem Kleineren, der immer noch
auf dem Boden saß kurz durch die Haare und schloss dann umsichtig die Tür
hinter sich. Völlig erstaunt blickte Ryutaro dem Rotschopf nach.
Toshiya trug den restlichen Schultag einen furchteinflößenden Blick zur Schau,
Kaoru wagte kaum, ihn anzusprechen. Alles, was sich in den letzten Monaten
aufgestaut hatte, die gesamte Erniedrigung, die Spötteleien von Hakuei und
seiner Clique, Uruhas Generve, die Lehrer, die ihn auf dem Kieker hatten, das
alles bahnte sich seinen Weg nach draußen. Endlich war er an einem Punkt
angelangt, da es ihn nicht mehr kümmerte, was die anderen dachten. Voller
grimmiger Wut, beschloss Toshiya, dass er endlich mal den Kopf heben würde. Und
es allen zeigen. UAHAHAAAAAAAA.
Er schrieb etwas auf einen kleinen Zettel, faltete ihn und reichte ihn
unauffällig an Kaoru weiter. Der öffnete ihn und las erstaunt, was darauf
stand: willst du bei mir übernachten? Kaoru flüchtete hinter die
trigonometrischen Funktionen in seinem Mathebuch, um dem wachsamen Lehrerblick
zu entwischen und flüsterte zurück: "Gerne."
"Ok, dann um fünf bei mir ...."
Kurz vor Unterrichtsschluss entfloh Toshiya dem öden Stoff mit der Ausrede, er
müsse noch einmal dringend aufs Klo. Ihr Religionslehrer Tatsuro sensei (
stellt euch mal vor, wie Tatsu aus der Bibel zitiert >.< göttlich!) war senil
genug ihn gehen zu lassen ungeachtet der Tatsache, dass die Schule sowieso in
fünf Minuten zu Ende sein würde. Der Junge machte sich augenblicklich auf den
Weg zu Ryutaros Klassenzimmer und passte ihn an der Tür ab, nachdem es zu
Schulschluss geläutet hatte. Auf dem Weg nach draußen wurden die beiden von
Kaoru eingeholt, der Toshiya seine Büchertasche überreichte und dann
flüsternd berichtete:
"Dieser Camui Typ kam eben an mir vorbei, der war auf dem Weg zu deinem
Klassenraum, Ryu. Wir schauen besser, dass wir verschwinden ..."
Die Anderen nickten und schoben sich ein wenig schneller durch den
Schülerstrom, der zähflüssig Richtung Ausgang floss und dann in Form
lärmender Schüler langsam auf den Pausenhof tröpfelte.
"Hey, ihr da!! Sofort stehenbleiben!!!!" Die Stimme ihres Lehrer hallte durch
den Flur. Einige Jungen und Mädchen blieben stehen und drehten sich erstaunt
um. Toshiya fasste Ryutaro schnell an der Hand und zog ihn mit sich.
"Puh, das war knapp!"
Kaoru lehnte sich kurze Zeit später aufseufzend gegen eine Hausmauer.
"Arigatou .... dass ihr mir helft ...", flüsterte Ryutaro kaum hörbar. Beide
Hände hatten sich um den Gurt seiner Tasche geklammert, er blickte zu Boden.
Eine Weile musterte Kaoru den Kleineren scharf und sagte dann: " ... aber jetzt
hast du Angst, dass dieser Typ so wütend sein könnte, weil du abgehaun bist,
dass er sich an dir rächt und alles noch schlimmer kommt."
Ryutaro blickte überrascht in das ernste Gesicht des Lilahaarigen. Dann
schluckte und nickte er kaum merklich.
"'tschuldigung", murmelte er beschämt.
"Keine Sorge", flüsterte Toshiya und berührte vorsichtig die Schulter des
Jüngeren, "das werde ich nicht zulassen ..."
Wieder einmal schenkte Kaoru seinem Freund ein warmes, beruhigendes Lächeln,
dieser errötete leicht und fügte schnell hinzu: "Ich meine, es wird langsam
Zeit, dass ich mal was tue, ne? Also ..."
"Schon gut, das muss dir nicht peinlich sein. Tu einfach mal das, was du für
das Beste hältst", erwiderte Kaoru und umarmte Toshiya zum Abschied, Ryutaro
klopfte er aufmunternd auf die Schulter. Die drei trennten sich, Kaoru bog in
eine Seitenstraße ein.
Eine Weile trottete trottete Ryu nachdenklich neben Toshiya her.
"Ich verstehe, was du meinst ...", sagte er schließlich mit seiner leisen
Stimme.
"Hm?", machte Toshiya und schreckte aus seinen Gedanken auf.
"Ich mein ... alle erwarten, dass du dich auf eine bestimmte Weise verhältst
... und daher fügst du dich einfach, weil du nicht den Mut aufbringst anders zu
sein ..."
"Hai, sou desu ... du triffst den Nagel auf den Kopf ...", murmelte Toshiya und
richtete den Blick auf seine Turnschuhe.
"Aber ich mein .... also .... diese - Feigheit geht mir ... naja ... langsam
selbst auf die Nerven und ..... weiß nich ...", fügte er nach einer Weile
hinzu, als der Andere nichts erwiderte.
::Mutig .... das ist mutig von dir ... ich wünsche dir, dass du der Mensch
wirst, der du sein möchtest ...::, dachte Ryu nur und lächelte stumm vor sich
hin.
Zwei Straßen entlang, Reiehnhäuser, Blumentöpfe an den Fenstern, kleine
schmucke Vorgärten, identische Briefkästen. Hausnummer 7a.
"Hier wohn ich ... mein Bruder müsste schon da sein .... und ... eventuell hat
er gekocht. Nein, sogar sehr wahrscheinlich. Das bedeutet ich mach uns jetzt was
zu essen."
Mit diesen Worten fischte Toshiya einen kleinen silbernen Schlüssel aus einer
Jsckentasche und steckte ihn ins Hausschloss.
"Häh?", machte Ryutaro verwirrt, doch Toshiya war bereits eingetreten.
"Saki, bist du da?", rief der schlanke Junge in die düsteren Tiefen des
Hausflures und ließ seine Tasche fallen. Seine und Ryus Jacken warf er achtlos
in irgendeine Ecke, dann zog er seinen Gast hinter sich her in die Küche. Als
er die Tür aufstieß kam den beiden Jungen blass-lila Nebel entgegen, der
schwach nach Zitronenminze roch.
"Tag, Totchi", brabbelte Sakito von irgendwoher aus dem Dunst.
"Hab uns Kartoffeln gemacht!"
"Tschernobilkartoffeln ...", murmelte Toshiya erschaudernd und starrte mit
mulmigem Gefühl in der Magengegend auf die leuchtend hellgrünen Objekte, die
in einem großen wassergefüllten Topf auf dem Herd herumschwammen.
Zuerst öffnete er das Fenster, dann holte er drei fertig belegte Brötchen aus
dem Kühlschrank und platzierte sie auf dem Esstisch. Schließlich schob Toshiya
Ryutaro, der verschüchtert in der Tür stehengeblieben war, in die Küche und
verkündete:
"Hab jemanden mitgebracht, Saki, ich denke ihr kennt euch ..."
"Häh??"
Sakito drehte sich um. Die anderen beiden starrten ihn sekundenlang wortlos an.
Dann nahm Toshiyas kleiner Bruder die angelaufenen Schweißerbrille ab um den
Gast etwas näher in Augenschein zu nehmen.
Die Freude wich augenblicklich aus seinem Gesicht, wie Schnee, der in der
Wüstensonne schmilzt, als er seinen Klassenkameraden erkannte. Allerdings, auf
Toshiyas drohenden Blick hin, antwortete er nur: "Ach du bists, hi Ryutaro ..."
"Hm, hallo", nuschelte der Andere in seinen Schal. Er spürte genau, wie
unerwünscht er in gerade war, Sakito war nur schlicht zu höflich um seinen
Gedanken mit Worten Ausdruck zu verleihen.
"Setz dich doch!", sagte Toshiya mit radioaktivem Strahlen (das liegt an dieser
Küche, Leute, glaubt mir!) um die entstandene Stille zu überbrücken.
"Wir essen jetzt mal ... ich meine etwas, dass uns nicht sofort tötet", grinste
Toshiya mit kurzem Seitenblick auf die Dinge, die im Topf auf dem Herd
miteinander reagierten.
"Hmpf ...", machte sein kleiner Bruder beleidigt, krallte sich ein Brötchen und
begann noch vor den anderen zu essen.
Nachdem die drei eine Weile schweigend an den Sandwiches herumgekaut hatten,
erhob sich Toshiya schließlich.
"So. Und wenn ihr fertig seid, brauch ich euere Hilfe", eröffnete er.
"M-meine auch?", stotterte Ryu verwirrt, der damit beschäftigt war, seine
strampelnde Tomate festzuhalten (sie muss im Kühlschrank irgendwo neben Sakitos
Chemikalien gelegen haben).
"Ich hab dir gesagt, dass du heute abend allein kochen darfst ...", stellte
Sakito mit hochgezogenen Augenbrauen fest und ignorierte seinen Mitschüler
einfach mal.
"Immerhin habe ich mittags gekocht ..."
"Ja, aber wir haben davon nichts gegessen (schließlich wollen wir nicht
sterben) ...", gab sein großer Bruder zurück..
"Ja, aber davon war auch nie die Rede gewesen ... du hast nur gesagt ,koch was'
und nicht ,koch was essbares', ne ... aber guter Tipp ...", murmelte Sakito
nachdenklich und begann Pläne für ein Nachtmahl zu schmieden, radioaktive
Radieschen würden eine nicht geringe Rolle dabei spielen.
"Ok, gehen wir", plapperte Toshiya schnell und in Gedanken fügte er hinzu:
::Bevor dem Kleinen noch ein interessanter Einfall für einen Nachtisch kommt
... ::
Eine halbe Stunde später betraten ein aufgekratzter Toshiya, ein äußerst
missgelaunter Sakito und ein Ryutaro, der sich einfach nur fehl am Platz
fühlte, einen kleinen, schmucken Friseursalon mitten in der malerischen
Altstadt. Die drei Jungen stellten die einzige Kundschaft in dem winzigen Laden
dar.
"Was stellen Sie sich denn so vor?", leierte ein großer, schlanker Junge mit
penetrant pinkem Kaugummi im Mund und einem auffälligen Piercing in der Lippe.
Er trug ziemlich abgefahene Dienstkleidung und eine stylische Frisur, seine
großen dunklen Augen, die unter nachtschwarzen Haarsträhnen katzenhaft
hervorlugten, ließen auf japanische Herkunft schließen.
"Öh, ich?", brabbelte Toshiya verwirrt zurück und ließ sich ermattet von so
vielen neuen Eindrücken, in dem bequemen Sessel nieder, der ihm hingeschoben
wurde. Der junge Friseur runzelte die Stirn.
" Wollen Sie nun nen Haarschnitt oder nicht?"
" J-ja, doch, a-aber, ich weiß nicht-", begann der Schwarzhaarige aufgeregt,
doch Sakito fiel ihm ins Wort.
" Die Trantüte hier will nen richtig schicken, sexy Haarschnit mit viel Farbe
blah blah, is nur leider zu unsicher, sich für irgendwas zu entscheiden etc.
etc., also entscheide ich", stellte er genervt fest, zog sich einen Plastikstuhl
heran und setzte sich dann neben seinen Bruder.
"Was hälst du von ner dunklen Farbe?", schlug der Friseur vor und betrachtete
sein Opfer aufmerksam mit seinen Katzenaugen.
" Mmmh", machte Sakito und rieb sich den Kopf, " also vielleicht violett oder
so.... aber auf gar keinen Fall blond...."
" Nene, das is auch zur Zeit ziemlich out!" Der große Junge nickte
bestätigend.
"Mh, also äh, ich...ich fände blau sehr schön .... also dunkelblau ....wollte
ich nur sagen....", meldete sich Ryutaro schüchtern zu Wort. Obwohl er das
Gefühl nicht los wurde, dass Sakito ihn am liebsten auf den Mond schießen
würde, wollte er sich ein Beispiel an Toshyia nehmen und selbst etwas für sein
Glück tun. Sein Klassenkamerad warf ihm einen du-bist-ja-immer-noch-da-Blick
zu, aber der Friseur quietschte begeistert.
" Ja, hai hai haiii, das ist es! Kleiner du hast den Riecher! Nachtblau, ist DIE
Farbe!!"
Ohne lang auf Zustimmung zu warten verschwand er in einer Tür, die in die
Tiefen des Ladens führte und kehrte auch sogleich bewaffnet mit allen mögliche
Tuben, Scheren, Messern, Tupfern und Skalpellen wieder zurück.
"Darf ich vielleicht auch noch ein Wort mitreden?!", murmelte Toshyiya leicht
verärgert in Richtung seines Bruders, der ihn nur böse angrinste.
" Nix da! Du wolltest ne neue Frisur, also kriegst du eine und wenn schon, denn
schon, ne!", entgegenete er und Ryutaro lächelte nur hilflos.
"Jetzt zur eigentlichen Frisur...", setzte der Friseur an, dessen Namen im
Übrigen Miyavi war (er trug auf einmal ein kleines, silbernes Namensschild, das
er sich im Vorrübergehen angesteckt haben musste).
"Also äh", Versuchte Toshiya, doch Sakito war wieder schneller.
"Mach einfach, wir vertrauen deinen Künsten", sagte er und machte eine genervte
Geste in Richtung Bruder.
"Arigatou", grinste Miyavi und machte sich ans Werk.
Zwei Stunden später bekam Toshiya einen rot-schwarzen emily the strange-Spiegel
(gibt's sowas überhaupt?) in die Hand gedrückt, Miyavi betrachtete seine
Arbeit mit zufriedenem Strahlen.
"Sieht super aus!", stellte Sakito fest und nickte anerkennend, seine Laune war
zwar nicht Himmel hoch jauchzend, hatte sich aber in den vergangenen Stunden
erheblich gebessert. Er hätte im Leben nicht gedacht, dass sein großer Bruder,
das fade Mauerblümchen, tatsächlich eine schöne Seite hatte. Eine
außerordentlich schöne.
" Toshiya? Ähm .... möchtest du nicht deine Augen aufmachen? Ich meine .... so
siehst ja gar nichts...."
" Klar Ryu-kun, äh, sofort", antwortete Toshiya und brachte ein nervöses
Lächeln zustande. Er hob gaaaaanz langsam und voller Angst die Augenlider und
starrte dann auf das Spiegelbild, das vor seinen Augen erschien. Im ersten
Augenblick erkannte er sich selbst nicht im Spiegel, dann klappte ihm die
Kinnlade runter.
"Na? Wie findest du's?", bohrte Sakito und musterte den Älteren voller
Erwartung.
"Das hättest du jetzt nicht erwartet, hab ich recht?"
Absolut sprachlos.
"Bin ... das echt ich?" Mit der zitternden linken Hand streifte sich Toshyia
eine tiefblaue Strähne aus den Augen. Die längsten Haare reichten bis zu
seinen Schultern, darüber eine kürzere, etwa kinnlange Schicht, schwarz-blau,
mit fransigem Pony, der ihm halb ins Gesicht hing. Das sah einfach nur genial
aus.
"Und morgen früh stylen wir das noch ein wenig mit Haarspray, ne ...", schlug
Sakito vor.
"Cooooool ...", hauchte sein großer Bruder und sank glücklich in seinem Sessel
zurück. Sakito und Ryutaro konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen, sie
bezahlten Miyavi, der zurückgrinste und sich bedankte, und schleiften dann den
total abwesenden Toshiya hinter sich her aus dem Laden.
Als sie eine halbe Stunde später zu Hause ankamen, lehnte ein unförmiges
Bündel an der Haustür. Sakito hob es mit angewidertem Blick auf.
"Uäääääh, sieht ja versifft aus! Is übrigens für dich, Totchi." Er
schnippte mit dem Finger einen kleinen weißen Zettel, geziert mit der
Aufschrift viel Spaß, Toshiya! Von Shin, an und drückte es seinem Bruder in
die Hand. Der nickte nur grinsend.
"Könnt ihr beiden Jungs euch ne Weile allein beschäftigen? Kao kommt gleich
vorbei ...." Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss er behände die Tür auf,
pfefferte seine Jacke irgendwo in die Ecke und wetzte die Treppen hinauf. Als
die Tür von Toshiyas Zimmer zuknallte, seufzte Sakito zum hundertausendsten mal
an diesem Tag genervt auf.
"Bleibt mir ja nix anderes übrig", maulte er leise vor sich hin und entledigte
sich ebenfalls seines Mantels und den Schuhen. Zögernd gefolgt von einem sehr
eingeschüchterten Ryutaro schlurfte der Junge in die Küche. In diesem
Augenblick erschien Toshiya noch einmal an der Treppe und rief seinem Bruder
"und Ryu schläft auch in deinem Zimmer, ne" zu.
"Jajajajajajaaaaaa-haaaaaaa", nörgelte Sakito, dem nun entgültig die Geduld
ausging. Toshiya wusste doch genau, wie wenig er diesen Kerl ausstehen konnte?!
Soviel zu Bruderliebe und Rücksicht .... und wieso genau hatte er Ryutaro
nochmal hergebracht? Irgendwie hatte Toshiya vergessen das zu erwähnen ....
"Setz dich _da_ hin", schnappte er und drückte Ryutaro auf einen der Stühle.
"Ich mach uns was zu essen ...."
Mit diesen Worten band sich Sakito eine niedliche Schürze mit Hamburgermuster
um und machte sich ans (ziemlich tödliche) Werk.
Um zwei nach fünf klingelte es an der Haustür. Aus der Küche kamen neben dem
Geklirr und Geschepper von dem Sakitos Kochaktionen immer begleitet wurden
keinerlei Anzeichen, dass die beiden die Tür gehört hatten, also sprang
Toshiya die Stufen hinunter und ließ Kaoru herein, der entschuldigend
lächelte.
"Sorry, bin zu spät."
Er trat ein und Toshiya nahm ihm seine Jacke ab.
"Es ist kurz nach fünf, Kaoru", bemerkte der (inzwischen) Blauhaarige, "ahso,
verstehe, wenn du sagst du bist um fünf da, dann bist du auch um fünf da,
oder?"
Kaoru grinste breit und erwiderte: "Sieht klasse aus. Wahnsinn Toshiya. Echt!"
"Arigatou", nuschelte der Andere errötend.
"Wes-weshalb hast du dich denn ...äh ... verspätet? Also wenn ich fragend
darf?"
"Hab noch nen Freund besucht, Daishi, vielleicht kennst du ihn, er geht in die
dreizehnte....."
"So ein schlanker Kerl mit schwarzen Haaren, trägt nur weiß und schwarz ?",
antwortete Toshiya während er Kaoru in sein Zimmer führte. Dieser nickte
grinsend.
"Der, der aussieht wie ein lebendiges Schachspiel, ja."
Er ließ sich aufs Bett fallen und Toshiya tat es ihm gleich.
"Tolles Zimmer hast du hier", bemerkte Kaoru und blickte sich neugierig um.
"Richtig gemütlich. Da fehlen zwar noch n paar Poster, aber sonst ..." Er
grinste wieder und Toshiya grinste zurück.
"Schenk mir doch welche", kicherte er.
"Kein Problem!"
Kaoru begann in der Tasche zu wühlen, die er mitgebracht hatte und der Andere
beobachtete ihn dabei mit großen Augen.
"Übrigens hat Daishi nen kleinen Bruder, der genauso alt ist, wie deiner ...
ziemlich lebhaft eigentlich und vorlaut .... hab allerdings schin seit Wochen
nichts mehr von ihm gehört .... er geht in die elfte Klasse, wie Sakito, die
beiden müssten sich eigentlich kennen ... irgendwie mach ich mir Sorgen um den
Kleinen, er ist seit einiger Zeit total .... verändert ....irgendwie ....",
sagte Kaoru vertieft und zauberte einen Stapel nagelneuer Poster aus der Tasche,
die irgendwelche jrocker zeigten.
"Woah und die darf ich echt haben?", staunte Toshiya und beäugte den Stapel
fasziniert.
"Echt."
"Oh danke!", rief er aus und drückte Kaoru stürmisch.
::Jetzt zeigst du endlich mal dein wahres Gesicht und verhälst dich so, wie du
wirklich bist::, dachte Kaoru nur und lächelte still vor sich hin.
Als der Blauhaarige die Poster aufgehängt hatte und gemeinsam mit seinem Freund
die Klamotten von Shinya durchging, sagte Toshiya plötzlich: "Mmh und du sagst,
das ist nicht normal? Komisch ... hat dir dein Freund Daishi denn nichts
erzählt?"
Kaoru schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht angesichts des
Rüschenwunders, das er eben aus Shinyas unförmigem Sack gezaubert hatte.
"Wie heißt Daishis Bruder denn, vielleicht kenn ich ihn ja."
"Probier das mal an!" Kaoru hielt Toshiya einen sehr knappen, schwarzen Lackrock
hin. "Wie? Oh, äh, er heißt Tooru ..... aber sein Bruder nennt ihn nur Kyo."
Na seht ihr, da bleibt Kyo^^ (er ist der Bruder vom Psycho-le-Cému Sänger
hahaaaaaaa, ist das nicht wunderbar?! ^^" *drop*) .... hab es tatsächlich
geschafft, ihn im letzten Satz noch mit einzubringen *drop*.... übrigens hat
das Essen in dieser fanfic eine zentrale Bedeutung ^.^
Ich hoffe dieses Kapitel war nicht zu schwerfällig und ausführlich u.u, ich
hab irgendwo mal den Faden verloren^^" und ja, Rechtschreibfehler, gomen ne
.....
Kapitel 3: 3
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Walking proud
Autor: Clea
Pairings: Na, schon ne Ahnung?
Kommentar: Vielen Dank für euere lieben Kommentare, schreibt nur weiter
fleißig Kommis^^ ...
An alle, die Sakitos Rezepte möchten: Glaubt bloß nicht, dass er die genialen
Rezepte irgendwo aufgeschrieben hat, der Junge macht das nach Gefühl, tsts,
keines von euch untalentierten Wesen wird das jemals so hinbekommen wie er, pah
^.^ ...
Zu Die und seinem Essen: *gg* Tja, da gibt es eine einfache Erklärung: Habt ihr
schon mal die Bilder im WARE-Photobook gezählt, in denen Dir en grey am Essen
sind? Ich habe es getan. Ergebnis: Auf fast der Hälfte aller Bilder sind die
Dirus bei irgendwelchen Mahlzeiten zu sehen und ratet mal, wer am häufigsten
... genau, Die ...
Wo der Kerl das lässt weiß ich auch nicht, ich denke er gehört zu den Leuten
die alles essen können ohne zuzunehmen ...
Und zu der Frage, ob denn keine anderen Leute in der ersten Pause auf dem Klo
sind: Nein. Aus Gründen, die ich nicht ermitteln kann verirrt sich selten
jemand in die Männertoilette, vermutlich aus Angst vor durchgeknallten
Personen, die dort abhängen ... es ist übrigens eine sehr saubere Toilette,
sie wird ja nie benutzt ...
Dieses Kapitel widme ich meiner Betaleserin ChipmunkShake *knuff*, danke fürs
Fehlerlesen, ich bin echt ein Legastheniker u.u
Teil 3
"Kyo?"
Toshiya ließ das Spitzentop, das er in den Händen hielt, nachdenklich sinken.
"... von dem ... hab ich schon einmal gehört, glaub ich ..."
Er runzelte die Stirn.
Sein violetthaariger Gegenüber nickte bestätigend.
"Jup, gut möglich. Er ist ein Sonderling, war er schon immer. Kyo ist strange,
in jeder Hinsicht!"
Er lachte leise.
"Er ist so ein Träumer ... immer völlig verplant ..."
Eine Weile war es still, dann räusperte sich Kaoru und zog Toshiya resolut das
spitzenbesetzte Oberteil aus den Händen.
"Das nicht, bitte ... nichts mit Schleifchen oder Rüschen, das ertrage ich
nicht ...", gab er zur Auskunft und verstaute alle Klamotten, die von derartigen
Dingen geziert wurden, schnurstracks wieder in dem Beutel.
"Ich habe Shinya diese Dinge noch nie tragen sehen!", sagte Toshiya und runzelte
leicht die Stirn.
"Und das wirst du auch nie. Ganz einfach - Die verabscheut Rueschen und
niedliche Kleidchen", antwortete Kaoru und schob Toshiya einen Haufen schwarzer
Kleidungsstücke hin.
"Ich übrigens auch", fügte er hinzu. "Aber das hier ist schon eher mein
Geschmack." Er deutete zufrieden nickend auf den Kleiderstapel, welchen Toshiya
nun an sich nahm und interessiert durchging.
"Und nur weil Die sowas nicht ausstehen kann, zieht Shin es nicht an? Ich
dachte, er sei selbst bewusst und könne sich Die gegenüber durchsetzten ...",
sagte Toshiya erstaunt. Kaoru jedoch lachte laut auf.
"Oh, da täuscht du dich aber gewaltig. Aber ich habe auch nicht erwartet, dass
du das mitbekommst, immerhin schnallen es nicht mal Die oder Shinya selbst ...",
entgegnete er grinsend.
"Häh? Was genau meinst du?", fragte Toshiya und musterte sein Gegenüber mit
erstauntem Gesichtsausdruck.
"Naja, es ist so ... Daidai und ShinShin sind - einfach ausgedrückt - total
ineinander vernarrt. Sie treffen sich ständig, telefonieren miteinander, machen
alles gemeinsam, aber keiner der beiden will sich eingestehen, dass es mehr als
nur Freundschaft ist ..."
"Sie sind ... verliebt?"
Kaoru schmunzelte.
"Wenn sie es nicht sind, dann schmeiße ich sofort die Schule und lasse mich als
Einsiedler in Tibet nieder."
Toshiya gelang es nicht, etwas entgegenzusetzen, er brach bei dem bloßen
Gedanken an seinen Freund in Mönchstracht in unkontrolliertes Kichern aus, das
Kaoru nur mit hochgezogener Augenbraue zur Kenntnis nahm.
"Nein, du sollst es dir nicht vorstellen", sagte er, die Gedanken des Anderen
erratend.
"Ach komm schon, Glatze würde dir sooooo gut stehen!!"
Der Blauhaarige spranng auf, riss irgendeinen Schlafanzug aus seinem
Kleiderschrank und war im Bad verschwunden noch bevor sein entrüsteter Freund
etwas erwidern konnte.
Der schwarze Funkwecker in Toshiyas Zimmer begann am nächsten Morgen, wie sonst
auch, um Punkt 6:00 Uhr erbarmungslos zu schellen. Einen Augenblick später
tasteten vier Hände im Dunkeln ungeschickt nach dem lärmenden Objekt, um es
sofort abzuwürgen.
Genau 54 Minuten und 31 Sekunden später stieß Toshiya die Tür zur Küche auf
und mehrere Dinge passierten auf einmal: Uruha, der Kaffee trinkend am
Kühlschrank gelehnt hatte, ließ beim Anblick seines Bruders die Tasse fallen.
Ryutaro, dessen Augen auf Uruha geruht hatten und der beobachtet hatte, wie
diesem die Tasse entglitt, machte eine schnelle Bewegung in Richtung
Kühlschrank in der Hoffnung das Gefäß noch zu retten, wobei er versehentlich
einen Stuhl umstieß. Sakito sprang ebenfalls vom Tisch auf und versuchte den
Herd, auf dem ein großer Topf Milchreis vor sich hinzischte, mit einem einzigen
Sprung zu erreichen, stieß mit Ryutaro zusammen und beide landeten auf dem
Boden. Vor dem Fenster fiel ein Vogel vom Baum, leider lässt sich nicht
feststellen, ob dieses Ereignis auch von Toshiyas Auftreten herrührt.
Kurzum, es dauerte einige Sekunden bis sich die Anwesenden wieder so weit
gefangen hatten, dass sie sich zu dem neuen Erscheinungsbild des Blauhaarigen
äußern konnten, der, dicht gefolgt von Kaoru, zögernd die Szene betrat. (Der
Vogel allerdings blieb liegen, wahrscheinlich war er tot.)
"Ohayoo", murmelte Toshiya scheu und wuselte schnell zu irgendeinem Schrank um
irgendetwas herauszuholen. Das war so verdammt peinlich, wieso musste Kaoru auch
gerade einen so auffälligen Aufzug auswählen? Und die Haare ... ja, Toshiya
_war_ begeistert gewesen, als sein Freund ihm an diesem Morgen einen Spiegel vor
das Gesicht gehalten hatte, damit er Frisur und Make-up begutachten konnte (für
das die beiden immerhin gut 50 Minuten gebraucht hatten), aber vielleicht war
das ganze doch zu auffällig, mit diesen Spikes, die in alle Richtungen
abstanden und blau-schwarz schillerten ...
Völlig verunsichert stapelte Toshiya also eine Weile Teller im Schrank
aufeinander, schaute Tassen von innen an, rieb sie aus und stellte sie wieder
zurück, nur um den anderen nicht das vor Scham errötete Gesicht zuwenden zu
müssen.
Eine Weile war es völlig still in der Küche. Draußen trug ein großer Junge
mit schwarzen Haaren, auffälligen Tätowierungen und Lippenpiercing Zeitungen
aus. Dann sprach Sakito.
"Hey, Kaoru, guten Morgen, äh, willst du Milchreis?", sagte er fröhlich und
errötete leicht, als sich der Violetthaarige ihm zuwandte. Ryutaro, der sich
wieder an den Küchentisch gesetzt hatte und still seinen Kakao schlürfte,
beobachtete seinen Klassenkameraden aufmerksam. Kaoru musterte den Jüngeren
ebenfalls kurz und blinzelte.
"Sakito? Darf ich dir eine Frage stellen? Warum sind deine Haare angesengt?",
sagte er und starrte auf ein paar rauchende Strähnen, die in Sakitos Stirn
hingen.
"Wieso angesengt? Das sieht nur so aus, ich habe sie vorgestern gewaschen,
vielleicht sind sie noch nass", gab Sakito zurück, drehte sich zu seinem Topf
um und begann seelenruhig darin herumzurühren.
"Deine Haarspitzen glimmen ...", stellte Kaoru fest.
"Tun sie nicht. Möchtest du jetzt Milchreis oder nicht?", gab der Andere leicht
beleidigt zurück.
Er füllte etwas von der qualmenden Materie aus dem Topf in eine Schale und
hielt sie dem Besucher entgegen, der sie zögernd annahm. Kaoru ließ sich auf
einen der Stühle fallen und starrte sekundenlang auf den verkokelten Reis. Dann
musterte er erneut Sakitos Haarspitzen, die zwar nicht mehr rauchten, aber immer
noch ziemlich rußig aussahen.
"Was ... ist mit seinen Haaren passiert?", raunte Kaoru Ryutaro leise zu, ohne
dass Sakito, der sich wieder eifrig am Herd zu schaffen machte, etwas mitbekam.
"Er hat sich nur über den Topf gebeugt und seine Haarspitzen haben Feuer
gefangen", flüsterte Ryutaro zurück und nippte schnell an seiner Tasse, um die
Mundbewegung zu verstecken.
"Oh", machte Kaoru und schob den Milchreis etwas von sich. "Äh, Saki, äh ...
ich ... glaube ich möchte doch lieber - etwas trinken ..."
"Kein Problem!", erwiderte der Jüngere fröhlich und begann die
Küchenschränke in Windeseile nach etwas Trinkbarem durchzustöbern.
"Die hier hab ich selbst getrocknet", sagte er einen Herzschlag später, warf
ein paar Teeblätter in eine große, gelbe Tasse und goss heißes Wasser
darüber. Vielleicht hätte Kaoru auch den Tee höflich ablehnen und sein
kurzes, wertloses Leben retten können, hätte Uruha, der langsam wieder aus
seinem Schockzustand erwachte, ihm nicht die Gelegenheit dazu genommen, indem er
das Wort an Toshiya richtete.
"Neue Frisur?", bemerkte er und warf seinem Bruder einen kalten Blick zu.
"Mmh, hai ...", murmelte der Angesprochene errötend und schlich zum
Waschbecken, griff sich einen Lappen und begann den Kaffe am Boden
zusammenzuwischen und die Trümmer von Uruhas Tasse aufzulesen.
"Ganz schön bescheuert so viel Geld für ne Frisur auszugeben, die dann nicht
mal gut aussieht", sagte Uruha knapp, holte sich ein neues Trinkgegfäß aus dem
Schrank und schenkte sich wieder Kaffee ein. "Ach, und morgen, Kaoru ..."
Der Violetthaarige, Sakito und Ryutaro starrten Uruha an. Toshiya jedoch hielt
seinen Blick nach unten gerichtet, er schluckte nur und sammelte dann weiter
Splitter und Scherben auf.
Sakito hob eine Augenbraue und warf seinem ältesten Bruder, der gelassen sein
Getränk schlürfte, als ob nichts gewesen wäre, einen verärgerten Blick zu.
"Die Frisur ist super und sie steht Toshiya ausgezeichnet. Und wie wärs, wenn
du ihm helfen würdest das da am Boden zu beseitigen, immerhin hast du die Tasse
fallen gelassen", bemerkte er und stellte einen Pott mit dampfendem Tee vor
Kaoru auf den Tisch ohne jedoch die Augen von Uruha zu nehmen.
"Wer hat dich denn gefragt? Halt dich da raus!", zischte Uruha gereizt und
sprach dann wieder Toshiya an.
"Und diesen Aufzug-", er deutete auf das nachtblaue Lackkleid seines Bruders und
die blau-schwarz geringelte Strumpfhose, "würde ich an deiner Stelle auch
wieder ausziehen, ist ziemlich unvorteilhaft. Einfach nur lächerlich, dieser
Lippenstift (ich hasse Himbeerfarben)."
Er wurde von einem platschenden und dann einem zischenden Geräusch
unterbrochen.
Sakito hatte den Kochlöffel in den Topf fallen lassen, dieser löste sich nun
blubbernd im Milchreis auf. Der Junge kümmerte sich jedoch nicht darum, er
starrte seinen ältesten Bruder nur mit einem Ausdruck tiefster Entrüstung auf
dem Gesicht an.
"Sag mal, spinnst du? Was Totchi anhat kann dir doch völlig egal sein, wie
kannst du ihn so fertig machen du #~+§&%##", wütete er los und funkelte seinen
Bruder mit lodernden Augen an. Dieser warf dem Jüngeren einen erst
überraschten, dann verletzten Blick zu.
"Du bist also auf seiner Seite?! SCHÖN!", rief er, knallte seine Tasse auf die
Anrichte, so dass Kaffe in alle Richtungen spritzte und verließ die Küche,
nicht ohne vorher Wut entbrannt die Tür zuzuschmeißen.
"Seite? Was labert der denn von <>, <>, ich bin auf
niemandes Seite, was fällt dem eigentlich ein, dieser #*.§$@##", rief Sakito
seinem Bruder hitzig nach. Dann wandte er sich seinem treuen Topf zu, griff nach
einem neuen Kochlöffel (von dem alten war weit und breit nichts mehr zu sehen)
und begann wild im Milchreis herumzurühren, beständig leise vor sich
hinfluchend.
Am Tisch warfen sich Ryutaro und Kaoru einen kurzen Blick zu. Der Violetthaarige
nickte leicht und beide erhoben sich. Ryu trat zu Sakito an den Herd um legte
ihm verschüchtert die Hand auf die Schulter.
"Also ... äh ... vielleicht be-beruhigst du dich ... äh bitte", nuschelte er,
seinen ganzen Mut zusammennehmend. Sein Klassenkamerad schüttelte die Hand ab,
entgegnete "ICH BIN RUHIG!!!!!" und schlug dreimal heftig gegen den Topf, so
dass das Geschirr im Spülbecken daneben laut und protestierend klirrte. Kaoru
hatte sich zu Toshiya auf den Boden gekniet, der mit gesenktem Kopf am
Kühlschrank kauerte und mit den Tränen kämpfte.
"Hey ... du weißt, dass das nicht stimmt ...", sagt er sanft und legte seinem
Freund den Arm um die Schultern. Dieser schniefte und hob die Hand um sich das
Gesicht zu reiben, doch Kaoru hielt ihn zurück und tupfte mit seinem eigenen
Ärmel vorsichtig die Tränen aus Toshiyas Augen.
"Du musst aufpassen, dass das Make-up nicht verschmiert ... das wäre schade, es
sieht nämlich so hübsch aus", sagte er und lächelte, als sein Freund ihn
erstaunt anblickte. Schließlich nickte Toshiya, flüsterte "Danke, Kao", erhob
sich tapfer uns zupfte sein Kleid zurecht. Der Violetthaarige wollte gerade
etwas hinzufügen, als es an der Tür klingelte.
"Geh schon", sagte Sakito immer noch etwas gereizt, aber wesentlich ruhiger als
zuvor, doch noch bevor er sich in Richtung Tür bewegen konnte, ging diese auch
schon auf und ließ einen großen, rothaarigen Junge herein, der an einem
Schokocroissant kaute
"Dein Bruder hat mich rein gelassen, Totchi, woah, hatte DER einen mörderischen
Blick drauf ...", plapperte Die und trat in die Küche. Für einen kurzen
Augenblick starrten ihn die vier Anderen verständnislos an. Sakito regte sich
(mal wieder) zuerst.
"Du bist Die, nicht wahr? Willst du was essen?", fragte er und hielt dem
Ankömmling mit unschuldigem Augenaufschlag die Schale Milchreis hin, die Kaoru
verschmäht hatte.
"Gern, danke!!", antwortete Die strahlend, nahm das Schüsselchen an sich und
begann zu essen bevor dsie Anderen etwas erwidern konnten.
Toshiya schlug sich die Hand vor den Mund. Ryutaro hielt sich die Augen zu.
Sakito lächelte zufrieden und verfeinerte die Mahlzeit im Topf mit Tabasko.
"Was ... tust du hier, Die?", sagte Kaoru um die nervöse Stille, die entstanden
war, zu überbrücken. Angstschweiß legte sich auf seine Stirn, als er
beobachtete, wie sein Freund Löffel um Löffel zum Mund führte.
"Ich war so gespannt auf Totchis Frisur, dass ich vor der Schule einfach noch
mal vorbeikommen musste. Sieht super aus, echt!", mampfte der Rotschopf
grinsend
"Danke, Die", murmelte Toshiya errötend und fühlte sich noch besser.
"Dieser Lippenstift ist toll, ich wünschte, Shinya würde so was auch mal
tragen, aber er hasst ja Make-up ...", fuhr Die fort und hielt Sakito die leere
Schale hin, welcher ihm fröhlich pfeifend noch einmal Milchreis
hineinschaufelte.
"Das schmeckt echt gut Kleiner ...", wandte sich Die an den jungen Koch, was ihm
einen ungläubigen Blick von Seiten Ryutaros einbrachte, "aber was ist das?"
"Haha, das tut doch nichts zur Sache, Die!", winke Sakito lachend ab.
Kaoru dagegen erhob sich, zögerte kurz und drückte seinem rothaarigen Freund
dann die Tasse mit dem inzwischen kalten Tee in die Hand, die er nicht
angerührt hatte.
"Weißt du ... hier. Zum ... Runterspülen", sagt er und lächelte schief, als
sein Freund das Gefäß freudig entgegennahm und auf einen Satz leerte. Dann
packte er Toshiyas Hand und zog ihn mit den Worten "Komm, wir machen dein
Make-up noch mal, es ist äh zerlaufen" schnell hinter sich her aus der Küche.
Ryutaro hatte eigentlich auch vor, den Raum zu verlassen, aus Furcht vor
eventuellen Nebenwirkungen, die sich bei Die aufgrund von Sakitos Essen zeigen
könnten (z.B. sein Tod), aber er brachte es nicht fertig seine Augen von dem
Rotschopf zu nehmen, der gierig und ohne Anzeichen auf Atemnot, Ausschlag oder
Lepra den Milchreis verschlang. Außerdem wollte er bei Sakito bleiben. Der
Klassenkamerad mochte ihn schließlich nicht wirklich und vielleicht würde er
nie wieder so in seiner Nöhe sein können. Er seufzte traurig auf und dachte
daran, wie Toshiyas kleiner Bruder beim Gespräch mit Kaoru errötet war.
"na, wie geht's, Ryu-kun? Von dem Schock erholt?", unterbrach Die, der neben ihm
Platz genommen hatte und ein belegtes Brötchen mit Salatblättern verspeiste,
auf einmal seine Gedanken.
"Äh? Mmh, ach so, äh ja ...", stotterte Ryutaro und senkte bei dem Gedanken an
seinen Lehrer beschämt den Kopf.
"Schock? Welcher Schock?", wiederholte Sakito Stirn runzelnd und räumte das
zerschmolzene Überbleibsel von Dies Schale in die Spülmaschine.
"Hast du ihm nichts erzählt?", sagte Die ungläubig und versuchte sich eine
Olive in den Mund zu werfen, verfehlte jedoch, die kleine, grüne Frucht prallte
wie ein Gummiball an seiner linken Wange ab, fiel zu Boden und kullerte unter
den Kühlschrank.
"Verdammt", kommentierte der Rotschopf frustriert, stopfte sich schnell den Rest
des Sandwiches in den Mund und machte sich anschließend daran die verunglückte
Olive zu retten.
"Wir haben noch Oliven, nimm doch eine von denen!", bot Sakito an während er
beobachtete, wie Die verzweifelt mit einem Löffel im schmalen Spalt zwischen
Kühlschrank und Boden herumstocherte. "Was hat Ryu mir nicht erzählt?"
"Ich will aber die hier!! ... er ist gestern von seinem Englischlehrer ziemlich
[oh fuck!] heftig belästigt worden, stimmt's nicht, Ryu? Der Kleine hatte
[verflixt!] wahnsinnige Angst [komm schon!!] und da bei ihm niemand daheim ist
[verdammte Olive, komm schon!!] hat Totchi ihn mit zu euch genommen ... wo hast
du denn geschlafen, Ryu?", sagte Die und versuchte den Kühlschrank anzuheben.
Sakito starrte Ryutaro nur an, der leise antwortete: "Auf dem Sofa im
Wohnzimmer. Sakito hat mir einen Pyjama geliehen, das war so nett!"
Er schenkte seinem Klassenkameraden ein dankbares Lächeln, dieser erwiderte es
jedoch nicht.
"Warum hast du nichts gesagt?", fragte Sakito geradeheraus und blickte dem
kleinen, zierlichen Jungen in die Augen, während Die kurzzeitig mit der Hand
unter dem Kühlschrank stecken blieb und diese erst nach einem harten Kampf
wieder frei bekam.
Der schwarzhaarige Junge zuckte nur die Achseln und senkte den Blick auf die
Tischplatte. Er erwartete, dass Sakito mit seinem hitzigen Temperament wieder
einen Wutausbruch, einen Kochanfall oder ähnliches bekam, doch dieser holte nur
etwas aus dem Kühlschrank (wobei er versehentlich auf Die trat) und ließ sich
dann in einen Stuhl gegenüber von Ryutaro fallen.
"ich habe ja auch nicht gefragt, stimmt ...", murmelte Sakito nachdenklich, mehr
zu sich selbst. Verdutzt hob der Andere den Kopf.
"Du musst echt keine Angst haben, wenn du willst kannst du heute Nacht auch noch
hier bleiben, das ist kein Problem für Totchi und mich", fuhr Sakito fort und
lächelte seinen Gegenüber süß an.
Als Ryutaro nicht antwortete, fragte er: "Magst du Schokolade?" Die hab ich zwar
nicht selbst gemacht, ist aber trotzdem gut ..."
Er schob dem blassen Jungen ein Stück hin.
"Ich liebe Schokolade!", antwortete Ryutaro freudig, nahm die Rippe (also
Schokoladenrippe, ne? Mir fällt gerade kein anderes Wort ein u.u") an sich und
biss eine Ecke davon ab.
In diesem Augenblick war er so unbeschreiblich glücklich, dass er am liebsten
in Tränen ausgebrochen wäre. Einen Herzschlag später jedoch standen Kaoru und
Toshiya wieder in der Tür und machten die Anderen darauf aufmerksam, dass sie
bereits ziemlich spät dran waren, schälten den fluchenden und tobenden Die vom
Kühlschrank, vertrösteten ihn mit einem Netz Orangen und verließen fünf
Minuten später eilig das Haus.
An einem Dachfenster stand ein hübscher Junge mit blondgefärbten Haaren, der
Toshiya mit den Augen folgte, wie er mit seinen Freunden die Straße
entlanglief. Als die Meute um die Ecke verschwunden war (mit Ausnahme von Die,
der immer wieder versuchte, sich von Kaorus Griff loszureißen und zum haus
zurückzukehren und dem Violetthaarigen, der den anderen mit zunehmender
Ungeduld wieder einfing), drehte sich Uruha vom Fenster weg, hob den
Telefonhörer neben seinem Bett ab und wählte aus dem Gedächtnis eine Nummer.
"Daishi, bist du's? Hier ist Uruha ... nein, ich komme heute nicht zur Uni, mir
geht's nicht so besonders ... aber könntest du heute Abend vielleicht mal
vorbeikommen? Ich muss mit jemandem reden ... wie? ... is egal, bring ihn
einfach mit ... ja, bis dann, baibai."
Damit knallte er den Herr etwas fester als beabsichtigt auf die Gabel, ließ
sich auf sein Bett sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
"Das ist nicht fair, Toshiya ..."
Durch das Tor über den Pausenhof. Die großen Türen auf und in den breiten
Schulflur. Toshiya und seine neuen Freunde mischten sich unter die
Schülermassen, die auf den Gängen vor ihren Klassenzimmern herumdümpelten.
Sakito zeigte sich zuerst wenig begeistert mit Ryutaro im Schlepptau zum
Unterricht zu erscheinen, willigte jedoch ein, als er den traurigen
Gesichtsausdruck des anderen bemerkte und ging zerknirscht in Richtung 10.
Klasse voraus, einen verschüchterten Ryutaro hinter sich herschleifend.
Da von Shinya weit und breit nichts zu sehen war, machten sich die anderen drei
alleine auf den Weg zu ihren Klassnräumen. Während sie so den Gang entlang
schlenderten und sich unterhielten (okay, eigentlich konnte sich Die nicht
wirklich an der Konversation beteiligen, da er zum einen völlig frustriert war,
zum anderen den Mund voller Orangen hatte), wandten sich viele Schüler um und
dutzende von Blicken folgten Toshiya auf seinem Weg zum Zimmer der 12ten Klasse.
Diese neuartige Situation nahm er erstaunt, aber auch mit einem gewissen Stolz
zur Kenntnis. Nie wieder unsichtbar sein und in der Masse der Menschen
untergehen. Er wusste zwar immer noch nicht wirklich, wie er sich verhalten
sollte, aber bisher lief ja noch alles hervorragend. An der Treppe zum zweiten
Stock trennten sich Toshiya und Kaoru von Die, der begonnen hatte beim gehen
Nüsse zu knacken (probiert das mal aus, das ist echt nicht leicht, aber Die ist
eben ein Naturtalent^^), wobei er die Schalen in seiner linken Jackentasche
verschwinden ließ.
Als die beiden um die Ecke bogen, erblickte Toshiya augenblicklich Hakuei, der
mit dem Rücken zu ihm vor dem Klassenzimmer stand und offenbar in eine
angeregte Unterhaltung verwickelt war, diese langen, schwarzen Rastazöpfe waren
wirklich unverkennbar. Die anderen zwei Jungen, die mit ihm über irgendetwas
diskutierten, beide in voller visual Montur, Make-up, gestylte Frisuren und
allem drum und dran, erblickten den Blauhaarigen und verstummten. Dann begannen
sie wie wild auf Hakuei einzureden. Toshiya konnte nicht hören, was gesagt
wurde, aber aus der Mimik der zwei ging hervor, dass sie ziemlich geschockt
waren. Ein paar Sekunden später drehte sich Hakuei um, sein Blick streifte
über die vorübergehenden Schüler, blieb an Toshiya hängen und er erstarrte.
Langsam und mit einem mal sehr eingeschüchtert trottete der Blauhaarige hinter
Kaoru her, der das Klassenzimmer anpeilte. Als sie bei der Tür angekommen
waren, ließ Toshiya ein leises "ohayou" verlauten und wartete auf den
bösartigen Kommentar von Hakuei und seinen Kumpels
Der Junge mit den Rastazöpfen starrte ihn nur völlig entgeistert an, so blieb
die Bemerkung aus, wofür Toshiya sehr dankbar war. Er ging schnell weiter,
bevor Hakuei seine Stimme wieder fand. Insgeheim wusste er, dass er den
Spötteleien nur kurzzeitig entkommen war.
Als Kaoru und er den Raum betraten und durch die Klasse auf ihren Tisch
zugingen, legte sich einen Moment Totenstille auf das Zimmer. Eine Sekunde
später erhob sich ein allgemeines Raunen und Flüstern, Mädchen deuteten auf
Toshiya und tuschelten miteinander hinter vorgehaltener Hand, Jungen warfen ihm
unauffällige, interessierte Blicke zu.
Der junge Japaner stellte seine Tasche neben den Tisch und ließ sich dann
langsam und mit sehr erstauntem Gesichtsausdruck auf seinen Stuhl sinken. Kaoru
tat es ihm gleich.
"Hast du erwartet, dass sie lachen?", sagte der Violetthaarige leise zu seinem
Freund und grinste, als dieser verdutzt nickte.
"Lass mich raten ... du hast eine derartige Reaktion absolut nicht erwartet?
Toshiya, mal im Ernst ... ich glaube du weißt nicht, wie du aussiehst ... diese
Leute sind nicht angewidert oder belustigt, die sind schockiert und fasziniert
... jemand, der so aussieht wie du zieht schon genug Blicke auf sich, aber dann
auch noch im Kontrast zu deinem früheren Auftreten ... um nichts in der Welt
hätte ich diesen Blick von Hakuei verpassen wollen!"
Er kicherte verhalten und begann seine Bücher auszupacken.
Toshiya schwieg eine Weile, das Flüstern seiner Mitschüler klang langsam ab,
doch er wurde nach wie vor von allen Seiten gemustert.
"War ich ... so ... hässlich vorher? So ... verabscheuungswürdig?", murmelte
er schließlich und senkte bestürzt den Kopf.
"Nein, Totchi, du hast mich falsch verstanden ...", warf kaoru sofort ein,
drehte dem nachbar das gesicht zu und betrachtete ihn mit strengem Blick. "Du
warst einfach unauffällig, du weißt selbst, dass du alles daran gesetzt hast,
möglichst keine Aufmerksamkeit auf dich zu lenken ... einige von denen hier",
er deutete mit einem Nicken auf die Mitschüler, die sich nun wieder in normaler
Lautstärke unterhielten, " ... nehmen dich heute vielleicht zum ersten mal
bewusst wahr ... aber du warst doch nicht <>! Dein neuer Aufzug hebt
nur die Dinge hervor, die du vorher schon hattest. Dein hübsches Gesicht und so
hattest du immer schon. Ich habe dich schon immer so gesehen", sagte Kaoru sehr
ernst und schaute dem Anderen fest in die Augen. Dieser begriff nicht sofort,
dann wurde ihm das Kompliment bewusst, er errötete heftig und stammelte:
"A-arigatou ... da-das musst du doch nicht sagen ...!"
Kaoru schüttelte nur den Kopf und der Blauhaarige wusste es solle heißen, dass
er das nicht nur einfach so dahersagte, um seinem Freund zu schmeicheln, sondern
es wirklich so meinte.
"Hey, ich bin dein Freund, ich muss doch sehen, wie du wirklich bist ...", sagte
Kaoru warm lächelnd und der Andere spürte deutlich, wie gut ihm solche
Komplimente taten. In diesem Augenblick war Toshiya einfach nur glücklich. Auch
als der Unterricht längst begonnen hatte, musste er immer wieder darüber
nachdenken, dass er einen Menschen, der so ehrlich zu ihm war, so freundlich und
ihn so akzeptierte wie Kaoru, vielleicht nie wieder finden würde.
In der ersten Pause trafen sich Die, Shinya, Toshiya und Kaoru wie immer auf der
Männertoilette, um nicht von umherstreifenden Lehrern auf den Pausenhof und
damit in die Kälte geschickt zu werden. Shinya bewunderte eine ganze Weile
Toshiyas neue Frisur und sagte dann lachend, dass dem Blauhaarigen die Kleider
viel besser ständen als ihm selbst.
"Das liegt nur daran, dass du dich ja nie schminken willst, Shin-chan ...",
murmelte Die in seinen Döner.
"Nani?!", sagte Shinya und drehte sich zu dem Rotschopf um, der in einer offenen
Kabine auf dem Klodeckel saß und sein Pausenbrot aß. Er wirkte deprimiert und
trug ein Gesicht wie zwölf Jahre Regenwetter zur Schau.
Der große Japaner warf seinem Freund einen kurzen Blick zu und antwortete dann:
"ich sagte, möchtest du etwas essen? Ich habe keinen Appetit und das Zeug wird
alles übrig bleiben ..."
"Iie, danke Die, jetzt nicht, ich muss Toshiyas Eyeliner nachziehen", entgegnete
Shinya kopfschüttelnd, schubste den Blauhaarigen sogleich zum Waschbecken und
begann eifrig sein Gesicht zu bearbeiten. Ein Siebtklässler, der aus einer
Kabine neben Die kam (das erste Wesen, seit vier Jahren, das gewagt hatte, die
Toilette im ersten Stock zu benutzen) und an eines der Waschbecken trat um sich
die Hände zu waschen, warf den beiden Jungen einen scheelen Blick zu. Als
Shinya versehentlich etwas Lidschatten auf den Boden, dicht neben den Fuß des
Schülers bröselte, sprang dieser erschrocken einen Schritt zurück und
verließ dann fluchartig die Toilette.
Kaoru beobachtete Shinya eine Weile grinsend.
"Du liebst es, andere zu bemuttern, was Shin-chan?", sagte er dann und Die
nickte zustimmend: "Sag ich doch ..."
"Was hast du gesagt?", fragte Shinya, bedachte Kaoru mit einem verärgerten
Blick und trat einen Schritt zur Seite um Die im Spiegel mustern zu können.
Der Rotschopf seinerseits warf dem Spiegelbild seines Freundes ebenfalls einen
kurzen Blick zu und nuschelte: "Ich sagte, willst du echt nichts? Hab noch drei
Döner dabei und keinen Hunger mehr ..."
"Zum letzten mal, Daisuke, nein, danke!", sagte der Blonde genervt und hüllte
Toshiya in eine Wolke aus Haarspray bei dem Versuch ein paar verrutschte Spikes
zu fixieren. Gerade als er dem Blauhaarigen noch seine Kette umlegen wollte,
schwang die Toilettentür auf, doch diesmal war es nicht Ryutaro, der eintrat,
sondern ein großer, junger Mann mit nachtschwarzen Haaren, sehr vielen
Tätowierungen und einem Lippenpiercing, das sofort ins Auge fiel.
"Ich wusste, hier würden sich einige dieser hinterhältigen, fiesen
Schülerkreaturen verstecken!", wütete er und warf den vier Jungen, die wie
verdattert zur Tür starrten, abwechselnd tödliche Blicke zu.
"Jetzt aber husch-husch in die Pause, frische Luft kann eueren mickrige,
verkümmerten Gehirnzellen nur gut tun. Ich hoffe ihr erfriert da draußen!",
tobte er weiter und fuchtelte mit den Armen wild in der Luft herum um seinen
Worten durch entsprechend wüste Gesten Ausdruck zu verleihen.
Also trollten sich die Junge widerwillig in die Pause, die feuerspuckende Person
dicht auf den Fersen.
"Was war DAS denn??", fragte Toshiya kurze Zeit später, als sie ein stilles
Fleckchen in einer Ecke des Pausenhofes gefunden und sich dort niedergelassen
hatten. Shinya legte die Stirn in Falten.
"Den solltest du aber kennen, Totchi. Das war der Vizerektor, Miyavi-sensei ...
immer ein unberechenbares Temperament der Gute, aber im Grunde völlig harmlos
...", erklärte er und zupfte ein Haar von Toshiyas Rücken. Dieser starrte den
Anderen nur an.
"Den hab ich hier noch nie gesehen! Wie lange ist er hier schon Lehrer?"
"30 Jahre, Totchi", antwortete Shinya mit hochgezogener Augenbraue, "der hat
sogar schon meine Mutter unterrichtet."
Toshiya dachte angestrengt nach. Da war doch irgendetwas.
"Der kommt mir so ... bekannt vor ...", murmelte er langsam woraufhin Shinya nur
mit den Augen rollte.
"Vizedirektor! Klar kommt er dir bekannt vor!"
Der Blauhaarige schüttelte den Kopf.
"Das meinte ich nicht. Aber ist auch egal. Wisst ihr was, ich sehe mich mal
schnell nach Saki und Ryu um, ich hoffe die beiden sind zusammen und es ist
alles in Ordnung ... und Die: mach nicht so ein deprimiertes Gesicht. Du
bekommst eine neue Olive, ich versprechs dir!"
Ohne Dies ich-will-aber-die-unter-dem-Kühlschrank-Maulen Beachtung zu schenken,
verließ der Blauhaarige seine Freunde, überquerte den Pausenhof in Richtung
einer Reihe von kleinen Büschen, hinter der sich meistens eine Gruppe von
Zehntklässlern aufhielten und verbotene Dinge taten, wie etwa rauchen.
Seinen kleinen Bruder erblickte Toshiya bereits von weitem, er war von einer
Schar Jungen und Mädchen umringt, die redeten und lachten. Einer der Schüler
übergab sich in ein Blumenbeet, in seiner Hand hielt er etwas, das stark nach
einem von Sakitos selbst gemachten Keksen aussah.
::Beliebt wie eh und je::, schoss es Toshiya durch den Kopf, als er bemerkte,
wie die Mitschüler seines Bruders um dessen Aufmerksamkeit rangen, einige sogar
todesmutig von seinem (selbst gemachten) Pausenbrot kosteten.
::Auch wenn sich der Kleine dessen überhaupt nicht bewusste ist ... oder
vielleicht ist es ihm bewusst, aber völlig egal. Ja, das schon eher, er ist ja
ziemlich aufmerksam. Er hat echt ein süßes Lächeln ... und hübsch ...::,
dachte der Blauhaarige und musterte seinen Bruder stolz aus der Ferne, wobei ihm
natürlich nicht auffiel, dass auch er selbst von einigen der Umstehenden
heimlich betrachtet wurde.
::Aber wo ist ... : Mit diesem Gedanken hielt der junge Japaner nach Ryutaro
Ausschau und wurde auch sogleich fündig: Der zierliche Schüler saß schweigend
auf einer kleinen Mauer in Sakitos Nähe und beobachtete ihn mit seinen sanften,
tiefen Augen. Ab und zu drehte sich der Andere um und warf Ryutaro einen kurzen,
prüfenden Blick zu, den dieser mit seinem schüchternen Lächeln erwiderte.
Toshiya musste bei diesem Anblick einfach grinsen. Er wusste genau, dass es
seinem Bruder zuwider war, etwas mit Ryutaro zu tun zu haben, Sakito hatte ihn
aufgrund seiner Art nie ausstehen können, doch er war bereit auch einmal über
seinen eigenen Schatten zu springen und da Toshiya ihn darum gebeten hatte,
kümmerte er sich ein wenig um den verschüchterten Klassenkameraden. Zudem
begann er Ryutaro vielleicht sogar ein wenig zu mögen, das konnte Toshiya nicht
genau sagen, aber irgendwie hatte er den Eindruck.
::Sakito ist so anders als Uruha ... wenn er erkennt, dass er im Unrecht gewesen
ist, ändert er seine Meinung ohne daraus einen Hehl zu machen ... ::
Toshiyas Gedanken wurden mit einem mal abrupt unterbrochen.
Aus den Augenwinkeln nahm er etwas war, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog:
Ein sehr kleiner, sehr zierlicher Junge lehnte an der Wand des Schulhauses, ganz
in seiner Nähe und hielt sich den Bauch, als hätte er heftige Schmerzen. Sein
Gesicht war verkrampft und kalkweiß, er rutschte an der Mauer hinunter langsam
zu Boden, doch da es anscheinend eben zu Beginn der dritten Stunde geläutet
hatte, strömten alle Schüler quatschend und diskutierend Richtung
Schuleingang, so dass niemand den blonden Jungen bemerkte. So schnell ihn seine
Beine trugen und es die dichte Schülermasse erlaubte, schlug sich Toshiya zu
der kleinen, am Boden kauernden Gestalt durch.
"Hey, alles okay?", fragte er, kniete sich neben den Jungen und packte ihn
vorsichtig an der Schulter. Dieser hob den Kopf und blickte Toshiya durch
trübe, glasige Augen an.
"Hai ...", hauchte er kaum hörbar. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, er
zitterte am ganzen Leib. Die erste Reaktion des Blauhaarigen war, seine Jacke
auszuziehen und den zierlichen Schüler um die Schultern zu legen. Vermutlich
war er ziemlich krank, Grippe oder so, das war aber auch kein Wunder, bei dem
hauchdünnen, engen Shirt, das er trug.
"Soll ich dich ins Krankenzimmer bringen?"
Inzwischen waren alle Schüler in Ihren Klassenzimmern verschwunden und der
Pausenhof wie leer gefegt. Als der Junge kaum merklich nickte, griff Toshiya ihm
unter die Arme, zog ihn hoch und führte ihn dann langsam an der Mauer entlang
zum Schuleingang. Obwohl der dünne Schüler relativ lange, blassgelb gefärbte
Haare hatte, die in allen Richtungen von seinem Kopf abstanden, war er viel
kleiner als Toshiya selbst. Diese zierliche Statur, aber auch seine blasse Haut,
das feine Gesicht und die großen dunkelbraunen Augen, die nun gerrötet waren
und tränten, trugen dazu bei, dass man den Japaner beinahe für eine Puppe
halten könnte.
Das Krankenzimmer lag im Erdgeschoss, ganz am Ende des Ganges. Auf dem Weg
dorthin kam Toshiya, der den Kranken mehr trug, als stützte, eine sehr bekannte
Gestalt entgegen: Ein Junge mit langen, schwarzen Rastazöpfen, geschminktem
Gesicht und knielangem, rot-schwarz geringeltem Pullover. Anscheinend war er auf
dem Weg zur Toilette, der Unterricht hatte längst begonnen, und zum zweiten Mal
an diesem Tag blieb Hakuei geradezu geschockt stehen und starrte erst Toshiya
und dann das Wesen, das in dessen Armen hing, an. Diesmal jedoch wurde er sich
anscheinend sofort seines entgeisterten Gesichtsausdruckes bewusst, er schloss
schnell den Mund, drehte sich um und ging die Treppe hoch in Richtung
Klassenzimmer wieder davon.
::Seltsam, wollte der nicht auf Klo? Wieso macht der denn so plötzlich kehrt?
Dieser Kerl ist echt verplant ... aber egal, jetzt gibt es wichtigeres zu tun
... ::, dachte Toshiya, dem der halb ohnmächtige Junge langsam zu schwer
wurde.
:: Zum Glück ist er so klein, sonst hätte ich Schwächling ihn vermutlich
keinen Zentimeter bewegen können.::
Endlich vor dem Krankenzimmer angekommen, stieß er die Tür auf, hievte den
Anderen, der immer noch in seine dunkelblaue Jacke gewickelt war, aufs Bett und
zog eine Decke über ihn. Während er noch darüber nachdachte, warum in drei
Teufels Namen Hakueis Gemeinheiten an diesem Tag so lange auf sich warten
ließen, öffnete der blasse Junge die Augen und fixierte ihn, diesmal mit sehr
klarem Blick, ohne ein Wort zu sagen.
"Soll ich in deiner Klasse bescheid sagen, dass du hier bist?", sagte Toshiya
nach einer Weile. Diese Augen machten ihn nervös, sie waren so tief,
durchdringend und unendlich traurig. Als könne dieses Püppchen seine tiefsten
Gedanken und Gefühle erraten.
"Ich habe mich schon abgemeldet. Ich möchte jetzt alleine sein."
Überrascht von der dunklen, vollen Stimme
"Wie heißt du?"
Der Junge drehte sich auf der Liege um und wandte dem Blauhaarigen den Rücken
zu.
Stille.
"Bist du krank? Kann ich dir irgendwie helfen, vielleicht einen Arzt holen?"
Der Kranke machte keine Anstalten, Toshiyas Fragen zu beantworten. Erstaunt
musterte dieser den schmalen Umriss des Anderen und überlegte, was er tun
könnte.
"Okay, dann eben nicht ... ich frag im Sekretariat nach, die werden wissen, wer
du bist und deinen Eltern Bescheid sagen ...", seufzte Toshiya schließlich und
drehte sich zu Tür. Er hatte bereits die Klinke hinuntergedrückt und war dabei
den Raum zu verlassen, als ihn der Junge plötzlich mit lauter, forscher Stimme
anredete.
"Nein!", sagte er bestimmt und der Blauhaarige erstarrte erschrocken in seiner
Bewegung und drehte sich wieder um.
"Bitte?", fragte er verdutzt.
"Nein", wiederholte der Schüler, der sich, immer noch reichlich blass, im Bett
aufgesetzt hatte. "Danke, dass du mich hierher gebracht hast. Du musst niemanden
informieren, die Lehrer wissen schon bescheid. Geh jetzt bitte."
Völlig verdattert starrte Toshiya den Blonden an. Er war nicht in der Lage
etwas zu erwidern, diese kalten, tiefen Augen und der entschlossene, grimmige
Gesichtsausdruck hielten ihn davon ab. Der kleine Schüler hatte so zerbrechlich
und sanft ausgesehen, diese zierliche Statur, hübsches Gesicht - doch nun war
er alles andere als kindlich und süß. Er wirkte eher wie ein Erwachsener, in
seinen Augen lag etwas, das Toshiya verunsicherte.
Also stammelte der Blauhaarige nur, "J-ja, wenn du meinst!", und verließ dann
verwirrt den Raum. Bevor er die Tür schloss, warf er noch einen letzten Blick
zurück, die Junge ließ sich wieder auf die Liege fallen, noch bleicher als
zuvor und schloss die Augen.
Auf dem Weg zu seinem Klassenzimmer überlegte Toshiya kurz, ob er den Wunsch
des zierlichen Schülers missachten und doch im Sekretariat vorbeischauen
sollte, entschloss sich aber schnell dagegen, als das aufgebrachte, todernste
Gesicht des Anderen vor seinem geistigen Auge auftauchte.
::Gruselig::, dachte der Blauhaarige und konnte nicht verhindern, dass ihm ein
Schauer den Rücken hinunter lief, ::echt gruselig der Kleine ... ::
Vor seinem Klassenzimmer angekommen zögerte er einen Augenblick, öffnete dann
vorsichtig die Tür und trat ein. Alle Schüler wandten ihm überrascht das
Gesicht zu. Toshiya setzte gerade errötend zu einer Entschuldigung an, doch
seine Lehrerin schüttelte nur lächelnd den Kopf und sagte: "Schon gut,
Toshiya, setzen Sie sich, Hakuei hat Sie bereits entschuldigt."
Der große Japaner stutzte und warf besagter Person in der letzten Reihe einen
erstaunten Blick zu, doch Hakuei blickte konzentriert aus dem Fenster. Er wandte
seine Augen zu Kaoru, doch sein Freund erwiderte den fragenden Blick nur mit
einem ebenso überraschten Blick.
Also setzte sich Toshiya auf seinen Platz und schlug seine Bücher auf, doch
kaum hatte die Lehrerin den Geographieunterricht fortgesetzt, da schob er Kaoru
einen kleinen Zettel hin. Der Violetthaarige entfaltete und las ihn, kritzelte
schnell etwas darunter und reichte die Nachricht unter dem Tisch zurück.
Toshiya schob das weiße Stück Papier unter sein Heft und holte sie hervor,
sobald sich seine Lehrerin von der Klasse abwandte um etwas an die Tafel zu
schreiben.
Toshiyas Zeilen lauteten:
Hab gerade einen Jungen, dem es ziemlich übel ging, ins Krankenzimmer gebracht.
Das war total komisch, er wollte nicht, dass ich Hilfe hole und hat mich
weggeschickt. Hakuei hat mich gesehen, anscheinend hat er mich entschuldigt.
Warum tut der das??
Darunter hatte sein Freund in seiner sauberen, feinen Handschrift gesetzt:
Keine Ahnung. Er kam hier nur vorhin rein, hat leise was zur Lehrerin gesagt und
sich auf seinen Platz gesetzt. Wer war denn der Junge?
"Erzähl ich dir später.", raunte der Blauhaarige seinem Freund zu und begann
von der Tafel abzuschreiben, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab.
Hakuei war an diesem Tag nicht er selbst gewesen, er machte einen verplanten
Eindruck, doch Toshiya war eigentlich ganz froh, in Ruhe gelassen zu werden.
Viel mehr beschäftigte ihn dieser kleine Junge mit den großen, dunklen Augen
und die Tatsache, dass er aus irgendeinem Grund jede weitere Hilfe von ihm
abgelehnt hatte.
::Ich muss herausfinden, wer er ist ... ::
Kapitel 4: 4
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Walking proud
Autor: Clea
Pairings: Na, schon ne Ahnung?
Kommentar: Ich freue mich immer über euere Kommentare, schön zu wissen, dass
das Ganze jemand liest ...
Teil 4
"Macht Saki eigentlich jede sechste Stunde blau?", fragte Toshiya schmunzelnd
und stieß das Gartentor auf. Der schmale, gepflasterte Weg zum Haus lag
gepflegt und mit Blumen gesäumt vor ihnen da.
"Er ist nach Chemie einfach gegangen ... weiß nicht ..."
Ryutaro zuckte die Achseln.
"H-hätte ich ihn aufhalten sollen?"
Er warf dem Blauhaarigen einen schuldbewussten Blick zu, während er ihm die
Stufen hinauf zur Haustür folgte. Dieser jedoch machte mit dem Schlüsselbund
in der Hand eine abwinkende Geste und erwiderte lachend: "Quatsch, der Kleine
wird schon wissen was er tut ... außerdem ist er sowieso so schlau - was soll
er da mit Unterricht ..."
Toshiya steckte grinsend den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Doch
urplötzlich erstarrte er mitten in seiner Bewegung und wandte den Kopf erstaunt
zum Gartentor zurück.
Die Straße entlang und durch den Vorgarten wankte ein rothaariger Junge, direkt
auf Toshiya und Ryutaro zu. Sein Blick war starr auf die Haustür geheftet, er
steuerte zielstrebig an den beiden Jungen vorbei und betrat, ohne ein Wort zu
sagen, vor ihnen das Haus.
Toshiya warf dem Schwarzhaarigen einen irritierten Blick zu.
"War das - Die?"
"I-ich weiß nicht ...", kam die unsichere Antwort zurück. "Er sah aus wie Die
... aber ... ha-hast du diese Augen gesehen? Gruselig ..."
Ryutaro schüttelte erschrocken den Kopf. Der Blauhaarige seinerseits zuckte nur
die Achseln und trat in den Hausflur.
"Sakiiiiiiiiiiiiiiiiii????!!!! Bist du da-haaaaa??!!", rief er in die
unergründlichen Tiefen des Hauses. Ein Koboldmaki, der sich hinter dem
Schirmständer verborgen hatte [Anm. der Autorin: Glaubt mir, diese Dinger sind
überall, total fies!!] floh, aufgeschreckt durch den Lärm, durch die offene
Haustür und rannte direkt in ein fahrendes Auto.
"Oh", kommentierte Toshiya. "Maki is tot." [Anm. der Autorin: YEAH!!! ENDLICH!!!
Gott, danke Y.Y ... länger hätte ich das dumme Viech nicht ausgehalten ... da
siehst du mal, was passiert, wenn man mich nervt, Levin!]
Langsam streifte er seine Jacke ab und ließ sie zu Boden gleiten. Der andere
tat es ihm gleich und gemeinsam gingen sie den Flur entlang zur offenen
Küchentür, in der der rothaarige Junge stehengeblieben war.
Toshiya warf einen Blick in die Küche, dann einen Blick auf den schweigenden
Die. Er sah aus wie versteinert und stierte mit großen, entsetzten Augen in den
Raum hinein. Schließlich bemerkte der Blauhaarige Sakito. Sein kleiner Bruder
saß auf dem Sofa im Wohnzimmer (der Raum liegt gegenüber der Küche) und
studierte konzentriert ein großes, alt aussehendes Buch, das auf seinen
Oberschenkeln lag. Die Bilder von Torten und Gebäck, welche die Seiten zierten,
verrieten, dass es sich um ein (dem äußeren Zustand nach zu urteilen ziemlich
antikes) Kochbuch handelte.
Toshiya räusperte sich.
"Sakito?"
Einen Moment lang herrschte wieder Stille, dann war das Rascheln von Blättern
und ein genervtes "Hmmm?" aus dem offenen Wohnzimmer zu vernehmen.
"Sag ..."
Er räusperte sich ein zweites mal.
"War hier nicht mal früher eine Küche?"
Sakito blickte kurz auf, warf Toshiya einen kritischen Blick zu und senkte die
Augen wieder auf seine vergilbten Seiten.
" ... möglich ...", murmelte er zerstreut und blätterte um.
"Die ... alles ok?", flüsterte der Blauhaarige mit besorgtem Blick und legte
seinem Freund den Arm um die Schulter. Dieser zeigte mit keinerlei Regung, dass
er verstanden hatte.
"Du denkst doch nicht immer noch an diese Olive?"
Dies rechter Mundwinkel zuckte.
"Ach komm, reiß dich zusammen", sagte Toshiya streng und tätschelte seinen
Freund am rechten Arm.
"Du hast keine Olive mehr, wir haben keine Küche mehr. Das nenne ich
Gerechtigkeit, so ist das Leben eben. Wo ist das Problem? Man kann auch ohne
Küche sehr gut auskommen!", rief er vergnügt und trat in den leeren Rraum.
Jedes Wort, das gesprochen wurde hallte von den kahlen Wänden wieder. Dort wo
Schränke gestanden hatten, waren leicht gräulichen Ränder auf den Fließen zu
erkennen. Toshiya schaute sich kurz um, verließ seine Ex-Küche und wollte
gerade in Richtung Haustür aufbrechen, als Sakito mit einem gewichtigen
Es-gibt-eine-einfache-Erklärung-dafür-Blick den Mund öffnete. Toshiya jedoch
schüttelte den Kopf.
"Nein. Ich will es gar nicht wissen."
Mit diesen Worten nahm er seine Siebensachen, die er erst vor fünf Minuten im
Flur deponiert hatte und verließ das Haus (vermutlich um eine Pizza essen zu
gehen). Ryutaro blieb verloren im Flur zurück.
"Sakito?" Er klopfte leise an die geöffnete Wohnzimmertür um sich bemerkbar zu
machen.
"Wo äh ist die Küche hin? Äh, also wenn ich fragen darf ..."
Der Angesprochene schlug abrupt sein Buch zu, warf es achtlos beiseite und
sprang von Sofa auf und das alles mit einer einzigen Bewegung, was Ryutaro
erschrocken zusammenfahren ließ.
"Rausgeschmissen", erklärte er knapp, streckte sich und gähnte.
Den verwirrten Blick seines Klassenkameraden ignorierend, ging Sakito mit
großen Schritten auf die Küche zu, schob Die beiseite, zog ein gelbes Maßband
mit kleinen, schwarzen Zahlen hervor und maß den Abstand zwischen Türangel und
Boden ab. Dann nahm er einen kleinen Notizblock aus der linken Tasche und
vermerkte eine Zahl darauf.
Ryutaro rang verzweifelt nach den richtigen Worten.
"Raus ... geschmissen? W-wie meinst du-"
"Die Küche war doch uralt, da kann doch kein anständiges Essen mehr zustande
kommen!", unterbrach ihn Sakito, der dabei war die Breite des Rolladengurtes
neben dem Fenster abzumessen.
"Von 1995 ... ich will eine modernere, neuere, also hab ich die alte verkauft."
"V-verkauft?", wiederholte Ryutaro ungläubig. Sakito war also nach der fünften
Stunde nach Hause gegangen, hatte in Rekordzeit die Küche ausgebaut und
verscherbelt?
"An so nen komischen Vogel mit schwarzen Haaren, Lippenpiercing und
Tätowierungen ... geh jetzt bitte, ich brauche Ruhe."
Damit ließ er das Maßband fallen, eilte zur Tür und knallte sie zu. Ryutaro
gelang es gerade noch rechtzeitig Die zur Seite zu ziehen.
"Puh, das war knapp ... Die, was ist los? Sag doch was, so hab ich dich ja noch
nie erlebt ...", flüsterte der zierlich Junge und warf seinem Nebenmann einen
sehr besorgten Blick zu.
Dieser reagierte nicht. In seinen Augen lag ein leerer Blick und seine Lippen
formten stumm das Wort "weg". Ryutaro begriff.
"Ach Die ... das tut mir wirklich leid! Ehrlich ... aber ... ich fürchte die
siehst du nie wieder ... aber... es war doch nur eine Olive ... nun komm schon
... gehen wir was essen ..."
Der Rotschopf wandte dem Zehntklässler langsam den Blick zu.
"Nur eine Olive? ... sie ... sie war einzigartig ... ich wünschte Sakito hätte
mich in der Tür zerquetscht ... dann könnte ich bei ihr sein ..."
Mit einem letzten, irren Blick in Ryutaros Richtung drehte Die sich um und
schlurfte mit eckigem Gang davon.
"I-ich ... äh also ...", stammelte Ryutaro, der mutterseelenallein im Flur
zurückblieb und dem nichts einfiel um den Rotschopf aufzuhalten. Eine ganze
Weile stand er so da, unschlüssig, ob er Die folgen oder wieder zu Sakito in
die Küche zurückgehen sollte. Irgendwie schien beides keine wirkliche Lösung
zu sein.
"Was ist, kommst du jetzt endlich?"
Toshiyas Gesicht erschien in der offenen Haustür. Anscheinend hatte er draußen
gewartet.
"Mach dir mal keine Sorgen um Die, der wird schon wieder. Und Saki ... äh der
wird im Normalfall auch wieder ... also hoffe ich. Gehen wir was essen und
genießen wir es, solange wir noch können!"
Der Blauhaarige streckte Ryutaro lachend seine Jacke entgegen.
"Wie, und Die hat seitdem nichts mehr gegessen?"
Mit schockiertem Blick starrte Toshiya seinen Freund an. Dieser schüttelte nur
traurig den Kopf und rührte in seiner Tasse herum.
"Nein, nichts. ... übrigens ... schmeckt gut dieser Tee zum Anrühren", sagte
Shinya und lächelte matt. Toshiya grinste schief zurück und erwiderte: "Ich
weiß er schmeckt furchtbar ... aber wer weiß, was wir bekommen, wenn Sakitos
neue Küche da ist ..."
Der Blauhaarige nahm mit leicht angewidertem Gesicht einen tiefen Schluck aus
seiner Tasse. "Und er hat wirklich nichts gegessen? Also so gar nichts? Das ...
kann ich mir einfach nicht vorstellen ..."
"Naja ... soweit ich das mitverfolgen konnte hatte er Müsli, drei Pausenbrote,
einen Teller Nudeln zum Mittagessen und ein Stück Kuchen. Und einen Apfel. Aber
ich meine ..."
Shinya ließ verzweifelt die Schultern hängen.
"Das ist doch fast nichts! Ich bin völlig ratlos. Ich mach mir solche Sorgen,
Totchi, was soll ich nur tun?"
Der Angesprochene stellte seine geblümte Tasse auf den Schreibtisch, erhob sich
und ging zum Bett hinüber, auf dem Shinya im Schneidersitz saß. Er umarmte
seinen Freund kurz und flüsterte: "Ich bin mir sicher, das geht vorüber. Sei
einfach für ihn da, ja?"
"Ok ... du hast recht Totchi, ich werde versuchen, stark zu sein ...",
antwortete Shinya und nickte tapfer.
"Muss jetzt gehen, ich schau noch mal bei Die vorbei, vielleicht hat sich seine
Stimmung schon ein wenig gebessert. Er ist so deprimiert ... machs gut und -
danke für den Tee."
Damit erhob sich der schlanke, blonde Junge, durchquerte Toshiyas Zimmer und
öffnete die Tür. Die beiden gingen schweigend die Treppe hinunter, Shinya
nickte noch einmal stumm zum Abschied.
Kurze Zeit später war Toshiya allein im dunklen, fensterlosen Flur. Er schloss
die Augen und ließ die Stille auf sich wirken. Shinyas Schritte auf dem Asphalt
des Gehweges waren noch kurz wie aus weiter Ferne zu hören, dann fiel
vollkommene Stille über das Haus.
Vollkommene Stille.
Kein Geflüster war zu hören, keine gedämpften Stimmen aus irgendwelchen
Zimmern.
Gar keine.
Nicht einmal der Ansatz eines Geräusches.
Toshiya öffnete wieder die Augen und runzelte die Stirn.
Es war ja wirklich absolut still. So ... ganz und gar nicht normal.
"Saki? Ryu? Alles in Ordnung?"
Keine Antwort.
Eigentlich hatte Sakito noch irgendetwas in seiner Küche erledigen wollen und
Ryutaro hatte sich sofort dazu bereiterklärt ihm bei der Arbeit zur Hand zu
gehen. Dass sich die beiden inzwischen anscheinend besser verstanden, hatte
Toshiya mit freudiger Überraschung zur Kenntnis genommen. Sein kleiner Bruder
schien die Abneigung, die er für seinen Klassenkameraden hegte, tatsächlich
soweit überwunden zu haben.
Langsam näherte sich der Blauhaarige der geschlossenen Küchentür, doch noch
immer war nicht der Hauch eines Geräusches zu vernehmen. Kein Kratzen, kein
Schaben, keine Schritte, nichts. Irgendetwas hielt Toshiya davon ab, zu klopfen
und einzutreten, also legte er vorsichtig sein rechtes Ohr an das kalte Holz, in
der Hoffnung irgendeinen Gesprächsfetzen aufzuschappen.
Als seine Mutter an diesem Nachmittag nach Hause gekommen war und wider Erwarten
keine Küche vorgefunden hatte, wäre sie vor Entsetzen beinahe umgefallen. Nach
einem eindringlichen Gespräch mit ihrem Jüngsten hatte sie sich dann doch
wieder einigermaßen gefangen. Das Ganze war trotzdem etwas zu viel für die
Arme gewesen, sie hatte sich bereits vor einer halben Stunde mit zwei
Schlaftabletten ins Bett gelegt (eine links eine rechts. Sorry, dämlicher
Wortwitz =.= es hat mich einfach gepackt).
::Das gibt's doch nicht! Ich höre absolut gar nichts!::
Eine Sekunde rang er mit sich selbst, dann legte Toshiya mutig eine Hand auf die
Türklinke und drückte sie gaaaaanz vorsichtig nach unten. Die Tür öffnete
sich lautlos. Angst vor dem was ihn da drinnen erwrten könnte beschlich sein
Herz.
Vielleicht war sein kleiner Bruder inzwischen zu Menschengerichten
übergegangen. Dann würde für Ryutaro jede Hilfe zu spät kommen.
::Mmh, würde zumindest die Stille erklären ...::, dachte Toshiya und ohrfeigte
sich im nächsten Augenblick innerlich für derart brutale Gedanken.
Schließlich gab er sich einen Ruck und streckte seinen Kopf zur Tür herein.
Doch das Erste was er erblickte waren nicht etwa die Überreste des zierlichen
Zehntklässlers. Ryutaro und Sakito saßen in der Mitte des kahlen Raumes auf
dem Boden und unterhielten sich in Zimmerlautstärke. In einer der Ecken stand
ein Radio, durch die Boxen drang "Reila" von Gazette. Toshiyas kleiner Bruder
war in etwas vertieft, das aussah wie ein Plan des Hauses, die Küche war mit
einem großen, roten X gekennzeichnet.
"Hi Toshiya. Ist Shinya schon wieder gegangen?", fragte Ryutaro und lächelte
den Gast warm an.
"Ja, der ist weg", murmelte Toshiya verwirrt und warf den beiden Jungen auf dem
Boden einen scheelen Blick zu.
"Is was?"
Sakito runzelte genervt die Stirn.
"Weil wenn nicht, dann könntest du uns bitte alleine lassen? Wir müssen hier
noch eine Menge planen."
Bei dem Wort "wir" kroch ein feines Rot in Ryutaros Wangen, das Toshiya erstaunt
zur Kenntnis nahm.
"Schön, dass ihr euch so gut vertragt, aber äh ... habt ihr euch die ganze
Zeit unterhalten?", erwiderte der Blauhaarige und starrte seinen Bruder an.
"Nicht immer, wir haben natürlich auch gearbeitet", entrüstete sich dieser,
strich den Plan in seiner Hand glatt und schrieb irgendetwas darauf.
"Aber ..."
"Spielst du vielleicht darauf an, dass du uns nicht gehört hast?"
Sakito beobachtete die Reaktion seines Bruders aus den Augenwinkeln. Völlig
erstaunt antwortete dieser: "Äh ja! Genau darüber habe ich mich gerade
gewundert."
Mit einem theatralischen Seufzen erhob sich Sakito und musterte seinen Bruder.
"Du hast noch nie was von isolierten Häusern gehört, oder?"
Er schüttelte verständnislos den Kopf.
"Ryu und ich haben diese Küche lediglich ein wenig ... nachisoliert. Mit einem
speziellen, chemischen Kunststoff. Die Herstellung hab ich aus einem Buch, das
ich heute in der Stadt gekauft hab." Mit einem Kopfnicken deutete Sakito auf das
alte Kochbuch, das aufgeschlagen am Boden vor ihm lag.
"Da stehen auch ganz gute Rezepte drin, die ich ausprobieren werde, sobald die
neue Küche da ist. Fakt ist: Dieser Raum ist jetzt dank unserer Arbeit
vollkommen schalldicht. Du könntest hier etwas in die Luft sprengen ohne dass
man im Wohnzimmer etwas davon hören würde."
Zufrieden grinsend bückte sich Sakito, nahm seinen Plan erneut in die Hand und
begann irgendwelche Zahlen vor sich hin zu murmeln.
Ryutaro lächelte schüchtern zu Toshiya hinauf, der wie angewurzelt in der Tür
stand. Die Worte Rezepte drin, die ich ausprobieren werde, sobald die neue
Küche da ist in Kombination mit Du könntest hier etwas in die Luft sprengen
hallten schrill und bedrohlich in seinem Kopf wieder. Ohne ein Wort des
Abschiedes verließ er schleunigst die Küche und eilte ins Bad um sich
abzuschminken. Langsam begann er zu begreifen weshalb sich Sakito kurzerhand
für eine neue Kücheneinrichtung entschlossen hatte. Jeder verrückte
Wissenschaflter brauchte angemessene Gerätschaften. In diesem Augenblick schwor
sich der blauhaarige Junge kein Gerät in dieser neuen Küche anzufassen. Sein
Instinkt sagte ihm, dass er das bitter bereuen würde. Vielleicht wäre es das
Beste den Raum einfach gar nicht mehr zu betreten. Nur um sicher zu gehen.
Na das konnte ja noch heiter werden.
Toshiya drehte das Wasser ab.
::Brr, kalt ...::
Er angelte nach seinem Handtuch und begann seine Haut damit trockenzureiben.
Anschließend schüttelte er seine Haare nach vorne und schlug sie in ein
Frottetuch ein.
::Und jetzt?::
Der Blauhaarige gähnte. Ins Bett gehen wäre fürs Erste mal ein guter Plan. Er
hoffte nur inständig, dass Uruha ihn in Ruhe lassen würde. Bevor er ins
Badezimmer zum Duschen gegangen war, hatte er von der Treppe aus gesehen, wie
sein älterer Bruder an die Tür gegangen war. Anscheinend hatte er mal wieder
Besuch bekommen. Hoffentlich nicht Hakuei. Wobei sich dieser heute ganz human
ihm gegenüber verhalten hatte.
Toshiya betrachtete sein Gesicht im Badspiegel und runzelte leicht die Stirn.
Eigentlich hatte sich ja an seinem Äußeren nicht allzu viel verändert. Wie
Kaoru gesagt hatte: Seine Gesichtszüge und Proportionen waren schließlich
gleich geblieben. Wieso also entwickelte Uruha plötzliche eine derartige
Eifersucht? Und wieso brachte Hakuei kein Wort mehr in seiner Gegenwart heraus?
Verständnislos schüttelte Toshiya den Kopf und murmelte vor sich hin:
"Irgendwie sind alle verrückt geworden. Uruha hat Besuch ... ich hoffe nur, ich
komme unbemerkt in mein Zimmer. Bevor er sich irgendwas überlegt. Ich kenne ihn
..."
Ein Blick auf die hässliche, fischförmige Uhr über der Tür sagte ihm, dass
es halb zehn war. Höchste Zeit schlafen zu gehen. Toshiya war hundemüde, aus
irgendeinem Grund hatte ihn der Tag wahnsinnig gestresst. Träge schlüpfte er
also in ein viel zu großes, schwarzes Band-T-Shirt von Déspairs Ray, das ihm
beinahe bis zu den Knien reichte und verließ haarekämmend das Bad.
Tatsächlich erreichte er sein Zimmer ohne aufgehalten, beleidigt, überfallen,
oder getötet zu werden. Er lag bereits im Bett, als ihm auffiel, dass er
irgendwie durstig war.
"Verdammt", fluchte der Blauhaarige leise vor sich hin und erhob sich wieder.
Müde taumelnd schlurfte er zur Tür, die Treppe hinunter und öffnete
instinktiv die Küchentür.
::Oh! Hatte ich schon wieder vergessen ...::, dachte er, als ihm auffiel, dass
da keine Küche mehr war. In diesem Augenblick fragte er sich zum ersten Mal, wo
sein kleiner Bruder eigentlich so Dinge wie Gläser, Pfannen, Töpfe,
Wasserhahn, etc. verstaut hatte. Die Tassen für den Tee hatte Sakito ihm an
diesem Nachmittag äußerst widerwillig ausgehändigt und sie dann sofort wieder
eingezogen und an irgendeinem unbekannten, für Menschen unerreichbaren Ort in
einer weit entfernten Dimension verräumt.
"Verdammt, Sakito!" Sein Gehirn war einfach zu müde und lahm, um jetzt darüber
nachzudenken, wo er am besten ein Glas fand. Aber es ging ja auch ohne Glas. Zu
verschlafen um verärgert zu sein, schleppte sich der verdurstende Schüler also
wieder die Treppe hinauf und wankte ins Badezimmer. Und hätte Toshiya nicht das
vorher das Licht eingeschalten wäre er mit Sicherheit über den Jungen
gefallen, der vor dem Waschbecken am Boden kauerte.
"Was wollte Toshiya denn da unten?" Verwundert schaute Ryutaro zur Tür durch
die leise Schritte klangen, die sich erst entfernt und die Treppe hinunter
bewegt hatten und nach kurzer Zeit wieder hinauf in Richtung Badezimmer kamen.
"Tjaaa, gute Frage. Vermutlich sucht er die hier."
Sakito deutete mit einem gelangweilten Kopfnicken auf den zugezogenen Vorhang
vor seinem Fenster. Sein Mitschüler blinzelte ihn verständnislos an.
"Er sucht deine Gardinen? Aber wieso kommt er dann nicht gleich zu dir?"
"Ach quatsch, nicht die Gardinen, du kleiner Trottel. Das was dahinter ist."
Sakito sprang von seinem Bett auf und zog den Vorhang mit einem Ruck zu Seite.
Es war einfach nur erstaunlich, wie es Toshiyas kleinem Bruder gelungen war die
gesamten Küchengeräte plus Gläser, Töpfe, Teller, Kannen, Besteck und Vasen
auf seinem Fensterbrett zu verstauen. Man konnte so zwar nicht mehr hinaussehen,
aber das kunstvolle Geflecht aus allem, was eine Küche zu bieten hatte, war ein
weitaus beeindruckenderer Anblick. Ryutaro starrte mit aufgerissenen Augen auf
die Stapel von Geschirr, die ganz links auf dem Mixer und dem Wasserkocher
platziert worden waren und mit jedem Luftzug kaum merklich schwankten.
"Ist natürlich nur vorrübergehend ... willst du nen Tee?"
"J-jetzt??", antwortete Ryutaro verwirrt. Langsam fragte er sich, ob mit seinem
Klassenkameraden wirklich alles in Ordnung war.
"Na, du musst ja nicht. Also ich hätte jetzt Lust auf Pfefferminztee. Ich liebe
Pfefferminze!", teilte Sakito mit und noch bevor der Andere es verhindern
konnte, hatte er bereits zwei Tassen aus dem Gebilde herausgeholt, außerdem ein
Päcken voller Teebeutel. Zuletzt zog er blitzschnell an dem ganz zuunterst
liegenden Wasserkocher. Sakito steckte das Gerät ein und warf es an. Ryutaro
hätte zu gerne gewusst woher in drei Teufels Namen Sakito nun das Wasser für
den Tee nehmen wollte, doch er brachte nicht den Mut auf danach zu fragen.
Fünf Minunten später hielten die beiden Jungen dampfende Tassen in den
Händen. Sakito saß im Schneidersitz auf seinem Bett und schlürfte den heißen
Pfefferminztee. Ryutaro hatte auf dem Schreibtischstuhl Platz genommen und
beobachtete den Anderen heimlich und mit leicht gerröteten Wangen.
"Da-danke, dass ich hier schlafen darf ...", murmelte er schließlich kaum
hörbar und errötete noch stärker.
"Ach quatsch! Is doch selbstverständlich. Hast du deine Mutter erreicht?",
erwiderte Sakito und musterte konzentriert die Schlangenhaut, die in seinem
Getränk umherschwamm. Er hatte das Gefühl, dass sie den Geschmack nicht
wirklich verbesserte.
"Ja ...", log Ryutaro. Eigentlich hatte er nicht einmal versucht, seine Mutter
ans Telefon zu kriegen, weil er genau wusste, dass sie sowieso nicht abheben
würde. Sie vermisste ihren Sohn nicht. Vermutlich war sie nicht einmal zu
Hause.
"Warum möchtest du deine Ma nicht anrufen?", fragte Sakito zerstreut und
vermerkte in seinem Gedächtnis, dass er es das nächstes mal vielleicht bei
einem einfachen Pfefferminztee belassen sollte. Zumindest passte Schlange
absolut nicht in das Getränk. Schon farblich nicht.
"W-was?", stammelte Ryutaro und starrte seinen Klassenkameraden verwirrt an.
"Du hast schon verstanden", gab dieser zurück. "Aber du musst nicht darüber
reden, wenn du nicht willst. Na los, jetzt sei doch nicht immer so steif und
verklemmt." Sakito klopfte auf die Bettdecke. "Setz dich hier neben mich."
Ohne darüber nachzudenken gehorchte der zierliche Zehntklässler. Er erhob sich
von dem Schreibtischstuhl, setzte sich schüchtern neben Sakito aufs Bett und
zog die Beine an. Ohne den Anderen anzublicken, nahm er einen Schluck von seinem
warmen Tee und versuchte die Röte auf seinen Wangen zu verbergen, indem er den
Kopf senkte und die Haare über sein Gesicht fallen ließ. Woher wusste Sakito,
dass er seine Mutter nicht angerufen hatte? Und wenn er es wusste, wieso hatte
er dann danach gefragt? Und warum schlug sein Herz nur so schnell, wenn er in
seiner Nähe war? Im Augenblick war Ryutaro hin- und hergerissen zwischen dem
glücklichen Gefühl, dass er hier bei Sakito sein durfte und der grauenvoll
beklemmenden Angst, sich zu blamieren oder den Anderen zu verärgern.
Ein Kichern riss ihn aus seinen wirren Gedanken. Erstaunt und ängstlich
zugleich hob Ryutaro den Kopf. Sakito war dabei an seinem Tee zu ersticken.
"Du bist so niedlich, wenn du dich schämst ...", kicherte er und wischte sich
Lachtränen aus den Augen. Ryutaro starrte ihn an. Dieser Junge wurde ihm immer
suspekter. Konnte er seine Gedanken lesen? Seine Wangen färbten sich
dunkelrot.
"Ach, gib das her."
Damit nahm ihm Sakito immer noch ziemlich fröhlich die Tasse aus der Hand und
stellte sie neben seine eigene auf den Boden neben das Bett.
"Und jetzt halt still", befahl er und wurde plötzlich sehr ernst.
"W-wie?? W-was?", stotterte Ryutaro. Der Andere seufzte genervt auf.
"Tu einfach was ich sage, ja?"
"Äh o-okay ...", antwortete Ryutaro. Na toll. Jetzt hatte er Sakito auch noch
verärgert. Wie machte er das nur immer.
::Ich bin einfach zu dämlich ...::, schalt er sich selbst und versank innerlich
in Scham. Doch noch bevor er sich weiter Gedanken darüber machen konnte, was
dank ihm alles schiefgelaufen war, geschah etwas, dass ihn so sehr überraschte,
dass er außer Stande war in irgendeiner Weise zu reagieren geschweige denn sich
den Kopf weiterhin über irgendetwas zu zerbrechen.
Sakito hatte sich zu ihm hinübergebeugt und seine Lippen auf die von Ryutaro
gelegt. Sanft fuhr er mit der Zunge über dessen Mund, dann lehnte er sich
wieder zurück und beobachtete grinsend, wie sein Mitschüler langsam tiefrot
anlief.
Er wartete, bis sich Ryutaro wieder so weit gefasst hatte, dass er antworten
konnte.
"Was ------?", war das einzige, das er auf die Schnelle richtig herausbrachte.
Sakito gluckste vergnügt und erklärte: "Ich habe mich in dich verliebt. Das."
Ryutaro starrte den Anderen einfach nur an. Er hatte zwar gehört, was Sakito
ihm eben mitgeteilt hatte, aber von Verstehen konnte nicht im Entferntesten die
Rede sein. Das musste er träumen. So etwas konnte gar nicht passieren.
"Und nein, ich will dich nicht hereinlegen. Und ja, natürlich habe ich gemerkt,
was du für mich fühlst. Und nein, ich stehe nicht auf Kaoru. Das war nur so
eine ... kurzzeitige, dumme Schwärmerei." Sakito seufzte schwer auf. "Tsss, ich
war jung und dumm, verstehst du? Aber zum Glück weiß ich immer sehr schnell,
was ich will. Und ich will dich."
Ein ganze Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Sakito wartete geduldig auf
Reaktion, während sich in Ryutaro alle Gefühle und Gedanken überschlugen.
"Möchtest du mit mir zusammen sein?", hakte Sakito schließlich nach, da es
nicht so aussah, als ob sein Klassenkamerad in den nächsten Stunden noch
antworten würde.
Ryutaro schloss die Augen und hauchte: "J-ja! I-ich ... bin ..auch in dich-"
Weiter kam er nicht, etwas schnürte ihm die Kehle zu.
"Nun fang doch nicht an zu weinen ...", tadelte Sakito sanft, rückte näher an
seinen Mitschüler heran und zog ihn in die Arme. So gern er den Rat des Anderen
befolgt hätte, Ryutaro konnte nicht anders. Er vergrub seinen Kopf in Sakitos
Schulter und schluchzte leise. Dieser sagte nichts. Er wusste, dass keine Worte
nötig waren. Also strich er seinem neuen Freund nur vorsichtig über den
bebenden Rücken und hielt ihn fest. Erstaunlich was man herausfinden konnte,
wenn man sich die Mühe gab auf sein Herz zu hören.
Toshiya unterdrückte einen Schrei. Damit hatte er absolut gerechnet.
"Was zum-", keuchte er und presste die rechte Handfläche auf sein wild
klopfendes Herz. Er hätte nicht gedacht, dass er diesen Jungen so schnell
wiedersehen würde. Und erst recht nicht in seinem eigenen Haus. Offenbar war er
noch in genau der gleichen Verfassung, wie an diesem Morgen, als der Blauhaarige
ihn im Krankenzimmer der Schule zurückgelassen hatte.
Auf dem weinroten Badezimmerteppich saß eine zusammengesunkene Gestalt mit
hellblond gefärbten Haaren: Der Junge den Toshiya vor ungefähr zwölf Stunden
auf dem Pausenhof gefunden hatte. Auf seiner Stirn standen feine Schweißperlen,
er sah einfach nur übel aus. Blass wie eine Leiche, gerötete, blutunterlaufene
Augen, gerötete Wangen. Eine Weile stand Toshiya einfach nur da und fühlte
sich von dem Déjà-vu erschlagen. Im nächsten Augenblick kniete er bereits
neben dem zierlichen Jungen und legte ihm die Hand auf die fieberglühende
Stirn.
"Oh Gott ... dass du noch lebst ist wirklich ein Wunder ... aber wie zum Teufel
kommst du hierher?", murmelte Toshiya vor sich hin. Bevor er jedoch irgendwelche
Maßnahmen ergreifen konnte, schwang die Badezimmertür auf. Toshiyas Kopf
wirbelte herum. Uruha. Er lehnte cool im Türrahmen, in seinen Augen lag ein
eiskaltes Blitzen. Ohne ein Wort der Erklärung ging er auf die beiden Jungen
zu, schubste Toshiya grob zu Seiten und packte den Blonden am dünnen Oberarm.
"Heeeee, was machst du da?!", protestierte Toshiya, als sein Bruder den
fiebernden Schüler auf die Beine zerrte und hinter sich her aus dem Bad
schleifte.
"Er ist krank, siehst du das nicht??"
Keine Antwort.
Wütend versuchte der Blauhaarige seinen Bruder aufzuhalten, er griff nach ihm
und bekam ihn gerade noch am Ärmel zu fassen.
"Sag mal, spinnst du?", zischte dieser, drehte sich abrupt um und entriss ihm
mit einer zornigen Bewegung den Ärmel.
"Du willst ja nicht hören", keifte Toshiya zurück. Er war plötzlich hellwach.
Sein Blick streifte über den kleinen Jungen, der schwankend neben Uruha stand,
die großen, glasigen Augen ins Leere blickend.
"Kümmer dich um deinen eigenen Kram", knurrte Toshiyas Bruder, drehte sich
wieder um und verschwand, den Blonden hinter sich herzerrend, in seinem Zimmer.
"Gefühlloses Monster", grummelte Toshiya und schlich zur Zimmertür seines
Bruders. Zum zweiten Mal an diesem Tag versuchte er zu lauschen.
Glücklicherweise hatte Sakito nur die Küche mit seinem hochisolierenden
Chemie-Zeugs abgedichtet. Durch die Tür drangen zwei Stimmen an Toshiyas Ohr.
So sehr er sich auch anstrengte, er konnte dennoch nicht hören, was gesagt
wurde. Verdrossen drehte er sich also um, verschwand in seinem eigenen Raum,
legte sich ins Bett und knipste das Licht aus.
Zehn Minuten später knipste er es wieder an. Dass er so nicht schlafen konnte
hätte er eigentlich gleich wissen müssen. Die großen Augen des Jungen wollten
ihm nicht aus dem Kopf. Toshiya setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen.
Halb elf. Morgen war Schule und er einfach kein Nachtmensch.
::Aber ich kann doch nicht einfach so seelenruhig schlafen gehen, während
dieser Kleine halb tot im Nebenzimmer liegt.::
Außerdem wollte er endlich herausfinden, wer er war. Und was machte er
ausgerechnet hier? Bestimmt hatte das etwas mit Uruhas ominösem Besuch zu tun.
Nur, warum sollte jemand einen so kranken Jungen mit sich herumschleppen, wenn
er andere Leute besuchte? Toshiya fiel nur ein vernünftiger Grund ein: Der
Kranke wurde irgendwie gebraucht und es war bestimmten Personen völlig egal,
wie dreckig es ihm ging. Das sah Uruha ähnlich.
::Wenn es nicht so ist, fress' ich nen Besen::, dachte der Blauhaarige grimmig
und stand auf. Was soll's. Wer brauchte schon Schlaf. Den würde er sowieso
nicht mehr finden, Toshiya hatte es endgültig aufgegeben. Während er gähnend
zur geschlossenen Tür von Uruhas Zimmer schlich, legte er sich in seinem Kopf
notdürftig einen Plan zurecht.
::Soll ich wirklich ...?::
Zögernd klopfte er an. Im Raum wurde es schlagartig still. Dann sagte die
gereizte Stimme seines Bruders: "Hai?" und Toshiya trat ängstlich ein. Die
anwesenden Personen starrten ihn an, als wäre er eine Erscheinung. Im Gesicht
seines Bruders konnte der Blauhaarige lesen, dass Uruha nicht mit ihm gerechnet
hatte. Toshiya schluckte das Gemisch aus Wut und Angst herunter, das ihm den
Hals zuschnürte und begann: "Sorry, dass ich störe äh ... ihm geht's ja nicht
so besonders gut", er deutete auf den blonden Jungen, der zusammengesunken an
Uruhas Bett lehnte, "und äh ich wollte fragen, ob ich ihm vielleicht einen Tee
oder sowas bringen kann ..."
Toshiya verstummte, als er den erzürnten Gesichtsausdruck seines Bruders sah.
Doch der andere Junge lächelte nur und antwortete: "Du kannst ihn sogar
mitnehmen, er stört hier nur ..."
"Wie kannst du es wagen einfach hier reinzukommen ...", knurrte Uruha, seinen
Freund ignorierend und machte einen großen, bedrohlichen Schritt auf Toshiya
zu. Der Andere hingegen erhob sich und legte dem Blonden beschwichtigend die
Hand auf die Schulter.
"Lass ihn doch ... sieh es positiv, dann sind wir beide los", flüsterte er und
bleckte die Zähne. Zu Toshiya gewandt fügte er hinzu: "Obwohl ich nichts
dagegen hätte, wenn du ein wenig bei uns bleibst." Er setzte ein schmutziges
Grinsen auf. "Ich bin Daishi. Toshiya, nicht wahr?"
Der Blauhaarige ergriff zögernd die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. Er
wusste genau, dass Uruha ihn in diesem Augenblick am liebsten getötet hätte,
sein Blick sprach Bände.
"Wow du bist total heiß ...", flüsterte Daishi und zog Toshiya an seiner Hand
zu sich heran. Dieser starrte den schwarzhaarigen Jungen erschrocken an und zog
schleunigst seine Hand weg.
"I-ich nehm ihn mit ...", stotterte er, zwang sich an Uruha und seinem Freund
vorbei, zog die Gestalt, die am Bett kauerte vorsichtig nach oben und führte
ihn zum Zimmer hinaus.
"Tür zu!", fauchte Uruha ihm nach, Daishi lachte nur laut auf, versetzte
Toshiya einen Klaps auf den Hintern und zog die Tür hinter ihm zu.
"Das darf doch nicht wahr sein", murmelte der Blauhaarige erschrocken, während
er darauf achtete, dass der Kleinere, der neben ihm herstolperte, nicht zu Boden
fiel.
So etwas war ihm noch nie passiert - noch nie hatte sich jemand ihm gegenüber
so schamlos verhalten. Obwohl eigentlich gar nichts geschehen war, raste
Toshiyas Herz vor Angst. Dieser Daishi war ihm absolut nicht geheuer, seine
kalten Augen lösten in ihm den Drang aus, so schnell wie möglich das Weite zu
suchen.
"So, du kommst erst mal mit mir ...", murmelte er vor sich hin, nicht sicher, ob
der Junge überhaupt noch bei Bewusstsein war.
Es klopfte zaghaft.
"Häääh? Äh herein ...", nuschelte Sakito schlaftrunken und rieb sich mit der
rechten Hand die Augen. Beinahe elf Uhr. Er musste eingenickt sein.
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und Toshiyas Kopf erschien. Er sah nicht
minder verschlafen aus.
"Sorry, Saki, ich bräuchte vielleicht eine Tasse Tee oder so etwas, ich habe
gesehen, dass bei euch noch Licht brennt und da dachte ich-"
Der Blauhaarige verstummte plötzlich als er die beiden Personen auf dem Bett
erblickte: Sakito lehnte mit dem Rücken an der Wand, in seinen Armen hielt er
den schlafenden Ryutaro, sein linker Arm barg dessen Kopf. Toshiya starrte
seinen Bruder entgeistert an. Dann ganz langsam ging ihm ein Licht auf und er
begann sehr breit zu grinsen.
"Aaaaber wenn ich stööööre ...", sagte er gedehnt.
Sakito warf ihm einen verärgerten Blick zu, musste dann aber auch lächeln.
"Nee, schon ok ... hey, Ryu ... ich muss mal kurz aufstehen ..." Er fuhr dem
Angesprochenen sanft über die Wange. Dieser regte sich und blinzelte ins helle
Licht.
"Hmh? Was ist ...?", murmelte er, löste sich aus der Umarmung seines Freundes,
setzte sich auf und rieb sich, leicht schwankend, das Gesicht. Als er Toshiya
bemerkte, errötete er heftig und senkte sofort den Kopf.
"Heehee ... wie schön, dass zumindest bei euch alles in Ordnung ist ...",
flötete Toshiya vergnügt und wuschelte Ryutaro durch die ohnehin schon sehr
zerzausten Haare.
"Keine Sorge Brüderchen, wir haben nichts Unanständiges getan", flötete
Sakito zurück, "noch nicht." Damit drückte er seinem Bruder eine Tasse heißen
Tees in die Hand.
"W-wie hast du- ich meine, woher so plötzlich...", stammelte Toshiya verdutzt.
"Tja, wenn man die Zeit damit verbringt, dumme Sprüche zu klopfen, entgeht
einem eben das Wichtigste", gab Sakito schnippisch zurück und ließ sich wieder
auf das Bett neben Ryutaro fallen, dessen Gesicht inzwischen eine einigermaßen
normale Farbe angenommen hatte.
"Und warum, wenn ich fragen darf, benötigst du zu dieser späten Stunde
ausgerechnet von mir eine Tasse Tee?", gähnte Sakito.
Toshiya warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
"Aaalso, ganz einfach. Du hast hier das Geschirr gebunkert, also beschwer dich
nicht, wenn ich dich deswegen nerve. Und das Andere ... naja ... äh ... das ist
kompliziert zu erklären ..."
Toshiya überlegte wie er den beiden am Geschicktesten mitteilte, was vor sich
ging.
Mit ein paar kurzen Sätzen umriss er schließlich sein Problem, wobei er auch
von seiner Begegnung in der Schule berichtete. Als Toshiya geendet hatte,
runzelte sein Bruder nachdenklich die Stirn.
"Sehr klein, zierlich, blond, merkwürdig? Kommt mir verdammt bekannt vor ..."
"Du ... meinst du vielleicht Kyo?", meldete sich Ryutaro plötzlich schüchtern
zu Wort.
"Er geht in unsere Parallelklasse und ... ist wahnsinnig unnahbar. Den Meisten
macht er Angst ..."
Dass Ryutaro bei "Den Meisten" sich selbst mit einschloss, war Toshiya
natürlich klar, der Junge hatte schließlich vor so ziemlich allem eine
Heidenangst. Trotzdem konnte der Blauhaarige gut nachvollziehen was ihm da
erzählt wurde. Dieser stechende Blick. Gruselig. Als könnte er auf den Grund
der Seele sehen.
"Kann gut sein, dass er es ist ...", überlegte Toshiya. "Wie dem auch sei, ich
sehe mal, was ich tun kann. Schlaft nur weiter und nochmal sorry, wegen der
Störung. Oyasumi."
"Nacht", antworteten die Jungen im Chor. Dann schloss Sakito seinen Freund
sofort wieder in die Arme und zog die Decke über seinen Rücken. Ryutaro
kuschelte sich an Sakitos Brust und Toshiya hatte den Eindruck, die Beiden waren
schon eingeschlafen, noch bevor er das Licht ausschalten und den Raum verlassen
konnte. Vor sich hinlächelnd machte er sich auf den Weg in sein eigenes Zimmer.
Wer hätte das gedacht.
Natürlich, Ryutaro hatte schon vorher ziemlich viel für seinen kleinen Bruder
empfunden, das hätte ja ein Blinder mit einem Krückstock bemerkt. Aber dass
Sakito selbst - Toshiya schüttelte grinsend den Kopf. Sein Bruder war einfach
allen immer einen Schritt voraus.
Kyo war wach. Vollkommen bei Bewusstsein saß er auf dem Teppichboden gegen die
Heizung gelehnt und verfolgte jede von Toshiyas Bewegungen. Dieser hatte leise
das Zimmer betreten und den brühend heißen Tee auf seinem Schreibtisch
abgestellt. Nun wandte er sich an den zierlichen Jungen.
"Hi, so sieht man sich wieder." Er lächelte ihn aufmunternd an und fügte
hinzu: "Schon etwas besser?"
Als ihm der Andere keine Antwort gab, griff er nach der Tasse und hielt sie Kyo
entgegen.
"Hier ... ist aber noch sehr heiß."
Der Blonde beäugte erst Toshiya und dann das Gefäß in dessen Händen mit
argwöhnischem Blick.
"Nimm schon!"
Zögernd ließ er sich von dem Blauhaarigen die Tasse in die Hand drücken und
starrte finster in die dampfende Flüssigkeit darin. Toshiya beobachtete wie er
vorsichtig einen kleinen Schluck nahm.
::Mein Gott, er sieht fürchterlich aus. Total fahl und ausgemergelt! Kümmert
sich denn gar niemand um ihn?!::, dachte er bei sich. Laut sagte er: "Der Junge
da vorhin ... Daishi ... das ist dein großer Bruder, richtig?"
Kyo schaute auf, musterte den Anderen erneut mit undurchdringlichem Blick und
nickte dann kurz.
"Wie lange bist du schon so krank?"
Keine Antwort. Der blonde Junge stierte nur mit fiebrigen Augen weiterhin in
seinen Tee. Toshiya bemerkte, dass er mit beiden Händen die heiße Tasse
umklammerte. Also erhob er sich, holte eine Wolldecke aus seinem Schrank und
legte sie dem Jüngeren wortlos über die Beine.
"Hast du Schmerzen?"
Wieder keine Antwort.
Der Blonde starrte Toshiya einen Augenblick an, oder eher durch ihn hindurch.
Dann sprang er auf einmal auf, die Decke glitt zu Boden und eilte zum Schrank
neben der Tür. Dort hatte Toshiya all die CDs gestapelt, die er von Sakito
ausgeliehen hatte. Kyo zog wortlos ein Album hervor und betrachtete es.
"Nightmare", erklärte Toshiya, woraufhin ihm der Kleinere einen Blick zuwarf,
der etwa so viel sagte wie Ich weiß was das ist du Trottel.
"Äh soll ich es einlegen?"
Eine Antwort hätte er auch gar nicht erwartet, er nahm dem Blonden die CD aus
den Händen und legte sie in seinen CD-Player ein.
"Mein Lieblingslied davon ist Tokyo Shonen", laberte der Blauhaarige in der
Hoffnung irgendwie ein Gespräch aufbauen zu können. Bald schon gab er es auf.
Kyo ließ sich, wo er war zu Boden sinken, lehnte seinen Kopf gegen das Regal
und schloss erschöpft die Augen. Es dauerte nicht lange und er war
eingeschlafen.
Toshiya drehte die Musik ein wenig leiser.
::Das muss ich mir merken ...::, dachte er und tätschelte zerstreut die Hülle
des Albums, die er in den Händen hielt. Dann betrachtete er den zierlichen
Jungen, der auf seinem Boden eingeschlafen war. Eines war sicher, hier konnte er
nicht bleiben. Also schüttelte Toshiya kurz seine müden Glieder aus, kniete
sich neben den Jungen, biss die Zähne zusammen und hob ihn auf.
::Na super, wohin jetzt?::
Einzelne Haarsträhnen des Blonden kitzelten ihn im Gesicht. Da er ihn sowieso
mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit in der nächsten Sekunde fallen gelassen
hätte, platzierte ihn Toshiya kurzerhand auf seinem eigenen Bett. Wie konnte
jemand, der so klein und zierlich aussah, gleichzeitig so verdammt schwer sein?
Und nun?
Widerwillig verließ der Blauhaarige sein Zimmer wieder und klopfte noch einmal
an die Tür seines Bruders. Eigentlich wollte er ja einfach nur schlafen. Vor
seinen Augen erschienen flimmernde Punkte und er musste ein Gähnen
unterdrücken, als er schließlich ins Zimmer trat. Der erste Anblick, der sich
ihm bot, ließ ihn jedoch seine Müdigkeit für einen Augenblick verdrängen.
"Was'n nun schon wieder?", knurrte Uruha, der auf Daishis Schoß saß und
offenbar mit dessen nacktem Oberkörper beschäftigt gewesen war.
::Ich dachte er wäre mit Hakuei zusammen?::, dachte Toshiya erstaunt, laut
sagte er zu Daishi:
"Dein Bruder ist eingeschlafen und ähm ... er kann in meinem Zimmer bleiben bis
du gehst.Wann gehst du denn?"
Daishi musterte ihn lange mit seinen stechenden, schwarzen Augen bevor er
antwortete.
"Euere Mum meinte, ich könnte gerne ein paar Tage bleiben ... jetzt, wo unsere
Eltern verreist sind ..."
Seine Lippen umspielte ein widerliches Lächeln, das Toshiya innerlich
aufschreien ließ. Das Letzte was er wollte, war, diesen Typen ständig um sich
herum zu haben.
"Äh gut. Bai", nuschelte Toshiya und schaffte es die Tür zu erreichen, bevor
sein Bruder und dessen Freund vor seinen Augen mit irgendetwas Widerwärtigem
loslegten.
Ohne noch mal in seinem Zimmer vorbeizuschauen schlurfte Toshiya die Treppe
hinunter ins Wohnzimmer, ließ sich auf Sofa fallen und schlief augenblicklich
ein.
Was für ein Abend.
Kapitel 5: 5
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Walking proud
Autor: Clea
Pairings: Ryutaro x Sakito, Hakuei x Uruha, Daishi x Uruha und viiiiele andere
^.~
Kommentar: Ich... danke Shions Schachbrettmustertanga mit violetter Naht, der
mich zu dieser Geschichte inspiriert hat u.u Er war die treibende Kraft.
Außerdem danke ich meinem Lateinlehrer Herrn Greb, der mir bereits in jungen
Jahren beigebracht hat, dass man mit flachen Sprüchen und ohne jeglichen Humor
sehr weit kommen kann *wichtigtuerisch hüstel*. Ich habe diesen Gedanken
natürlich sofort verwirklicht.
Besondere Anliegen: Würde gerne euere Meinung zum Ende dieses Kapitels hören,
bzw. Gedanken, wie es nun weitergeht.
Teil 5
Als Toshiya erwachte fielen bereits erste Sonnenstrahlen durch das
Wohnzimmerfenster. Er setzte sich aufrecht, schwankte kurz und rieb sich dann
die Augen. Was für eine Nacht. Sein Rücken schmerzte furchtbar.
::Häh?::, dachte er, als ihm klar wurde wo er sich befand. ::Wieso bin ich denn
hier?::
Stück für Stück fielen dem Blauhaarigen schließlich die Ereignisse der
vergangenen Nacht wieder ein.
::Och nöö... und jetzt noch Schule...::
Seufzend ließ er sich zurück auf die Polster fallen.
Die Ruhe währte nicht lange. Geschwister eben. Sakito kam mit der Lautstärke
einer ausgewachsenen Elefantenherde die Treppe hinuntergepoltert, Ryutaro
schleifte er am rechten Arm hinter sich her.
"Aufstehen, Brüderlein!!", schrie er und riss voller Tatendrang den Vorhang im
Wohnzimmer auf.
"Grmblmpf", machte Toshiya und setzte sich wieder auf. Er rieb sich die Augen
ein zweites mal (und wieder ohne davon besonders wach zu werden) und versuchte
seinem kleinen Bruder einen vernichtenden Blick zuzuwerfen, was ihm aber nicht
so ganz gelang, da ihm die Sonne in die Augen schien und er blinzeln musste.
"Du bist furchtbar wenn du fröhlich bist...", murmelte der Blauhaarige düster
und wälzte sich vom Sofa auf seine eigenen Füße.
"... und aus irgendeinem Grund bist du immer dann fröhlich, wenn es sonst
niemand ist...", fügte er gähnend hinzu und schlurfte in die Küche. Sakito
und Ryutaro folgten ihm, doch der Blauhaarige kam ihnen auf halbem Weg bereits
wieder entgegen, zischelte "Verdammt, Saki!!" und trollte sich die Treppe hoch
ins Bad.
Sein jüngerer Bruder kicherte hinterhältig.
"Schnellchecker. Er könnte sich ja mal merken, dass die Küche gerade mal nicht
da ist."
Auf einmal schob er die Unterlippe vor und schaute seinen Freund schmollend an.
"Er mag nicht, dass ich glücklich bin, hast du es gehört? Ist das nicht
unfair?"
Ryutaro musste einfach lächeln. Sakito konnte so verdammt süß sein.
"Ach er meint das doch nicht so...", erklärte er mit seiner leisen Stimme und
nahm die Hand seines koi. Schüchtern trat er ein wenig näher an ihn heran,
hauchte einen sanften Kuss auf seine Lippen und errötete. Sakito grinste ihn
zur Atwort breit an, schlang seine Arme um Ryutaros schmale Hüften und zog ihn
in einen tiefen Kuss.
"Oho! Na das ist ja interessant!"
Erschrocken ließen die beiden Jungen voneinander ab. Am Fuß der Treppe lehnte
Uruha, ein schmutzigen Lächeln umspielte seine sorgfältig geschminkten
Lippen.
"Zwei Schwule in flagranti ertappt. Na wenn das mal kein guter Tag wird!"
Grinsend schlenderte er in Richtung Haustür.
Sakito funkelte ihn böse an.
"Lass uns in Ruhe, Uruha! Außerdem: Das musst ausgerechnet du sagen! Wenigstens
treibe ich nicht so schmutzige, hinterhältige Spielchen... weiß dein süßer
Hakuei von deinem neuen, putzigen Spielkameraden?"
Einen kurzen Moment sah es aus, als ob Sakito seinen älteren Bruder verärgert
hätte, doch dieser fing sich sofort wieder und setzte erneut sein hämisches
Grinsen auf.
"Tsss, kümmer dich mal um deine eigenen Angelegenheiten, Kleiner. Naja, Ma wird
umfallen, wenn sie das erfährt...", flötete er und nahm seinen Mantel vom
Kleiderhaken.
"Pff, ich werde nicht so feige sein wie du und es ihr verheimlichen! Du kannst
auch nicht ewig so tun, als wärst du hetero... ich liebe Ryu, ist was falsch
daran? Ma wird das verstehen..." Er warf seinem Bruder noch einmal einen
trotzigen Blick zu und wandte seine Aufmerksamkeit wieder ganz Ryutaro zu, der
bei den letzten Worten zutiefst errötet war.
Uruha wollte noch etwas erwidern, doch in diesem Augenblick kam Daishi die
Treppe hinunter. Sein Freund warf ihm die Jacke zu.
"Können wir gehen?"
"Jup," antwortete Daishi, streifte sich mit der rechten Hand ein paar
Haarsträhnen hinters Ohr und fing die Jacke. "Äh, bin grad deinem süßen
Bruder über den Weg gelaufen. Er besteht darauf, dass ich Kyo entschuldige,
muss also nacher noch mal in seiner Schule anrufen. Ich kann Toto einfach nichts
abschlagen..."
"To... to?", wiederholte Uruha mit gehobener Augenbraue.
"Toto?! TOTO??!!", stammelte Toshiya entsetzt vor sich hin während er versuchte
sich Eyeliner aufzumalen.
"Ich glaub dieser notgeile, perverse #*%$& hat sie nicht mehr alle... Toto?...
geht's noch? Toto!!... argh, verdammt!"
Mit einem frustrierten Seufzen knallte er schließlich den Pinsel auf das
Waschbecken und betrachtete sich im Spiegel. Er würde diesen verdammten Strich
niemals gerade hinbekommen.
"Dann eben nur Lidschatten... und noch ein wenig Rouge - oder auch nicht!",
murmelte er mit Blick auf die Fischuhr.
"Scheiße, ich bin mal wieder zu spät..."
Hastig warf er seine Schminkutensilien (die er teilweise von Shinya hatte,
teilweise stammten sie aus den Schätzen seiner Mutter) in ein kleines
Täschchen und raste aus dem Bad in sein Zimmer um seine Schultasche zu holen.
Dann noch einmal zurück ins Badezimmer um einen letzten, prüfenden Blick in
den Spiegel zu werfen.
::Und sobald ich in die Stadt komme, werde ich eine neue Uhr fürs Bad
besorgen::, schoss ihm im Hinausgehen durch den Kopf.
::Wenn ich noch einmal auf diesen Fisch schauen muss, werde ich wahnsinnig...
::
"Woah, wie siehst du denn aus?"
Kaoru starrte seinen Freund, der fünf Minuten vor Stundenbeginn ins
Klassenzimmer geschneit kam, mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dieser knallte
seine Tasche auf das Pult und ließ sich erschöpft in seinen Stuhl fallen.
Gerade als er zu einer Anwort ansetzte, ertönte plötzlich eine leise Stimme
links von Toshiya.
"Na, sind wir auch da? Ich fürchte mit make-up kannst du da auch nicht mehr
viel machen... du siehst nun affig und abgefuckt aus... woah, ich hatte ja keine
Ahnung dass man das noch steigern kann..."
Die beiden Freunden wandten ihre Köpfe erstaunt nach links. Giftige Kommentare
kamen für gewöhnlich immer von hinten. Aber dieses fiese, breite Grinsen war
einfach unverkennbar.
"Hakuei?!" Kaoru runzelte die Stirn. "Erstens: Spar dir deine Kommentare, dein
Hirn gibt anscheindend auch nicht viel mehr her als die drei oder vier die du so
auf Lager hast." Er klang mit einem mal sehr gereizt. "... und zweitens: Seit
wann zum Teufel sitzt du da?"
"S-sitzt?", wiederholte Toshiya entgeistert und starrte auf den Jungen mit den
schwarzen Rastalocken, der auf dem Stuhl neben ihm Platz genommen hatte.
"Tja, Damian hatte anscheinend keinen Bock mehr unseren Schlumpf länger
auszuhalten... ich war so freundlich mit ihm den Platz zu tauschen...",
erklärte Hakuei, dem Anschein nach sehr mit sich selbst zufrieden.
"Schlumpf?? Hast du sie noch alle??", brauste Kaoru auf. "Sieh dich doch mal an,
du Möchtegern-Visu!!" Ein wirklich seltener Anblick: Kaoru in Rage.
"S-sitzt?", stotterte Toshiya verzweifelt.
"Ich sage nur, wie es ist. Oder glaubst du, nur weil du und deine kleinen
Freunde ihn in eine neue Hülle gesteckt haben, hat er auf einmal seinen alten
Charakter abgelegt? Der is doch immer noch der gleiche peinliche, langweilige
Loser, der er war, jede Wette...", gab Hakuei gelassen zurück, lehnte sich in
seinem Stuhl nach hinten und begann in aller Seelenruhe seine Nägel zu feilen.
"S-sitzt?"
"Hast du sie noch alle? Wie kannst du es wagen Toshiya so zu beleidigen!! Ist es
nicht genug, was du ihm schon angetan hast? Du bist so jämmerlich Hakuei, du
tust mit leid, dass du so etwas nötig hast!"
Kaoru war aufgesprungen. Mit hochrotem Gesicht starrte er seinen Mitschüler an,
der ihm weiterhin keinerlei Beachtung zollte. Die Gespräche im Raum waren
verstummt, inzwischen verfolgte die gesamte Klasse gespannt mit, was es denn zu
streiten gab. Zumindest musste es wirklich ernst sein, Kaoru war absolut nicht
der Typ, der leicht die Beherrschung verlor. Es brauchte schon viel, dass er
überhaupt gereizt war.
Was Toshiya betraf: Er war für den Moment viel zu überrumpelt um sich Hakueis
Erniedrigungen richtig zu Herzen zu nehmen, dieser Teil kam später, das wusste
er aus Erfahrung. Nur: Wieso setzte Kaoru sich derart für ihn ein? Es handelte
sich doch nur um Hakueis übliche Sticheleien.
Plötzlich ging die Tür auf und ihr Lateinlehrer betrat die Szene.
Augenblicklich verstummte Kaoru. Er ließ sich wortlos auf seinen Platz sinken,
ließ es sich aber nicht nehmen, Hakuei noch einen warnenden Blick zuzuwerfen,
der so viel sagte wie Beleidige Toshiya und du wirst einen langsamen,
schmerzhaften Tod erleiden, was bei dem sonst so ruhigen, geduldigen Schüler
eine absolut mörderische Wirkung hatte. Leider bemerkte Hakuei diesen Blick
nicht.
Die anderen Schüler der Zwölften, die bis eben noch sehr interessiert dem
Streit ihrer beiden Mitschüler gelauscht hatten, setzten ihre gelangweilten
Latein-Gesichter auf, zehn Jungen schliefen ein noch bevor ihr Lehrer überhaupt
mit dem Unterricht beginnen konnte. Toshiya musste an Sakito denken - Latein und
Chemie zählten zu seinen Lieblingsfächern.
::Wirklich komisch der Kleine::, dachte er bei sich, schüttelte mental den
Kopf, schaltete sein Hirn ab und schlug sein Heft auf.
Wirklich komisch der Kleine war bereits wieder auf dem Weg nach Hause. Aus
irgendeinem Grund hatte er keine Lust mehr auf Sport gehabt, außerdem hatte er
es sowieso nicht nötig. Nun ja, Mathe konnte man auch sausen lassen und wer in
drei Teufels Namen brauchte eigentlich Sozialkunde? Vor allem in Sakitos Fall,
der, ohne dass es jemand ahnte, einen höheren IQ als Einstein hatte. Allerdings
steckte er ihn gänzlich in seine Kochaktivitäten, was niemand wirklich zu
schätzen wusste. Einige seiner Gerichte wären für den ein oder anderen
Chemiker ziemlich interessant gewesen. Blöderweise landeten sie fast immer im
Müll. Verkanntes Genie.
"Oh Gott... das war... einfach nur mörderisch...", hauchte Toshiya mit starrem
Blick und ließ seinen Kopf auf das Pult sinken. Nach einer Doppelstunde Latein
hatte er immer dringend Ferien oder zumindest eine Runde Schlaf nötig. Oder
vielleicht eine kleine Gehirnwäsche, wäre das jetzt angenehm... Es war
unheimlich anstrengend gewesen, seinem albernen Lehrer zuzuhören und
gleichzeitig im Kopf die wichtigen Fakten römischer Kulturgeschichte von dem
ganzen unnützen Zeug zu trennen, dass der liebe Mann die ganze Stunde laberte.
So beschäftigt hatte der Blauhaarige seine unruige Nacht völlig verdrängt. Er
wollte gerade den Mund aufmachen um Kaoru endlich davon zu berichten, als ein
Junge, den er noch nie zuvor gesehen hatte, ihn mit dem Ellbogen ziemlich
unsanft in die Seite stieß. Müde hob Toshiya seinen Kopf und blinzelte den
schwarzhaarigen Schüler durch trübe, verschleierte Augen an.
"Mmmh? Wssls?", nuschelte er [für denjenigen, der errät, was Toshiya in diesem
Augenblick sagen wollte, gibt's eine Ausgabe von Sakitos Werk "Der Tod ist süß
- Torten und Gebäck zur Sommerzeit" gratis, auch wenn vermutlich sowieso kein
lebendes Wesen auf dieser Welt mit dem Fachjargon darin etwas anfangen könnte;
außerdem kriegt ihr eh nicht raus, was er sagen wollte]. Mit den Augen blieb er
einen kurzen Moment an dem auffälligen Lippenpiercing und den tätowierten
Unterarmen des Jungen hängen. Sein müdes Gehirn versuchte verzweifelt die
Person zu identifizieren und gab es schließlich auf.
"Da ist jemand für dich draußen, Hara", antwortete der Schwarzhaarige und
machte eine Bewegung, als wolle er einen Schwarm fliegen verscheuchen.
"Wer bist du?", fragte der Blauhaarige verwirrt, woraufhin der Andere ihm einen
verletzten Blick zuwarf.
"Miyavi. Ich gehe in deine Klasse. Seit acht Jahren. Aber willst du nicht hinaus
gehen? So ein Zehntklässler..."
Toshiya runzelte die Stirn, befeuchtete kurz mit seiner Zunge seine trockenen
Augäpfel [ne Scherz^^] und ging beinahe drauf bei dem Versuch die Antwort auf
zwei Fragen gleichzeitig zu finden, die ihn in diesem Augenblick unter den
Nägeln brannten. Erstens: Wer könnte etwas von ihm wollen? Vielleicht Ryutaro
oder Sakito? Es war doch hoffentlich nichts passiert. Und zweitens: Wo hatte er
diesen Jungen nur schon einmal gesehen?
Der Blauhaarige gähnte ausgiebig und schlurfte zur Tür. Kaoru holte ihn mit
drei Schritten ein und sagte grinsend: "Ok, ich geh schon mal zu Die und Shinya.
Wir haben jetzt Pause, falls du es nicht mitbekommen hast. Komm dann nach, ja?"
Toshiyas Antwort wurde von einem erneuten Gähnen erstickt.
"Und tu mir einen Gefallen - schlaf nicht beim Gehen ein, ne Totchi?"
Damit war der Violetthaarige durch die Tür verschwunden. Toshiya trat ebenfalls
in den Flur hinaus. Während er noch versuchte seine müden Gehirnzellen in
Schwung zu bringen, strömten jede Menge agressiver, lärmender Schüler an ihm
vorbei, eine Horde von Fünftklässlern riss ihn beinahe von den Beinen. Als
sich das Gewühl einigermaßen gelegt hatte und nur noch vereinzelt Jungen oder
Mädchen aus den Klassenzimmern auf die Gänge tröpfelten, begann der
Blauhaarige sich suchend umzusehen. Wer hatte gleich noch etwas mit ihm
besprechen wollen?
"Hallo!", quietschte ein Stimme links von ihm (wo eigentlich die Wand sein
sollte) vergnügt. Erschrocken wirbelte Toshiya herum. Alles was er im ersten
Augenblick wahrnahm war ein tannengrüner Minirock und vampirartige
Eckzähnchen. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte er ein sehr süßes, kleines
Mädchen, das scheinbar aus dem Nichts neben ihm erschienen war. Asiatische
Gesichtszüge, hellbraun gefärbte und geglättete Haare, die zu einem
niedlichen Zöpfchen am Hinterkopf gebunden waren. Verständnislos starrte
Toshiya auf das püppchenartige Wesen, das mit blitzenden Augen und betörendem
Lächeln vor ihm stand. Sie war so unglaublich süß, dass man fürchten musste,
sie würde am Boden festkleben. Langsam schaltete Toshiya.
::Dieser Rock ist wirklich sehr kurz::, dachte er. Dann, als die Kleine ihn
weiterhin erwartungsvoll musterte, klickte es.
"Äh ja? Wolltest du mich sprechen?", fragte er laut und befahl seinem Gehirn
das Denken für diesen Tag einfach bleiben zu lassen.
Das Mädchen trat von einem Bein auf das andere, wobei ihren Fußspitzen leicht
zueinander zeigten, zweifellos eine Masche um niedlicher auszusehen. Sie
kicherte wie irre, ihre Augen funkelten und ihr Zöpfchen wippte. Toshiya
starrte sie verwirrt an. Das hatte sie ihm sagen wollen?
Hihihikchkchkchmhhihihi?
"Ich bin aus der Zehnten, du hast sicher schon von mir gehört", gab das
Mädchen zur Auskunft und lächelte wieder ihr strahlendes
Liebe-mich-oder-ich-töte-dich-Lächeln, das einen hervorragenden Blick auf die
spitzen Eckzähne bot. Toshiya lief ein Schauer über den Rücken.
"N-nein", erwiderte er noch verwirrter. Was zum Teufel wollte sie von ihm?
Der Gesichtsausdruck des Mädchens wechselte zu einem gefährlichen Grinsen.
"Nun ja hihi dann hörst du eben nun von mir. Ich bin Takumi aus der Zehn c.
Meine Lieblingsfächer sind Englisch und Biologie, mein Lieblingsgericht ist
Nudeln."
"A-ah ja?", stotterte Toshiya und hatte auf einmal den unweigerlichen Drang zu
fliehen. Sein Gehirn zumindest hatte sich schon vor ein paar Minuten aus dem
Staub gemacht.
"Ja. Ich liebe den Sommer, puh, ganz schön heiß hier, nicht? Naja, das ist
egal, ich habe sowieso nach der vierten aus, ich glaub ich werde sofort ins
Schwimmbad gehen. Aber was ich eigentlich sagen wollte - wie geht es Kyo?"
Toshiya starrte sie an und versuchte alles zu erfassen, was sie ihm eben
mitgeteilt hatte.
"K-Kyo??"
"Ja, genau der. Ich meine, du bist doch in seiner Klasse, oder? Also ich habe
gehört dass Daishi und Kyo bei dir zu Besuch waren, also irgendwie bei deinem
Bruder, naja und Kyo war gestern auf einmal verschwunden, ich hab mir solche
Sorgen gemacht und-"
Ihr Lächeln war wie weggewischt, aus ihren Augen rollte mit einem Mal eine
kleine, glänzende Träne.
::Woah::, dachte Toshiya. Er war auf die Stimmungschwankung in Person
getroffen.
"- und es ging ihm so schlecht, sein Bruder ist nicht gut zu ihm *schluchz*,
diese Bestie, er ist so falsch *schnief*, ich muss es wissen, er ist mein Ex
(ich war jung und dumm) und ich hab versucht bei Kyo anzurufen *schluck*, aber
er ist nicht rangegangen, dann bei seinem Bruder, der hat gesagt, Kyo sei bei
euch zu Hause, Sakito aus der Parallel hab ich nicht gefunden, also dachte ich
du weißt vielleicht was mit ihm los ist."
Toshiya starrte sie an. Nach einiger Zeit begriff er, dass sie aufgehört hatte
zu reden. Die Worte flogen sekundenlang in seinem Kopf herum und verursachten
dort, wo sie auf die Schädeldecke trafen, einen stechenden Schmerz.
"Könntest du nun sagen, wie es Kyo geht?", hakte Takumi nach, von ihren Tränen
plötzlich keine Spur mehr, stattdessen lag wieder dieses beängstigend
strahlende Lächeln auf ihren Lippen.
"Ä-äh ja, K-kyo genau ... Sekunde bitte", antwortete Toshiya, schloss kurz die
Augen und massierte mit den Fingern konzentriert seine Nasenwurzel in der
Hoffnung die Kopfschmerzen loszuwerden. Dann blickte er die Schülerin wieder an
und zwang sich in ihre blitzenden Augen zu sehen, auch wenn es den hämmernden
Schmerz in seinem Kopf aus irgendeinem Grund verstärkte.
"Der ist bei mir Zuhause. Äh, sein Bruder hat ihn gestern Abend mitgebracht und
er hatte Fieber und äh... naja, ich hab ihn ins Bett gelegt. Als ich heute
morgen gegangen bin, hat er noch geschlafen. Aber äh... bist du mit Kyo
befreundet?"
"Jaaaaaaa", quietschte sie vergnügt. "Meine einzige Liebe!! Und er liebt mich
auch unsterblich. Auch wenn er das noch nicht weiß."
Sie begann auf und ab zu hüpfen und ihr süßes Köpfchen zu schütteln.
"Ahso."
Plötzlich empfand er so etwas wie Ehrfurcht vor Kyo.
"Du-huuuuuu?", leierte Takumi. "Darf ich dich was fra-gäääääääään?
Bittöööööööööööö!"
Ohne auf Zustimmung zu warten plapperte sie weiter.
"Ich möchte unbedingt nach Kyo sehen ich bin sein einziger Freund und da wollte
ich wissen weil er ja bei dir ist ob ich nicht nach der Schule mit zu dir kommen
kann ich muss ihm eh noch seine Hausaufgaben bringen er fällt sonst durch ich
bin zwar nicht so schlau wie Sakito aber trotzdem ganz gut in der Schule vor
allem in Englisch und Biologie das sind ja immerhin meine Lieblingfächer-"
Toshiya blinzelte. Beeindruckend. Ohne Punkt und Komma. Auf eine sehr
beängstigende Weise beeindruckend.
Takumi holte Luft (auf was der Blauhaarige seit Beginn ihres Monologes gebannt
gewartet hatte) und wollte gerade von Neuem ansetzten, als Toshiya hektisch das
Wort ergriff.
"Äh-"
Blöderweise hatte er das getan ohne sich vorher zu überlegen, was er denn
sagen könnte.
"Bittöööööööööööööööööööööööööööööööööööööööööööööööööö-"
"Ok ok ok! Komm nach der Schule mit, warte hier vor dem Klassenzimmer auf mich.
Meine Ma ist eh nicht zu Hause." Und in Gedanken fügte er hinzu ::Zum Glück,
sie würde umkippen, wenn sie wüsste, dass die halbe Schule bei uns zu Besuch
ist.::
Toshiya ließ sich auf seinen Platz fallen, sein Kopf knallte mit einem lauten,
ungesunden Geräusch auf die Tischplatte.
"Um Gottes Willen, Totchi, alles in Ordnung?", fragte Kaoru, der eben an seinen
Tisch getreten war und packte seinen blauhaarigen Frend an der Schulter. Dieser
hob langsam den Kopf und murmelte: "Warum Kao. Warum hat es diese Welt so auf
mich abgesehen. Warum will Gott nicht, dass ich schlafe. Ich will doch nur meine
Ru-heee..."
Seine Stimmer riss ab und ging in theatralischem Schluchzen unter. Kaoru
tätschelte ihm grinsend den Rücken.
"Was wollte Takumi denn von dir?"
"Du kennst Takumi?"
Der Violetthaarige lachte laut auf und ließ sich auf seinen Platz fallen.
"Hey, wer kennt Taku nicht? War schon mit der halben Schule zusammen..."
Schmunzelnd musterte er sein Religionsarbeitsblatt.
"Aber die Frage mit Gott könntest du gleich nochmal stellen, wir haben ja jetzt
Reli..."
Toshiya warf ihm einen strafenden Blick zu.
"Das ist überhaupt nicht lustig, Kao...", murmelte er und ließ seinen Kopf
wieder auf den Tisch sinken. Leider konnten die beiden nicht mehr
ausdiskutieren, ob es nun lustig sei oder nicht, weil Hakuei an seinen Platz
trat und leise summend einen Block und ein Mäppchen aus seiner Tasche holte.
Kaorus Gesichtsausdruck verfinsterte sich augenblicklich. Nach einer Weile
schaute der Junge mit den Rastalocken auf und musterte den Violetthaarigen mit
abschätzigem Blick.
"Ja, ich sitze immer noch hier", sagte er schlicht und setzte sich. Als weder
Kaoru noch Toshiya reagierten (allem Anschein nach war Toshiya eingeschlafen)
fügte er schließlich hinzu: " ...irgendjemand muss dem Deppen da", er deutet
mit herablassendem Nicken auf Toshiyas blauen Haarschopf, "ja erklären, welche
Seite er aufschlagen muss."
"Hakuei, lass es sein. Ich warne dich", brummte Kaoru grimmig, doch noch bevor
er weitersprechen konnte zupfte ihn jemand am Ärmel.
"Kaoru? Wir haben doch Religion, ne? Irgendwie kommt der Typ nicht... ich glaube
du solltest mal im Sekretariat nachfragen, vielleicht hat er sich wieder
verlaufen, verplant wie er ist..."
Der Angesprochene fluchte leise, wandte sich dann zu seinem Mitschüler um und
erwiderte: "Ist in Ordnung, Miyavi, ich geh gleich." Und zu Hakuei gewandt
murmelte er: "Nimm dich zusammen, ja?"
"Oh, keine Sorge, Klassensprecher-sama, ich kann mich beherrschen, auch wenn ich
nicht so geduldig und gerecht bin wie Ihr", spöttelte der Schwarzhaarige, doch
Kaoru war bereits außer Hörweite.
"Klassensprecher?"
Verschlafen hob Toshiya den Kopf. "Kao ist Klassensprecher? Wieso sagt mir das
niemand?"
"Mein Gott...", flüsterte Hakuei leise. Jede falsche Fröhlichkeit war von ihm
abgefallen. Er musterte seinen blauhaarigen Banknachbar mit einem Blick, den
Toshiya nur als abgrundtiefe Abscheu deuten konnte. Innerlich fiel er in sich
zusammen. Er wusste was nun kommen würde.
Hakuei beugte sich zu ihm und hauchte ihm ins Ohr: "Du bist wirklich
jämmerlich. Ich frage mich wie so ein beschränkter Idiot wie du es
fertigbringt nicht sitzenzubleiben... schau dich doch an! Make-up total
verschmiert, wie du aussiehst... traurig. Ich hatte Recht. Du hast dich kein
Stück verändert. Du tust mir leid, Toshimasa."
Toshiya hörte schweigend zu, dabei starrte er auf seine Haarspitzen, die auf
der Tischplatte lagen. Während Hakuei redete stieg ein vertrautes Gefühl in
ihm hoch: Scham. So gerne er wollte, er konnte nicht aus seiner Haut. Die alten
Komplexe ließen sich nicht mit ein wenig Schminke und einer neuen Frisur
ersticken.
Dieser Tag war einfach zu viel gewesen. Kaum Schlaf, diese ständige Hektik,
alles tat ihm weh und nun das. Im nächsten Augenblick schüttelten stumme
Schluchzer Toshiyas Schultern. Bei dem Versuch seine aufwallenden Tränen zu
verbergen, rieb er sich die müden Augen, was zur Folge hatte, dass sein make-up
noch mehr verwischte. Jeder Funken Selbstbewusstsein war wie weggefegt, zusammen
mit all den glücklichen Gefühlen der letzten Tage. Und alles nur durch einen
gezielten Angriff Hakueis. Dabei hatte alles so gut angefangen. Ganz schön
labil. Hakuei sagte nichts mehr, er hatte mal wieder erreicht was er wollte und
war rundum zufrieden mit sich. Aufmerksam beobachtete er, wie die zierliche
Figur seines Mitschülers unter stummen Schluchzern erzitterte.
"Totchi, nun reiß dich aber zusammen! Hakuei, wenn ich dich in die Finger
bekomme..."
Kaorus Stimme ließ den Blauhaarigen aufschrecken. Er blickte in die tiefen
Augen seines Freundes, der plötzlich vor ihm stand. Wieso mussten heute alle
Menschen aus dem Nichts auftauchen? Nun saß er da und heulte wie ein kleines
Kind - das war so peinlich. Aber er konnte einfach nicht anders.
"Reli fällt aus!", verkündete Kaoru, was ein lautes Jubeln zur Folge hatte.
Dann setzte er sich neben Toshiya. Dieser starrte konzentriert auf die
Tischplatte. Heulsuse.
"Hey, nun komm schon...", sagte Kaoru sanft und legte seinem Freund schützend
den Arm um die Schulter, "du weißt genau, dass aller Anfang schwer ist. Lass
dich doch nicht von dem unterkriegen. Ich finde, dass du sehr tapfer bist. Hab
eben Ryutaro getroffen, er hat mir von deiner Nacht erzählt. Und von Kyo. Du
hast dich absolut richtig verhalten."
Er lächelte warm und dem Anderen wurde plötzlich leichter ums Herz.
"Naja, du hast Recht, Kao, ich sollte nicht darauf hören... sorry, ich...",
begann er kleinlaut, doch Kaoru winkte nur lächelnd ab. Ein Weile sagten sie
beide nichts, dann ergriff der Violetthaarige wieder das Wort.
"Aber ich mache mir ernste Sorgen um Kyo. Du weißt ja, sein Bruder ist ein
alter Bekannter von mir - Sandkastenfreund sozusagen." Er kicherte
spitzbübisch.
"Pah", machte Toshiya auf einmal. Bei dem Gedanken an Daishi wurde er völlig
nüchtern.
"Dass du mit ihm befreundet bist... wundert mich", sagte er kühl.
"Naja, befreundet ist zuviel gesagt. Wir kennen uns eben, hab schon lang kein
Wort mehr mit ihm gewechselt. Und eigentlich kenne ich Kyo noch weniger, er
redet nicht viel, weißt du?"
Toshiya schaute ihn düster an.
"Hab ich gemerkt, ja."
"Gibt's irgendwas?", sagte Kaoru plötzlich ruhig, woraufhin der Blauhaarige ihn
erst irritiert anblickte. Dann wurde ihm klar, dass nicht er gemeint war,
sondern Hakuei, der auf seinem Stuhl am Nachbartisch saß und anscheinend
interessiert zuhörte.
"Komm, wir gehen nach draußen, die Sonne scheint...", murmelte der
Violetthaarige und zog Toshiya hinter sich her zur Tür.
"Wir haben Freistunde, du musst mir jetzt diese ganze Geschichte von vorne bis
hinten erzählen..."
"Wie, ihr wohnt hier in diesem Viertel? Das ist lustig, weil, weißt du, meine
Tante hat hier auch mal gewohnt, sie sagte immer: Nur nette Leute hier! Toll,
dass ihr auch hier wohnt, ist dein Bruder zu Hause? Wie viele Brüder hast du
denn eigentlich? Hach ist das toll, ich will dich aber nicht zu sehr aufhalten,
hörst du? Ich nehm nur Kyo und gehe, anderenfalls, wenn"
An diesem Punkt beschloss Toshiya nicht mehr zuzuhören. Er war auf dem
Nachhauseweg, neben ihm sprang eine springfidele Takumi her und plapperte wie
ein Wasserfall. Seit acht Minuten. Blöderweise war der Blauhaarige an diesem
Tag aufgrund seiner bodenlosen Müdigkeit ziemlich langsam zu Fuß. Sein
Schulweg dauerte also doppelt so lange wie sonst. Das Leben meinte es wirklich
nicht gut mit ihm. Gerade als er mit großer Anstrengung den Blick von der
Straße hob um in einem Anflug von Verzweiflung nach seinem Haus Ausschau zu
halten, kam ihm ein Junge mit feuerroten Haaren entgegen. Die? Der Blauhaarige
blieb erstaunt stehen.
"Was ist? Warum schaust du so entsetzt Totchi-chan, also so schlimm finde ich
das mit meinem Grundschulzeugnis jetzt nicht...", sagte Takumi, unruhig von
einem Fuß auf den anderen tretend.
"Die?!", sagte Toshiya laut und ging schnellen Schrittes auf seinen Freund zu.
"Warst du bei uns? Du... wolltest doch nicht etwa nach dieser Olive sehen? Oh
Die..."
Der Rotschopf blieb stehen und starrte Toshiya mit leeren, seichten Augen an.
"Diese Sonne irritiert mich. Ich hasse Hitze. Das ist alles so furchtbar
deprimierend...", murmelte er monoton und schlurfte weiter.
"Ach du Schande...", flüsterte der Blauhaarige erschrocken. "Ich hoffe er wird
wieder..."
Plötzlich packte ihn etwas an der Hand und rieß ihn so abrupt nach vorne, dass
Toshiya beinahe gefallen wäre.
"Ko-hooomm doch endlich", jammerte Takumi und schleifte den Älteren weiter.
"Ich war bei dir und hab schon mal geklingelt, so lange wie du brauchst!"
::Na, dann kann ich mir zumindest die Mühe sparen jetzt in meiner Tasche nach
dem Schlüssel zu suchen::, war das einzige was Toshiya dazu einfiel. Für den
Augenblick war er viel zu beschäftigt mit seinen Gedanken an Die. Außerdem war
ihm aufgefallen, dass Takumis Rock sehr tief saß und alle Welt einen Blick auf
ihren Schachbrettmustertanga werfen konnte. Violette Naht. Wieso nicht rot oder
blau? Wieso violett? Dieser Tag machte ihn irre.
Langsam öffnete sich die Haustüre. Sakito wollte seinem Bruder gerade Worte
der Begrüßung entgegenschleudern, als er Takumi erblickte, die mit strahlendem
Lächeln leicht auf- und abwippend vor ihm stand. Der Schwarzhaarige wich
augenblicklich zwei große Schritte in die Wohnung zurück (taktisch sehr
unklug, da Takumi auf diese Art in den Hausflur huschen konnte).
"N-nein!", rief er entsetzt, die Hände schützend vor sein gesicht.
"Weiche! N-nicht du!!"
"Sakiiiiiiiiiiiiiiii!!!! Du bist ja soooo süüüüüüß!!!!", quietschte die
Schülerin, hopste auf den verschreckten Sakito zu und drängte diesen an die
Wand. Toshiya glaubte in den Augen seines kleinen Bruders einen Ausdruck der
bloßen Panik zu erkennen (die der Blauhaarige wunderbar nachvollziehen
konnte).
"W-weg!", keuchte Sakito und presste sich an die Wand, mit großen entsetzten
Augen auf die Schülerin blickend, die ihm zu Leibe rückte und in seinem
Gesicht herumzuzupfen begann.
::Oh-oh::, dachte Toshiya nur. Interessiert beobachtete der Blauhaarige, wie
sein Bruder schreinend davonrannte und hinter Ryutaro, der eben in den Flur
getreten war, Deckung suchte. Takumi gluckste vergnügte, wippte ein wenig mit
den Zöpfchen, schminkte sich nach und begann dann sich suchend umzublicken.
"Kyo, wo ist er?"
"Hier. Leider in deiner Nähe", antwortete ein genervte Stimme über ihnen.[Ja,
Kyo ist Gott.]
Verwundert hob Toshiya den Kopf. Am oberen Ende der Treppe stand der zierliche,
blonde Junge, immer noch reichlich blass. Allerdings fiel das bei den Tonnen von
weißem make-up nicht mehr wirklich auf. Er trug noch immer seiner zerissene
Hose und das dünne, hautenge Löchertop. Anscheinend hatte er seine Augen mit
der Absicht seine Krankheit zu verbergen kunstvoll mit schwarzen Kajal umrandet.
Toshiya musste zugeben, dass Kyo wirklich hübsch war. Er fragte sich, wie ein
lebendiger Mensch sich so sauber und perfekt schminken konnte, seinen eigenen
verzweifelten Schminkversuch im Hinterkopf.
Der Junge kam die Treppe hinunter, in seinem Gesicht lag ein finsterer Ausdruck.
Toshiya gab sich einen Ruck.
"Du kannst ja sprechen...", scherzte er, doch sein Lächeln erstarb wie ein
Mücke, die ins Feuer fliegt, als er Kyos mörderischem Blick begegnete.
"Ich gehe. Versuche nicht mir zu folgen, Takumi, es ist zwecklos." Kyo klang
verärgert. Gerade als er die Tür öffnen und in die sonnendurchfluteten
Straßen hinaustreten wollte, sprach Sakito ihn an.
"Heee, du kannst doch jetzt nicht gehen!" Mit einem Satz war er hinter dem
Rücken seines Freundes hervorgesprungen. Anscheinend hatte er seinen Schock was
Takumi betraf überwunden. Diese für ihren Teil schwieg. Und zwar so richtig,
mit geschlossenem Mund und so. Anscheinend hatte das Mädchen diese Tastache
auch eben bemerkt, sie sprang plötzlich auf ihren Schwarm zu und packt ihn am
Handgelenk.
"Genau, du kannst nicht gehen, Kyooooo!", jammerte Takumi, nickte heftig und
zeigte ihre spitzen Eckzähnchen.
"Weshalb bist du eigentlich hier?", warf Sakito ein, wieder ganz er selbst.
"Iiiiiiich?" Das zierliche Mädchen schenkte dem Schwarzhaarigen ihr
unschuldigstes Lächeln.
"Um Kyo abzuholen, er ist mein Freund!"
"Nein, das konnte ich glücklicherweise verhindern", murmelte Kyo augenrollend.
Und dann: "Bai."
"Du kannst nicht gehen, ohne etwas zu essen!", brüllte Sakito ihm nach. "Und
ohne dich zu bedanken, also ehrlich."
Genervt drehte Kyo sich zu ihm um, die Hand an der geöffneten Tür.
"Für was bitte?"
"Na also hör mal! Totchi hat dich die halbe Nacht gepflegt, er hat kaum ein
Auge zugetan! Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er dich alleine in sein
Zimmer geschleppt hat."
Kyo seufzte auf.
"Na schön. Und was muss ich tun, um meine wahnsinnige Dankbarkeit
auszudrücken?" Er warf Toshiya einen ziemlich beleidigten Seitenblick zu.
Dieser brachte kein Wort heraus. Er hätte niemals gedacht, dass der kleine,
blasse Japaner so eine selbstsichere, erwachsene Persönlichkeit hatte. Diese
Katzenaugen, die ihn forsch musterten. Ein trotziger Blick lag in ihnen.
Irgendetwas an Kyo beeindruckte Toshiya. Die lässige, selbstbewusste Art, die
er selbst nie gehabt hatte. Der Blick des Blauhaarigen schweifte zu seinem
kleinen Bruder, der mit einem Mal hinterhältig grinste.Toshiya fiel auf, dass
seine Hand die Ryutaros hielt.
"Etwas essen!", antwortete er und ging voraus zur Küche.
"Hübsch hast du's hier...", gab Takumi zur Auskunft und zeigte wieder ihr
strahlendes Lächeln. Obwohl Sakito lautstark protestiert hatte, hatte Toshiya
sie schließlich auch zum Essen eingeladen. Erstens hielt er es für höflich
und zweitens sollten sie einfach für jede Mahlzeit, die sie in diesem Haus
überlebten dankbar sein, alles andere war nicht von Bedeutung. Was Toshiya
erstaunte war die Tatsache, dass das Mädchen, nun in Kyos Gegenwart, deutlich
weniger redete. Anscheinend konnte man sich in Gesellschaft anderer Menschen
halbwegs normal mit ihr unterhalten, wenn man von Quietschlauten wie Iiiiieeee!,
Eeeeeeeh??? und Ausrufen wie Kawaiiiiiiiii!!!! und Chuuuuuuuu!! einmal absah.
Die fünf Schüler saßen also um das Lagerfeuer in der leeren Küche der Haras
herum und brieten Würstchen. Eine Weile sprach niemand, sogar Takumi musste zum
Kauen und schlucken ihren Mund schließen. Sie räkelte sich lasziv neben Kyo
und warf ihm verführerische Blicke zu, die der Andere stur ignorierte.
"Hast du Toshiya nicht etwas zu sagen?", begann Sakito schließlich streng und
klang dabei ganz wie seine Mutter. Kyo bedachte ihn mit einem wütenden Blick,
wobei er Takumis Hand wegschlug, die begonnen hatte mit dem Finger Kreise auf
seinem Oberschenkel zu ziehen.
"Ja, habe ich", schnappte er, "warum hast du mich nicht einfach dort gelassen,
wo ich war? War nicht besonders schön in deinem Bett aufzuwachen, weißt du?"
Toshiya errötete und senkte den Kopf.
"Sorry, ich dachte nur... es ging dir so schlecht und..."
"Lass mal", unterbrach ihn der Blonde und biss von seinem Würstchen ab. Aus
irgendeinem unerfindlichen Grund wurde Takumi bei dem Anblick von einem irren
Kicheranfall geschüttelt.
"Ich bin das gewohnt, ok? Ich kann auch ganz gut für mich alleine sorgen",
fügte Kyo hinzu und beobachtete den Blauhaarigen mit seinen hübschen
Katzenaugen. Dieser fühlte sich unter dem Blick gar nicht wohl, er war so fest
und bestimmt, dass Toshiya innerlich zusammenschrumpfte, wenn das nach Hakueis
heutigem Angriff überhaupt noch möglich war.
Sakito runzelte die Stirn.
"Gewohnt? Was ist das denn für ein Spruch?", sagte er, doch es klang eher
nachdenlich, als aggressiv. Er rückte ein wenig näher zu Ryutaro heran, legte
seinen Arm um dessen Hüfte und zog ihn an sich. Eine kleine Bewegung, die die
anderen vielleicht nicht unbedingt bemerkt hatten (bis auf Ryutaro natürlich,
der hochrot wurde und sich schüchtern an seinen Freund lehnte) und die in
Toshiya ein tiefes Gefühl der Bewunderung auslöste. Er sah wie Kyos Augen kurz
über Sakitos Hand glitten bevor er antwortete.
"Naja, ich bin eben nicht so ein Muttersöhnchen. Das ist alles." Der letzte
Satz ging in einem Hustenanfall unter, der die Wirkung seiner giftigen Antwort
völlig verdarb und Takumi entsetzt aufkreischen ließ. Bevor sie allerdings
seine Stirn fühlen konnte, hatte sich Kyo erhoben und war zur Tür gegangen.
Das Feuer prasselte, knisterte und rauchte. In diesem Augenblick, da aller Augen
auf Kyo gerichtet waren, kippte Sakito wie zufällig eine klare Flüssigkeit aus
einem kleinen Fläschlein in die züngelnden, roten Flammen. Das Feuer nahm
augenblicklich eine nachtschwarze Färbung und begann einen starken Lavendelduft
zu verströmen. Verdammt. Er hatte Pfefferminze gewollt. Kyo warf dem
Schwarzhaarigen einen kurzen Blick zu und runzelte die Stirn.
"Ich gehe", sagte er knapp.
Immerhin ein halber Abschiedsgruß. Dann wandte er sich an Toshiya.
"Du bist viel zu sozial." Sonst nichts. Trotzdem klang es in den Ohren des
Blauhaarigen wie Danke. Ohne auf Antwort zu warten verließ Kyo, gefolgt von
Takumi, die Küche und zog die Tür hinter sich zu.
"Er ist so... cool!", murmelte Toshiya beeindruckt und biss zum ersten mal von
seinem Würstchen. Als er feststellte, dass sein kleiner Bruder irgendetwas an
der Flammenfärbung gedreht hatte und das Fleisch nicht mehr nach dem schmeckte,
wonach es schmecken sollte, hielt er es wieder ins Feuer und sah
gedankenversunken zu, wie es verkokelte.
Sakito schüttelte verständnislos den Kopf.
"Du bist zu sozial, da hat er ganz Recht. Ne echt, Totchi. Der Kleine ist ein
ewig shclechgelaunter Kotzbrocken. Mit erstaunlich überzeugenden Argumenten,
zugegeben, er weiß was er will. Das schätze ich an ihm. Aber ein
Kotzbrocken."
Toshiya klopfte seine Hände aneinander um den merkwürdig schillernden Ruß
loszuwerden.
"Ich kann ihn gar nicht einschätzen", murmelte er.
"Ja, ich habe gesehen, wie schockiert du über ihn warst. Du hast ihm so ein
selbstbewusstes Auftreten nicht zugetraut, ne? Naiv wie eh und je." Sakito
kicherte. "Naja, ich kenne ihn nicht wirklich, aber man hört ja dies und das.
Er legt sich mit seinen Lehrern an, ist immerzu gereizt und wortkarg. Total
schräg der Typ, steht auf Blut und Gewalt und nimmt bestimmt Drogen oder so."
Der Zehntklässler zuckte die Achseln. "Also für mich ein typischer Fall von
schlechtem Elternhaus. Der Vater Alkoholiker, die Mutter sonstwo, sein Bruder
ein Idiot."
Toshiya ließ sich das Ganze kurz durch den Kopf gehen.
"Und... hat er Freunde? Mit wem ist er so zusammen?" Sakito zuckte nur die
Achseln und antwortete: "In seiner Klasse hat er niemanden... also bis auf
Takumi, der lässt ihn seit 'n paar Tagen nicht mehr in Ruhe. Brrr *schauder*
der Kerl is beängstigend. Kein Wunder dass er sich mit Kyo zusammentut.
Ansonsten ist Kyo öfters mit den Älteren zu sehen, die sich den ganzen Tag
betrinken und irgendwelche Dinge kaputt machen. Ne, nix für mich."
Er seufzte theatralisch auf. Eine Weile herrschte Stille, dann sprach plötzlich
Ryutaro.
"Er respektiert dich, Saki...", sagte er leise. "Bestimmt, glaub mir. Du hast
dich doch damals mit ihm angelegt, weil er Miyavi Geld abgenommen und ihn
erpresst hat... Ich... ich hatte das Gefühl, er hat dich verstanden. Und er
hat's auch nicht wieder getan."
Sakito blinzelte ungläubig.
"Und das weißt du noch?" Er warf zwei Frösche ins Feuer, die grün platzten.
Toshiya beschloss nichts mehr zu essen und legte das frische Würstchen, das er
sich eben aus der Packung genommen hatte, wieder zurück.
Ryutaro lächelte. Und zwar so, wie Toshiya es noch nie gesehen hatte. Sein
Gesicht wurde ganz weich und sanft, in seine Augen trat ein warmes Leuchten.
::Woah, es ist wahr, Liebe macht schön::, dachte Toshiya beeindruckt und
beobachtete wie sich der schüchterne Junge zu seinem Freund beugte und ihn mit
unendlicher Zärtlichkeit auf die Wange küsste. Dann passierte etwas, das der
Blauhaarige in seinem Leben noch nicht gesehen hatte: Sakito errötete. Toshiya
beschloss die beiden allein zu lassen. Als er die Küche verlassen und die
Treppe hoch ins Badezimmer geschlurft war, fiel ihm wieder auf, wie schwer seine
Glieder waren.
"Ach du schxxx", murmelte er düster mit einem Blick in den Spiegel. Und so war
er den ganzen Tag lang herumgelaufen? Er sah auch nicht viel gesünder aus, als
Kyo. Am Ende hatte er sich angesteckt. Dieser Kyo, seltsame Person. Die Sorte
von menschen, die Toshiya niemals verstehen würde. Sein ganzes Verhalten war
ihm unverständlich, ganz anders als Kaoru, der ihm vom ersten Augenblick an
vertraut gewesen war.
Aufseufzend griff Toshiya zu einem Wattepad und der Flasche Make-up Entferner im
Badschrank und begann sich abzuschminken.
Plötzlich fiel ihm etwas merwkürdiges auf.
Verwirrt ließ er die Watte sinken und starrte auf sein Spiegelbild. In seinem
Kopf tauchte Sakito auf, der sagte Bis auf Takumi, der lässt ihn seit 'n paar
Tagen nicht mehr in Ruhe. Brrr *schauder* der Kerl is beängstigend.
... er?
ER?
Nachdem er sich von seinem Schock wieder einigermaßen erholt hatte, hatte
Toshiya auf einmal das furchtbare Bedürfnis mit irgendjemandem zu sprechen.
Blick auf die Uhr. Noch nicht einmal halb fünf (es war ein sehr großer Schock;
da braucht man natürlich sehr lange um sich zu erholen; Totchi hat zur
Entspannung ein wenig Physik Hausaufgabe gemacht). Sein erster Gedanke galt
Kaoru. Obwohl er ihn am nächsten Tag in der Schule wiedersehen würde, wollte
er mit ihm reden. Toshiya überlegte kurz und zwirbelte dabei gedankenverloren
ein blaue Haarsträhne. War es wirklich notwendig seinen Klassenkameraden
anzurufen und ihn zu nerven?
//Ja//, beschloss er schließlich, sprang von seinem Bett auf und krallte sich
das schnurlose Telefon von seinem Schreibtisch. Immerhin kannte er den Anderen
erst seit ein paar Tagen, es gab so viel, was er über ihn noch nicht wusste.
Und er wollte alles erfahren. Schließlich hatte er noch nie einen wirklichen
Freund gehabt.
Mit flinken Fingern tippte der Junge eine Nummer in den Hörer ein, drückte auf
"Abheben" und wartete. Es dauerte nicht lange, bis es klickte und eine tiefe,
angenehme Stimme das monotone Freizeichen ersetzte.
-Moshi moshi?
-Hi, Kaoru, bist du's?
-Totchi?
-Yo.
Toshiya grinste in den Hörer. Er konnte Kaorus verwirrten Gesichtsausdruck
beinahe vor sich sehen.
-Ist irgendetwas Wichtiges?
-Nö, wollte einfach mal anrufen. Störe ich dich gerade?
-Äh... sorry, aber ich hab gerade nicht wirklich Zeit, ich muss in zehn Minuten
weg und habe keine Ahnung was ich anziehen soll.
Kaorus tiefes, warmes Lachen drang durch den Hörer an Toshiyas Ohr. Dieser
fühlte, wie ihn ein leises Gefühl der Enttäuschung beschlich.
-Oh. Naja, macht nichts, wir sehen uns sowieso morgen... Wohin gehst du denn?
-Ich bin mit meiner Freundin verabredet, du kennst sie sicher. Hitomi, so eine
schlanke, hübsche aus der Parallel.
Er lachte wieder.
-Ich war noch nie mit ihr aus, ich bin echt nervös!
Toshiya ließ den Hörer sinken. Seine Hand war auf einmal kraftlos und taub.
-Totchi? Bist du noch dran?
Schnell hob er den Hörer wieder ans Ohr.
-J-ja! Mmh, na dann. Viel Spaß. Und nochmal sorry, wegen der Störung. Bai!
Kaorus letzte Worte bekam er nicht mehr mit. Er drückte auf "Auflegen", dann
ließ er das Telefon aus seiner Hand auf die Bettdecke gleiten.
Was hatte er erwartet? Auf einmal fühlte sich Toshiya hundeelend. War es, weil
Kaoru keine Zeit für ihn hatte? Tränen begannen aus seinen Augen zu tröpfeln.
Erschrocken über sich selbst wischte er sie schnell mit dem Handrücken ab,
erhob sich vom Bett und versuchte darüber nachzudenken was genau es war, das
ihm so wehtat. Nach einigen erfolglosen Ansätzen ließ er sich wieder auf die
weichen Decken seines Bettes zurückfallen, vergrub das Gesicht in den Händen
und schluchzte leise. Aus irgendeinem Grund fühlte es sich so an, als hätte er
gerade etwas Wertvolles verloren.
Während unser armer Totchi von einem Schmerz gequält wurde, den er noch nie
empfunden hatte, bog ein Auto um die Straßenecke fünf Häuser weiter. Es hielt
unter Toshiya Fenster und drei bekannte Personen stiegen aus und betraten eine
Minuten später das Haus.
Der junge Japaner nahm zur Kenntnis, dass sein Bruder nach Hause gekommen war,
höchtswahrscheinlich mit seinem besten Freund und dessen kleinem Bruder im
Schlepptau. Toshiya war auf seiner Bettdecke eingeschlafen, als ein weiteres
Auto vor dem Haus hielt. Das schrille Läuten der Türglocke riss ihn nicht aus
dem Schlaf. Erst das sanfte Klopfen seines jüngeren Bruders an der
geschlossenen Zimmertüre holte den zierlichen Japaner aus seinen wirren
Träumen.
"Mmh?", murmelte er und rieb sich die Augen. Er fühlte sich noch elender als
zuvor. Außerdem taten ihm jetzt noch sämtliche Körperteile weh, da er in
einer sehr unbequemen Haltung eingenickt war.
Die Tür öffnete sich einen Spalt und Sakito lugte herein. Eine Sekunde
musterte er seinen Bruder aufmerksam, sein Gesicht nahm einen sanften Ausdruck
an.
"Möchtest du vielleicht etwas essen?"
"... nein danke. Ich habe keinen Hunger."
Sakito stieß die Tür ein Stück weiter auf.
"Bist du dir sicher? Du hast heute Mittag auch nicht besonders viel gegessen."
Toshiya lachte leise auf. Es klang so freudlos, dass Sakito ihn erstaunt
anstarrte.
"Wirklich nicht, aber danke, Kleiner."
Kurze Stille.
"Totchi? War irgendwas?"
"Wie? Neinnein! Alles ok. Ich... bin einfach nur echt müde. Das ist alles."
"Man sieht's." Sakitos Blick glitt über die Augenringe im feinen Gesicht seines
Bruders. Die hatte er an diesem Morgen auch schon gehabt. Aber er war
zusätzlich reichlich blass geworden.
"Bist du dir sicher, dass Kyo dich nicht mit seiner Grippe angesteckt hat?"
"Ich... denke, ja. Ist er da?"
"Hai. Es geht ihm viel besser, du solltest ihn sehen, überhaupt kein Vergleich
zu gestern."
Sakitos Miene nahm einen düsteren Ausdruck an.
"Er ist unausstehlich wie eh und je. Naja, ich lass dich mal alleine..."
Kaum hatte sich die Tür hinter dem jungen Japaner geschlossen, drifteten
Toshiyas Gedanken schon wieder in andere Sphären ab. Er seufzte schwer auf und
ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen. Was war denn plötzlich los?
Gegen halb zehn schlich Toshiya leise und verschlafen die Treppe hinunter. Aus
dem Wohnzimmer drangen gedämpfte Stimmen. Er hatte nur vor etwas zu trinken und
dann wieder in sein Zimmer zu verschwinden. Auf der untersten Treppenstufe fiel
ihm dann ein, dass es dort, wo er hinwollte, keinen Wasserhahn mehr gab. Doch
noch bevor er wieder umdrehen konnte, hielt ihn der Klang einer Stimme aus dem
Dunkel des Flurs zurück.
"So alleine?"
Was für eine dämliche Frage. Toshiyas müdes Gehirn versuchte verzweifelt
irgendwelche Synapsen irgendo einrasten zu lassen und so vielleicht
herauszufinden wer zu dieser Stimme gehörte. Zu dieser gemeinen, fiesen Stimme
die von einem permanenten, hämischen Lachen begleitet wurde. Und von diesem
unterschwelligen Sarkasmus. Dem Jungen ging ein Licht auf. Wer sonst würde es
fertigbringen um diese Uhrzeit plötzlich in seinem Hausflur aufzutauchen nur um
ihn zu beleidigen. Toshiya machte auf dem Absatz kehrt. Einem Wortgefecht mit
Hakuei war er jetzt wirklich nicht gewachsen. Er wollte sich gerade wieder die
Stufen nach oben schleifen, als ihn etwas am Handgelenk packte und zurückzog.
Erschrocken drehte sich der zierliche Junge um und entriss Hakuei mit einer
schnellen Bewegung seinen Arm. War dieser Kerl vielleicht ein Phantom oder wieso
stand er plötzlich so nah bei ihm?
"Du kannst doch jetzt nicht gehen...", säuselte sein Mitschüler. Das dämmrige
Licht, das von dem oberen Stockwerk auf sein Gesicht fiel, ließ Toshiya den
für Hakuei typischen, herablassenden Blick erkennen. Der Blauhaarige schnaubte
verärgert zur Antwort und zischte: "Lass mich in Ruhe, okay? Lass mich einfach
in Ruhe! Wenigstens in meinem eigenen Haus möchte ich meine Ruhe haben!"
"Tssss, du wiederholst dich..." Hakuei schüttelte mit gewichtiger Miene den
Kopf. Einen Moment lang beobachtete er seinen schmalen Mitschüler, der mit
wutverzwerrtem Gesicht aud der dritten Stufe der Treppe stand und ihn ansah.
"Wo ich doch gekommen bin um dir etwas mittzuteilen...", fügte Hakuei hinzu.
"Was soll das? Ich habe jetzt keine Lust auf deine... deine gemeinen Spielchen!
Lass mich", fauchte Toshiya und verfluchte sich im gleichen Augenblick dafür,
dass er den Anderen nicht schon längst stehengelassen und sich in seinem Zimmer
eingeschlossen hatte. Er musste schon wieder mit den Tränen kämpfen, doch
diesmal war es nicht aufgrund von Hakueis Sticheleien. Sein Herz brannte.
Merkwürdiges Gefühl. Schmerzhaft.
"Och, nicht weinen, Kleine...", spöttelte sein Mitschüler, woraufhin Toshiya
peinlich bewusst wurde, dass seine Augen feucht und wässrig waren und er
vermutlich auch sonst völlig verheult aussah. Dieser Typ musste ihn doch
wirklich in jeder Lage sehen. Zum Glück war es im Flur zappenduster.
"Du bist so ein sentimentaler Trottel...", kicherte Hakuei.
Wieso konnte er Toshiya nicht einfach in Frieden lassen? Wieso konnte er nicht
auf Uruhas Schoß sitzen und sich mit ihm beschäftigen? Wieso musste er
ausgerechnet hier im Flur herumhängen, genau dann, wenn Toshiya die Treppe
hinunterkam?
Auf einmal riss ihn etwas von den Füßen. Der junge Japaner stolperte die drei
Stufen hinunter und stürzte nach vorne, ein leiser Schrei des Entsetzens
entwich seinen Lippen. Noch bevor er erfassen konnte, was passiert war, lag er
in einer festen, warmen Umarmung. Hakueis Haare streiften über seine Wangen,
sie rochen nach Nachtluft. Maßlos entsetzt versuchte der Blauhaarige zu
begreifen. Hakuei drückte ihn noch fester an sich, so dass er sich nicht mehr
rühren konnte.
"Sei mit mir zusammen. Geh mit mir... ", hauchte er in Toshiyas Ohr. Dann setzte
er seine Lippen an den eiskalten Nacken des Anderen und küsste ihn sanft.
Sekunden später ließ er Toshiya los. Dieser stolperte ein paar Schritte
zurück, krallte sich am Treppengeländer fest um nicht zu stürzen und starrte
seinen Mitschüler mit unverhohlenem Entsetzen an.
Hakuei grinste nicht. Kein hämisches Lächeln.
"Nun?", sagte er schlicht.
Einige Sekunden verstrichen bis Toshiya endlich die Bedeutung von Hakueis Worten
erfasst hatte. Er dachte kurz an Kaoru. An ihn und seine Freundin. Wieder dieser
Stich in seinem Herzen. Plötzlich kam ihm alles vor wie ein Traum. Ein mattes
Lächeln legte sich auf seine vollen Lippen, was ihn noch müder aussehen ließ
als zuvor. Er klang ruhig als er antwortete.
"... warum nicht."
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Gomen, Leute, bei diesem Kapitel haben mir so richtig die Worte gefehlt...
konnte mich absolut nicht mehr ausrücken ^.^" Hoffe das wird wieder besser...
Schreibt mir euere Meinung zu Toshiyas Antwort ^.~
Kapitel 6: 6
------------
Walking proud
Autor: Clea
Pairings: Tjaaaa sieht wohl ganz nach ToshiyaxHakuei aus...
Kommentar: Sorry, Leute, dass die nächsten Kapitel ein wenig ernster werden.
Kann ja nicht nur bergauf gehen in Totchis Leben, ne ^.^ Aber keine Sorge, das
bleibt nicht so... der Kleine braucht einfach nur ein wenig Zeit.
Danke für euere vielen Kommis, hat mich echt wahnsinnig gefreut *euch alle
abknutsch*! Schön, dass ihr euch Gedanken macht und ach ja, Yume: *knuff*
Herzlichen Glückwunsch, die Antwort war tatsächlich !! Leider
zerfällt Sakitos Kochbuch zu Staub, sobald es auch nur den geringsten Strahl
Sonne abbekommt *im strahlenden Sonnenschein überreich* ... Schutzmaßnahme,
ich hoffe du verstehst... es wäre verantwortungslos diese Rezepte an lebende,
fühlende Bioformen weiterzugeben, sorry... *Kuss geb* net böse sein, ne?
Dieses Kapitel hat mich echt irre gemacht, es gab irgendwie nie den richtigen
Zeitpunkt um aufzuhören ^.^° ...
Ähm, an dem Gedicht da *nach gaaaaanz unten deut* wär ich übrigens beinahe
draufgegangen, soviel Kreativität liegt mir ganz und gar nicht... bitte wisst
das zu schätzen *räusper*...
Teil 6
::Was habe ich mir nur dabei gedacht?? Was?!::
Toshiya schlug sich im Dunkel seines Zimmer fest mit der Faust gegen den Kopf.
Das durfte einfach nicht wahr sein. Er war mit Hakuei zusammen. Ein Paar! Mit
Hakuei! H-A-K-U-E-I!! Egal wie oft er sich das vorsagte, es wollte nicht in
seinen Kopf. Eigentlich hatte er vorgehabt früh ins Bett zu gehen und so
richtig auszuschlafen. Aber das konnte er jetzt wohl vergessen. Es war bereits
nach Mitternacht, doch der Blauhaarige fand weder Schlaf noch überhaupt Ruhe.
Innerlich völlig aufgewühlt richtete er sich schließlich im Bett auf und
knipste seine Nachttischlampe an. Jeder, der schon einmal ein oder zwei Nächte
durchgemacht hat kennt dieses Gefühl: Toshiya war todmüde, so müde, dass er
unmöglich schlafen konnte - die Erschöpfung war einem permanenten
Aufgedrehtsein gewichen. Seit Stunden ging er immer wieder das Gespräch mit
Hakuei in seinem Kopf durch, verzweifelt auf der Suche nach einer logischen
Erklärung.
Rückschau
"Sei mit mir zusammen. Geh mit mir... ", hauchte Hakuei in Toshiyas Ohr. Dann
setzte er seine Lippen an den eiskalten Nacken des Anderen und küsste ihn
sanft. Sekunden später ließ er Toshiya wieder los. Dieser stolperte sofort ein
paar Schritte zurück, krallte sich am Treppengeländer fest um nicht zu
stürzen und starrte seinen Mitschüler mit unverhohlenem Entsetzen an.
Hakuei grinste nicht. Kein hämisches Lächeln.
"Nun?", sagte er schlicht.
Einige Sekunden verstrichen bis Toshiya endlich die Bedeutung von Hakueis Worten
erfasst hatte. Er dachte kurz an Kaoru. An ihn und seine Freundin. Wieder dieser
Stich in seinem Herzen. Plötzlich kam ihm alles vor wie ein Traum. Ein mattes
Lächeln legte sich auf seine vollen Lippen, was ihn noch müder aussehen ließ
als zuvor. Er klang ruhig als er antwortete.
"... warum nicht."
Es war völlig still im Haus. Totenstill und stockdunkel als Hakueis lautes,
schallendes Lachen plötzlich durch den Flur hallte und Toshiya einen gewaltigen
Schrecken verstetzte. Sein bösartig hämisches Grinsen wieder gewonne, schloss
er mit zwei großen Schritten zu dem Anderen auf. Ohne ihn mit den Händen zu
berühren, legte er seine Lippen auf die des Blauhaarigen und fuhr sie schnell
mit der Zunge nach. Dann trat er einen Schritt zurück und flüsterte: "Na
dann... ich wusste du kannst nicht nein sagen." Er lachte leise.
"Was ist mit meinem Bruder?", krächzte Toshiya.
"Uruha? Ich mach' Schluss mit ihm. Dazu bin ich hergekommen. Ich wollte sowieso
nie etwas von ihm, das war nur um an dich ranzukommen." Er lachte wieder laut
auf. "Ob du es glaubst oder nicht. Gute Nacht... mein Engel..."
Mit diesen Worten warf er Toshiya im Dunkeln noch eine Kusshand zu, seine Augen
blitzten im matten Licht, das aus dem zweiten Stock hinunterschien, dann
verschwand er lautlos wie ein Geist in Richtung Wohnzimmer.
Toshiya blieb alleine wie betäubt neben der Treppe stehen, die Hand so fest um
das Geländer gekrallt, dass sich feine bläuliche Äderchen auf seinem
Handrücken abzeichneten. Langsam drehte sich der junge Japaner um und schlurfte
die Treppe hinauf in sein Zimmer.
Immerhin, einen postitiven Aspekt hatte das Ganze: Vielleicht war das der
einzige und beste Weg um Hakueis Sticheleien ein für alle mal ein Ende zu
setzen. Doch diesen erfreulichen Nebeneffekt hatte Toshiya in dem Augenblick
eigentlich nicht im Kopf gehabt. Warum also hatte er so leichtfertig
eingewilligt? Ihm wurde schlecht wenn er daran dachte, für welches Aufsehen das
in der Schule sorgen würde, sollte jemand Wind davon bekommen. Hakuei war ein
Mann. (ok, überflüssig das zu erwähnen, aber ich sag es lieber nochmal, ne
^.^°)
::Ich will nicht, dass irgendjemand denkt ich sei schwul! Schließlich bin ich's
nicht! Kein Mädchen wird mich mehr ansehen. Er hat mich geküsst... ::
Schwulsein, das kam Toshiyas Meinung zufolge Äussätzigsein gleich. Nicht weil
er selbst es verurteilte - sondern weil es allgemein einen perversen,
widernatürlichen Beigeschmack hatte. Damit ließe sich an und für sich schon
leben - aber ausgerechnet Hakuei?
Wie sollte er nur Kaoru gegenübertreten? Auch Sakito würde seine halbherzige
Entscheidung sicher nur missbilligen. Warum also hatte er eingewilligt?
Noch einmal versuchte Toshiya sich dieses Gefühl in Erinnerung zu rufen. Dieses
kurze, flüchtige Gefühl, das er empfunden hatte, als er in Hakueis Armen
gelegen war. Er hatte ihn fest gehalten. Toshiya konnte sich noch deutlich an
die Wärme und den Geruch des Anderen erinnern. Und an seinen Herzschlag. Ohne
es zu wollen hatte er dieses wertvolle Gefühl der Geborgenheit unwahrscheinlich
genossen. Toshiyas Verlangen nach Zuneigung war wie immer stärker gewesen als
sein Verstand. Kaoru würde das sicher nicht verstehen, er hatte genug Freunde
und dazu noch ein Mädchen, das ihn liebte.
Wenn er alles so rational betrachtete, fühlte sich der Blauhaarige noch elender
als zuvor. Wie schäbig von ihm, Hakuei zu benutzen, nur weil er sich gerade
einsam fühlte. Toshiyas Gedanken machten einen Sprung und wieder blieb er an
der Frage hängen, ob er Hakuei wirklich etwas bedeutete. Unmöglich.
::Er spielt mit mir::, dachte der Blauhaarige plötzlich und kam sich mit einem
Mal unglaublich bescheuert vor. ::Das ist einfach nur die geniale Erweiterung
seines gemeinen Spielchens, das er mit mir treibt... sicher steckt Uruha auch
dahinter... wie blöd kann man eigentlich sein?!::
Und naiv wie er war, hatte er natürlich keine Sekunde lang daran gedacht, dass
dieser Kerl so weit gehen würde, nur um ihn zu verletzen. Würde Hakuei das
durchhalten? Weiterhin mit ihm spielen? Ihn wieder küssen? Toshiya
erschauderte. Wo er noch nicht einmal eine Freundin gehabt hatte, was schon
peinlich genug war.
Mit einer Handbewegung warf er die Decke zurück, sprang aus seinem Bett und
begann unruhig in seinem Zimmer auf und ab zu gehen, alle möglichen Gedanken in
seinem Kopf herumwälzend.
Als erste Sonnenstrahlen durch den Rollanden vor seinem Fenster fielen,
schreckte der junge Japaner aus seinem Halbschlaf auf. Vor gut zwanzig Minuten
hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt, zu erschöpft um weiterhin über
irgendetwas nachzudenken, und war schließlich doch eingenickt. Das hatte zu
Folge dass er sich nun ziemlich krank fühlte. Kaputt bis zum Gehtnichtmehr.
Alles tat ihm weh, hinzugekommen waren noch eine permanente Übelkeit und
hämmernde Kopfschmerzen. Toshiya erhob sich, schwankte kurz, schnappte sich
dann ein paar Kleidungsstücke aus seinem Schrank und begab sich ins Badezimmer.
Natürlich könnte er auch einfach einen Tag lang Zuhause bleiben, aber nachdem
er die gesamte Nacht lang über Hakuei nachgedacht hatte wollte er die Wahrheit
wissen. Er musste ihn in der Schule zur Rede stellen, sonst würde er noch
wahnsinnig werden. Außerdem wollte er Kaoru sehen.
Eine halbe Stunde später betrat der Blauhaarige also leicht wankend die Küche.
Wie er vermutet hatte, waren sein jüngerer Bruder und dessen Koi bereits auf
den Beinen. Die beiden knieten am Boden in der Mitte des Raumes und beugten sich
über etwas, das aussah wie eine Wasserpumpe (und hätte Toshiya in seinem
kurzen, unschuldigen Leben je etwas von portablen Atomkernen gehört, wäre er
sicher nicht so ruhig zu seinem Bruder geschlurft und er hätte mit
tausendprozentiger Sicherheit nicht die Tasse Kaffe angenommen, die aussah, als
wäre sie über dem großen Gerät erwärmt worden).
"'hayou", murmelte Toshiya schlaftrunken (und das, obwohl er so gut wie keinen
Schlaf gehabt hatte) und nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse.
"Morgen, Totchi", echoten Sakito und Ryutaro.
"Oh. Wusste gar nicht, dass wir regenbogenfarbene Tassen haben. Hübsch",
nuschelte der Blauhaarige weiter und ließ sich auf den Boden fallen, was in dem
leeren Raum ein lautes Hallen erzeugte.
"Und was's das?" Er deutete auf die das große, bauchige Etwas, das mitten in
der Küche stand und leicht pulsierte.
"Oh, äh das, ach du hast es bemerkt", sagte Sakito und grinste nervös.
"Das ist äh - nach was sieht es denn aus?"
"Nach 'ner Wasserpumpe", murmelte Toshiya und pustete abwesend Blasen in seinen
Kaffe.
"Du sagst es!", rief Sakito etwas zu abrupt. "Ne Wasserpumpe. Hähä. Irgendwo
müssen wir ja unser Wasser herbekommen, jetzt wo wir mal keinen Wasserhahn
haben."
Toshiya dämmerte, dass es sich bei dem Gerät um einen neuen Bestandteil von
Sakis super-special Küche handelte (weiß der Teufel woher er es über Nacht
aufgetrieben hatte) und dass sein süßer kleiner Bruder lügen konnte ohne rot
zu werden. Dummerweise war er viel zu erschöpft um weitere Nachforschungen
anzustellen.
"Siehst echt übel aus, Totchi...", bemerkte Sakito auf einmal und warf dem
Blauhaarigen einen besorgten Blick zu.
"Ich dachte du wärst wenigstens einmal so vernünftig und würdest bei Zeit ins
Bett gehen. Tssss, typisch..."
Vorwurfsvoller Blick.
Toshiya antwortete nicht.
::Wenn du wüsstest... ::
Sein Gesicht verfinsterte sich wieder bei dem Gedanken an den gestrigen Abend.
Einen Augenblick lang sprach niemand. Toshiya kauerte am Boden. Ihm war mit
einem Mal eiskalt. Beide Hände gegen die heiße Kaffeetasse gepresst, malte er
sich Kaorus Reaktionen aus, wenn er herausfand was vor sich ging. Ob es bereits
zu spät war, um das Ganze rückgängig zu machen? Gedankenversunken ließ der
junge Japaner seinen Blick durch den leeren Raum schweifen, was zur Folge hatte,
dass er erneut an dem wasserpumpenförmigen Dingsda hängeblieb.
"Saki? Was bedeuten die Zeichen da?" Mit einer müden Geste deutete der
Blauhaarige auf zwei Aufkleber, die unten rechts an dem bauchigen Gerät
hafteten.
"Oh, das. Äh... zerbrechlich?", antwortete Sakito und stellte die Kaffekanne
vor die Zeichen für "hochexplosiv" und "radioaktiv" an der Unterseite der
Wasserpumpe (die einen ziemlich soliden Eindruck machte, zumal sie völlig aus
Stahl zu bestehen schien). Ryutaro betrachtete seinen Freund nur wortlos mit
einem sanften Lächeln auf den Lippen. Toshiya wollte gerade etwas erwidern, als
er hörte wie sich Schritte die Treppe hinabbewegten. Schnell knallte er seine
Tasse auf den Boden, sprang auf und stürmte in den Flur hinaus (und diese
unüberlegte Anstrengung kostete ihn den letzten Rest seiner kostbaren Energie).
"Uruha! Warte, ich muss dich sprechen!"
Sein älterer Bruder blieb wie angewurzelt stehen. Er sah ebenfalls sehr müde
aus und war reichlich blass, aber natürlich perfekt gestylt wie immer. An
seinem rechten Arm baumelte eine Tasche, unter dem linken klemmte seine Jacke.
Langsam wandte er Toshiya sein Gesicht zu. Der Jüngere hatte sich die gesamte
Nacht lang auf alle möglichen Reaktionen seines Bruders vorbereitet, angefangen
von Verwirrung, bis hin zu einem hysterischen Lachanfall. Doch im Gesicht des
Blonden stand nur ein Ausdruck des - nun ja, Hass trifft es wohl am besten.
Irritiert ertarrte Toshiya in seiner Bewegung.
"Wie kannst du nur...", flüsterte Uruha. Es klang so fassungslos, dass Toshiya
sich für einen Augenblick fragte, wer nun mit wem spielte. Er war sich
todsicher gewesen, dass Uruha und Hakuei gemeinsam diese Fiesheit ausgeheckt
hatten.
"Wie kannst du nur... wie kannst du mich nur so demütigen?" Der Blonde funkelte
Toshiya mit einem Blick der abgrundtiefen Abscheu an. Seine Hand, die die Tasche
umklammert hielt, zitterte.
"W-was meinst du?", stotterte der Blauhaarige verwirrt. Sein Bruder ließ
plötzlich die Tasche fallen, machte einen großen Schritt auf ihn zu und schlug
ihm ohne Vorwarnung so hart ins Gesicht, dass Toshiya drei Schritte
zurückstolperte und gegen die Flurwand knallte.
"Wie kannst du mir nur so etwas antun, du... du widerliches Stück Dreck!",
spuckte Uruha aus. "Ich verachte dich!" Damit packte er seine Tasche, öffnete
die Tür und schritt erhobenen Hauptes aus dem Haus.
"Hat er geweint?", ertönte auf einmal eine Stimmer hinter Toshiya.
"Ich glaube, ja...", antwortete eine andere. Ryutaro und Sakito waren im Flur
erschienen, beiden stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
Ryutaro kniete sich schließlich zu Toshiya auf den Boden und zog vorsichtig
seine Hand aus dem Gesicht. Sprachlos kramte er kurz in seiner Tasche, holte ein
Tempo hervor und reichte es dem Blauhaarigen. Dieser antwortete nicht. Wie unter
Schock starrte er auf den Punkt an dem Uruha gestanden hatte.
"Wie kannst du mir nur so etwas antun, du... du widerliches Stück Dreck!... Ich
verachte dich!"
Langsam ließ er seinen Kopf nach hinten gegen die Wand sinken und schloss die
Augen.
"Irgendetwas Schreckliches muss geschehen sein", flüsterte Ryutaro, nahm
Sakitos Hand und drückte sie. "Oh Gott..." Er verbarg sein Gesicht an der
Schulter seines Koi und begann leise zu schluchzen. "Hast du Uruhas
Gesichtausdruck gesehen? Wieso tut er so etwas?"
"Ich weiß nicht", antwortete der Andere und schloss seinen Freund fest in die
Arme. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was Uruha so verletzt
haben könnte, dass er auf Toshiya losging und ihm solche Gewalt antat.
Ausgerechnet Toshiya, der normalerweise keiner Fliege etwas zu leiden tun
konnte. Unmöglich, dass die Eifersucht seines ältesten Bruders inzwischen ein
derartiges Ausmaß angenommen hatte. Was also dann? Der Blauhaarige war ohne ein
Wort der Erklärung ins Bad verschwunden. So sehr die beiden Jungen auch
versucht hatten etwas aus ihm herauszubringen, er hatte sie nur darum gebeten
ihrer Mutter nichts zu erzählen und war gegangen. Glücklicherweise hatte Uruha
ihn nicht richtig im Gesicht erwischt, nur an der Wange, also keine aufgeplatzte
Lippe oder derartiges.
"Ich hab keine Ahnung was los ist, aber eines weiß ich: Irgendjemand tickt hier
nicht mehr ganz richtig. Prügeleien in meinem Haus, ich glaub ich spinne! Da
hätte wer weiß was passieren können. Ne echt, Uruha ist zu weit gegangen. Ich
weiß noch nicht was abgeht, aber ich werde es herausfinden...", murmelte Sakito
wütend und biss die Zähne aufeinander. Wieso war er der einzige Mensch in
diesem Haus, der normal war?
Als Toshiya auf den Schulhof trat, konnte er Shinya bereits von weitem sehen. Er
drängte sich also durch die Schülermassen, in der Hoffnung mit dem Blonden
noch einige Worte wechseln zu können. Auf seinem Weg folgten ihm wie auch die
Tage zuvor dutzende musternder Blicke.
::Daran gewöhne ich mich nie::, dachte der Blauhaarige mit einem leichten
Schaudern. Was für ein Gefühl zu spüren, dass viele dieser Schüler ihn
beobachteten und vielleicht über ihn sprachen. An diesem Morgen kein besonders
angenehmer Gedanke, zumal die Ohrfeige, die sein Bruder ihm verpasst hatte,
langsam aber sicher auf seiner Wange sichtbar wurde. Natürlich war es nur halb
so schlimm, Uruha hätte ihn ganz anders schlagen können, dessen war Toshiya
sich sicher. Aber im Gesicht tat so etwas immer verdammt weh.
"Hey, Shin!"
"Oh, hey Totchi, Morgen!", sagte Shinya und lächelte seinen Freund an.
"Wie geht es Die?", war Toshiyas erste Frage, als er bemerkte wie traurig und
aufgesetzt Shinyas Lächeln aussah. Tatsächlich verblasste es auf diese
Bemerkung hin sofort.
"Nya... wie schon... sieh selbst." Er deutete mit einem Kopfnicken auf die
Person neben ihm, die sich derartig still verhalten hatte, dass sie Toshiya
beinahe nicht aufgefallen wäre. Die kauerte mit hängenden Schultern neben
seinem Freund, tiefe Augenringe, fahle Haut.
"Oje...", entfuhr es Toshiya sofort. "Und sein Zustand hat sich wirklich nicht
verbessert? Überhaupt nicht?"
Shinya schüttelte traurig den Kopf.
"Ich weiß nicht mehr ein, noch aus", erwiderte er leise.
"Die, wie geht es dir? Tut dir etwas weh?", richtete sich der Blauhaarige nun an
seinen Freund. Der starrte ihn nur mit starrem, trüben Blick an und antwortete:
"Du irritierst mich. Geh weg. Du bist so deprimierend. Die Welt ist so
deprimierend. Ich hasse alles." Damit drehte er sich um, wandte den beiden den
Rücken zu und starrte stur in eine andere Richtung.
Toshiya schüttelte fassungslos den Kopf. Irgendetwas musste doch zu machen
sein, so konnte es auf jeden Fall nicht weitergehen.
"Oh Gott, Totchi, was hast du denn da gemacht?", rief Shinya plötzlich aus und
legte vorsichtig die Finger seiner rechten Hand an Toshiyas schmerzende Wange.
Dieser lächelte nur schief.
"Uruha hat mir eine Ohrfeige gegeben." Wieso lügen?
"Wieso das denn?", fragte Shinya und starrte den Blauhaarigen an.(Nur kurz
unterbrochen von Die, der, immer noch mit dem Rücken zu ihnen, plötzlich mit
leiser, depressiver Stimme sagte: "Diese Gewalt deprimiert mich. Das ist alles
so schlecht und böse. Deprimierend. Ich hasse Menschen.")
"Weil ich mit Hakuei zusammen bin, denke ich. Es war sein Freund gewesen und
jetzt glaubt er, ich hätte ihm Hakuei ausgespannt. Denke ich." Er zuckte die
Achseln.
"Was? Hakuei?! Das... das ist jetzt nicht dein Ernst, ne Totchi?"
"Doch, mein voller Ernst. Gestern Abend stand er auf einmal bei uns im Flur und
hat mich überrumpelt." Toshiya lachte kurz und freudlos auf. "Gesagt er wäre
nur mit Uruha zusammen gewesen um an mich ranzukommen. Und ich bin ihm auf den
Leim gegangen, hab ihm jedes Wort geglaubt. Ich bin so ein Idiot. Dabei empfinde
ich noch nicht mal etwas für ihn. Keine Ahnung was ich mir dabei gedacht habe."
Jetzt wo er es ausgesprochen hatte, fühlte er sich besser. Shinya starrte ihn
weiterhin ungläubig an. Dann nahm er ihn in die Arme, drückte ihn kurz und
flüsterte: "Unsinn! Darauf wäre jeder reingefallen, glaub mir. Das ist die
mieseste Masche. Gerade jemand wie du..."
"Ihr irritiert mich. Beide. Geht weg", sagte Die mit leiser, depressiver
Stimme.
"Ach, mach dir keine Gedanken, Shin." Toshiya befreite sich aus der Umarmung
seines Freundes und lächelte, diesmal ein richtiges, ernst gemeintes Lächeln.
"Du hast genug eigene Probleme. Kümmer dich um Die. Aber das muss ich dir nicht
sagen. Mach's gut, will noch mit Hakuei sprechen, ich muss wissen, ob er mich
nur auf den Arm nehmen wollte, oder... nya, bai!" Er nickte mit dem Kopf und
drehte sich um.
"Du hast genug eigene Probleme. Kümmer dich um Die ", äffte Die den
Blauhaarigen mit leiser, hämischer Sing-Sang Stimme nach. "So. Das bin ich
also. Ein Problem. Ich fühle mich nicht geliebt. Geh weg. Ich hasse dich."
Plötzlich fiel Toshiya etwas ein und er drehte sich noch einmal zu Shinya und
dem Rotschopf um.
"Sag Die doch einfach, dass du ihn liebst. Vielleicht hilft es."
Bei Shinyas entgeisterten Gesichtsausdruck brachte der Blauhaarige zum ersten
mal seit langem wieder ein richtiges Grinsen auf die Lippen.
"Du hast schon verstanden!", fügte er hinzu, verbeugte sich kurz und verschwand
in den Schülerscharen.
"W-wie? Was meint er? Ich verstehe nicht... ", flüsterte Shinya verwirrt.
Planlos stolperte der Blauhaarige durch die Massen von Jungen und Mädchen auf
der Suche nach Hakuei. Schließlich blieb er irgendwo stehen und sah sich um.
::Welche Ironie::, dachte er plötzlich bitter. ::Ich suche ihn auch noch. Bin
ich krank?::
"Ja", bestätigte Miyavi. "Wen suchst du?"
"Äh, nicht wichtig", stotterte Toshiya verwirrt. Er warf dem Gärtner der
Schule (der einen riesigen Geranientopf im Arm hatte) einen kurzen, scheelen
Blick zu, drehte sich um und nahm seine Suche wieder auf. Noch zehn Minuten bis
zu Stundenbeginn. Er betrat das Schulhaus und bog in einen leererern Korridor im
Erdgeschoss, wo sich Hakuei und seine Clique manchmal aufhielten (hier stand der
Kaffeautomat der Schule).
"Wo ist er nur?", murmelte der Blauhaarige vor sich hin.
"Da entlang", sagte ein Irrer im Vorbeigehen.
"Danke", erwiderte Toshiya und schlug die betreffende Richtung ein.
"Suchst du jemanden? Hoffentlich nicht Kaoru?"
Toshiya wirbelte herum (in Zeitlupe, er war ja immer noch verdammt müde).
Vor ihm stand Hakuei. Nachtschwarze, lange Haare, blasse Haut, blaue
Kontaktlinsen, schwarze Lederhose, hämisches Grinsen. Hakuei eben.
"W-wie?"
Der Schwarzhaarige seufzte auf und schlenderte in Richtung Toshiya.
"Ich weiß doch genau wie du auf ihn stehst!"
"N-nani?", stotterte Toshiya und starrte Hakuei entgeistert an.
"Tickst du noch richtig?!", brachte er schließlich wütend heraus.
"Er ist mein Freund, das ist alles. Nur weil du schwul bist, heißt das noch
lange nicht, dass ich es auch bin!"
Eine kurze Stille folgte, in der der Schwarzhaarige Toshiya genau musterte. Sein
Grinsen wurde von Mal zu Mal breiter. Langsam dämmerte Toshiya, dass er im
Moment mit einem Mann zusammen war und er sich damit gerade selbst widersprochen
hatte.
"Und ich will nichts von dir, damit du's nur weißt. Ich habe dein dämliches
Spielchen längst durchschaut", setzte er, die Augen wütend zu Schlitzen
verengt, etwas leiser hinzu.
Hakuei sah ihn an. Wenn er das Grinsen nur lassen würde. Dieser Blick
verunsicherte Toshiya. So - durchdringend. Kyo hatte auch einen durchdringenden
Blick, doch man bekam den Eindruck er erforsche damit eher Gedanken und
Gefühle. Hakuei dagegen zog ihn mit seinen Blicken aus. Auf einmal war sich der
Blauhaarige gar nicht mehr so sicher, dass Hakuei ihn nur hatte demütigen
wollen.
"Aha. Und du denkst ich habe das nur getan, um dich zu verarschen", stellte er
fest und lachte leise. Toshiya starrte ihn erstaunt an. Mit einer direkten
Antwort hatte er nicht gerechnet.
"Und jetzt suchst du mich, um herauszufinden, was ich ? Dass dein Bruder
nicht dahinter steckt, dürftest du schon bemerkt haben."
Er hob lässig die rechte Hand und deutete auf Toshiyas Wange.
"Woher-", setzte dieser an, doch der Schwarzhaarige unterbrach ihn.
"Ich hab' ihm alles erzählt." Er lachte kurz auf. "Der Arme war zu geschockt um
mir zu widersprechen. Er macht zwar ständig mit Daishi rum, aber in Wahrheit
hängt er mehr an mir als ihm lieb ist."
"Was willst du damit sagen? Ich - ich verstehe nicht."
Hakuei lachte leise. Ohne auf den Anderen einzugehen, sprach er weiter.
"Du sagst, du bist nicht schwul? Da irrst du dich... Jetzt bist du mein fester
Freund. Und du kannst nicht Schluss machen, das erlaube ich nicht. Tust du es,
dann sorge ich dafür, dass dein Leben die Hölle wird."
"Mein Leben ist dank dir bereits die Hölle", krächzte Toshiya und dachte an
seine pochende Wange, die lange, schlaflose Nacht am Rande der Verzweiflung und
den Morgen im Schwimmbecken des Wahnsinns (was allerdings eher Sakitos
Probieren-wir-doch-mal-aus-wieviele-Wachteln-in-den-Teig-gehen-bevor-meiner-Familie-die-Augen-ausgehackt-werden-Frühstückspfannkuchen
(verbunden mit wilder Wachteljagd und ein paar Luftgewehren) zuzuschreiben war).
Der Schwarzhaarige zuckte nur die Achseln.
"Du hast zugesagt. Steh dazu."
Langsam füllte sich der Flur mit Schülern. Toshiya musste immer wieder
ausweichen um nicht überrannt zu werden. Türen öffneten und schlossen sich.
"Glaub ja nicht, dass ich feige bin!", sagte er plötzlich aufgebracht. Er hatte
noch immer nicht herausgefunden, was Hakuei wollte. Im Gegenteil, Toshiya war
nun noch verwirrter, als zuvor. Aber eines wusste er: Er wollte sich nicht
unterkriegen lassen. Nie mehr. Die Tatsache, dass er die gesamte Nacht wach
gelegen war, von irgendwelchen Gedanken gebeutelt, herumgeschubst von seinen
eigenen Gefühlen, überging er. Eigentlich tanzte er sogar im Augenblick noch
genau nach Hakueis Pfeife, doch das wollte sich der Blauhaarige nicht
eingestehen. Er sprang einen Schritt zur Seite, als ein kleines Mädchen mit
wippendem, braunen Zopf an ihm vorbeihüpfte und nur knapp seine linke Schulter
verfehlte. Natürlich war er zu beschäftigt um auf irgendwelche Passanten zu
achten, aber hätte er Takumi erkannt, hätte er vielleicht bemerkt, dass er
neben dessen Klassenzimmer stand, was ihm wiederrum - aus seiner Sicht
betrachtet - eine große Peinlichkeit erspart hätte.
"Und glaub nicht, dass du mich vor der ganzen Schule lächerlich machen
könntest...", fuhr Toshiya leise fort und biss sich noch im selben Moment auf
die Zunge. Wieso brachte er den Anderen auch noch auf dumme Gedanken? Hakuei
lachte wieder, doch der Laut ging im Geplapper der Schülerscharen auf dem Gang
unter. Einen kurzen Augenblick standen sie sich schweigend gegenüber. Dann
läutete es.
"Oh nein!", murmelte Toshiya entsetzt. Ausgerechnet. Er würde zu spät zu
Englisch kommen. Und der Blauhaarige hasste es, mehr Aufmerksamkeit als nötig
auf sich zu ziehen was seinen Englischlehrer betraf. Seit der Sache mit Ryutaro
traute er dem Kerl nicht mehr über den Weg. Er wollte sich gerade umdrehen und
in Richung Klassenzimmer davonstürmen (jetzt hatte er auch freie Bahn, der Gang
war dank Stundenbeginn urplötzlich wie leergefegt), als ihn jemand am Arm
packte und ihn eine Art déjà-vu beinahe erschlug. Der Blauhaarige wirbelte
herum und starrte direkt in Hakueis Augen. Einen Herzschlag lang sahen sie sich
an, regungslos. Dann schlang der Schwarzhaarige schnell seine Arme um Toshiya,
zog ihn in eine schraubstockhafte Umarmung und drückte seinen Mund fest auf den
des Anderen. Dieser versuchte seine Lippen zusammenzupressen und sich irgendwie
aus der Umarmung zu winden, doch vergeblich. Hakuei drang mit seiner Zunge
gewaltvoll in Toshiyas Mund ein und küsste ihn ausgiebig. Als er ihn
schließlich wieder freigab, fühlte der sich Blauhaarige noch benommener als am
Vorabend. Schnell stützte er sich an der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu
verlieren, alles drehte sich. Hakuei ging gelassen an ihm vorbei, den Gang
entlang und die Treppen hoch in Richtung Klassenzimmer. Absolut sprachlos hob
Toshiya den Kopf und versuchte seine Gefühle zu ordnen. Völlig umsonst, denn
das erste was er sah, als er geradeaus blickte, war ein zierlicher, blonder
Junge mit dunklem make-up und hübschen Katzenaugen. Toshiya keuchte entsetzt.
Direkt vor ihm im Gang stand Kyo, die Schultasche lässig über der linken
Schulter, in seiner Bewegung erstarrt. Er wirkte wie ein Raubtier auf Lauer. Kyo
musterte ihn von oben bis unten, setzte sich schließlich in Bewegung, passierte
den schreckensstarren Japaner und verschwand ohne ein Wort in seinem
Klassenzimmer. Minutenlang starrte der Blauhaarige auf die Tür, in der Kyo
verschwunden war. Dann erwachte er langsam aus seiner Erstarrung und begann sich
den Gang entlang zu schleppen.
::Geküsst!!! Einfach so!!!! Wie - wie kanner nur?? Er hat mich geküsst!!! So
richtig!! Schon wieder... Und Kyo hat es gesehen!!! Oh Gott...:: Toshiyas
betrachtete sein Gesicht im Toilettenspiegel - es glühte vor Scham. Der
zierliche Japaner hatte kurzerhand beschlossen, dass es Unsinn wäre, jetzt noch
zur ersten Stunde zu gehen. Außerdem war das letzte, was er wollte,
aufgebracht, hochrot und zitternd vor Kaoru zu erscheinen.
Toshiya drehte den Wasserhahn auf und ließ zum sechsten mal eiskaltes Wasser
über seine fahrigen Hände laufen. Dann trocknete er sie ab, zog sein
Schminktäschchen aus dem Rucksack und begann sich sorgfältig nachzuschminken.
Seine Wange hatte sich einigermaßen beruhigt, sie war zwar noch immer gerötet,
doch der Schmerz klang langsam ab.
Sein Bruder hatte also wirklich nichts damit zu tun. Und Hakuei... Hakuei wirkte
nicht so, als hätte er vor sich über Toshiya lustig zu machen.
::Wieso tut er das? Ist er in mich verliebt?::, überlegte der Blauhaarige
verwirrt. Nichts war abwegiger als dieser Gedanke. Warum sollte sich
ausgerechnet sein Erzfeind, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, ihn zu
demütigen, ihn Toshiya verlieben?
"Du sagst, du bist nicht schwul? Da irrst du dich."
::Nein, bin ich nicht, nein, tue ich nicht!!::, widersprach der Blauhaarige in
Gedanken.
::Und ich werde es auch nicht. Dazu kannst du mich nicht bringen, egal was du
tust. Dazu nicht!::
Toshiya verstaute seine Schminkutensilien wieder in der Tasche und betrachtete
sich im Spiegel. Tatsächlich wurde er mit der Übung besser. Es läutete zur
zweiten Stunde. Er ging schnellen Schrittes los, seine Wangen flammten bei dem
Gedanken an Hakueis Küsse wieder feuerrot auf. Und was dachte Kyo? Als Toshiya
eine halbe Minute später vor der Tür zu seinem Klassenzimmer stand, überlegte
er, dass sein Bruder ihn jetzt wirklich hasste. Und als er schließlich
vorsichtig die Tür öffnete, wurde ihm klar, dass er sich nichts sehnlicher
wünschte, als eine Umarmung und tröstende Worte von Kaoru. Doch in den Raum
tretend sah er auf den ersten Blick Hakuei, der zwei Plätze neben dem
Violetthaarigen saß und Toshiya mit wissendem Blick und schmutzigem Grinsen
empfing. Hochrot taumelte der Blauhaarige auf seinen Tisch zu, Hakuei stur
ignorierend. Kaoru sprang sofort auf und lief ihm entgegen.
"Wo warst du denn, hast du verschlafen?"
::Schlafen? Was ist das?::, dachte Toshiya bitter, antwortete aber nicht.
"Du siehst schrecklich aus! Was ist los, Totchi? Du bist leichenblass, bist du
dir sicher, dass du nicht nach Hause gehen möchtest?" Besorgt ließ Kaoru
seinen Blick über Toshiyas fahle Haut und seine tiefen Augenringe gleiten.
Alles andere hatte der Blauhaarige gekonnt überschminkt.
"Nun sag schon!"
Toshiya sah Kaoru nur an. Ihm war auf einmal furchtbar übel und schwindelig, so
dass er sich wortlos in seinen Stuhl sinken ließ. Irgendetwas schnürte ihm die
Kehle zu und hinderte ihn so daran, Kaoru einen Tipp zu geben. Wenn er jetzt
gestand wie elend er sich fühlte, würde er mit Sicherheit in Tränen
ausbrechen, also entgegnete er nur leise: "Schon gut, Kao. Bin nur sehr müde."
Auch wenn das nicht direkt Kaorus Frage beantwortete, ließ dieser es vorerst
darauf beruhen. Genau in dem Augenblick, da der Violetthaarige Platz nahm,
betrat ihre Mathelehrerin den Raum und begann noch zwischen Tür und Angel
irgendetwas von Sinus-und Kosinusfunktionen zu labern. Die Stunde an sich
verlief mehr oder weniger ereignislos. Kaoru warf seinem Freund hin und wieder
einen prüfenden Blick zu, wobei ihm nicht entging, dass Hakuei genau dasselbe
tat, auch wenn dem Klassensprecher der Grund dafür absolut schleierhaft war.
::Es hat sich... irgendwie... gut angefühlt... so warm... die Umarmung... ::,
dachte Toshiya einmal und ließ entsetzt über sich selbst langsam den Kopf in
die Hände sinken. Kein kluger Schachzug. Natürlich wurde er augenblicklich an
die Tafel diktiert, damit er, wie seine Lehrerin anmerkte, nicht im Unterricht
einschlafe.
Den gesamten Vormittag über konnte Toshiya Hakueis Worte nicht aus seinem Kopf
und dessen Geschmack nicht aus seinem Mund verbannen. Nicht besonders hilfreich,
dass besagter Schüler zu allem Übel auch noch direkt neben ihm saß.
::Wie krank ist das eigentlich??::, dachte Toshyia plötzlich während er
verzweifelt versuchte die trigonometrische Funktion y=
sin²2π√(25a³b³-⅞cosδ)²̀ x lim2π in sein Heft zu übertragen und
auszurechnen.
::Ich bin mit Hakuei zusammen! Wie bescheuert bin ich denn? Ich will nicht, dass
er mich anfasst... Das ist so - abwegig ... ich wäre nie im Traum auf die Idee
gekommen, dass so etwas passieren könnte! das ist... alles so irre... das kann
doch nicht wahr sein...::
Glücklicherweise läutete es in dem Moment, da Toshiya erwog, dem
Schulpsychologen einen Besuch abzustatten.
"Die Mathestunde die nie vergeht", murmelte Toshiya ermattet vor sich hin und
trollte sich so schnell er konnte aus dem Klassenzimmer, bevor Hakuei noch auf
die Idde kam, ihm zu folgen.
(Tatsächlich stammte Toshiyas Mathelehrerin in direkter Linie von einem frommen
Uhrmacher nahmes Chronos ab, über den man munkelte, er habe die Fähigkeit die
Zeit nach seinem Willen anzuhalten; angeblich nutzte der falsche Hund dieses
Talent um Geschäft zu machen: er verhinderte durch einen kleinen, sauberen
Zeit-Stop, dass seine Kunden den Laden verließen, ohne etwas gekauft zu haben;
seltsamerweise hatte die Urururururureinkelin des Uhrmachers, betreffende
Mathematiklehrerin, seit ihrer Kindheit in Momenten der Angst, Bedrängnis oder
Müdigkeit immer ein leises, motones Ticken im Ohr, ebenso wie den Satz "Nein,
ich möchte keine Uhr kaufen!", was ihr unerklärlich war und in fünf Jahren
dazu führen würde, dass man sie in die geschlossene Anstalt einweisen musste;
im Augenblick jedoch widmete sie sich noch ganz der Leidenschaft ihren Schülern
die Mathematik von ihrer langweiligsten, sprödesten Seite zu vermitteln)
"Nun sag schon was los ist, Totchi! Wir sehen, doch, dass irgendetwas ganz und
gar nicht in Ordnung ist!"
Kaoru runzelte nachdenklich die Stirn. Er löcherte seinen Freund nun bereits
seit fünf Minuten und hatte das Gefühl, dass sie sich im Kreis drehten. Shinya
stand schweigend daneben, seine weichen, hübschen Mädchenaugen ruhten auf
Toshiya. Die saß auf dem Klodeckel in einer geöffneten Toilettenkabine und
strich mit schwarzem Edding in seinem Stundenplan die Fächer an, die ihn am
meisten deprimierten.
"N-nein, es - es ist nichts! Wie ich gesagt habe, bin nur echt müde, hab nicht
viel geschlafen, ehrlich", log Toshiya.
"Und warum? Was hat dich die ganze Nacht wach gehalten?"
Kaoru ließ nicht locker. Er bedrängte ihn nicht oder stellte keine
unverschämten Fragen - er ließ nur einfach nicht locker.
"Ach, nur Schlafstörungen... hab ich immer bei Vollmond...", nuschelte der
Blauhaarige und sah betreten zu Boden. Er hatte nicht vorgehabt Kaoru so dreist
anzulügen. Andererseits hatte der junge Japaner in den letzten Stunden eine
derart höllische Angst vor der Reaktion seines violetthaarigen Freundes
entwickelt, dass er sich geschworen hatte kein Sterbenswörtchen zu verraten.
Doch jedes Wort, dass sein freundlicher, geduldiger Mitschüler aussprach,
versetzte Toshiya einen Stich ins Herz. Anscheinend war es Kaoru sehr wichtig zu
erfahren warum es ihm nicht gut ging. Und das entwaffnete den schüchternen
Japaner. Hätte sein Freund gleichgültig reagiert, hätte er sich in
Selbstmitleid zurückziehen können - doch so schmolz sein letzter, schützender
Panzer unter Kaours warmen Lächeln hinweg.
"Bitte... bitte hör auf zu fragen", flüsterte der Blauhaarige mit zitternder
Stimme. In ihm kämpfte die schrecklich Angst, Kaorus kostbaren Respekt und sein
Verständnis zu verlieren mit dem Drang das eigene Herz zu erleichtern und mit
der Sprache rauszurücken. Er warf Shinya einen flehenden Blick zu. Dieser
glaubte langsam einiges zu verstehen und lenkte daher auch sofort ein.
"Ähm, ich kann verstehen, dass du geschafft bist. Schule ist ja auch nicht
wirklich leicht zur Zeit. Apropos, war nochmal etwas wegen Ryu und diesem
Englischlehrer-Typ da?"
Als Kaoru dem Blonden ein Was-weißt-du-was-ich-nicht-weiß-Blick zuwarf, setzte
dieser sein unschuldigstes Lächeln auf (bei Shinya eine verboten betörende
Wirkung) und hakte nach: "Er lässt ihn in Ruhe, ne?"
"Ja... ja, ich denke schon", gab Toshiya zurück und schenkte Shinya ein
dankbares Lächeln. Die hob den Kopf, warf seinen Freunden einen kurzen, matten
Blick zu und jammerte: "Niemand beachtet mich. Klar. Ich bin ja nur der
rothaarige Klotz am Bein. Rot ist eine so hässliche Farbe. Ich hasse euch."
Damit zog er die Beine an, drehte sich auf dem Klodeckel um und begann mit
seinem Edding vulgäre Flüche an die graue Kabinenwand zu kritzeln.
Kaoru, Toshiya und Shinya starrten ihren Freund halb verwirrt, halb betroffen
an. Schließlich trat Toshiya an seine Seite und begann die Wörter zu
überfliegen, die der Rotschopf der Kabine antat.
"Wow, Die! Wo hast du denn solche Wörter gelernt? Cool", flüsterte er
beeindruckt anhand der abwechslungsreichen Schimpfwörter, die Die in der Wut
über seine drei Freunde aufschrieb.
"Du irritierst mich. Du sollst dich angegriffen fühlen", lamentierte Die und
verengte die Augen zu Schlitzen.
"Das ist für dich."
Er kreiste mit seinem Edding ein paar besonders wüste Begriffe ein.
"Woah, das sollte ich mir glatt abschreiben", fuhr Toshiya nur fasziniert fort,
woraufhin die Augen seines Freundes noch schmaler wurden.
"Geh weg. Ich hasse dich."
Damit schob er Toshiya aus der Kabine, knallte die Tür zu und schloss ab. In
der Stille die darauf folgte war nur das agressive Kratzen von Dies Edding zu
hören und sein permanentes Gemurmel: "Hab ich ihnen nicht gesagt, dass sie mich
nerven? Aber nein, nicht mal hier kann man seine Ruhe haben. Wie ich sie hasse.
Keinen Respekt. Aber ich bin ja auch nur . Der dämliche
Die. Und all die Wortwitze zu meinem Namen. Widerlich. Ekelhaft. Wie ich es
hasse. Sie wissen ja nicht mal wie ich wirklich heiße. Aber ich bin ihnen egal.
Shinya kann mich mal xxxxx. Er sollte sofort xxxxxx! Und dann xxxx..."
Als Die begann seine Flüche auszusprechen, erstickte Kaoru beinahe an seinem
Pausenbrot und schlug sich augenblicklich die Hand vor den Mund um nicht
loszulachen. Er wollte seinen depressiven Freund schließlich nicht reizen, am
Ende kam er noch auf die Idee sich in der Kloschüssel zu ertränken.
Es läutete.
Kaoru klopfte Shinya kameradschaftlich auf die Schulter.
"Also wie ich das beurteilen kann, musst du einfach mal Klartext mit unserem
guten Daidai reden..." Er grinste breit und flüsterte Shinya etwas in Ohr, was
diesen sofort wild erröten ließ. Toshiya konnte sich denken, dass es um die
Gefühle ging, die der Blonde für Die hegte. Der Blauhaarige verließ nach
Kaoru die Toilette, begleitet von "? Ich hasse ihn. Er irritiert mich.
Verniedlichungsformen irritieren mich. Wie ekelhaft-". Als die Tür hinter ihm
zuschwang und Dies Jammern im Klo einschloss, schickte Toshiya ein Stoßgebet
zum Himmel.
::Bitte, lass sie glücklich werden. Was sie brauchen ist so glasklar, sie
weigern sich nur es zu sehen! Ich hoffe Shin erkennt bald, was das beste für
ihn und Die ist.::
Als er das Klassenzimmer betrat und Hakuei erblickte, der ihn nur ansah - mit
einem durchdringenden Blick, der dem Blauhaarigen einen unbehaglichen Schauer
über den Rücken jagte - fragte er sich, wann er selbst erkennen würde, was
das beste für ihn sei.
Deutsch. Mehr muss nicht gesagt werden. Die zwölfte hatte das unbeschreibliche
Glück bis zur zweiten Pause eine Doppelstunde Deutsch genießen zu dürfen.
Seit eineinhalb Stunden kauerte Toshiya nun schon in seinem Stuhl und hoffte
inständig, dass die Zeit schnell vergehen möge, bevor jemand ernstlich Schaden
nahm.
"Ich teile ihnen nun ein Gedicht aus, das Sie bitte bis zu nächsten Stunde
(also Morgen, hach wie ich mich freue!) auswendig lernen um es dann
vorzutragen", erklärte der Deutschlehrer und knallte voller Elan einen Stapel
bedruckter Blätter auf einen Tisch in der ersten Reihe. Als die Zettel ihn
erreichten, nahm Toshiyas sich ein Blatt und überflog es. Einen Sekunde später
begann er sich (wie merkwürdigerweise zehn weitere Mädchen und Jungen) die
Stirn zu massieren. Ohne diese erstaunliche Reaktion seiner Schüler zu
bemerken, fuhr ihr Lehrer fort: "Dieses Gedicht ist mit großem Können und
Genialität verfasst worden. Es ist Poesie meine Lieben! Poesie! Außerdem
enthält es, versteht sich, eine tiefe philosophische Aussage. Ich möchte Sie
bitten zu diesem Gedanken Stellung zu nehmen. Notieren Sie bis morgen
Stichpunkte in Ihr Heft, weshalb vorliegendes Werk von derartigem dichterischem
Wert ist."
Toshiya starrte seinen Lehrer an. Das konnte jetzt nicht sein Ernst sein. Dieser
räusperte sich und begann das Gedicht vorzutragen.
"Mein Freund der Frosch."
Er räusperte sich erneut.
"Mein Freund der Froch ist tot -
Platt liegt er auf der Chausee.
Es sinkt die Sonn' im Abendrot.
Er bleibt mein Freund auf alle Tag,
An welchem Reifen er auch kleben mag."
Die Minute, die folgte war ausgefüllt von sprachloser Stille.
Es läutete zur zweiten Pause.
"Ihre Hausaufgaben haben Sie. Bitte erledigen Sie sie gewissenhaft, das Gedicht
ist nicht unbedeutend für die Deutscharbeit, die Sie nächste Woche
schreiben."
Mit diesen Worten schob sich Toshiyas Deutschlehrer die Brille auf die Nase und
verließ federnden Schrittes den Raum. Seine Schüler starrten ihm wortlos
nach.
Die gesamte Pause über gelang es Toshiya sich vor Hakuei zu drücken, der
offentsichtlich genau da weiter machen wollte, wo er vor der dritten Stunde
aufgehört hatte. Am Ende eines schmalen Ganges im zweiten Stock, der zum
Internetcafe der Schule führte, holte ihn der Schwarzhaarige jedoch ein.
"Nun mach mal langsam! Läufst du etwa davon?"
Hakuei schloss seine Finger fest um Toshiyas Handgelenk und fixierte ihn mit
seinen dunklen Augen.
"Lass mich los und komm mir bloß nicht zu nahe!", erwiderte der Blauhaarige
hitzig und versuchte vergeblich die Hand abzuschütteln. Hakueis lautes, rauhes
Lachen ließ ihn erstaunt innehalten.
"Was glaubst du, wer ich bin? Dein Vergewaltiger?", prustete er nach fünf
Minuten, als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Dem Blauhaarigen stieg
erneut Schamesröte ins Gesicht.
"Nun mach mal halblang. Siehst du nicht, wie du dich verhältst? Du hast selbst
zugesagt und bisher auch nicht den Wunsch geäußert Schluss zu machen. Führ
dich nicht so auf, nur weil ich dich küssen will, das tun alle Paare!" Er ließ
Toshiyas Hand frei und grinste ihn an, wissend, dass er die Gedanken des Anderen
auf den Punkt gebracht hatte. Dieser brachte vor Überraschung und Scham kein
Wort heraus. Tatsächlich hatte er mit keinem einzigen Satz erwähnt, dass er
die Beziehung nicht wünschte.
::Vergessen. Ich hab es einfach vergessen!::, dachte er erschlagen und
überlegte hektisch was er nun antworten könnte ohne auch noch seinen letzten
Funken Ehre einzubüßen. Hakuei kam ihm zuvor. Er nahm Toshiyas Hand wieder
auf, diemal jedoch weitaus zärtlicher. Der junge Japaner starrte ihn an und
errötete noch heftiger. Das verlief alles ganz und gar nicht nach seiner
Vorstellung. Und wieso konnte er sich nicht bewegen? Erstarrt musste der
Blauhaarige zusehen, wie Hakuei ihn sanft an sich heran zog und ihm die Arme um
die schmale Hüfte legte. So unendlich zärtlich. Fast wie Sakito, wenn er
seinem Koi einen Kuss gab. Toshiya konnte diese Hände, die ihn so liebevoll
hielten nicht wegstoßen, er brachte es einfach nicht über sich. War das
wirklich noch Hakuei? Dieser Blick - auf eine gewisse Weise wirklich
beängstigend, so hatte er ihn noch nie gesehen. Ohne es zu wollen begann das
Herz des jungen Japaners wie wild zu schlagen - noch nie zuvor war er so
gehalten oder berührt worden. Der Schwarzhaarige drückte ihm sachte einen Kuss
auf die Stirn, dann auf die Nasenspitze, dann auf die vollen Lippen. Auf einmal
schüttelten stumme Schluchzer Toshiyas Schultern. Hakuei sah ihn verwirrt an,
küsste aber sofort die salzigen Tränen weg, die die Wangen seines Koi
herabflossen. Dieser ließ alles mit sich geschehen, unfähig sich zu wehren,
unfähig überhaupt irgendwie zu reagieren. Alle Gefühle der vergangenen
Stunden brachen geballt auf ihn herein.
Nach einer Weile, er hatte sich wieder einigermaßen beruhigt, blickte er auf
und sah zufällig an Hakueis rechtem Ohr vorbei auf den leeren Schulflur (in der
Pause wurden die Schüler gewöhnlich hinaus auf den Pausenhof geschickt). Leer
trifft es nicht ganz. Eine einzige Person stand mitten auf dem Flur. Ihr
Schatten fiel auf den gefließten Boden vor ihr.
Kaoru.
Er stand da wie angewurzelt und starrte das Pärchen mit maßlosem Entsetzen
an.
Toshiya starrte zurück, nicht minder entsetzt. Langsam drückte er Hakuei von
sich weg. Der Schwarzhaarige drehte sich nun auch um, sein übliches,
bösartiges Lachen blieb aus. Interessante Situation! Er beobachtete seinen
blauhaarigen Mitschüler, der leichenblass wurde, nach hinten taumelte, sich
dann umdrehte und davonstürzte. Seine Schritte flogen die Treppe hinunter,
wurden immer leiser bis sie nicht mehr zu hören waren. Hakuei stand dem
Violetthaarigen alleine gegenüber. Wortlos schauten sie sich an. Dann seufzte
der Junge mit den Ratsazöpfen genervt auf, drehte sich einfach um und ließ
Kaoru alleine und ohne Erklärung stehen.
::Warum?? Warum musste er ausgerechnet in diesem verdammten Flur auftauchen?
Warum hab ich kein Wort rausgebracht? Warum??? Warum werde ausegrechnet ich
zweimal am Tag in der gleichen Situation erwischt? Ich bin so ein Iditot-::
Toshiyas Gedanken überschlugen sich als er in Tränen aufgelöst durch das
Schulhaus stürzte. Er erreichte die Toilette, die glücklicherweise
menschenleer war, schloss schnell die Tür hinter sich und sank schluchzend an
der Wand neben dem Waschbecken zu Boden. Er hatte völlig vergessen, dass sie ja
noch im Schulhaus waren und jede Sekunde jemand vorbeilaufen und ihn und Hakuei
erblicken könnte. Wie bescheuert kann man sein?
Fassungslos überlegte Toshiya was er jetzt tun sollte. Der Mensch, vor dem er
diese Beziehung am meisten geheimhalten wollte, hatte alles herausgefunden.
Ausgerechnet Kaoru. Gerade an diesem Tag musste es passieren, der Blauhaarige
war für ein Wortgefecht überhaupt nicht gewappnet, geschweige denn dafür,
sich für eine Sache zu rechtfertigen, die er selbst gar nicht wollte. Was hatte
Hakuei vor ein paar Tagen zu ihm gesagt? Er war noch immer der gleiche,
peinliche Spinner wie früher?
::Ja... er hatte recht. Ich bin noch so feige wie früher. Und immer wieder
verstricke ich mich in dieser Feigheit.:: Toshiya ließ den Kopf in die Arme
sinken und schluchzte noch heftiger. Ihm war klar, dass es nie so gekommen
wäre, hätte er den Mut gehabt Klartext mit Hakuei zu reden, oder Kaoru sofort
mitzuteilen was vor sich ging. Dass Kyo ihn an diesem Morgen in der peinlichen
Lage ertappt hatte, hätte ihm eine Lehre ein müssen. Und woher kam nur dieser
grässliche Schmerz? Der Blauhaarige meinte, sein Herz würde zerreißen. Kaoru
würde ihn sicher verabscheuen: Erst beschützte er ihn vor Hakuei und dann
wurde er derart von Toshiya hintergangen und angelogen. Jeder andere Mensch
hätte in diesem Augenblick vorbeilaufen können. Wieso musste von den 1200
Schülern, 110 Lehrern, 15 Elektrikern, 3 Hausmeistern, einem Gärtner und 250
Geranien ausgerechnet der Violetthaarige ihn mit Hakuei erwischen? Konnte man
ein solches Pech haben?
Toshiya drückte seine Hand auf den Magen. Ihm war plötzlich übel und
grauenvoll schwindelig. Schwarze Punkte tanzten vor seinen müden Augen auf und
ab. Langsam sank er nach hinten gegen die Wand - und rutschte dann bewusstlos zu
Boden.
"Tsssss...", ertönte eine leise, missbilligende Stimme aus einer der Kabinen.
Eine Tür wurde aufgeschlossen und heraus trat ein zierlicher, blonder Junge.
Kyo musterte die zusammengefallene Gestalt des Blauhaarigen von oben bis unten,
bevor er tief aufseufzte, sich auf den Boden kniete, den Anderen - mit
erstaunlicher Leichtigkeit - anhob und aus der Toilette trug.
"Zeit mich zu revanchieren..."
"Ma? Ich muss mit die reden", sagte Sakito zögernd und betrat die ehemalige
Küche der Haras. Seine Mutter, eine elegante Frau in den vierzigern, saß auf
dem wasserpumpenförmigen Etwas, schlürfte ihren Kaffee und blätterte einen
Katalog durch, den sie auf ihren Oberschenkeln plaziert hatte. Ihre Frisur war
etwas verrutsch und von ihren hochgesteckten Haaren hingen einzelne wirre
Strähnen weg. Ansonsten machte Sayumi Hara einen seriösen, gelassenen
Eindruck. Als ihr jüngster Sohn die Küche betrat, sah sie von ihrer Lektüre
auf und beobachtete mit mütterlichem Erstaunen, wie er auf sie zu ging,
eingeschüchtert, an seiner Hand hielt er einen sehr zierlichen, hübschen
Jungen. Die Mutter blickte verständnislos von einem zum anderen.
"Hai? Möchtest du mir jemanden vorstellen?"
Das tat er doch sonst nicht. Stirnrunzelnd fasste sie den Gast ins Auge. Glatte,
nachtschwarze Haare, leicht schräggestellte asiatische Augen, Ohrringe wie ein
Mädchen. Innerlich dachte Sayumi, dass die Mutter dieses Kindes in ihrer
Erziehung wohl einiges falsch gemacht hatte. Sie selbst war immer stolz darauf
gewesen, dass sie es fertig grebracht hatte ihre Söhne ohne Ehemann zu ganzen
Kerlen zu erziehen. Gut, der Älteste schminkte sich, aber war das ein
Beinbruch? Gut, der mittlere hatte nun auch damit begonnen. Aber Sakito - Sakito
war durch und durch Mann. Ein mütterlich-stolzes Lächeln erstrahlte auf ihrem
Gesicht, als Sayumi ihren Sohn betrachtete. Dieser trug im Augenblick einen
ziemlich verwirrten Gesichtsaudruck zur Schau.
"Mama? Ma, hast du mir zugehört?"
"Äh, wie bitte Liebling? Entschuldige, hast du was gesagt?"
Und nacher sollte sie dringend noch die Mülltonne auf die Straße stellen.
Letzten Monat, als sie darauf vergessen hatte, war es so ärgerlich gewesen, man
konnte nichts mehr wegwerfen und sie war gezwungen gewesen Sakito zu erlauben
den Abfall in einem bio-chemischen Feuer zu verbrennen.
::Er ist ja so schlau::, dachte sie stolz. ::Das hat er ganz von mir.::
"Das ist Ryutaro, mein Freund."
Mit diesen Worten zog Saktio den Schwarzhaarige nach vorne und schob in vor die
Nase seiner Mutter. Diese rückte ihre elegante Brille zurecht, blinzelte kurz
und lächelte dann freundlich.
"Ah, Ryutaro. Ich kenne deine Mutter, sie ist eine Arbeitskollegin von mir. Sie
ist-" Sayumi stockte kurz, die Worte egoistische, widerlich Lästerschlange, die
niemandem etwas gönnt lagen ihr auf der Zunge, doch sie überlegte kurz,
lächelte weiter und fuhr dann fort: "-eine wunderbare Frau. Auch wenn ich sie
nicht besonders gut kenne."
Ryutaro verbeugte sich schüchtern.
"Ryutaro... was denkst du?" Sakitos Mutter hielt ihm den Katalog unter die
Nase.
"Die blaue Bettwäsche mit dem Kamelmuster oder die kardinalrote mit dem
Aufdruck von Schloss Neuschwanstein?" Sie lächelte wieder.
"Äh, die mit Kamelmuster ist sehr nett, Frau Hara", antwortete Ryutaro
schüchtern.
"Ja, nicht war, das dachte ich anfangs auch. Schade nur, dass die Vorhänge in
meinem Schlafzimmer eierschalfarben sind, da würde rot doch viel besser passen.
Natürlich gibt es da noch diese herrliche smaragdgrüne, hier, sieh mal, auf
der Bettdecke ist ein detailgetreuer Plan des Pariser U-Bahnnetztes
aufgedruckt..."
"Ma, ich wollte dir meinen Freund vorstellen!", begann Sakito erneut. Seine
Mutter sah wieder auf und lächelte verständnislos.
"Aber das hast du doch schon, Liebes."
"Nenn mich nicht so! Nein, du verstehst nicht..."
Sayumi blinzelte von einem zum anderen. Sie hatte das Gefühl, dass sie gleich
sehr schockiert sein würde - mütterlicher Instikt - also schlug sie ihren
Katalog zu und legte in sorgfältig auf den Boden. Dann holte sie tief Luft und
richtete das Wort wieder an ihren Sohn.
"Wie meinst du das, Saki? Was willst du mir sagen?"
Ihr Sohn antwortete nicht. Auf seine Wange legte sich ein Schatten von Rosa, als
er die Hand des schwarzhaarigen Jungen fasste und an seine Seite trat. Er
verschlang seine Finger mit denen Ryutaros und legte seine linke Hand um dessen
Hüfte.
Das Lächeln seiner Mutter hielt an, doch sie sah zunehmend verwirrter aus.
"Wie meinst du das jetzt, Sakito?"
"Ryu ist mein Freund... ich bin mit ihm zusammen", erklärte Sakito, woraufhin
ihm ein großer Stein vom Herzen fiel und sein Koi tiefrot anlief.
Es dauerte eine Weile bis die Rädchen in Sayumis Kopf die Worte verarbeitet
hatten. Sie lächelte vergnügt weiter und kippte um.
"Ma? Ach nöö...", jammerte Sakito, ließ seinen Freund los, kniete sich zu
seiner Mutter und tätschelte ihre Wange. Nach einer Weile schlug sie die Augen
wieder auf.
"Aber das ist ja wunderbar!" Sie blinzelte leicht irritiert. "Ryu, du bist
natürlich immer willkommen. Sakito, könntest du mir bitte einen Kaffe machen?
Einen richtig, richtig starken?"
Sayumi rappelte sich auf, plötzlich verblasste ihr Lächeln.
"Ok, ich hab keinen Bock mehr. Scheiß Tag, die Leute glauben sie können sich
benehmen wie Arschlöcher, nur weil ich die dumme Abteilungsleitertusse bin, ne
scheiß Frau, aber is ja auch egal und immer muss man dieses bescheuerte Grinsen
zur Schau tragen, ich habe ja sowas von die Nase voll." Sie nahm die Tasse
entgegen, kippte sie in einem Zug runter, wischte sich mit dem Ärmel über den
Mund und fuhr wütend fort: "Nur weil mein jüngster Sohn schwul ist, geht die
Welt auch nicht unter, abgefuckte Gesellschaft, die können mich doch alle mal!
Weißt du was Saki? Zeig es ihnen allen! Hau ihnen auf die Fresse, wenn's sein
muss! Und wenn sie glauben, dass ich nicht hinter dir stehe, dann können sie
sich das mit dem netten, geruhsamen Leben gleich in den xxx stecken und-"
Ryutaro starrte die Frau bedröppelt an. Diese erwiderte seinen Blick, richtete
ihre Bluse, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das sich gelöst hatte und holte
tief Luft.
"Aber ich denke so weit wird es nicht kommen. Du bist immerhin ein sehr kluger
Junge, Sakito, ich bin sehr stolz auf dich", fuhr sie lächelnd fort und war
wieder die perfekte Karrierefrau und Mutter in den vierzigern.
"Und könntet ihr mich nun vielleicht ein wenig alleine lassen, Jungs? Das wäre
sehr nett. Ihr müsst wissen, dass ich wahnsinnig müde bin... geht doch nach
oben und unterhaltet euch..."
"Ja, danke Mama", antwortete Sakito brav, schenkte seiner Mutter ein lammfrommes
Schäfchenlächeln und zog seinen Koi hinter sich her zur Tür hinaus.
"Deine Ma...", murmelte Ryutaro geschockt.
"Ja, wie findest du sie?"
"Nett... irgendwie. Aber... äh, hat sie das öfters?"
"Wie? Ach so das. Naja, wenn sie heftig gestresst ist, schlägt ihre Laune schon
mal ins Extrem um. Aber sie kann auch ganz normal sein, keine Sorge..." Sakito
lachte laut auf und gab seinem Freund schnell einen Kuss auf die Wange. Dieser
lächelte zurück und folgte ihm die Treppe hinauf in sein Zimmer, während er
darüber nachdachte, dass Sakito auch von sich selbst behauptete er sei normal.
Vielleicht war es besser die Mutter nicht allzu gut kennenzulernen - von
irgendwem musste ihr Jüngster schließlich seinen merkwürdigen Hang zur
Kochkunst geerbt haben.
"Ryu, schau!!", rief Sakito plötzlich und unterbrach die Gedanken seines Koi.
Dieser erhob sich erstaunt vom Bett und trat neben den Schwarzhaarigen ans
Fenster. Draußen vor dem Haus parkte ein gewaltiger Atommülltransport. Äh
nein, auf den zweiten Blick erkannte man, dass es eher ein Möbelauto war
(komisches, neongelbes Logo). Sakito hüpfte vor Begeisterung auf und ab wie ein
kleines Kind an seinem Geburtstag und seine Augen leuchteten als er flüsterte:
"Meine Küche ist da!"
Toshiya stöhnte und öffnete die Augen. Wie konnte man sich so krank fühlen...
Er machte den schwachen Versuch sich aufzusetzen.
::Richte dich auf, na los, komm schon! Jetzt aber - eins, zwei, drei! Ok, jetzt
aber wirklich auf drei...:: (kennt ihr das auch? Mir geht es jeden Morgen vor
der Schule so =.= ...)
Als er nach einer Weile zu dem Schluss kam, dass es keinen Sinn hatte (auch wenn
er mental schon fünfzehn mal aufgestanden war), dachte er es könnte nützlich
sein erst einmal herauszufinden wo er sich überhaupt befand. Der erste Gedanke
der ihm kam: ::Eindeutig mein Bett. Aber - warum?::
Nach und nach tröpfelten die vergangenen Ereignisse wie zähflüssiger,
klebriger Teer in sein Gehirn. Er war geflüchtet, nachdem Kaoru ihn und Hakuei
Arm in Arm erwischt hatte (eigentlich war er bei dem Ganzen völlig passiv
gewesen, aber das tat im Moment nichts zur Sache) - davongerannt! Wie peinlich!
Wie ein kleines Kind. Er hatte im entscheidenden Augenblick genau falsch
reagiert. Kaoru... was er jetzt wohl dachte? Toshiya wollte es gar nicht erst
wissen, schon der bloße Gedanke daran verursachte bei ihm ein Gefühl der
Übelkeit. Merkwürdigerweise hatte sich der junge Japaner, nachdem er endlich
ein wenig Schlaf gefunden hatte, nun wieder einigermaßen beruhigt. Und wäre er
an diesem Morgen ausgeschlafen gewesen, wäre alles völlig anders verlaufen.
Sein Gehirn hätte noch einigermaßen funktioniert, außerdem sein gesunder
Menschenverstand, folglich hätte er sich auch mit Sicherheit nicht wie der
letzte Idiot verhalten. Zu spät.
Schlaf... da war doch etwas. Ah ja, genau, die unerklärliche Tatsache, dass er
zu Hause in seinem eigenen Bett lag. Toshiya konnte sich nur noch daran erinnern
in irgendeine Toilette gestürzt zu sein und dann - Nacht.
Augen langsam öffnen. Blinzeln. Tatsächlich sein Zimmer. Nur wie-
Dem Blauhaarigen blieb für einen Augenblick beinahe der Atem weg. Ob vor
Entsetzen, Scham oder einfach nur Überraschung konnte er nicht sagen.
Kyo.
Dieser kleine, blonde Junge mit den Katzenaugen, unberechenbar wie eine
angefahrenes Wildschwein, undurchschaubar wie ein Glas Orangensaft.
Hier.
Ausgerechnet hier in seinem Zimmer.
Völlig gelassen als wäre es das natürlichste von der Welt hing er auf
Toshiyas Schreibtischstuhl, spielte mit einer Haarsträhne, die in seine Augen
hing - was aus irgendeinem Grund etwas Laszives an sich hatte - und warf dem
Blauhaarigen einen gelangweilten Blick zu.
"Na endlich", murmelte er genervt, erhob sich von dem Stuhl, schwang sich seine
Jacke über die linke Schulter und öffnete die Zimmertüre. Er hob kurz die
Hand über den Kopf, deutete wage ein Winken an, trat hinaus und zog die Tür
hinter sich zu. Kyo hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht die Klinke in die
Hand zu nehmen.
Für einen kurzen Moment starrte Toshiya auf die geschlossene Tür und kam sich
leicht dämlich vor. In der nächsten Sekunde war er auf den Beinen (absolut
keine gute Idee) und nahm die Verfolgung auf.
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Dieses chapter war etwas... äh... komisch. Also noch komischer als alles
andere, denn Totchi wird gleich zweimal am selben Tag in der gleichen Situation
ertappt. Tja, echt blöd gelaufen, ich fürchte er hat einfach Pech u.u...
Kapitel 7: 7
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Walking proud
Autor: Clea
Pairings: Mal sehen... also RyuxSaki, HakuxTotchi, ab und zu mal DaishixUruha
Kommentar: Wer keinen Bock hat meinen ausnahmsweise langen Kommentar zu lesen,
der kann ihn gerne überspringen ^.^
...
und ewig in der Hölle schmoren!! Wer nicht lesen will, was ich zu sagen habe,
soll sich so schnell er kann fort scheren zum Teufel!! Seine Innereien mögen
verbrennen und ihn von innen heraus auffressen! *schnauf* Gut, das wäre
gesagt....
[Übrigens verdammt seien auch die Wesen, die meine ff lesen und noch nie einen
Kommentar geschrieben haben... ne Shi? ... *sigh* love you anyways]
Erst mal arigatou ne für euere zahlreichen Kommis, das treibt mich an, die
Geschichte weiterzu-äh-spinnen ^.~ *verbeug* I luv u all.
Tjaa, Clothoid Doll, selbstverständlich bin ich allwissend (ich hoffe
natürlich, dass du mit deinem Kommentar darauf anspielen wolltest *ego
streichel* ^^ ne, Unsinn) *hüstel*, aber es gibt Dinge, die man eben nicht
wissen sollte. Eine davon wäre eben zum Beispiel die Sache, dass du nie einen
Parkplatz vor deinem eigenen Haus findest. Würde ich dir das jetzt beantworten,
würden immer mehr Leute kommen und die unmöglichsten Dinge wissen wollen, wie
zum Beispiel den Sinn ihres Lebens und so einen Stuss. Wo kämen wir denn da
hin? Was allerdings immer eine große Rolle in unserer Gesellschaft spielt, und
zwar eine viel größere als die Frage selbst, ist die Schuld -> In diesem Fall
also, wer hat Schuld daran, dass du nie einen Parkplatz findest? Wenn man mal
betrachtet wer in den ganzen vermaldedeiten Fall verwickelt ist, dat wäre dann
ergo (das Wort wollte ich unbedingt einsetzen, soll juristisch klingen^^) du,
dein Auto und die Autos, die vor deinem Haus parken (die Autos sind aufgrund
ihrer mangelnden Identität und ihrer eingeschänkten Entscheidungsgewalt
freigesprochen), wird ganz klar, dass ganz allein du diejenige bist, die die
volle Schuld und Verantwortung trägt. Schuld muss bestraft werden, tja es tut
mir ehrlich leid für dich und ich hoffe die ganze Sache fällt niemandem auf,
ansonsten kannst du damit rechnen nicht so leicht davonzukommen. In diesem
Sinne... oh mein Gott... Verbrecher lesen meine fanfic... (^.~ net böse sein,
ne? Das is meine Art sich für deinen comment zu bedanken. Oh fuck, ejtzt
schreibst du bestimmt nie mehr was Y.Y).
Und Hinoto-chan... von dir hab ich, glaube ich, auch schon viele Kommis...
thanks, ne. Nö, Die liebt die Olive nicht mehr als Shinya, denn Shinya ist ja-
*sich unterbrech* aber lies selbst^^.
@Camui: Lieb, dass du mir trotzdem nen Kommentar schreibst!
.....uuuuuund Yume: *knuff und durchknuddel* ich freu mich immer sooo von dir
Kommis zu haben... wenn ich dich schon nimmer seh *gg* warst so nett zu mir
*alte pms rauskram*. Meine erste Betaleserin *schnüff**sentimental*.
Und an all die anderen (Shini-baby, Silent-Voice, KaoNiikura ....): Auch danke
für euere Kommis, aber ich hab jetzt keine Lust zu allen was zu schreiben
(&keine Ideen, ich will auch net immer dasselbe schreiben). Und sagt mir bitte
weiter, was ihr davon haltet.
So, alle, die sich bis hierher durchgequält haben, können in Ruhe sterben,
weil sie keine Angst haben müssen auf ewig im Höllenfeuer zu schmoren harhar.
*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*
Oh mein Gott, ich höre gerade... Emu~For my Dear (und ich hatte total
verdrängt, dass es dieses Lied überhaupt gibt) ... ich höre allen Ernstes
Gackt... ich liebe dieses Lied...weiß nicht, aber es passt irgendwie gerade zur
Geschichte (oder meiner Stimmung)... Muahahahaaa, dann lasst uns die beiden mal
zusammenbringen >., du falscher Hund? Wieso heuchelst du auf eimal
Nettigkeit?", zischte der andere und bohrte seinen vernichtenden Blick in den
Hakueis. Dieser entgegnete, nun auch nicht mehr so gelassen: "Darf ich das
nicht? Aber du hast natürlich immer Recht Kaoru-sama. So, wie du sagst, ist es.
Wie immer. Du kommst gar nicht auf die Idee, dass dein toller neuer Freund auch
Bedürfnisse hat."
Kaoru schnappte empört nach Luft.
"Und nur zu deiner Info", fügte Hakuei düster hinzu, "Toshiya hat dem Ganzen
zugesagt. Er war einverstanden. Und wenn ich ihn küsse, dann hat das alles
seine Richtigkeit."
Kaoru bebte vor Wut. Er hatte Mühe zu sprechen, so aufgebracht war er.
"Du - das - was hast du - mit - ihm - gemacht? Siehst du nicht - wie du ihn
einschüchterst? Wie du ihn vernichtest? Wie - wie - kannst - du"
"Nein", entgegnete Hakuei kühl und erwiderte den tödlichen Blick des
Violetthaarigen, "der einzige, der ihn vernichtet, bist du!"
Schön, es war übertrieben, aber Kaoru arbeitete immerhin mit den gleichen
Mitteln.
"Du stehst mir im Weg. Du nimmst ihn mir weg. Wenn du kein Interesse an ihm
hast, dann lass ihn und mich in Ruhe."
"Ich glaube du hast völlig den Verstand verloren."
"Wenigstens hatte ich mal sowas. Du bist so überheblich, dass du nicht bemerkt
hast wie schlecht es ihm ging."
"So ein Stuss! Du behandelst ihn ja wohl wie dein Eigentum, dein Spielzeug!"
"Ist er auch!"
"Du bist ein gefühlloser Arsch. Ein Tier."
"Und du ein rechthaberischer Sack, der so tut als wäre ihm das Wohl der anderen
ein furchtbares Anliegen, in Wahrheit geht ihm das eigene Ego über alles.
Klassensprecher-sama."
Einen Moment lang regte sich gar nichts. Die beiden Jungen starrten sich
hasserfüllt an, dann stürzten sie gleichzeitig aufeinander los und versuchten
dem jeweils anderen in möglichst kurzer Zeit möglichst weh zu tun.
Toshiya saß auf seinem Bett, nach wie vor wie versteinert und verfolgte die
Szene mit maßloser Verwunderung.
::Kaoru... hasst micht nicht? Er ist wütend auf... Hakuei... nicht auf mich?::,
dachte er erstaunt. Dann überlegte er ob er seine beiden (mehr oder weniger)
Freunde eventuell trennen sollte, die sich am Boden rauften wie zwei
Schuljungen.
Diese Sache erledigt sich allerdings in der nächsten Minute von alleine: Wieder
wurde Toshiyas Zimmertür wütend aufgestoßen. Diesmal war es dessen kleiner
Bruder der aufgebracht und zu Tode entnervt plötzlich auf der Matte stand.
"Seid ihr noch zu retten?!", schrie er empört und zog zuerst Hakuei und dann
Kaoru den Kochlöffel, den er in der Hand hielt, über den Kopf. Die beiden
Jungen hielten inne und starrten den Ankömmling an, der sich vor ihnen
aufbaute.
"Dieser Junge", er deutete auf Toshiya, "braucht Ruhe, ist das klar? Und wenn
ihr beiden Oberaffen euch prügeln müsst, weil ihr nicht wie normale Menschen
miteinander reden könnt, dann VERSCHWINDET!! Kaoru, von dir hätte ich das
nicht erwartet. Essen gibt's in fünf Minuten." Mit diesen Worten drehte der
Junge sich um und fegte aus dem Zimmer.
Zurück ließ er Toshiya, dem das alles viel zu schnell ging und Kaoru und
Hakuei die betreten am Boden saßen und sich den Kopf rieben. Nach einer Weile
ergriff der Violetthaarige das Wort.
"Sakito hat Recht... wir benehmen uns wie Kinder...", sagte er verlegen.
"Nö, du benimmst dich so, du hast schließlich angefangen...", engegnete Hakuei
schnippisch und erhob sich.
"Hakuei, ich warne dich", sagte Kaoru drohend und stand ebenfalls auf.
"Gomen Totchi, dass du das ansehen musstest... ich weiß auch nicht was in mich
gefahren ist... ähm aber... könnte mir freundlicherweise mal einer erklären
was genau abgeht?", setzte er hinzu, nahm auf Toshiyas Schreibtischstuhl Platz
und blickte diesen erwartungsvoll an.
"Pff, das fragt er jetzt, nachdem er auf mich losgegangen ist", murmelte Hakuei
sarkastisch und fügte, als der Violetthaarige etwas erwidern wollte, schnell
hinzu, "aber du hast Recht, das ist jetzt nicht das Thema. Auch wenn ich nicht
sehe weshalb ich mich vor dir rechtfertigen sollte." Damit ließ er sich auf
Toshiyas Bett fallen und lehnte sich lässig gegen die Wand.
"Hakuei, könntest du uns bitte mal alleine lassen? Ich muss mit Kaoru reden",
ertönte plötzlich sehr leise und heiser Toshiyas Stimme, woraufhin Hakuei ihm
einen beleidigten Blick zuwarf, dann allerdings den Raum verließ. Sobald die
Tür zugefallen war, begann Toshiya erneut zu sprechen. Dies war endlich die
Chance das ganze Missverständnis aufzuklären. Zumindest soweit es sich um ein
Missverständnis handelte. Also begann er ohne Umschweife die Geschichte zu
erklären.
"Mein Bruder Uruha ist schwul und äh Hakuei auch wie du vielleicht mitbekommen
hast, die beiden waren zusammen." Er hustete unterdrückt.
"Ich bin dann vorgestern Abend die Treppe hinuntergegangen und plötzlich stand
Hakuei vor mir und behauptete er sei in mich verliebt und wolle mit mir
zusammensein. Ich war so überrumpelt, er hat sich auf mich gestürzt und mich
geküsst, ich weiß nicht wieso, aber ich habe ja gesagt." Toshiya verbarg sein
vor Scham glühendes Gesicht in den Händen. Kaoru blickte ihn besorgt an, erhob
sich von dem Stuhl, setzte sich neben Toshiya und strich ihm über den
dunkelblauen Haarschopf.
"Hast du dich einsam gefühlt?", flüsterte er, was den anderen entsetzt
aufschauen ließ. Er wollte nicht, dass Kaoru ihn durchschaute, das war so
peinlich. Jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt um im Boden zu versinken oder
sich in ein kleines Loch zu verkriechen und den Rest des Lebens dort zu
bleiben.
"W-wieso-"
"Ich hab mit deinem Bruder geredet", unterbrach der Violetthaarige und fuhr fort
über Toshiyas Kopf zu streichen. "Ich war gestern Abend da, ziemlich spät,
weil ich dich sprechen wollte, aber du hast geschlafen. Saki hat mir einiges
erzählt, über dich und Uruha. Und die Sache mit Hakuei. Ich weiß, dass du
zugesagt hast, aber du bist doch nicht schwul, nur weil der Typ plötzlich nett
zu dir ist. Du hast das nicht nötig, Totchi, du hast ihn nicht nötig! Er ist
doch das allerletzte!"
"Nein, ist er nicht", erwiderte Toshiya plötzlich aufgebracht und stieß Kaorus
Hand weg. Dieser starrte ihn verwirrt an.
"Wir haben uns in ihm getäuscht, wirklich, er kann so nett sein! Er ist so lieb
zu mir, ich glaube nicht, dass er etwas im Schilde führt und mich anlügt!"
"Totchi, sei doch nicht so naiv und denk mal darüber nach wie weh er dir getan
hat", entgegnete der Violetthaarige kopfschüttelnd. Hakuei und freundlich? Nie
und nimmer.
"Ich bin nicht naiv, hör auf mich so zu behandeln", rief der Blauhaarige hitzig
aus. Wieder starrte ihn der andere verwirrt an, doch diesmal entgegnete er
nichts.
"Und vielleicht gefällt es mir ja!", redete Toshiya weiter. Er hatte keine
Ahnung, wieso er das sagte und was plötzlich in ihn gefahren war. Eigentlich
hatte er sich gewünscht, dass Kaoru die ganze Sache genauso sah, wie er das im
Augenblick tat. Wieso also machte er dann alles wieder kaputt?
"Und vielleicht weiß Hakuei viel mehr über mich als alle anderen. Er hat sich
immer mit mir beschäftigt!"
"Totchi, sei nicht dumm, er hat dich jahrelang fertig gemacht!"
"Und wenn schon? Du hast mich ignoriert!"
Der Blauhaarige wusste sehr wohl wie unfair es war, das zu sagen, aber es war
ihm einfach so herausgerutscht. Tränen stiegen ihm in die Augen.
"Vielleicht bin ich ja schwul! Und vielleicht bin ich ja verliebt in einen
Mann!"
Er schniefte und rieb sich die geschwollenen Augen.
Kaoru lachte unsicher.
"Ich weiß nicht was du damit meinst. Willst du sagen, du liebst Hakuei?"
"Nein, dich."
Eine lange Stille entstand in der sich 55 Menschen mit AIDS infizierten.
(Angeblich fängt sich alle 5 Sekunden ein Mensch dieser Welt den HIV Virus
ein)(<-bitte nehmen Sie der Autorin den quälenden Drang mit ihrem lächerlichen
lückenhaften Fachwissen anzugeben nicht übel; sie braucht das, weil sie sonst
nichts kann)
Kaoru starrte seinen Freund an. Er wusste nicht was er sagen sollte.
Toshiya seinerseits begann zu weinen. Ihm tat alles fürchterlich weh, er konnte
kaum sprechen, hinzu kam die Scham die er empfand. Und dann noch dieses
Verlangen von einer bestimmten Person gehalten zu werden, das,wie er wusste,
nicht befriedigt werden würde. Die Situation war zum
Sich-umbringen-und-eingraben.
"Ich - habe mich - in dich verliebt... Kaoru. Aber ich habe keine Chance.
Vielleicht habe ich deshalb zu Hakuei ja gesagt. Oh Gott, ich will sterben...",
flüsterte Toshiya mit brechender Stimme.
Jetzt, da er es ausgesprochen hatte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Seine Träume zersprangen in tausend Teile. Wieso musste das passieren.
"Kao-"
Toshiya ließ verzweifelt seinen Kopf in die Hände sinken. Der andere starrte
ihn noch immer fassungslos an.
"Sag doch was, Kaoru!", schluchzte der Blauhaarige heiser.
"Sag doch irgendwas!"
"Jetzt wäre kein guter Zeitpunkt um da wieder rein zu gehen", stellte Sakito
fest.
"Was willst du denn hier?", erwiderte Hakuei unwirsch.
"Ich wohne hier."
"Ich weiß. Das meinte ich nicht."
"Ich weiß. Ich kam um euch zum Essen zu holen, aber anscheinend ist das kein
guter Augenblick. - NEIN, du gehst da jetzt NICHT rein!"
Hakuei ließ seine Hand von der Türklinke gleiten und drehte sich schmollend zu
Sakito um.
"Aber er weint! Ich höre es!"
Sakito seufzte.
"Tja, da muss er eben durch, fürchte ich. Wenn er sich mit Kaoru ausgesprochen
hat wird einer von beiden schon rauskommen. Oder-"
Der junge Japaner beäugte den anderen plötzlich mit spitzbübischem Lächeln.
"- oder ... hast du Angst, dass du von meinem Bruder abserviert wirst, wenn sich
die beiden noch länger da drinnen unterhalten?"
"Ach sei still", murmelte Hakuei.
"Darf ich dir eine Frage stellen?", wollte Sakito nach einer Weile des
Schweigens wissen.
Auf ein Nicken des anderen hin fuhr er fort: "Bist du wirklich in meinen Bruder
verliebt oder stehst du nur auf sein neues tolles Aussehen?"
Hakuei ließ sich an der Wand zu Boden rutschen und seufzte schwer auf.
"Weißt du, dass ich über sowas nicht gerne rede?"
"Das ist nicht die Antwort auf meine Frage."
Der Japaner blickte verärgert zu Toshiyas kleinem Bruder auf.
"Na schön Nervensäge", sagte er giftig, "Ja, ich finde er sieht... geil aus.
Aber das ist nicht der Grund. Eigentlich... eigentlich..."
"Jaaa?" Sakito blickte den anderen lauernd an, der so wirkte als müsse er sich
zu jedem Wort zwingen.
"Er ist unschuldig und so - süß naiv... ich mag seinen verträumten Ausdruck
wenn er *Luft hol*- in der Schule aus dem Fenster schaut", nuschelte Hakuei
errötend.
::ERRÖTEND??!!::, war Sakitos Gedanke dabei.
"...und ich mag es wenn er weint. Er sieht dann so... hübsch aus und so - ARGH,
WAS SOLL DAS?? Weshalb verrate ich dir pubertierenden Rozlöffel solche
Dinge?!"
Sakito starrte ihn an.
"Ja, das frage ich mich auch."
Was für ein Geständnis. Und dann ausgerechnet von diesem Kotzbrocken.
Geständnis?
"Oh, warte..."
Er hob seine linke Hand ins Licht.
"Wusste ich's doch! An meinen Händen sind noch Rückstände des Wahrheitsserums
dran, das ich vorhin ins Essen geträufelt habe. Die Dämpfe haben dir wohl die
Sinne vernebelt, was?"
Sakito feixte. Der Blick des anderen sagte ihm, dass er besser damit aufhören
sollte.
"Ins Essen?", wiederholte Hakuei stockend.
"Ach, unwichtig *nervöses Lächeln*. Daher... hast du meinen Bruder also immer
so verletzt bis er angefangen hat zu heulen?" Sakito schüttelte tadelnd den
Kopf. "Mann, bist du dämlich!"
"Ich weiß!", entgegenete Hakuei forsch, "Halt doch die Klappe, das ist eben
meine Art!"
"Pffff... in Wahrheit bist du doch nur zu feige...", begann Sakito, doch noch
bevor der Schwarzhaarige wütend zurückschnappen konnte, klingelte es an der
Haustür.
"Komme!", rief Toshiyas kleiner Bruder, hüpfte die Treppen hinunter an die Tür
und zog sie auf.
"Ryu!"
Ein freudiges Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er seinen Koi
erkannte. Im nächsten Augenblick verblasste es. Ryutaros Haare waren zerzaust
und hingen ihm wild ins Gesicht. Den Kopf hielt er gesenkt, trotzdem konnte
Sakito erkennen, dass die Wangen des zierlichen Japaners vom Weinen verquollen
und rot-fleckig waren. Er sah fürchterlich aus.
Einen Herzschlag lang standen sich die beiden Jungen schweigend gegenüber.
Dann zog Sakito den anderen schnell in den Arm und drückte ihn so fest an sich
als hätte er Angst Ryutaro könnte davonlaufen. (Völliger Unsinn, denn:)
Dieser stand steif wie eingefroren da und schluchzte in die Brust seines
Geliebten.
"Ryu, was um alles in der Welt ist passiert?!"
*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*
"Sag doch was, Kaoru!"
Toshiya schluchzte verzweifelt auf.
Der Violetthaarige versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er räusperte sich.
"U-und was erwartest du von mir? Was soll ich dir antworten?"
Toshiya blinzelte ihn durch verquollene Augen an.
"Ich weiß, dass du... meine Gefühle nicht... erwidern... kannst. Du hast eine
Freundin. I-ich weiß doch selbst nicht, was ich will..." Er brach wieder in
heftiges Schluchzen aus.
"Toshiya ich- ich", Kaoru hob hilflos die Arme.
Die Tür ging auf und Hakuei stand im Raum.
"Halt die Klappe, Kaoru!", zischte er, "Du hast schon genug angerichtet!"
Er eilte zu Toshiya und versuchte ihn in die Arme zu ziehen doch dieser
sträubte sich mit aller Kraft.
"Nein, das ist nicht wahr, Kaoru kann nichts dafür! Es ist alles meine Schuld!
Es... tut mir leid..."
Kaoru erhob sich vom Bett und starrte seinen blauhaarigen Freund an.
"Totchi... es tut mir leid, dass ich dir nicht die Antwort geben kann, die- wie
du gesagt hast, ich habe eine-... ist vielleicht besser wenn ich jetzt gehe..."
Er klopfte dem anderen kurz auf die Schulter.
"Finger weg", knurrte Hakuei. "Und zieh Leine."
Kaoru entgegenete nichts. Er blickte noch einmal hilflos zu Toshiya hinüber,
dann sah er betreten zu Boden und verkrümelte sich wortlos.
"K-Kao-ru-"
"Schsch", machte Hakuei und nahm den anderen endlich in den Arm.
"Dir wird es bald besser gehen. Dann kannst du ihn vergessen. Glaub mir. Bald
tut es nicht mehr so weh..." Der Schwarzhaarige lächelte betrübt, jede Spur
von Sarkasmus wie weggewischt.
::Dann kannst du mich lieben.::
Das Wochenende verlief in diesem Sinne nicht gerade rosig. Um ehrlich zu sein,
war es das grauenvollste Wochenende, das Toshiya je erlebt hatte. Das Wochenende
des Schreckens. Das Wochenende der betrogenen Gefühle und gebrochenen Herzen.
Das Wochenende der blutenden Seelen und tanzenden Teufel. Das Wochenende, an dem
ein schwarzes Phantom mit Rüschenröcken und Handschuhen die letzte Phase
seines schrecklichen Plans in Angriff nahm. Das Wochenende, an dem Takumi einen
riesigen, fatalen Fehler machte. Das Wochenende, an dem Sakito beschloss
Plätzchen in Tannenbaumform zu backen obgleich Weihnachten erst in zwei Monate
war. (=.= mir scheint ich vernichte gerade die dramatische Stimmung)
Sonntagabend klopfte es an Toshiyas Zimmertür.
"Hai?", hauchte der Junge und richtete sich im Bett auf (das er seit dem vorigen
Tag nicht mehr verlassen hatte). Die Türe öffnete sich geräuschlos und Hakuei
trat ein. Lange stand er einfach nur da und musterte das bleiche, eingefallene
Gesicht seines Koi.
"Du musst etwas essen, Totchi...", begann er schließlich und griff vorsichtig
nach der Hand des Blauhaarigen. Dieser antwortete heiser: "Uruha hasst mich."
"Wieso bist du dir da so sicher?", erwiderte Hakuei.
Toshiya zuckte die Achseln.
"Weißnich... ich habe ihn nicht mehr gesehen... vielleicht ist er gar nicht
nach Hause gekommen... vielleicht hat er sich... umgebracht!"
Hakuei ließ die Hand seines Koi fallen.
"Nun hör schon auf die solche schwachsinnigen Dinge auszumalen! Komm mit."
Er packte den Blauhaarigen an beiden Schultern und zog ihn auf die wackeligen
Beine.
Einen Moment lang betrachtete er ihn. Dann schüttelte er den Kopf.
"Nein, so geht das nicht."
Ohne auf den kraftlosen Protest seines Mitschülers zu achten, nahm ihn Hakuei
auf den Arm und trug ihn aus dem Zimmer.
"Du schreckst doch auch vor gar nichts zurück, oder?"
Sakito beobachtete mit hochgezogener Augenbraue, wie Hakuei seinen Koi auf einem
Küchenstuhl abgesetzte.
"Er muss etwas essen und braucht mal Abwechslung. Wenn er ewig in seinem Zimmer
hockt, geht er noch ein", antwortete der Schwarzhaarige schlicht und legte
Toshiya eine Decke um die Schultern.
"Ahso, deswegen bringst du ihn hier runter. Wenn es ihn nicht umbringt macht es
ihn gesünder."
"Genau."
"Hakuei, mein Bruder ist krank. Er wird nicht gesund, wenn du ihn im Haus
herumschleifst! Er braucht Ruhe!"
"Kümmer dich lieber um deinen Freund. Der sieht so aus, als ob er es bitter
nötig hätte", erwiderte Hakuei und warf einen Blick auf Ryutaro, der,
ebenfalls in eine Decke gewickelt, auf seinem Stuhl saß und apathisch in eine
Zimmerecke starrte. Sakito warf Hakuei einen finsteren Blick zu, zog dann aber
seinen Koi in die Arme und wiegte ihn sanft hin und her. Ryutaro begann leise zu
weinen.
"Schsch, alles wird gut...", murmelte Sakito und strich mit einem Daumen über
die weiße Wange seines Freundes. Ryutaro weinte nur noch heftiger. Tränen
liefen über Sakitos Finger und tröpfelten auf den Fliesenboden. Das Licht der
Hydroperiskopischen Küchenlampen brach sich darin wie auf Kristallsplittern.
"Ich hab solche Angst, Saki...", flüsterte der zierliche Junge mit
schreckensstarrer Miene.
"Was ist passiert?" Toshiyas Augen waren nicht mehr von einem glasigen Blick
überzogen, sondern blickten geradeaus auf den dunkelhaarigen Jungen, der
bitterlich weinte und den Eindruck erweckte, dass jemand ihn in tausend Teile
zerrissen hatte. Sakito warf ihm einen Blick zu, als Ryutaro kaum merklich
nickte und sich dann enger an seine Brust schmiegte, sagte er leise: "Ryu...
wird verfolgt."
"Was?", riefen Toshiya und Hakuei wie aus einem Munde. Der Blauhaarige war auf
einmal hellwach.
"Ja, er traut sich nicht mal mehr auf die Straße. Er hat sogar Drohbriefe
bekommen."
"Wer tut sowas?", hauchte Toshiya und musterte den zierlichen Jungen mit dem
sanften Lächeln und den weichen Augen. Im Augenblick erinnerte Ryutaro jedoch
eher an ein verschrecktes Häschen.
"Ich habe keine Ahnung", brummte Sakito, "doch ich werde es herausfinden und wer
immer es getan hat wird teuer dafür bezahlen."
"Hast du eine Idee, wer dich verfolgen könnte, Ryu?", fragte Toshiya sanft,
woraufhin der schmale Japaner leicht zusammenzuckte.
"Ich erinnere mich an schwarze und dunkelblaue Kleider. Weite Röcke... und
Handschuhe. Und an emotionslose kalte Augen...", antwortete Ryutaro kaum hörbar
und begann zu zittern.
"Eine Frau?"
Hakuei runzelte die Stirn.
"Kennst du vielleicht irgendwelche Irren oder Perversen?"
"Außer Saki niemanden", gab Ryutaro zur Antwort. Er schniefte leise und wischte
sich mit der Hand über sein tränenüberströmtes Gesicht.
"Hab keine Angst, wir beschützen dich, ja?", sagte Toshiya mit einem Lächeln
und setzte sich gerade (so gerade wie es bei seinen schmerzenden Gliedern
möglich war).
"Ich koche uns erst einmal was", erklärte Sakito, wickelte die Wolldecke
behutsam ein wenig enger um die Schultern seines Freundes, dann stand er auf,
drückte einen Knopf neben der Tür und öffnete den Kühlschrank, der einen
Herzschlag später erschien.
"Was möchtet ihr denn?"
Toshiya rieb seinen schmerzenden Kopf. Die Sache mit Ryutaro hatte ihn von den
Ereignissen der letzten Tage und von Kaoru abgelenkt und er zwang sich mit aller
Gewalt nicht wieder daran zu denken. Im Augenblick gab es wichtigere Dinge.
"Was ist das da eigentlich wirklich?", fragte er zurück und deutete auf den
leicht pulsierenden Apparat in der Mitte des Raumes aus dem unzählige
Schläuche heraus und wieder hineinführten.
Sakito warf seinem Bruder einen Blick zu.
"Lenk nicht ab."
"Sag es mir."
"Ich dachte du bist krank."
"Nicht so krank, dass ich bereitwillig mein Leben riskiere. Also, was ist es?"
Sakito seufzte schwer auf.
"Es ist ein atomarer Schneckenkasten mit angeflanschten Hydromotoren."
"Ein was?", stotterte Toshiya und starrte auf die angeflanschten Hydromotoren an
den Seiten des Apparates (von denen er natürlich nicht wusste, dass sie
Hydromotoren und ausgerechnet auch noch angeflanscht waren).
Sakito seufzte ein zweites mal noch viel schwerer auf, schloss kurz die Augen
und antwortete dann langsam mit unheimlicher Qual in der Stimme: "Ein
Heizofen."
"Ach so", murmelte Toshiya und war zufrieden.
"Saki, was zum Teufel ist das?", fragte Toshiya mit heiserer Stimme. Er war
dabei auf etwas sehr Zähem herumzukauen, das einen merkwürdigen Nachgeschmack
im Mund hinterließ.
Sakito blickte kurz von seinem Teller auf und musterte Toshiya. Dann senkte er
die Augen wieder und aß weiter.
"Fleisch."
"Welches Fleisch."
Sakito warf seinem älteren Bruder wieder einen ausgiebigen Blick zu.
"Gutes Fleisch."
"Ich glaube, er meint welches Tier", erklärte Ryutaro mit seiner leisen
Stimme.
Sakito blickte zum dritten mal auf, antwortete aber nicht.
"Und jetzt tu nicht so, also ob du den Mund voll hättest, sondern gib ihm ne
Antwort", sagte Hakuei, dem langsam der Geduldsfaden riss.
"Was du nicht weißt macht dich nicht heiß", erwiderte Sakito mit nervösem
Lächeln und schob seine letzt Gabel in den Mund. Toshiya starrte seinen kleinen
Bruder an.
"So schrecklich? Vielleicht... Yeti?"
"Quatsch, es gibt keine Yetis."
"Archäopterix?"
"Hatten wir gestern."
"Affe?"
Sakito stand auf und trug sein Geschirr zum Spülbecken. Als er in aller Ruhe
begann seinen Teller abzuspülen, hakte Hakuei nach: "Also tatsächlich Affe?"
Er griff sich an die Kehle.
Sakito drehte sich zu ihm um und lächelte vergnügt.
"Fast."
Er begann eine Melodie zu pfeifen.
"Was denn dann?"
Sakito warf ihm wieder einen kurzen Blick zu.
"Mensch."
Er pfiff weiter.
"Hier." Damit hob er ein Buch hoch, das auf der Anrichte gelegen war, damit die
anderen den Schriftzug lesen konnten: 1500 Kannibalische Genüsse.
Ryutaro erbleichte. Hakuei spuckte schnell den Bissen, den er im Mund hatte, in
seine Serviette. Toshiya schlug sich die Hand auf die Lippen.
"Ich dachte, das wäre metaphorisch gemeint", nuschelte er durch seine Finger.
"Nun, nein. Wie du siehst nicht."
Als er in die erstarrten grünlich gefärbten Gesichter der anderen Jungen sah,
fuhr er fort: "Nun seht mal, es ist auch von freilaufenden Lebewesen, hundert
Prozent biologisch, besonders an den Fingern sehr weiches Fleisch, aber bis du
das abbekommst, puh, ich sage euch-"
"Danke Sakito. Ich glaube mehr möchte ich nicht wissen." Toshiya schloss die
Augen und atmete dreimal tief ein und aus. Dann noch einmal. Sein jüngerer
Bruder zuckte nur die Achseln.
"Was hast du denn? Rind und Schwein findest du doch eklig, so viele andere
Möglichkeiten gibt es da nicht. Tsss, Weichlinge, dabei nehme ich doch nur
welche, die natürlichen Todes-"
"SAKITO!!"
"Ja ja, schon gut..."
*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*
"Und du bist dir sicher, dass du in die Schule willst?"
"Sakitos Essen hat mich kuriert, Hakuei", erwiderte Toshiya mit trockenem
Lächeln.
"Uh, verstehe, wenn du Zuhause bleibst..."
"...muss ich auch Zuhause essen, genau."
Eine kurze Pause entstand. Toshiya beobachtete die Blätter, die im Herbstwind
über den Gehsteig fegten. Nachdem er gestern Abend darauf bestanden hatte
Montagfrüh wieder zur Schule zu gehen, hatte ihn Hakuei extra um viertel nach
sieben abgeholt, damit sie zusammen laufen konnten. Zwar zitterten seine Beine
und er bewegte sich nur sehr vorsichtig und langsam, seine Augen tränten und
sein Hals brachte ihn fast um, doch die frische Luft tat ihm gut (schlagendes
Argument um mit Grippe in die Schule zu gehen).
"Naja", begann Hakuei plötzlich, "er hätte nicht unbedingt erwähnen müssen,
warum der Postbote nicht mehr kommt. Glaubst du, wir haben echt
Briefträgerfleisch gegessen?"
"Nein, glaube ich nicht. Ich traue meinem Bruder sehr viel zu, aber das nicht.
Ich schätze, das ist seine Art von Humor. Vermutlich war es in Echt Eisbär
oder Biesamratte oder so."
Toshiya gluckste. Hakuei verzog angewidert das Gesicht.
"Entzückende Familie, wirklich. Ein Wunder, dass du noch lebst. Du bist dir
sicher, dass dein Bruder mit seinen Chemikalien nicht deinen Verstand verwirrt
hat?"
"Das hat er einmal versucht, aber ich konnte das Giftzeug noch rechtzeitig
ausspucken, bevor es mir das ganze Gehirn weggeätzt hat."
"Oh, na dann..."
Auf dem Schulhof tummelten sich hunderte von Schülern, die redeten, stritten
und voneinander Hausaufgaben abschrieben. Der Boden war feucht, da es die ganze
Nacht geregnet hatte und die Luft duftete nach Erde.
::Ich liebe Herbst::, dachte Toshiya bei sich, als er und Hakuei sich durch die
Schülermassen drängten. Der Blauhaarige fühlte sich ein erhebliches Stück
besser und er war heilfroh in die Schule gekommen zu sein. Irgendwann musste er
Kaoru ja gegenübertreten und wenn er es nicht bald tat wurde er noch
wahnsinnig. Kaoru... er konnte nicht aufhören an ihn zu denken. Toshiya
beobachtete wehmütig ein Pärchen, das etwas abseits an der Schulmauer stand
und sich innig umarmte. Auf einmal spürte er, wie jemand seine Hand nahm.
"Du siehst so traurig aus", flüsterte Hakuei und drückte Toshiyas kalte
Finger. Toshiya lächelte matt.
"Ich fühle mich nicht so gut..."
"Das habe ich dir gleich gesagt. Du hättest im Bett bleiben sollen."
Der Blauhaarige zuckte die Achseln. Dann runzelte er die Stirn.
"Hakuei?"
"Hm?"
"Ich habe eine komische Vorahnung."
"Was meinst du?"
"Ich weiß nicht. Ich habe ein furchtbares Gefühl... ich überlege die ganze
Zeit ob dieser Englischlehrer etwas mit Ryutaros Verfolgung zu tun hat. Dieser
Camui Typ hat ihn schon einmal bedrängt... mich lässt das Gefühl nicht los,
das etwas Schlimmes passieren wird..."
Hakuei drehte sich zu Toshiya um und nahm ihn in den Arm. Der Blauhaarige ließ
es geschehen. Es fühlte sich gut an, so warm. Aus irgendeinem Grund war es ihm
plötzlich gleich, ob ihn jemand sah. Sollten sie doch denken, was sie wollten.
Kaoru wusste alles und schlimmer konnte es sowieso nicht kommen.
"Hey! Hara Toshimasa!!"
Toshiya drehte sich verwundert in Hakueis Armen um. Vor ihm stand ein zierlicher
kleiner Junge mit schwarzem Haar und blonder Strähne und schaute ihn mit
durchdringendem Blick an. Beinahe verletzt. Es begann zu tröpfeln.
"Kyo?"
Toshiya hätte ihn mit der anderen Haarfarbe fast nicht erkannt.
"Hast du Takumi gesehen?"
Vor lauter Überraschung vergaß der Blauhaarige zu antworten. Stattdessen
fragte er zurück: "Du suchst Takumi?? Ich dachte du hasst ihn?"
Als Kyos Augen an seinem Körper herabglitten fiel Toshiya auf, dass Hakueis
Hände noch immer auf seinen Hüften ruhten.
::Wie peinlich! Na ja, ist eigentlich auch schon egal...::, dachte Toshiya
errötend, schob die Hände seines Mitschülers aber trotzdem von sich. Es war
ihm unerklärlicherweise ziemlich unangenehm in dieser Situation von Kyo gesehen
zu werden.
"Antworte auf meine Frage", entgegnete der Schwarzhaarige scharf und beäugte
Toshiya mit seinem Katzenblick.
"Ich habe ihn nicht gesehen. Wieso auch? Warum gerade ich?"
Toshiya hatte das Gefühl, dass etwas Merkwürdiges vor sich ging. Kyo verengte
die Augen zu Schlitzen.
"Du bist doch Uruhas Bruder."
Daraufhin drehte er sich um und ging weg - jedoch nicht ohne Hakuei noch einmal
von oben bis unten zu mustern.
Toshiya blickte dem schwarzen Haarschopf verwirrt hinterher.
"Uruha? Was hat denn Takumi mit Uruha zu tun?"
"Totchi! Toshiya!!"
Das Gesicht des Blauhaarigen hellte sich auf.
"Shinya!"
Der Blonde lächelte vergnügt und verbeugte sich zur Begrüßung. Dann wandte
er sich an Hakuei.
"Und du bist..."
"Hakuei", antwortete der Schwarzhaarige knapp.
Shinya warf Toshiya einen fragenden Blick zu, dieser blickte zu Boden.
"Ich muss dir nacher noch was erzählen...", flüsterte er. "Hast du Kaoru
gesehen?"
"Der ist krank", sagte eine Stimme hinter Shinya. Toshiya riss überrascht die
Augen auf.
"Die?!?!"
Der Rotschopf trat breit grinsend neben seinen blonden Mitschüler und zog ihn
eng an sich.
"The one and only."
Nun war es Toshiya, der seinen beiden Freunden einen fragenden Blick zuwarf.
"Naja wir... wir...", begann Shinya errötend, doch Die unterbrach ihn.
"Er möchte eigentlich sagen, dass er meinem unglaublichen Charisma nicht
länger widerstehen konnte. Er betet mich an, müsst ihr wissen."
Shinya knuffte dem Rothaarigen mit dem Ellbogen in die Seite.
"Hört nicht auf diesen Idioten", murmelte er hochrot, "eigentlich habe ich ja
nur Mitleid mit ihm."
Die grinste frech und legte seine Lippen an Shinyas Hals.
"Sicher doch...", nuschelte er und setzte einen sanften Kuss auf die weiße
Haut. Der Blonde schloss die Augen, der rote Hauch, der auf seinen Wangen lag,
ließ ihn aussehen wie ein frisch verliebtes Schulmädchen.
Toshiya konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, das ihm jedoch verging als er
spürte wie Hakuei ihm wieder die Hände um die Hüfte legte und ihn an sich
drückte.
"Siehst du? So geht das. Du musst es erwidern", hauchte er in Toshiyas Ohr.
Der Blauhaarige spürte plötzlich wie etwas Hartes gegen seine Oberschenkel
drückte und machte entsetzt einen Schritt nach vorne.
"Das kann ich nicht, das weißt du. Es... tut mir leid..."
Ohne die anderen drei noch einmal anzublicken bahnte er sich so schnell er
konnte einen Weg durch die Menge auf das Schulgebäude zu.
Die und Shinya blickten ihm wortlos nach. Als Hakuei Anstalten machte, seinem
Koi zu folgen, hielt der Rotschopf ihn an der Schulter zurück.
"Hey, lass mich gehen, ich muss ihm nach! Er ist krank, was wenn er schlapp
macht?"
Wütend versuchte der Schwarzhaarige die Hand abzuschütteln, doch Die sah ihn
nur einringlich an und erwiderte: "Ich glaube wir sollten uns mal unterhalten."
Toshiyas Herz raste und das Blut pochte ihm in den Ohren, doch er dachte nicht
daran stehenzubleiben.
::Ich bin Schuld an allem. Ich mache alle anderen nur unglücklich.::
Toshiya lehnte sich, am Schulgebäude angekommen, gegen die Mauer und beruhigte
seine zitternden Knie. Hakueis Erregung zu spüren war mehr als er ihm
Augenblick ertrug. Vor seinen Augen wurde es schwarz, doch er zwang sich bei
Besinnung zu bleiben. Wenn er krank war, kippte er leicht um, also holte er tief
Luft und bemühte sich das Schwindelgefühl loszuwerden. Als Toshiya eine halbe
Minute später wieder aufblickte, sah er direkt in Kyos Augen. Der zierliche
Japaner stand ein paar Meter weiter weg alleine in den Schülerscharen und
beobachtete ihn.
::Was-::, dachte Toshiya und richtete sich auf, doch noch bevor er etwas sagen
konnte, hatte der andere Junge sich bereits umgedreht und war verschwunden.
::Was sollte das denn? Wie lange hat er mich schon so beobachtet? Wenn er
irgendwas wissen will, wieso fragt er dann nicht einfach?::
Völlig verwirrt machte sich der Blauhaarige auf den Weg ins Klassenzimmer,
tausend unbeantwortete Fragen im Kopf. Wieso war Kaoru nicht in der Schule? Und
was ging nur mit Kyo vor sich? Je häufiger er diesen Jungen erlebte, desto
geheimnisvoller und unerklärlicher erschien ihm sein Verhalten. Toshiya kramte
seinen Stundenplan hervor und warf einen müden Blick darauf.
"Oh nein!"
Er ließ die Hand stöhnend sinken.
"Mathe. Auch das noch..."
"Puh, das Wetter ist echt abgekühlt. Der Wind ist eiskalt..."
Shinya wickelte sich einen Wollschal um den Hals und kuschelte sich in Dies
Arme. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zur Männertoilette im zweiten
Stock und ein völlig durchnässter Toshiya stolperte herein. Er nieste und
putzte sich die Nase.
"Sauwetter."
"Wieso bist du denn so nass? Du siehst aus wie ein begossener Pudel.." Die
grinste und knackte eine Pistazie.
"Die!" Shinya warf seinem Koi einen tadelnden Blick zu.
"Ich war auf dem Pausenhof weil die Lehrer uns rausgeschickt haben, kaum waren
wir draußen hat ein richtiger Platzregen eingesetzt und wir durften ins
Schulhaus zurück", erklärte Toshiya und zog seinen Mantel zitternd enger.
"Ich fühle mich wie eine Orange in einem Wodka Tonic."
Die blinzelte.
"Da sind doch Zitronen drin."
Der Blauhaarige ließ sich an der Wand zu Boden rutschen und blickte trüb vor
sich hin.
"Eben", flüsterte er, "total fehl am Platz."
Shinya und Die warfen sich einen Blick zu.
"Hakuei hat uns erzählt, was mit Kaoru passiert ist", begann Shinya vorsichtig
und kniete sich zu seinem Freund auf den Boden.
"Wir mussten ihn zwar erst prügeln, aber dann hat er mit der Sprache
rausgerückt", warf Die ein.
"Das tut mir so leid, Totchi", flüsterte der Blonde und schloss den anderen
fest in die Arme. Toshiyas Augen wurden feucht, doch er hielt die Tränen mit
aller Kraft zurück.
"Ich weiß nicht mehr was ich machen soll, oder was richtig ist. Ich habe das
Gefühl ich habe alles falsch gemacht. Alles ist meine Schuld. Jetzt hab ich
meine Freundschaft mit Kaoru total zerstört, dabei... dabei ist er mir so
wichtig. Und Hakuei verletze ich nur durch mein Verhalten. Ich bin so ein
Arsch..."
"Stimmt", sagte Die und zog ein belegtes Brötchen aus der Tasche.
"DIE!!", rief Shinya empört.
"Das ist erst mein drittes heute", verteidigte sich Die, doch Shinya rollte mit
den Augen.
"Das meine ich doch nicht Idiot! Du kannst von mir aus essen bis du platzt. Ich
meine Totchi! Er kann doch nichts dafür. Du hast einfach Pech, ehrlich gesagt
wüsste ich in deiner Situation auch nicht wie ich mich verhalten sollte. Aber
es war so mutig von dir es Kaoru zu sagen. Die hat ihn gestern besucht..."
"...nicht lange, ich war eigentlich gerade auf dem Weg zu Subway, da hab ich nur
kurz mal vorbeigeschaut...", kaute Die.
"...und er hat gesagt, dass Kaoru total fertig aussah. Es geht ihm wirklich
nicht gut. Du bist ihm wichtig, Toshiya, sonst würde er sich das nicht so zu
Herzen nehmen. Was glaubst du, weshalb er heute nicht in der Schule ist? Er ist
auch völlig durcheinander."
"Und ich bin Schuld", schluchzte Toshiya. Stille fiel über die Toilette. Der
Blauhaarige rieb sich seine brennenden Augen. Shinya stieß Die mit dem Ellbogen
an um ihm zu bedeuten, dass er ihren Freund trösten solle, also kniete sich der
Rotschopf auf den Boden und nahm Toshiyas Hand. Und legte ein Sandwich hinein.
"Hier für dich. Iss was, dann geht's besser. Das ist mein letztes."
*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*+*
"Ich dachte es wäre dein letztes gewesen", sagte Shinya stirnrunzelnd, als er,
Die und Toshiya nach der Schule über den Pausenhof liefen.
"Mein letztes Sandwich. Das hier ist ein Chow-Mein Brot, das ist etwas völlig
anderes", erklärte Die und biss von seinem Brot.
"Ahso."
Eine Weile trotteten die drei Freunde schweigend nebeneinander her.
"Sagt mal... was habt ihr eigentlich zu Hakuei gesagt? Er hat mich heute völlig
in Ruhe gelassen. Er hat nicht mal versucht mich zu küssen..."
Shinya legte den Zeigefinger auf seine Lippen und zwinkerte. (gruselige
Vorstellung irgendwie O.O)
"Geheimnis", lächelte er.
"Wir haben ihm eingebläut, dass er, wenn du ihm echt so wichtig bist und er
sich irgendwas erhofft, die Finger von dir lassen soll. Grob gesagt. Shinyas
Wortlaut war eher: Leg noch einmal Hand an ihn und ich schlag dir die Zähne
ein", sagte Die und stopfte sich den Rest seines Chow-Mein Brötchens in den
Mund.
"DIE!", rief Shinya und kniff seinen Geliebten mit mörderischem Lächeln in die
Wange. "Ein Geheimnis ist deswegen eins, weil man nicht verrät, was es ist."
"Du tuft mia weh, Finja."
Der Blonde ließ die Wange seines Freundes los und redete ungerührt weiter:
"Jedenfalls: Wenn du nichts von ihm willst, dann lass dich von Hakuei zu nichts
zwingen. Tu einfach mal das, was du für richtig hälst. Und Kaoru - ich kenne
ihn schon lange, glaub mir, er ist nicht sauer auf dich. Er sitzt jetzt sicher
Zuhause und hat die heftigsten Schuldgefühle."
"Oder er fängt Toshiya und seine anderen beiden Freunde, die mehr reden, als
ihnen gut tut, nach der Schule ab um eine Lösung zu finden. Oder um sie für
immer verschwinden zu lassen. Hee hee."
Die drei Jungen wirbelten herum. Die kaute mit scheelem Blick an seinem
Okonomyaki.
"Kaoru? Was für Drogen hast du genommen?"
Kaoru lächelte gequält.
"Das war nur ein Scherz Die... ohne euch würde ich sterben, das wisst ihr
doch... Toshiya..."
Der Blauhaarige starrte Kaoru mit klopfendem Herzen an. Wie sollte er sich jetzt
nur verhalten?
"Toshiya...", begann Kaoru erneut, trat an seinen Freund heran - und legte ihm
die Hand auf die Stirn.
"Du hast immer noch leicht Fieber. Wieso schleppst du dich in die Schule, du
bist wirklich bescheuert!", sagte er kopfschüttelnd.
"Tut mir leid", murmelte Toshiya, während er spürte, dass er sich nicht mehr
lange beherrschen konnte. Ihm war zum Heulen zumute. Oder zum Schreien.
"Tut mir so leid... alles tut mir-"
"Nun hör schon auf", widersprach der Violetthaarige und schloss seinen
Mitschüler in die Arme.
"Dir muss nichts leid tun. Für seine Gefühle kann man nichts. Ich sollte mich
entschuldigen, ich habe mich völlig idiotisch verhalten..."
("Stimmt", sagte Die mit vollem Mund.
"Da-hai!", zischte Shinya, "unterbrich sie jetzt nicht. Und den Stiel kann man
nicht essen."
"Hmpf", machte Die und warf eine Handvoll Äste, an denen mal Johannisbeeren
gehangen haben mussten, auf den Boden.)
"Ich war so überrascht, dass ich nicht wusste wie ich mich verhalten soll. Auch
wenn ich deine Gefühle nicht erwidern kann", flüsterte Kaoru so leise, dass
nur Toshiya es hören konnte, "...unsere Freundschaft soll die gleiche bleiben.
Einverstanden?"
Toshiya schluckte die Tränen hinunter. Es tat so gut von Kaoru gehalten zu
werden, auch wenn der andere es nicht so meinte wie er selbst.
"Einverstanden."
"Finger weg."
Hakuei zog seinen Koi aus den Armen des Klassensprechers.
"Bei dir piept's wohl. Er gehört mir. Du wolltest ihn nicht, jetzt ist es zu
spät um es sich anders zu überlegen."
Die prustete in seinen grünen Tee.
" Bei dir piept's wohl ? Wo hat er das denn her... wie affig..."
Kaoru warf dem Schwarzhaarigen einen vernichtenden Blick zu.
"Dich wird man echt nie los", brummte er. "Wenn du uns schon belauscht, dann
solltest du dir wenigstens die Mühe machen richtig zuzuhören."
"Klappe du Gockel", zischte Hakuei zurück und die folgenden fünf Minuten
versuchten die beiden sich gegenseitig mental zu erwürgen.
Bis -
"AAAAAAAAAAAAHHHHHHHH!!!!!!!!!"
Kaoru und Hakuei drehten sich um. Shinya und Toshiya erstarrten. Die versuchte
mit seinen Stäbchen das Gemüse aus seiner Pekingsuppe spezial zu fischen.
"Das... das war Ryutaro!", keuchte Toshiya und noch ehe jemand etwas erwidern
konnte, stürzte er bereits in die Richtung aus der der Schrei gekommen war.
Vor dem Schulgebäude dicht bei der Hecke und den Blumenbeeten saß Ryutaro im
Matsch. Seine Augen waren vor Schreck geweitet, Tränen rollten über die
blassen Wangen. Neben ihm stand ein sehr großer Mann mit vielen Tätowierungen
und einem auffälligen Lippenpiercing. In seiner Hand trug er einen Stapel
Alubehälter. (ihr wisst schon, solche in denen man Essen warm hält)
Toshiya, gefolgt von Shinya, Die, Hakuei und Kaoru blieb vor dem schmalen Jungen
stehen. Der Blauhaarige kniete sich neben Ryutaro in den Schlamm.
"Ryu, was ist passiert?"
Der Japaner antwortete nicht, er starrte nur weiter mit aufgerissenen Augen auf
den Boden.
"Echt mal, Junge, wieso schreist du denn so? Entspann dich, mach ein bisschen
Yoga...", sagte der große, schwarzhaarige Mann. Die vier Schüler starrten ihn
an.
"Und wer bist du?", fragte Shinya mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Ich bin Miyavi, Lieferant des Chinesischen Imbisses "Happy" in der
Hauptstraße. Will jemand ne Pekingsuppe?"
Er hielt den anderen die Alubehälter unter die Nase.
"Nein danke", sagte Kaoru.
"Ich", sagte Die.
"Was ist passiert?", sagte Toshiya.
"Ich glaube ich nehme gleich zwei", sagte Die.
"Jetzt seid doch mal still", mahnte Toshiya.
Ryutaro hob sehr langsam den Kopf und flüsterte: "Er war da... er wollte mich
holen kommen..."
"Wer war da, Ryu?", fragte Shinya leise und kniete sich neben Toshiya.
"ER", antwortete Ryutaro.
"Wie informativ", murmelte Die.
"Und ich sage, Yoga hilft wirklich", erklärte Miyavi.
"Und weiter?" Shinya nahm die schlammigen Hände des zierlichen Jungen in seine
eigenen und drückte sie sanft.
"Er hat mich verfolgt... bis in die Schule... und gewartet... vor dem
Schulhaus... er will mich holen... kalte Augen...", hauchte Ryutaro mit
brechender Stimme und begann furchtbar zu zittern.
"Weißt du, wer er ist?", sagte Toshiya behutsam.
Ryutaro nickte stockend.
"Er... er ist..."
Plötzlich keuchte er. Seine Augen blickten an Shinya und Toshiya vorbei starr
geradeaus.
"Er ist..."
Die anderen wirbelten herum. Sogar Die war so überrascht, dass er eine
Sojabohne fallen ließ.
Dann sahen sie ihn.
Er stand am anderen Ende des Pausenhofs. Sein nachtschwarzes Haar wehte im Wind.
Seine Rüschenröcke raschelten wie verdorrtes Laub auf alten vergessenen
Gräbern. Seine Haut war weiß wie Porzellan, seine Augen schimmerten eisig und
tödlich. Ein Mensch?
"W-wer?"
Die Jungen starrten erschrocken auf das Wesen, das geräuschlos über den
matschigen Boden wandelte und in ein paar Metern Entfernung vor ihnen
stehenblieb. Der kalte Blick bohrte sich tief in ihre Augen und Herzen. Aus
dieser Nähe konnte man erkennen, dass er ein Gothic Lolita Kostüm trug und
seine Lippen stark überschminkt waren. Von seinem linken Arm wehten schwarze
Samtbänder auf die in gotischen Buchstaben Mana gestickt war.
"Es ist...", begann Ryutaro wieder, seine Stimme nichts als der Hauch eines
sterbenden Lebewesens.
Auf einmal bemerkte Toshiya, dass das Phantom ein Schild in der rechten Hand
hielt.
Darauf stand: "Ho ho ho."
Und darunter: "Wart ihr auch alle brav?"
Der Blauhaarige starrte verständnislos auf die Aufschrift, ein kalter Schauer
jagte ihm über den Rücken.
"Es ist...", begann Ryutaro erneut mit brüchiger Stimme.
Shinya schrie auf und schlug sich die Hand vor den Mund.
"ES IST DER WEIHNACHTSMANN!!!"
"Daishi? Was versteckst du da?"
Der Schwarzhaarige sah zu seinem kleinen Bruder auf und grinste belämmert.
"Nichts... gar nichts..."
Kyo betrachtete ihn angeekelt.
"Zu bist ja total dicht. Echt jämmerlich."
Er ließ sich in einen Sessel fallen.
"Und wo wir schon dabei sind: Wem gehört eigentlich die Wohnung hier?"
Daishi grinste bescheuert.
"Das Leben ist ein Swimmingpool des Wahnsinns", antwortete er.
"Gib dir keine Mühe Idiot", murmelte Kyo, stand wieder auf und ging.
"Tsssshihihi, dir wird das Lachen schon vergehen... ich weiß genau was du
fühslt... hihi... ich kenne dich gut... ich durchschaue dich kleiner Bruder...
und ich werde dir wehtun... ich verletzte die beiden Personen die dir wichtig
sind... und du kannst es nicht verhindern...", murmelte Daishi mit irrem Grinsen
vor sich hin.
"Spinner", zischte Kyo als er aus dem Hochhaus auf die verlassene Gasse trat.
::Aber ich habe ein komisches Gefühl... vielleicht sollte ich ein Auge auf ihn
haben...::
Doch zuerst musste er seine Ware loswerden. Der Ort war gut, der Zeitpunkt
günstig. Es hatte zu regnen begonnen, bei diesem Wetter trieben sich hier
selten Polizisten herum. Sie fuhren dann mit ihren beheizten Autos Streife in
der Innenstadt von Imbiss zu Imbiss, also musste man sich als Profi einfach nur
Plätze suchen, die in Autos nicht zu erreichen waren. Und diese schmale Gasse
mit ihren unzähligen alten Hinterhöfen war perfekt. Auf Kunden würde er nicht
lange warten müssen, das wusste er.
"Oh... oh Gott", keuchte Toshiya entsetzt. Er hatte geahnt, dass so etwas eines
Tages passieren würde.
"Ja...", flüsterte Ryutaro mit schreckensstarrem Blick, "der Weihnachtsmann."
Das Wesen im schwarzen Gothic-Lolita Dress hielt ein neues Schild hoch: Sehr
richtig. Ich hoffe ihr wart auch brav.
Auf einmal machte es einen Satz nach vorne, was die Jungen erschrocken
zusammenfahren ließ. Ryutaro wimmerte leise und Toshiya rann der Schweiß von
der Stirn.
Mana - oder auch der Weihnachtsmann - nahm einen großen, braunen Sack von
seinem Rücken und holte mit seinen schmalen, behandschuhten Fingern etwas
heraus.
"Nein... bitte nicht...", hauchte Ryutaro, als der Mann im Rüschenkleid ihn mit
kalten Augen fixierte.
"Nimm mich an seiner Stelle", rief Toshiya plötzlich und warf sich vor den
zitternden schwarzhaarigen Jungen. Mana holte aus - Toshiya kniff die Augen
zusammen, die anderen hielten verängstigt den Atem an -
Nach einer halben Minuten wagte Toshiya zu blinzeln.
"Er ist weg... es ist vorbei", sagte Shinya leise und holte Luft. Ryutaro begann
zu weinen, Kaoru trat hinter ihn und strich ihm über den Rücken.
"Da, schau!", rief Shinya plötzlich aus und deutete auf Toshiyas Brust.
Der Blauhaarige blickte an sich hinab. Vorne an seiner Jacke heftete ein
Anstecker auf dem stand: Ich bin ein Spargel.
"Oh Gott wie furchtbar", murmelte Shinya und schlug sich entsetzt die Hand vor
dem Mund.
"Ich... ich bin aber keiner", flüsterte Toshiya zitternd.
"Darf ich ihn haben?", fragte Die plötzlich, der fünf leere Alubheälter auf
dem linken Arm balancierte. Von Miyavi war weit und breit nichts zu sehen.
"Bitte... wenn du willst...", antwortete Toshiya, woraufhin Die den Button von
seiner Jacke nahm und ihn an die eigene heftete.
Hakuei stand einfach nur da und wusste nicht ob er schreien oder lachen sollte
oder beides.
"Ich brauch jetzt nen Kaffee", murmelte Toshiya und erhob sich mühsam aus dem
Schlamm.
"Von mir aus auch einen aus radioaktivem Pulver, er muss nur stark sein..."
Der Wahnsinn hat bekanntlich nie ein Ende.
Als Toshiya an diesem späten Nachmittag völlig ermüdet und ausgelaugt und
keineswegs gesund die Tür zu seinem Haus aufschloss, im Schlepptau Ryutaro, der
noch immer ein Trauma hatte, Sakito, der seinen Koi nie wieder alleine lassen
wollte, Hakuei, der seinen Koi auch nicht alleine lassen wollte und Kaoru, der
etwas degegen hatte, wenn Hakuei und Toshiya alleine waren, wartete bereits die
nächste interessante Überraschung.
"Mama!", rief Toshiya so laut er konnte in den zappendusteren Flur, "Ich...
äh... wir sind da!"
Und etwas leiser: "Wer auch immer wir sind, was auch immer wir wollen... ich
glaube ich bin doch ein Spargel..."
Der Blauhaarige fuhr sich mit der Hand über sein glühendes Gesicht. Als seine
Mutter einen Augenblick später in den Flur trat, verschwamm ihr Umriss vor
seinen Augen.
"Toshiya, Sakito! Wie schön, dass ihr da seid! Oh und ihr habt euere Freunde
mitgebracht."
Sayumi lächelte vergnügt und wies mit einladender Geste in Richtung
Wohnzimmer.
"Uruha ist auch schon da und er hat seine neue Freundin dabei. Sie ist so ein
entzückendes Mädchen!"
Toshiya ließ seine Jacke fallen. Hakuei klappte der Mund auf. Ryutaro und Kaoru
starrten Sayumi Hara entgeistert an.
"Wie bitte?", keuchte Sakito. "Wie meint du das, Ma? Freundin wie "feste
Freundin"?... oder was?"
"Sakito, nun sei doch nicht so überrascht. Dein Bruder kann sich auch
verlieben."
Sie lächelte wieder.
"Kommt mit, ich stelle sie euch vor."
Kapitel 9: 9
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Walking proud
Autor: Clea
Kommentar: Ich entschuldige mich vielmals für den merkwürdigen Auftritt von
Mana in WP 8 u.u... aber ob ihr es glaubt oder nicht, es hat tatsächlich eine
Bedeutung und die ganze Sache ist viel ernster als sie auf den ersten Blick
wirkt.
Und vielen Dank an meine treuen Leser (Clothoid Doll, Shiny Baby, Adritha,
Silent_Voice, Yoshina etc.), die mir sogar dann Kommis schreiben, wenn ich das
Kapi total missraten finde *drop*...
Teil 9
"Verdammt...", fluchte er leise vor sich hin.
Er erhob sich von der Parkbank und sah einen Augenblick lang in den klaren
Himmel hinauf. Dann zerknüllte er die Zeitung, die er gelesen hatte, und warf
sie in den nächsten Abfalleimer. Das Titelblatt jedoch faltete er sorgsam
zusammen und steckte es in die Tasche. Darauf war zu lesen: "Drogenboss Mana
alias Der Weihnachtsmann endlich gefasst - Die Polizei ermittelt gegen weitere
mutmaßliche Dealer".
In dem Augenblick klingelte sein Handy. Er holte es heraus und klappte es auf.
"Ja, ich bin's, Kyo..."
Währenddessen stand Toshiya wie versteinert in seinem Wohnzimmer und versuchte
zu erfassen was vor sich ging.
"Takumi?", murmelte Sakito und ging näher an den Jungen heran, als könne er
ihn nicht richtig erkennen. Seine Mutter lächelte verwirrt.
"Ihr kennt euch?"
"Ja, sozusagen", antwortete Sakito und fasste seinen ältesten Bruder ins Auge.
Dessen Blicke sagten etwa so viel wie Lass mich auffliegen und du bist tot.
Toshiya setzte gerade an etwas zu sagen, als Uruha sich vom Sofa erhob, Takumis
Hand packte und ihn zur Tür hinauszog. Als er an Hakuei vorbeikam, blieb er
kurz stehen und beugte sich dicht an seinem Ex-Freund heran. Dann ging er
weiter. Für einen Augenblick dachte Toshiya erschrocken, sein Bruder habe
Hakuei einen Kuss gegeben, eine Sekunde später begriff er, dass er ihm etwas
ins Ohr geflüstert hatte. An der Tür drehte sich Uruha noch einmal um.
"Wir gehen, Mama." Dann schob er seinen Freund schnell aus dem Zimmer und zog
die Tür hinter sich zu.
"Wie, schon? Aber wohin denn?"
"Er ist weg, Ma", sagte Sakito. "Und Ryutaro und ich verkrümeln uns auch."
"Wie ihr meint, Jungs. Ich wollte sowieso noch diesen neuen Möbelkatalog
durchblättern, die Deckchen im Angebot sind wirklich hübsch..."
"FreundIN?! Er hat ihn als seine FREUNDIN vorgestellt??", sagte Toshiya und
ließ sich auf sein Bett fallen. Kaoru runzelte die Stirn.
"Vielleicht schämt er sich dafür, dass er schwul ist..."
"Das sicher auch... aber da steckt noch etwas anderes dahinter, da bin ich mir
sicher. Ich wüsste zu gerne, was er im Schilde führt."
"Wieso sollte er das denn tun?", gab Kaoru zurück und ließ sich neben Toshiya
auf die Decke fallen. Hakuei setzte sich zwischen die beiden.
"Du kennst Uruha nicht", der Schwarzhaarige biss sich auf die Lippe, "alles was
er tut hat eine Bedeutung oder soll irgendetwas bewirken. Er ist total
durchtrieben, so eine Aktion würde er sicher nicht grundlos starten."
Toshiya dachte einen Augenblick darüber nach, dann sagte er leise: "Dann kenne
ich meinen Bruder auch nicht... diese Seite an ihm habe ich noch nie erlebt..."
Nach einer Weile fügte er hinzu: "Hakuei? Was hat Uruha dir eigentlich ins Ohr
gesagt?"
Der Dunkelhaarige kaute einen Moment lang auf seiner Lippe herum ehe er
antwortete.
"Er sagte... wenn ich das richtig verstanden habe... Du hast mich nicht umsonst
erniedrigt."
Kaoru prustete.
"Wie kindisch ist das denn bitte? Erniedrigt? Nur weil du ihn sitzen gelassen
hast? Er wird doch nicht so nem Idioten wie dir nachweinen."
"Ist eben nicht jeder so arrogant und unsensibel wie Niikura Kaoru. Auch wenn
dir niemand nachtrauern würde, musst du das noch lange nicht auf andere
übertragen", zischte Hakuei.
"Spinner", brummte Kaoru.
"Arschloch."
"Ich hasse dich."
"Das freut mich."
"RUHE!!"
Toshiya massierte seine Stirn mit einer zitternden Hand. Für diese Situation
konnte er ausnahmsweise mal wirklich nichts.
"Könnt ihr nicht endlich aufhören euch anzugiften? Wenigstens für eine halbe
Stunde?"
"Schön, wenn du darauf bestehst. Solange er nicht wieder anfängt." Hakuei
verschränkte die Arme vor der Brust.
"Wer fängt hier an?", sagte Kaoru gehässig, "Und wieso sollte Uruha sich so
wahnsinnig erniedrigt fühlen? Ich bin mir sicher, er wurde schon mehr als
einmal sitzen gelassen."
"Das ist nicht das Problem, Kaoru", sagte Hakuei kopfschüttelnd.
"Du hast nicht verstanden, wie unglaublich eifersüchtig dieser Kerl auf Totchi
ist. Und außerdem", er setzte einen hochnäsigen Blick auf, "außerdem war er
doch in mich verliebt. Auch wenn er das niemals zugeben würde."
*+*+*+*+*+*+*+*+*
"Warte hier, Taku, ich muss nur kurz telefonieren."
Uruha ließ seinen neuen Freund stehen, lief ein paar Schritte weiter und
klappte sein Handy auf. Takumi errötete.
"Äh, ok. Natürlich, äh, ich warte hier, ja?"
::Er hat mich Taku genannt!!::
Der junge Japaner trippelte zu der nächstgelegenen Straßenlaterne und lehnte
sich dagegen. Sein Herz raste jedes mal wie verrückt wenn er Uruha ansah. So
verliebt war er noch nie gewesen. Er quietschte vergnügt und ließ seine
Zöpfchen ein wenig wippen. Im silbrigen Licht des fahlen Mondes stand sein Koi
und telefonierte. Was für ein Wunder, dass er tatsächlich mit ihm zusammen
war. Takumi hätte in dem Augenblick, da Uruha in darum gebeten hatte mit ihm
gehen zu dürfen, vor lauter Glück einen Luftsrpung machen können. Aber das
musste er sich ja nun verkneifen. Sein Koi mochte es nicht, wenn er überdreht
und hysterisch war, also gab sich der Braunhaarige nun redliche Mühe einen
eleganten, gesetzten Eindruck zu machen. Warum Uruha darauf bestanden hatte, ihn
als seine neue Freundin vorzustellen, konnte Takumi nicht verstehen, aber
solange der andere bei ihm blieb war es ihm auch völlig gleich.
"Daishi? Ich bin's, Uruha..."
Der Blonde warf einen Blick auf Takumi, der völlig friedlich und mit beseeltem
Lächeln an einer Straßenlaterne lehnte und zum Sternenhimmel blickte.
"Ja, er ist da, aber er kann uns nicht hören... Ich kann dir gar nicht sagen,
wie nervig er ist. Aber jedesmal wenn ich ihn anschnauze, grinst er nur dämlich
und entschuldigt sich. So ein Idiot..." Er schnaubte in den Hörer. Dann senkte
er die Stimme noch ein wenig und sagte: "Ich wollte nur noch mal nachfragen, ob
du es dir nicht anders überlegt hast... Ja... Genau... Nein, ich würde nichts
überstürzen. Fang ihn doch einfach nach der Schule mal ab... Ja... Gut, so
machen wir's. Bai."
Er klappte sein Handy zu und ließ es wieder in die Tasche gleiten. Dann lief er
seufzend zu seinem neuen Koi zurück, der ihn mit breitem Lächeln empfing.
"Wen hast du angerufen, Schatz?"
Uruha verzog das Gesicht, was angesichts der Dunkelheit verborgen blieb.
::Schatz??... uääääh...::
"Nicht wichtig. Nur einen Freund."
Er trat ins Licht der Straßenlaterne. Takumi blinzelte ihn von unten herauf
an.
"Jemand der dir wichtiger ist, als ich?"
::Worauf du wetten kannst, Giftzwerg::, dachte Uruha, laut sagte er: "Unsinn."
In diesem gelblichen Licht sah der feminine Japaner ziemlich hübsch aus mit
seinen großen funkelnden Augen und seinem blassen sanft geschminkten Gesicht.
Wieso sollte er nicht auch ein wenig Spaß haben, wenn der andere Junge schon so
bereit war?
"Wirst du immer an mich denken?", setzte Takumi sein
Sag-Mir-Was-Romantisches-Spielchen fort, doch der andere antwortete nicht,
stattdessen griff er mit seinen Händen an die Straßenlaterne über Takumis
Kopf und legte seine Lippen auf die seines Koi. Dieser schmolz förmlich in den
Kuss, was Uruha mit großer Zufriedenheit zur Kenntnis nahm. Er ließ seinen
Kopf tiefer gleiten und begann den weißen Hals mit vielen Küssen zu bedecken.
Takumi stand nur da, mit geschlossenen Augen und gerröteten Wangen und ließ
alles mit sich geschehen.
::Ich bin gut, was?::, dachte Uruha triumphierend. Er war eben doch besser als
Toshiya, dieses Kind hier lag ihm ja direkt zu Füßen.
Und bald würde sein lästiger Bruder sowieso das bekommen was er verdiente,
dann war es aus und vorbei mit seiner Schönheit.
Die folgende Woche verlief relativ ereignislos. Uruha brachte regelmäßig seine
neue "Freundin" mit nach Hause die/der, wie Toshiya mit gewaltigem Erstaunen zur
Kenntnis nahm, immer ruhiger wurde. Takumi ließ gegen Freitag sogar das
lästige Gequietsche, Wiiiiii-Gerufe und Gehüpfe sein. So konnte man ihn
beinahe mit einem normalen ziemlich hübschen Mädchen verwechseln. Ansonsten
bekam Toshiya von der neuen Beziehung seines Bruders nicht allzu viel mit.
Ryutaro hatte sich von seinem Trauma einigermaßen erholt, auch wenn er noch von
Zeit zu Zeit verstört aus dem Fenster blickte. Kaoru und Hakuei zofften sich am
laufenden Band, jedoch war keiner von beiden bereit, seinen Platz aufzugeben und
Toshiya mit dem anderen alleine zu lassen, was dem Blauhaarigen einerseits
schmeichelte, andereseits aber auch völlig entnervte. Seine eigenen Gefühle
hatten sich wieder einigermaßen beruhigt, trotzdem könnte manchmal bei Kaorus
Anblick noch heulen. Als er am nächsten Montag aus dem Schulgebäude auf den
Pausenhof trat, stellte der Blauhaarige mit Erstaunen fest, dass es nicht mehr
ganz so weh tat daran zu denken, dass sein bester Freund ihn niemals lieben
würde.
"Endlich aus... ich bin so müde...", gähnte Toshiya und streckte sich.
"Dann komm... ich bring dich ins Bett...", sagte Hakuei und umfing Toshiyas
schmale Hüfte mit seinen (seit letzten Mittwoch) tätowierten Armen.
"Und dann zeige ich dir was...", flüsterte er, während er seine Hände tiefer
gleiten ließ bis sie gefährlich nahe an Toshiyas Schritt lagen.
"Nein, hör auf, du weißt genau, dass ich das nicht mag!", stotterte der
Blauhaarige und befreite sich hektisch aus der Umarmung. Ihm dämmerte langsam,
dass das nicht ewig so weiter gehen konnte. Hakuei hoffte immer noch darauf,
dass Toshiya eines Tages auf seine Anmache einstieg, was er
(selbstverständlich) niemals tun würde.
"Ok ok, schon verstanden."
Der Schwarzhaarige streckte ihm die Zunge raus.
"Ich geh dann mal, wenn du es dir doch noch anders überlegst, kannst du ja
nachkommen..."
Er grinste noch einmal sein hämisches Grinsen, warf Toshiya eine Kusshand zu
und lief über den Pausenhof in Richtung Straße. Der Blauhaarige blickte ihm
mit wachsender Verzweiflung nach, während er sich langsam auf die Stufen vor
der Schulpforte sinken ließ. Nein, das musste ein Ende haben. Er hatte Hakuei
inzwischen als Freund so liebgewonnen, dass es ihm weh tat, dem anderen
permanent falsche Hoffnungen zu machen. Es war einfach nicht richtig und das
hatte er von Anfang an gewusst.
::Und wenn ich seine Nähe noch so sehr vermissen werde...::, dachte Toshiya,
::...ich muss Schluss machen. Und zwar so bald wie möglich. Es ist einfach
nicht fair von mir ihn so zu behandeln. Ich hätte nie darauf eingehen
dürfen.::
Er beobachtete wie sein Koi die Straße entlang davonlief, bis er schließlich
um die Ecke bog und von Häusern und Bäumen verdeckt wurde.
::Können wir dann trotzdem noch Freunde sein?::
Eine Weile saß er einfach nur so da und sann über seine Leben und seine
Gefühle nach, vereinzelt übersahen ihn vorbeiströmende Schüler und fielen
über ihn drüber.
"Was sitzt du denn hier so alleine rum, mmh? Ist dein Freund schon
heimgegangen?"
Toshiya drehte sich um. Als er Takumi erblickte lächelte er.
"Ja... wenn du Hakuei meinst, er ist gegangen. Ich wollte einfach ein wenig
alleine sein. Zuhause ist das nicht möglich."
Takumi setzte sich auf die Stufe neben ihn und richtete seinen Rock so, dass er
seine Oberschenkel bedeckte.
"Wieso denn nicht, Toto-chan?", fragte er und riss seine großen Augen in
Verwunderung auf, wobei Toshiya nicht wusste ob er es süß, erschreckend oder
einfach nur affig finden sollte.
Er zuckte die Achseln.
"Naja... weißt du, es gibt keinen Platz an dem ich ungestört bin, weil
schlichtweg kein Platz mehr da ist. Sakito hat letztes Wochenende fünfzehn
Tonnen Weihnachtsplätzchen gebacken und unser Haus quillt über. In jedem
Zimmer stehen Behälter mit Zimtsternen und Kokosmakronen. Sogar in meinem Bett
hat er sie gelagert. Er dachte ich merke es nicht."
Takumi kicherte vergnügt.
"Ja, stimmt, das habe ich mitbekommen..."
Eine Weile sprach keiner von beiden. Toshiya brannten viele Fragen auf der
Seele, er wusste nur nicht, wie er sie am besten in Worte fassen sollte.
"Takumi..."
"Hai?" Der andere sah in voller Erwarten an, jedoch ohne mit irgendetwas zu
wippen oder zu schaukeln.
"Sag mal... ich äh will dir ja nicht zu nahe treten, aber... mein Bruder... du
magst ihn wirklich, oder?"
Takumi hob den Kopf um zwei Vögel zu beobachten, die am Himmel gerade einen
dritten zerfleischten, dann wandte er sich wieder zu Toshiya und sagte: "Ich
liebe ihn."
"W-wie?"
"Es war Liebe auf den ersten Blick... als unsere Blicke sich trafen", seufzte
Takumi, "wusste ich, dass ich ihn immer lieben werde. Uruha ist sooo wunderbar.
Er ist so stark und männlich, weißt du... ich habe ihn auf einer Party von
Kyos Bruder kennengelernt."
"Und du hast ihn sofort gefragt, ob er äh-"
"Nein", unterbrach ihn der Jüngere.
"Er hat mich gefragt ob ich mit ihm gehen möchte. Du glaubst gar nicht, wie
glücklich mich das gemacht hat. Ich war noch nie in meinem Leben sooo
verliebt."
Takumi kicherte plötzlich wie verrückt und errötete.
Toshiya bereitete dieser Anblick aus irgendeinem Grund Magenschmerzen. Er konnte
kaum glauben, dass dem aufgedrehten Jungen so viel an seinem großen Bruder lag.
Und er konnte nicht glauben, dass Uruha es ernst meinte.
"Naja, mein Uru-chan mag es nicht wenn ich viel rede oder laut bin. Oder
herumzappele", sagte Takumi plötzlich und errötete wieder, diesmal jedoch, wie
Toshiya den Eindruck hatte, vor Scham.
"Deswegen reiße ich mich zusammen. Aber ich glaube es wirkt nicht." Er ließ
ein wenig die Schultern hängen.
"Doch, doch", warf Toshiya sofort ein, "total, du hast dich richtig verändert!
Du bist so äh normal geworden!"
Und dann: "... ich frage mich... ob ich mich auch so ändern würde... für
jemanden, den ich liebe..."
In Gedanken fügte er hinzu: Für Kaoru.
"Ja, das würdest du, glaub mir. Wenn du richtig verliebt bist, tust du alles
für denjenigen. Ich bin für Uruha sogar zum Mädchen geworden. Eure Mutter und
Uruhas Freunde (bis auf Daishi) glauben zumindest ich sei weiblich..."
Toshiya starrte den anderen Jungen an. Tatsächlich. Wenn er darüber
nachdachte... hätte er sich für Kaoru als Mädchen ausgegeben? Toshiya war
nicht einmal auf die Idee gekommen herauszufinden auf welche Art von Mensch
Kaoru stand, geschweige denn so zu werden. Bedeutete das... dass er nicht
richtig verliebt war?
"Ich glaube ich sollte nach Hause gehen, mein kleiner Bruder wartet sicher schon
mit dem Essen...", murmelte Toshiya und erhob sich. Zu schnell, wie er einen
Augenblick später feststellte. Zwar ging es ihm wieder einigermaßen gut, er
hatte sich von seiner Grippe erholt, doch völlig gesund war der Blauhaarige
noch immer nicht. Er torkelte drei Schritte zurück, gegen die plötzlichen
Schwindelgefühle ankämpfend.
Takumi erhob sich ebenfalls.
"Gut, ich geh auch, ich treff mich nacher noch mit Kyo. Oder äh sagen wir ich
suche ihn, er war nämlich schon seit ner Woche nicht mehr in der Schule."
Eine Viertelstunde später schloss Toshiya, völlig in Gedanken über Kyo,
Kaoru, Hakuei und seine eigenen Gefühle versunken, die Haustür auf. Als er
zehn Sekunden später die Küchentür aufstieß begrüßte ihn ein merkwürdiger
Anblick. Er sah noch einmal hin. Und noch einmal.
"Was macht ihr da?"
Die Anwesenden drehten sich zu ihm um.
"Ich backe Plätzchen...", sagte Sakito vergnügt.
"...um Himmels Willen nein...", murmelte Toshiya.
"...und ich helfe ihm dabei", schloss Ryutaro mit sanftem Lächeln.
"Gott sei gnädig mit diesem Haus, aber das meinte ich eigentlich nicht."
Mit diesen Worten drehte sich der Blauhaarige zum Kühlschrank.
Darunter war ein Spalt.
Ein ziemlich großer Spalt.
Darin lag Shinya.
Er trug ein Olivenkostüm.
Davor hockte Die.
Er wand sich in einem unbeschreiblichen Lachkrampf.
"What the fuck..."
Toshiya überlegte ob er wirklich so scharf darauf war zu erfahren was das zu
bedeuten hatte, oder ob er schlafende Hunde lieber schlafen lassen und einfach
so tun sollte also ob er nichts gesehen hätte. Noch bevor er sich für die
zweite Möglichkeit entscheiden konnte, sagte Sakito: "Oh, das. Naja, sie kamen
vorhin hier rein und..."
Shinya räusperte sich.
"...ääh... Totchi... es - es... ist nicht so wie es aussieht..."
"Ach ja?"
Toshiya war sich jetzt ziemlich sicher, dass er nicht wissen wollte worum es
ging.
"Naja, erinnerst du dich noch an die Olive, die mal hier drunter lag? In eurer
alten Küche? Die rutschte in diese grauenvoll depressive Phase, weil er sie
nicht mehr hervorbekam..."
Der Rotschopf kippte vor Lachen von seinen Füßen, rollte über den Boden und
schlug mit einem hohlen Klatschen gegen die Wand. Ohne auf seinen Freund
einzugehen nuschelte Shinya mit hochrotem Gesicht weiter.
"Vorhin hatte er auf einmal wieder diesen apathischen Blick drauf... und hat
mich angestarrt und gemurmelt, ich solle mein Olivenkostüm anziehen und mich
unter diesen Kühlschrank legen, damit er mich dann darunter hervorziehen kann.
Er sagte er brauche das jetzt. Ich Idiot habe ihm geglaubt und gedacht er wird
rückfällig oder so und hab natürlich sofort getan, was er wollte..."
"...und jetzt steckt er da unten fest und kommt nicht mehr raus!", prustete Die,
dessen Gesicht vom Lachen inzwischen so rot angelaufen war wie seine Haare.
"Die, das ist nicht lustig", tadelte Toshiya und versuchte mit aller Kraft das
fiese Grinsen zurückzuhalten, das sich auf sein Gesicht schlich.
"Wir müssen Shin da rausholen bevor er austrocknet."
"Du hast Recht, er wird ja ganz fad, wenn er zu lange an der Luft
liegenbleibt."
"Ja und dann läuft er so bräunlich an und-"
"Hättet... Ihr... Die... Güte...", begann Shinya sehr langsam und sehr ruhig,
"Mich... AU... GEN... BLICK... LICH... Hier... RAUSZHOLEN..."
"Ok", sagte Die bereitwillig, "aber warte noch ne Sekunde."
Er nahm den Anstecker mit der "Ich bin ein Spargel"-Aufschrift von seiner Jacke
und heftete ihn an Shinyas Kostüm. Dann betrachtete er seinen Koi mit einem
Grinsen.
"Nein Die, das stimmt jetzt überhaupt nicht, weißt du...", murmelte Toshiya
und versuchte sein Kichern durch ein trockenes Husten zu verstecken.
"Wollte nur wissen wie's aussieht."
"DAAAAAAAAAIIIIIIIIIIIIIIIII???!!! DAS WIRST DU BÜSSEN!"
Mit der ganzen Kraft die in seinem schmächtigen Körper steckte wand sich der
Junge aus dem Olivenkostüm.
"Uh-Oh", machte Die und schob sich schnell eine Handvoll Plätzchen in den Mund.
Zu Toshiya gewandt flüsterte er: "Meinst du er ist sauer?"
Der Blauhaarige musterte eine Sekunde lang Shinyas Gesicht, das eine Mischung
aus tödlichem Starren, wutverzerrter Grimasse und zornigem Flackern darstellte,
ehe er antwortete: "Mh, ja, könnte man meinen..."
"Shin, versteh doch...", begann der Rotschopf mit nervösem Lächeln, doch sein
Koi packte ihn mit schraubstockartigem Griff am Arm und schleifte ihn hinter
sich her.
"Ich verstehe völlig, Die!"
"Äh, wenn wir uns nicht mehr sehen", rief Die den anderen Jungen in der Küche
zu, "wünsche ich euch ein schönes Leben. Und dass ihr nie an so einen
humorlosen Menschen wie Shinya geratet!"
Als die Tür zufiel, hörte Toshiya gerade noch wie Shinya schrie: "SO, HUMOR
NENNST DU DAS ALSO!!!"
"Puh, der ist sauer", murmelte der Blauhaarige und starrte auf das
Olivenkostüm, das noch immer unter dem Kühlschrank klemmte.
"He, Saki, willste mal reinschlüpfen?"
"Ha ha", erwiderte Sakito trocken. "Setz dich lieber."
"Gibt es Essen?"
"Schon dabei. Ryu, wie viele Kiwis haben wir?"
"Keine."
"Hast du sie gezählt?"
"Dreimal."
"Mmh, dann eben Artischocken, der Geschmack ist sowieso der gleiche."
Toshiya rutschte das Herz in die Hose.
"Äh, ist es zu spät zu sagen, dass ich eigentlich gar keinen Hunger habe?"
Nach einem sagen wir interessanten Essen lag Toshiya auf seinem Bett und
überlegte, was er tun sollte. Nachdem er drei Stunden später zu einem
vernünftigen Ergebnis gekommen war, stand er auf, holte sich das schnurlose
Telfon und tippte eine Nummer ein.
"Hakuei, bist du's? Ja, hier ist Toshiya... äh... könnten wir uns nacher
treffen? Ich... muss mit dir reden... Mmh... ja, ok... dann um halb fünf vor
der Schule. Bis dann."
Der Treffpunkt war gut. Um diese Uhrzeit und bei diesem Wetter würde der
Pausenhof sicher völlig ausgestorben sein.
Je näher der Zeitpunkt rückte, desto schwerer wurde Toshiyas Herz, doch sein
Beschluss stand fest. Um vier packte er seine Jacke und ging los.
Als er um zwanzig nach vier am Schultor ankam, war Hakuei bereits da. Zusammen
überquerten sie den Pausenhof und gingen um das Schulgebäude herum auf den
Sportplatz, der dahinter lag.
"Gut, du wolltest mit mir reden? Schieß los", sagte Hakuei und schob die Hände
in die Tasche. Toshiya blickte zu Boden. Wie sollte er es nur sagen?
"Ich äh... ich will... möchte gerne..."
"Ja?"
Hakuei musterte ihn mit leichter Verwirrung.
::Sie mich nicht so an::, dachte Toshiya verzweifelt und schluckte schwer. Dann
setzte er erneut an.
"Ich... weißt du... du bist so nett zu mir... die letzten zwei Wochen waren
echt schön und... ich mag dich wirklich gerne... als Kumpel... verstehst du?
Dank dir... hab ich die Sache mit Kaoru überwunden... also wie man's nimmt..."
Er nahm seine ganze Überwindung zusammen und nuschelte: "Es tut mir so leid,
aber ich... ich will Schluss machen."
Hakuei starrte ihn an.
"W-wie?"
"Ich kann mich nicht in dich verlieben und es wäre einfach nicht fair von mir,
weiterhin so... so mit dir zu spielen, verstehst du?" Toshiya sah den anderen
mit gequältem Blick an.
"Bitte... ich... tut mir leid..."
Der Schwarzhaarige öffnete den Mund um etwas zu sagen. Und schloss ihn dann
wieder. Als er kein Wort herausbrachte, fügte Toshiya leise hinzu: "Aber bitte
lass uns Freunde bleiben... ich will dich nicht verlieren..."
Hakuei blickte starr zu Boden.
"Ahso... verstehe..."
Seinen Freund so zu sehen, bereitete dem Blauhaarigen unbeschreibliche
Schmerzen, vor allem, da er sich genau erinnern konnte, wie es sich angefühlt
hatte, als sein eigenes Herz in tausend Stücke zersprungen war. Er trat auf ihn
zu und nahm ihn in die Arme - zum ersten mal aus eigener Initiative. Doch Hakuei
schob ihn sofort von sich.
"Verstehe...", murmelte er wieder. Dann drehte er sich um und ging. Einfach so.
Er schlich über den Sportplatz und war verschwunden. Toshiya fiel wo er war auf
die Knie und begann herzzerreißend zu schluchzen. Was hatte er getan?
Er saß noch lange so da, Gesicht in den Händen, Knie im Schlamm. Es begann zu
tröpfeln.
Irgendwann richtete sich der Blauhaarige langsam auf. Inzwischen regnete es so
stark, dass man nicht mal mehr die Hand vor Augen sah. Schon jetzt bis auf die
Knochen durchweicht, stolperte Toshiya über den Schulhof. Alles in ihm war taub
und lahm. Dies war das Ende seiner kurzen, seltsamen Freundschaft mit Hakuei.
Natürlich hatte er diese bestimmten Gefühle, die der andere für ihn hegte,
nicht erwidert, doch - auch er hatte etwas bei dieser Beziehung empfunden.
Hakuei und Kaoru hatten ihn beide beschützt, beide waren mittlerweile
unersetzbar für ihn - und beiden hatte er brutal vor den Kopf gestoßen, war
es nicht so?
Warum war er nur so unfähig? Unfähig zu Beziehungen jeglicher Art?
Warum?
Warum?
+~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~+
Manchmal müssen bestimmte Dinge geschehen, damit man eine andere Sichtweise des
Lebens erlangt. So schrecklich sie auch sein mögen - am Ende stellt man fest,
dass, wenn sie nicht geschehen wären, man niemals erkannt hätte, was im Leben
wirklich wichtig ist.
Toshiya hatte sich die letzten siebzehn Jahre seines Daseins ununterbrochen
fertig machen lassen von Dingen, die er inzwischen wieder vergessen hatte,
vielleicht einem blöden Kommentar eines Mitschülers oder seinem eigenen
Versagen.
Eigentlich war das alles unbedeutend. Sorgen sind so relativ. Liebe auch.
Genau an diesem Tag... an diesem Tag, da der Blauhaarige kopflos und vom Weinen
geschwächt nach Hause taumelte... geschah eine Sache, die seine Sicht der Dinge
von Grund auf verändern sollte.
Regenschleier verhüllten die Häuser der Nachbarschaft. Toshiya bog auf seinem
Heimweg um die vorletzte Straßenecke. Weiter kam er nicht. Das nächste was er
sah war der Umriss eines Mannes, der urplötzlich wie aus dem Boden gewachsen,
vor ihm stand. Er bremste abrupt ab, um nicht in den Fremden hineinzurennen. Der
Mann machte keine Anstalten beiseite zu treten.
Toshiya blinzelte. Regen rann ihm die Wangen hinunter und tröpfelte auf die
Schnallen seines Oberteils. Dieser Mensch kam ihm doch bekannt vor.
"Daishi?"
*+*+*+*+*+*+*+*+*
Es klingelte.
"Oh verd-", fluchte Sakito.
"Warte mal, Ryu..."
Er knöpfte schnell seine Hose wieder zu und rannte mit nacktem Oberkörper aus
seinem Zimmer und die Treppe hinunter. Sein Koi blieb halb angezogen auf dem
Bett zurück.
::Das wirst du mir büßen, Totchi::, dachte der Schwarzhaarige grimmig als er
die Tür aufzog. Sein großer Bruder hatte eigentlich nur für eine halbe Stunde
weggehen wollen, nun war es dreiviertel elf Nachts und er war immer noch nicht
da und wäre Sakito nicht so ein netter Junge (und würde es nicht in Strömen
regnen), würde er Toshiya einfach draußen stehen lassen. Verdient hätte er
es. Jetzt wollte er einmal - genauer gesagt das erste mal - über seinen süßen
Koi herfallen, da musste der Ältere natürlich hereinplatzen.
"Weißt du eigentlich wie viel Uhr es-", begann der zierliche Japaner zornig,
stockte aber, als er seinen Bruder sah.
Toshiya stand einfach nur da. Er tropfte von oben bis unten.
Sakito brachte kein Wort heraus.
Irgendwas war mit dem Gesicht seines großen Bruders. Dieser Ausdruck.
Toshiya trat in den Flur.
"Tut mir leid, Saki... ich habe mich verspätet... ich mache es wieder gut und
erledige morgen den Abwasch." Einfach so. Er sagte das völlig normal. Und
dennoch. Seine Augen. Sie waren so... merkwürdig klar. So tief und leer zur
gleichen Zeit.
Sakito wusste nicht was er von seinen eigenen Gedanken halten sollte. Also
antwortete er nur: "Ne, schon ok, du hast ja auch nicht wirklich gestört. Wieso
nimmst du auch keinen Schlüssel mit? Wärst du zehn Minuten später gekommen,
hätte ich dir sicher nicht mehr geöffnet." Er versuchte ein Lachen, verstummte
dann aber, als er wieder in diese Augen sah.
"Ist was gewesen?", fragte er zunehmend verwirrt. Toshiya deutete ein
Kopfschütteln an.
"Nö, was soll gewesen sein? Ich geh ins Bad, duschen. Bin durchweicht bis auf
die Knochen."
Mit diesen Worten lief der Blauhaarige langsam die Treppe hinauf und verschwand
in der ersten Tür links. Sakito blickte ihm nach. Ihm war noch nie zuvor
aufgefallen, wie schön sein Bruder eigentlich war. Gut, die Frisur, die
Klamotten, das (vom Regen zerlaufene) Make-up - das alles stand ihm
hervorragend, doch eben hatte der Jüngere zum ersten mal bemerkt, wie brutal
hübsch Toshiya in Wirklichkeit war.
Er wunderte sich kurz über diese tiefsinnigen Gedankengänge.
"Mann, wieso kann ich nicht ein einziges mal einfach nur an Sex denken?",
seufzte er kopfschüttelnd und ging zurück in sein Zimmer. Als er in die Arme
seines Geliebten sank beschloss er, die ganze Sache mit Toshiya erst einmal
beiseite zu schieben, sicher hatte er sich alles nur eingebildet.
"War es Toshiya?", flüsterte Ryutaro und zog Sakito enger an sich.
"Hai...", murmelte der andere. Dann küsste er seinen Koi sanft.
"Ich liebe dich..."
Er zuckte zusammen, als Ryutaros schmale, kühle Hände in seine Hose
schlüpften.
Der Regen klatschte gegen die Fensterscheiben.
Toshiya stieg aus der Dusche, rieb sich mit einem großen weißen Handtuch
trocken und schlang es sich anschließend um die Hüfte. Dann trat er vor den
Spiegel und musterte sich.
"Du hast so wunderschöne Haare... ich könnte meine Hand immer und immer wieder
hineinwühlen..."
Er fasste mit der linken Hand in seine tiefblaue Mähne. Der Ansatz war bereits
ein Stück herausgewachsen.
"Sie sind so weich und glatt... ich liebe deine Haare... sie machen dich so
schön..."
Toshiya packte einen Büschel Strähnen und zog daran. Noch ein wenig fester.
Und noch ein wenig. Dann ließ er die Hand sinken und starrte auf sein Ebenbild
im Spiegel, dem Tränen über die Wangen rannen. Er wühlte seine Hände in den
blauen Haarschopf und flüsterte mit bebender Stimme: "Ich will aber nicht, dass
du meine Haare anfasst... nie wieder... ich will nicht..."
Toshiya öffnete die mittlere Schublade des Badschranks und holte mit fahrigen
Händen eine kleine, silberne Schere hervor. Dann ergriff er wieder ein Büschel
seiner Haare und schnitt es ab. Und noch eins. Blaue Strähnen rieselten wie
Schneeflocken in das Waschbecken.
"Fass mich nicht an! Nimm deine Hände von mir, fass mich nie wieder an..."
Als Toshiya am nächsten Morgen die Küche betrat, fiel seine Mutter fröhlich
in Ohnmacht. Sakito ließ die Schüssel, die er in den Händen hielt
unvermittelt fallen und eh man's versah war die fiese Säure darin ausgelaufen
und hatte angefangen einen Tunnel durch den Boden zu fressen. Ryutaro war als
einziger imstande einen vernünftigen Satz zu formulieren.
"Was hast du mit deinen Haaren gemacht, Totchi?", flüsterte er maßlos
erstaunt.
Toshiya zuckte die Achseln.
"Weißnich... hatte keine Lust mehr auf blau..."
Seine Mutter, gerade noch rechtzeitig zur Besinnung gekommen um die letzten
Worte ihres Zöglings mitzubekommen, baute sich vor ihm auf.
"HAST DU SIE NICHT MEHR ALLE?! ICH DACHTE ICH HÄTTE DIR IM KINDERGARTEN
BEIGEBRACHT DIE FINGER VON DEINEN HAAREN ZU LASSEN, VERDAMMTE #%&$§ NOCH
MAL!!!!"
Sie schnaubte wütend.
"JETZT ERLAUBE ICH DIR DIESE KNALLBUNTE SAUTEURE $§&%## FRISUR UND DU HAST
NICHTS BESSERES ZU TUN ALS SIE DIR ABZUSCHNEIDEN SOBALD DU KEINEN BOCK MEHR
HAST!!!"
"Mama, ruhig...", sagte Sakito und legte seiner Mutter besänftigend einen Arm
auf die Schulter. Sayumi schloss kurz die Augen und atmete tief ein und aus.
Dann wurden ihre Gesichtszüge mit einem mal weicher, sie seufzte und fügte
kopfschüttelnd hinzu: "... aber du musst selbst wissen, was für dich richtig
ist, du bist alt genug. Auch wenn es nicht besonders vernünftig war, es steht
dir auch jetzt noch sehr gut mein Schatz."
Die perfekte Mutter lächelte gütig und drückte ihrem mittleren Sohn einen
Kuss auf die Stirn.
"Ich muss jetzt in die Arbeit, macht es gut, ihr drei!"
Nach einem letzten Winken waren Ryutaro, Sakito, Toshiya (und Yoda, der in einer
Ecke stand und mit einer Karotte kämpfte/eine Karotte schnitt) alleine in der
Küche.
Eine Weile sprach niemand.
"Ich geh dann auch, denke ich. Brotzeit nehm ich mit und esse auf dem Weg",
sagte Toshiya schließlich, nahm das Pausenbrot entgegen, das sein kleiner
Bruder ihm hinhielt und ging ebenfalls.
"Hast du seine Augen gesehen?", stotterte Ryutaro, als der (jetzt)
Schwarzhaarige verschwunden war. Sakito starrte seinen Koi an.
"Dann hab ich mir das doch nicht eingebildet!", rief er erstaunt aus.
"Als Totchi gestern vor der Tür stand war er so komisch... nicht direkt
verändert und doch anders...", sagte er und setzte sich an den Tisch. "Ich
hatte also doch Recht! "
Ryutaro dachte einen Augenblick nach, dann nickte er.
"Ja, etwas ist definitiv anders. Hast du gesehen wie er sich bewegt? So behutsam
und vorsichtig... die Atmosphäre die ihn umgibt... deswegen wirkt er...
zerbrechlich wie eine Puppe... das war vorher nicht so... es verleiht ihm
eine... geradezu unnatürliche Schönheit."
"Echt, Ryu, nur du kannst solche Sachen labern. Du bist ein richtiger
Psychologe." Sakito grinste, wurde aber gleich wieder ernst.
"Aber es stimmt... man muss ihn nur fünf Minuten beobachten, um zu merken, dass
er sich total anders verhält... wie ein anderer Mensch. Und wieso um alles in
der Welt schneidet er sich die Haare ab? Das ganze Blau ist weg..."
"Naja", sagte Ryutaro leise, "vielleicht konnte er sie einfach nicht mehr
sehen?"
Toshiya atmete tief ein und aus. Der kalte Morgenwind roch nach Regen. Er fuhr
durch seine kurzen Haare und streichelte seine Wangen mit eisiger Hand.
Seine Wangen.
Toshiya blieb plötzlich stehen, als Dinge in seiner Erinnerung wieder
auflebten.
Flüssigkeit, die ihm ins Gesicht spritzt. Und dann diese Hände. Überall, wie
widerliche schwarze Spinnen.
Der junge Japaner zwang sich weiterzugehen. Er kaute und schluckte. Seine Wangen
glühten vor Scham und Wut bei dem Gedanken an die Erniedrigung, die er über
sich hatte ergehen lassen müssen.
::Ich hätte nie gedacht, dass ich mich je im Leben in einer Situation so
schmutzig und wertlos fühlen würde...::, dachte er. Und dann:
::Kyos Blick... dieser tiefe durchdringende und gleichzeitig undruchdringbare
Blick... jetzt verstehe ich ihn. Jetzt verstehe ich was er bedeutet!::
Natürlich. Der Grund weshalb Toshiya nicht hatte begreifen können wie egal es
Kyo war was andere von ihm dachten und was es war, das in seinen Augen lag - der
Grund war, dass er selbst keine Ahnung gehabt hatte. Keine Ahnung von gar
nichts.
Jetzt allerdings...
Toshiya drängte Daishis Gesicht, das in seinen Gedanken auftauchte wie die
hässliche Fratze eines Dämons mit aller Gewalt zurück. Er wollte jetzt nicht
daran denken, an diese Hände, diese Lippen, diese Zunge, an diesen Körper. Was
bisher auch unglaublich gut funktionierte. Innerlich fühlte er sich völlig
leer.
Der Dunkelhaarige betrat den wie immer überfüllten Schulhof.
Erstaunlich.
Als Hakuei ihn geküsst hatte war es ihm zwar unangenehm gewesen, aber das hatte
eher mit seinem schlechten Gewissen zusammengehangen. Nie jedoch hatte er sich
vor dem anderen geekelt oder ihn sogar gefürchtet.
Er erblickte Dies Haarschopf in der Schülermasse und steuerte auf ihn zu. Das
Laub der Bäume knirschte unter seinen Füßen, als sich der Junge durch die
Menge schob.
Wie merkwürdig... gestern um dieselbe Uhrzeit hatte er noch keine Ahnung
gehabt, zu was Menschen imstande waren, welche Schmerzen sie zufügen und
erleiden konnten.
Aber vielleicht hatte es sogar etwas Gutes. Toshiya lächelte bitter. Er wusste
nun, dass er Kaoru nicht richtig geliebt hatte. Seine Gefühle für ihn waren im
Angesicht des Schmerzes und der Erniedrigung die er ertragen hatte einfach
verblasst.
An ihre Stelle war diese unbeschreibliche unendliche Leere gerückt, die sein
ganzes Herz erfüllt. Er empfand nichts mehr.
Toshiya trat zu seinen Freunden. Ihm fiel sofort auf, dass Hakuei fehlte, der
sich in den letzten zwei Wochen ein wenig mit Shinya und Die angefreundet hatte.
Komischerweise war es ihm gerade völlig egal, ob und wie sehr er Hakuei
verletzt hatte. Alles war ihm egal. Allerdings dämmerte ihm, dass dieser
Zustand der inneren Betäubung nur vorrübergehend sein würde. Was danach kam,
wollte er sich lieber nicht ausmalen.
"Hi Leute", murmelte Toshiya verlegen und gesellte sich zu den anderen.
Shinya, Die und Kaoru blickten auf ihren Freund.
Ihr begrüßendes Lächeln verblasste.
*+*+*+*+*+*+*+*+*
So, das war der neunte Teil... ich hoffe jeder hat gecheckt, was passiert ist
und dieses Kapi war nicht so langweilig wie das letzte ^.^"
Natürlich werde ich im nächsten chapter genauer beschreiben, was zwischen
Toshiya und Daishi vorgefallen ist, vorausgesetzt ihr möchtet das überhaupt
wissen (*g* also vorausgesetzt ihr habt Lust euere perversen Fantasien
auszuleben; ob es allerdings lemon wird weiß ich noch nicht, ich werde wohl
versuchen das so geschickt wie möglich zu umgehen)...
Kommis pleeze? Gebt mir Anregungen!
Kapitel 10: 10
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Walking proud
Autor: Clea
Kommentar: Wow, ihr habt mir verdammt viele Kommentare zum letzten Teil
geschrieben, vielen Dank!! Ich habe mich wirklich über jeden einzelnen riesig
gefreut!!
Ich glaube, das mit dem Lemon-Teil lasse ich lieber, wüsste auch gar nicht, wo
ich in nächster Zeit einen einbauen könnte. (Jah, zwischen Kaoru und Hakuei,
gebt zu, ihr wartet doch in Wahrheit alle darauf; oder habe nur ich so eine
perverse Fantasie O.^?)
Und tatsächlich: MYV ist im ganzen letzten Kapitel nicht aufgetaucht O.O Ups,
muss ich irgendwie vergessen haben ^^"...
Danke noch einmal für euere Anregungen und Kommentare *alle knuddel*. Und:
Sorry, dass dieses Kapitel so lange auf sich hat warten lassen, ich hoffe ihr
mögt es.
Teil 10
Sie starben eines grausamen, elenden Todes und wurden in dunklen, kühlen
Gräbern auf einem Friedhof in der Nähe einer Kleintierhandlung bestattet.
(Diese Lösung würde der im Augenblick extrem labilen und resignierten Autorin
hervorragend in den Kram passen; blöderweise haben gleich zwei der
Hauptpersonen eine fiese Tierhaarallergie, daher sieht sie vorläufig von dieser
absolut unhumanen Idee ab.)
In Wahrheit war es nur Toshiyas entfernte Verwandte dritten Grades, die im
nordöstlichen Teil einer kleinen unbedeutenden Insel namens Anschie
(Namensgleichheit mit der deutschen Bundeskanzlerin völliger Zufall) eines
kleinen unbedeutenden Todes starb und wenig später in einer ebenso düsteren
wie peinlichen Zeremonie unter oben genannten Bedingungen beigesetzt wurde. Ihr
unglückseliger Neffe dritten Grades, völlig unbewusst der Tatsache, dass er
soeben seine geliebte (und ihm unbekannte) Groß-groß-großtante auf einer
abgelegenen Pazifikinsel verloren hatte, war um dreiviertel acht Uhr morgens auf
dem Pausenhof einer mittelgroßen deutschen Schule vor seine Freunde getreten
und hatte sie mit müde-resignierter Geste begrüßt. Den anderen schien es
augenblicklich die Sprache verschlagen zu haben und es ist absolut erstaunlich,
was manche Menschen tun, wenn ihnen das passiert. Die gab krächzende, gurgelnde
Laute von sich (er hatte überrascht sein Essen hinuntergeschluckt und dabei aus
Versehen einen halben Fasan in die Luftröhre bekommen), Kaoru begann sinnlos
vor sich hinzubrabbeln und Shinya machte ein Gesicht, als hätte man ihm eben
mitgeteilt, dass er von Die schwanger sei.
Toshiya hob die Augenbrauen.
"Was ist?"
Die hörte auf zu würgen, Kaoru hörte auf zu brabbeln und Shinya war klar
geworden, dass Männer keinen Uterus besitzen. Sie starrten den vierten Jungen
an. Shinya sprach zuerst.
"Toshiya, was... ist mit deinen Haaren?"
"Du siehst aus wie ein geschorener Pudel", kicherte Die, woraufhin ihm Kaoru und
Shinya gleichzeitig und ohne Worte ein großes Stück Fasan mit Knochen in den
Mund stopften. Toshiya zwirbelte verlegen eine kurze schwarze Strähne über
seinem linken Ohr. Die begann krächzend zu husten.
"Naja, ich... weiß nicht... es überkam mich so..."
"...H-hast du das öfters? Dass dich... etwas überkommt?", fragte Shinya und
wich vorsorglich einen Schritt zurück (Die war im Hintergrund würgend zu Boden
gegangen). Toshiya lachte unsicher und antwortete: "Nein, keine Angst... ich
werde nicht gewalttätig oder so... ähm... ich... hatte meine Frisur nur satt,
verstehst du?"
Er musterte kurz seinen schlanken, braunhaarigen Freund, dem angesichts dieser
neuen Frisur die Tränen in den Augen standen.
"Anscheinend nicht", murmelte Toshiya, so leise, dass Shinya es nicht hören
konnte.
"Oh, Totchi, es sah doch so schön aus!! Warum hast du das getan?! Sie sind...
verdammt kurz!!" Mit diesen Worten fiel ihm Shinya völlig aufgelöst um den
Hals. Die beiden wurden grob zur Seite gestoßen. Hinter ihnen hatte sich ein
Tumult gebildet: Dutzende von Schülern umringten einen rothaarigen Jungen, der
ganz offensichtlich an einem Knochen würgte und nun von den Schulsanitätern
weggetragen wurde.
"Was ist, Shin?", flüsterte Toshiya plötzlich mit alarmiertem
Gesichtsausdruck. Shinya schluchzte verzweifelt an seine Schulter.
"S-sorry, i-ich - es ist-Die! Er... er..."
Der schmale Japaner ließ von Toshiya ab und wischte sich über das feuchte
Gesicht.
"Was?", wiederholte Toshiya und fasste seinen Freund an den Oberarmen. Dieser
blickte zu Boden. Seine Tränen tröpfelten auf den Asphalt und vermischten sich
mit Regenwasser und Schlamm.
"Ich liebe ihn wirklich und wir sind zusammen, aber -- er behandelt mich noch
immer wie er will--- sein dämliches Essen ist ihm wichtiger als alles
andere--soll er doch dran verrecken", schloss Shinya leise, hob den Kopf und
blickte trotzig in Richtung Schulpforte durch die Die gerade getragen wurde. Er
war bereits bläulich angelaufen.
"Shin!", murmelte Toshiya erschrocken. Der andere brachte nur ein mattes
Lächeln zustande.
"Es wird nichts zwischen uns, Toshiya... und ich wusste es sofort. Wir... haben
miteinander geschlafen, trotzdem..." Toshiya errötete leicht, während er
krampfhaft versuchte die schmutzigen Bilder aus seinem Kopf zu verbannen, die
urplötzlich vor seinem geistigen Auge auftauchten und mit vulgären
Verrenkungen hin-und hertanzten: Die und Shinya auf dem Boden von Dies Zimmer,
Shinya in Schulmädchenuniform und Handschellen, Die mit--
"Ich trug ein Olivenkostüm, weißt du..."
"Oh", kommentierte Toshiya und wünschte sein Freund würde nicht jedes
Geheimnis lüften.
"Und wir hatten... naja... Sex. Danach... war alles wie vorher. Ein Weile war er
noch richtig zärtlich und... hat mich gehalten, an sich gezogen...", nuschelte
Shinya und errötete sanft bei der Vorstellung.
"Aber jetzt ist es so, als hätte er mir diese Worte nie gesagt. Ich will
geachtet werden, verstehst du?! Geachtet!!"
Toshiya sah seinen Freund an, der ihm mit verzerrtem Gesicht gegenüberstand und
gegen erneute Tränen ankämpfte. Wieder tauchten Bilder in seinem Kopf auf,
doch weder Die, noch Shinya, noch Oliven kamen darin vor. Sie waren düster und
von Regenschlieren und schrecklicher Angst durchzogen. Seine Knie begannen zu
zittern.
"Ja", antwortete er tonlos. "Das verstehe ich. Respekt ist... nicht
selbstverständlich."
"Toshiya?"
Der Braunhaarige fasste seinen Freund erstaunt ins Auge.
"Mmh?", machte Toshiya. "Was?"
Shinya verengte die Augen. Dann bewegte er sich plötzlich mit schleichenden
Schritten auf ihn zu.
"Wieso ist mir das... nicht aufgefallen...", nuschelte er vor sich hin.
"Was?" Toshiya sah nun wirklich verwirrt aus. Shinya kniff die Augen noch enger
zusammen.
"Dass du so anders bist. Los, sag schon. Irgendwas ist doch passiert. Du redest
völlig anders. Du bewegst dich sogar anders als sonst. Du bist nicht Toshiya",
flüsterte er und fixierte ihn.
"N-natürlich bin ich's, Shin", brabbelte der Schwarzhaarige ertappt und
versuchte mehr schlecht als recht ein überzeugendes Lächeln auf seine Lippen
zu schubsen.
Shinya schüttelte den Kopf.
"Das meinte ich nicht. Du verhälst dich so--... was ist los?"
Er war ihm inzwischen so nahe gekommen, dass Toshiya seinen heißen Atem am Hals
spüren konnte (ja, am Hals; Größenunterschied ^.^). Der Dunkelhaarige wich
abrupt zurück. Heißer Atem auf nackter Haut. Ein Gefühl, dass bei ihm
Brechreiz auslöste.
"Ich weiß nicht, was ihr in letzter Zeit alle habt, aber könnt ihr nicht mal
eure Wahnvorstellungen für euch behalten?!", sagte Toshiya aufgebracht und
krallte seine Finger in den Pulloverstoff vor seiner Brust, als hätte er
Schmerzen.
"T-tut mir leid, ich-", stammelte Shinya erschrocken, doch sein Freund
unterbrach ihn.
"Kümmer dich lieber um Die. Oder diesen Fasanknochen. Einer von beiden bleibt
dir sicher."
Mit diesen Worten drehte er sich um, entfernte sich schnell in Richtung
Schulgebäude und ließ Shinya und (einen noch immer völlig erstarrten) Kaoru
auf dem Pausenhof zurück. Als er die großen Türen passierte begann er zu
weinen. Hastig steuerte er das nächste Klo an. Er wusste genau, wie hart und
verletzend seine Worte gegen Shinya gewesen waren und dass er Mitgefühl hätte
zeigen müssen. Da vertraute sich der Braunhaarige ihm an und bat ihn indirekt
um Hilfe und Beistand und er wies ihn so grob von sich. Eigentlich hatte er das
nicht gewollt, doch Shinyas Nähe, sein Atem an Toshiyas Hals, hatte wie ein
Schlüsselreiz gewirkt, der eine Kette von Gefühlen und Erinnerungen in dem
Schwarzhaarigen ausgelöst hatte, die sich um seinen Hals legte, enger und enger
schnürte, bis sie ihn schließlich zu erwürgen drohte.
Toshiya stützte sich auf das mattweiße Waschbecken. Die Toilettentür klappte
leise hinter ihm zu. Er war alleine.
"Wieder alles in Ordnung? Du bist ja vorhin ganz schön ausgetickt..."
Kaoru stieß einen leisen Pfiff aus und ließ sich in seinem Stuhl nieder.
Toshiya legte seine Tasche umsichtig neben sein Pult und begann die Bücher für
die erste Stunde auf die Tischplatte zu stapeln. Kaoru beobachtete ihn
schweigend.
"Willst du mir nicht antworten?", unterbrach er ihn nach einer Weile. "Ich
meine, ich verstehe ja, wenn du mich nun hasst, aber... ich-"
"Ich hasse dich nicht, Kao", stellte Toshiya ohne aufzublicken klar. Irgendwas
sagte dem Violetthaarigen an dieser Stelle, dass er zu viel verlangte, wenn er
damit rechnete, dass sein bester Freund sich ihm gegenüber wieder völlig
normal verhalten würde, immerhin hatte er ihm am Wochenende seine Liebe
gestanden. Und als wenn das nicht schon schlimm genug wäre hatte Kaoru sie auch
noch zurückgewiesen. Ihm wurde noch immer flau im Magen, wenn er daran dachte.
Also seufzte er nur einmal deprimiert auf und grub dann den eigenen Bücherberg
aus seiner Schultasche aus.
"Interessante neue Frisur", ertönte plötzlich eine leise Stimme von rechts und
ein grauer Rucksack landete auf dem Pult neben Toshiya. Der Dunkelhaarige
blickte auf. Hakuei erwiderte seinen Blick mit unbeweglicher Miene.
"Oh. Morgen, Hakuei", nuschelte Kaoru, der sich in seiner Haut nun sichtlich
unwohl fühlte. Dieses verdammte Wochenende, Hakueis Worte, Toshiyas
Geständnis... wieso konnte es nicht einfach verschwinden? Toshiya sagte gar
nichts, hegte innerlich den gleichen Wunsch wie Kaoru, allerdings aus völlig
anderem Grund. Vielleicht, wenn er nicht mit Hakuei Schluss gemacht hätte, wenn
er am Sonntag nicht zur Schule gekommen wäre - vielleicht wäre dann alles
anders gekommen. Vielleicht hätte er dann auch Daishi (in vollem Drogenrausch
und absolut unberechenbar) nicht angetroffen.
"Du bist blass", sagte Hakuei, noch immer ohne Lächeln, und widmete seine
Aufmerksamkeit dem Stundenplan, den er aus seiner Tasche hervorgeholt hatte.
Toshiya schüttelte diese Bemerkung mit einem Achselzucken ab.
"Wie... geht es dir?", sagte er schließlich leise und wühlte noch tiefer in
seinem Rucksack, damit die anderen sein Gesicht nicht sehen konnten. Wie auch
immer _sein_ Sonntagabend verlaufen war, er hatte nicht vergessen, was er Hakuei
angetan hatte.
Dieser warf seinem Ex-Freund einen Seitenblick zu ehe er antwortete.
"Ganz gut." Es klang sehr halbherzig.
Toshiya biss sich auf die Lippe.
"Aha", antwortete er tonlos und fuhr fort Bücher auf seinen Tisch zu laden.
"Wir haben heute kein Englisch, das kannst du wieder einpacken", meldete sich
Kaoru auf einmal zu Wort. "Und Hindi haben wir -gar- nicht", fügte er mit einem
Blick auf das letzte Buch, dass Toshiya hervorgezogen hatte, hinzu.
"Der Neurotische Guru - Hindi für Anfänger. Wo zum Teufel hast du das her?"
"Oh. Ich muss versehentlich eines von Sakitos Büchern eingepackt haben",
murmelte Toshiya zerstreut und schichtete gleich noch Band zwei und drei oben
drauf (Der Neurotische Guru - Hindi für Fortgeschrittene, Die Neurotische
Topfpflanze - Hindi für Blumenliebhaber).
In diesem Augenblick stürmte ein Mann mittleren Alters herein, graumeliertes
Haar, dunkelbraune Brille, scheußliche Hahnentrittmuster-Krawatte, und blieb
mit strahlendem Lächeln vor der Klasse stehen.
"Sie sind zu früh. Die Stunde beginnt erst in zehn Minuten", meldete sich eine
Mädchenstimme aus der letzten Reihe zu Wort, doch ihr Lehrer winkte mit
schallendem Gelächter ab, für das man andere schon in Gummizellen gesteckt
hatte.
"Das ist doch völlig gleich, Miyavi! Zum Deutschunterricht muss man immer und
überall bereit sein, lassen Sie sich das gesagt sein!"
Er schleuderte seine Tasche auf das Lehrerpult, das unter dem Gewicht beinahe
zusammenkrachte.
"Oh-oh", murmelte Kaoru. Toshiya und Hakuei ließen sich in ihre Stühle sinken
und vermieden es einander anzusehen. Als der Lehrer einen großen Stapel Papier
aus seinem Koffer zu Tage förderte, rutschte die ganze Klasse unvermittelt ein
Stück tiefer hinter ihre Pulte und Toshiya fragte sich ob der Tag eigentlich
noch schlimmer werden konnte.
"Nun, heute werden wir uns mit etwas beschäftigen, das man im entfernteren als
Studien zu unserem letzten Gedicht bezeichnen kann. Da dieses poetische
Meisterwerk sich mit den Abgründen der menschlichen Seele befasst, möchte ich,
dass Sie alle in dieser Unterrichtsstunde die Tiefen ihrer eigenen Seele
erforschen. Das Material dazu habe ich mitgebracht." Er hob den Stapel Blätter
über seinen Kopf. Dann klatschte er ihn einem Mädchen aus der ersten Reihe
unter die Nase und blickte mit gespanntem Grinsen umher. Eine Minute später
starrten Kaoru, Hakuei und Toshiya auf ihr Arbeitsmaterial.
"Malen nach Zahlen?", flüsterte Kaoru zweifelnd und starrte auf das Papier, das
mit kleinen schwarzen Ziffern übersät war.
"Unsinn, Kaoru", entgegneter ihr Lehrer, geradezu entsetzt über ein derartiges
Maß an Unverständnis.
"Das ist fächerübergreifender Unterricht. Ich möchte, dass Sie..."
Und er begann mit dem Erklären eines komplizierten mathematischen Verfahrens an
dessen Ende ein genaues Profil der Psyche jedes einzelnen Schülers stehen
sollte. Toshiya blickte verzweifelt zur Decke. Sein Deutschlehrer startete immer
genau dann solche Aktionen, wenn er mal wieder vegessen hatte Stoff für die
Stunde vorzubereiten und nicht wollte, dass seine Schüler davon Wind bekamen.
<< Ich sterbe...>>, dachte er frustriert und begann alle Felder auf seinem
Blatt, die eine 9 enthielten, mit gelber Farbe auszumalen.
"Es war ja doch Malen nach Zahlen. Dieser Typ wollte nur nicht zugeben, dass er
vergessen hat, den Unterricht vorzubereiten", erklärte Kaoru abfällig und hob
sein Papier ins Licht, das nun von einem ziemlich schlampig ausgemalten Affen
geziert wurde.
"Was war deins, Totchi?"
"Ein Regenschirm", antwortete dieser, zerknüllte sein Blatt und zielte auf den
Papierkorb.
"Ich fühle mich wie im Kindergarten", klinkte sich Hakuei in das Gespräch ein,
der eben seine Buntstifte wieder im Rucksack verstaute.
Die beiden anderen schwiegen verlegen, keiner wusste, was man sagen konnte,
ohne, dass es künstlich und geheuchelt sorglos klang. Als sie fünf Minuten
später alleine im Klassenzimmer waren und sich das Schweigen in unerträgliche
Länge ausgedehnt hatte, ergriff Toshiya das Wort.
"Ich... ich gehe... dann auch..." Er erhob sich, lief langsam auf die Tür zu
und verschwand auf dem Flur ohne auf Antwort der anderen zu warten. Seine beiden
Freunde blieben mutterseelenallein zurück.
"War wohl nicht so gut, dass ich auf dich losgegangen bin und so fest zugehaun
habe... ähm... sorry...", murmelte Kaoru nach einer Weile verlegen. Hakuei
zuckte nur die Achseln.
"Quatsch, das habe ich von nem aufgeblasenen Typ wie dir nicht anders erwartet.
Mach dir keine Gedanken, dein Schlag ist so lasch, ich habe fast nichts
gespürt..."
Kaoru lachte säuerlich.
"Tatsächlich? Liegt vielleicht daran, dass ich mich zurückgehalten habe. Ich
wollte deine zarte Haut nicht verletzten. Am Ende hätte ich dein Make-up
verschmiert."
Hakuei warf dem Klassensprecher einen giftigen Blick zu.
"Tu dir keinen Zwang an Idiot."
Er stand auf, schnappte sich seinen Geldbeutel und durchquerte den Raum. An der
Tür blieb er stehen und drehte sich zu noch einmal zu Kaoru um.
"Toshiya hat am Sonntag mit mir Schluss gemacht. Da hatte er noch lange Haare."
Dann ging er auf den Flur und knallte die Tür hinter sich zu.
Zurück blieb Kaoru, der versuchte, Hakueis Kommentar so zu deuten, dass es Sinn
ergab.
"Schmeißt du dein Pausenbrot immer weg?", fragte Kyo gelangweilt und angelte
nach den Zigaretten in seiner Schultasche.
Toshiya hob erschrocken den Kopf und zog seine Hand aus dem Abfalleimer
zurück.
"Tauchst du immer urplötzlich hinter anderen Leuten auf? Und nein, es ist
nur... ich habe keinen Hunger... und mein Bruder hat das gemacht."
Kyo bedeutete mit einem lässigen Kopfnicken, dass er verstanden hatte, dass
Toshiya nicht sterben wollte und zündete sich eine Zigarette an. Der
Schwarzhaarige verkniff es sich ihn darauf hinzuweisen, dass Rauchen im
Schulgebäude strengstens untersagt war, stattdessen warf er einen prüfenden
Blick in den Spiegel, nur um festzustellen, dass er genauso gesund aussah, wie
ein Schwein mit drei Gehirnhälften.
"Weißt du, dass du aussiehst, wie ein Schwein mit drei Gehirnhälften? Im
Magen?", sagte Kyo und hob eine Augenbraue. Toshiya schenkte ihm ein müdes
Lächeln.
"Ich sehe furchtbar aus, stimmt's?"
"Wie eingegraben und wieder ausgegraben", bestätigte Kyo und bließ
weiß-grauen Rauch in die Luft, den man, vermengt mit dem ätzenden
Putzmittelgeruch des Klos, für den Duft von Sakitos chinesischem Hähnchen
süß-sauer auf Reis hätte halten können.
"Wieso warst du letzte Woche nicht in der Schule?", wollte Toshiya wissen, der
sich plötzlich an Takumis Worte erinnerte. Außerdem hatte er beschlossen das
Thema schnell zu wechseln, denn er hatte das Gefühl, dass Kyo es genoss ihm zu
sagen, wie übel er aussah.
Kyo tippte ein wenig Asche von seiner Zigarette auf den blank polierten
Toilettenboden. Dann blies er erneut sehr langsam eine dichte Qualmwolke in die
Luft.
"Das geht dich nichts an."
Toshiya rieb seine Wangen, um sie dazu zu bringen, ein wenig Farbe anzunehmen.
"Aha. Dachte ich mir."
Innerlich überschlugen sich seine Gedanken. Kyo war menschenfeindlich,
misstrauisch, wortkarg und kümmerte sich null um das Befinden anderer. Und
diese katzenhaften Augen: Sie waren so tief, dennoch konnte Toshiya beim besten
Willen nicht sagen, was das für ein Blick war, der in ihnen lag und was er
bedeutete. Nach dem, was ihm selbst letzten Sonntag zugestoßen war, glaubte der
Schwarzhaarige allerdings eine leise Ahnung bekommen zu haben warum Kyo sich so
verhielt. Was, wenn ihm das Gleiche passiert war? Wenn dieser leere Blick des
zierlichen Jungen von einer gewaltsamen Misshandlung herrührte? Hasste Kyo
Menschen, weil sie ihm etwas Schreckliches angetan hatten? Natürlich könnte es
auch völliger Unsinn sein (sehr wahrscheinlich sogar), Toshiya lag total
daneben und es gab einfach keinen Grund für das Verhalten des kleinen
dunkelhaarigen Japaners. Dennoch... einen Versuch war es Wert... so unsinnig der
Gedanke auch war...wenn er einfach mal fragen würde... vielleicht bekäme er
dann sogar eine Antwort. Jetzt, da diese Idee in seinem Kopf aufgetaucht war,
war er so neugierig geworden, dass er beinahe platzte.
<>, dachte Toshiya tapfer, hob seinen Blick
aus den Tiefen des weißen Waschbeckens und schielte zu Kyo hinüber. Der nahm
gerade einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippte dann den Stummel
quer durch den Raum in eine der Kloschüsseln. Er öffnete die Türe und wollte
gerade ohne ein Wort des Abschieds verschwinden, als Toshiya auf einmal sagte:
"Du wurdest vergewaltigt, stimmt's?"
Er presste die Augen zusammen und wartete ängstlich auf Reaktion. Jetzt,
nachdem er es ausgesprochen hatte, klang es unsinniger denn je. Was für eine
Schnapsidee.
Kyo blieb stehen. Langsam drehte er sich zu Toshiya um, der über dem
Waschbecken hing und ihn ansah. Er starrte mit aufgerissenen Augen zurück und
wenn Toshiya sich nicht irrte, war der andere tatsächlich erschrocken über
diese Bemerkung. Es war erstaunlich mitanzusehen, wie Kyos Gelassenheit Löcher
bekam. Er schloss die Tür und trat wieder zurück in den Raum.
"Was weißt du?", zischte er und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut.
Toshiya erwiderte den Blick ungerührt. Er hatte keine Angst vor Kyo.
"Shin, da bist du ja! Wo warst du, verdammt?! Ich wäre fast gestorben!!"
Shinya blickte von seinem Französischheft auf.
"Das freut mich."
Dann zog er ein Wörterbuch zu Rate, während er leise vor sich hinmurmelte "la
badèche... la badèche...". Er flippte die Seiten des Buchstaben B durch, fand
das gesuchte Wort und übertrug es in sein Heft.
Die starrte seinen Freund und Koi eine Sekunde lang fassungslos an, dann schlug
er mit der Faust auf den Tisch, sodass eine Handvoll Vokabelkarten auf den Boden
segelte. Shinya warf ihm einen eisigen Blick zu, antwortete: "Pluster dich nicht
so auf." Und dann: "Zackenbarsch... la badèche: der Zackenbarsch... La badèche
vit: Der Zackenbarsch lebt. Ich bin mit der Übersetzung fast fertig..."
"SHINYA!!!"
Die packte seinen Freund an den Schultern und schüttelte ihn so heftig, dass
ihm der Füller aus der Hand fiel. Dieser schrie empört auf und wand sich aus
Dies Umklammerung.
"Hör auf mich so grob zu behandeln! Such dir doch ein anderes Spielzeug, wenn
ich dir schon so egal bin!! Mit uns ist es aus!!!"
Mit fahrigen Händen schmiss der Braunhaarige seine Französischsachen in die
Schultasche zurück und stürmte aus dem Klassenzimmer. Im Raum blieben einige
Mitschüler, die ihm scheele Blicke nachwarfen und Dinge wie dachten und Die, der wie versteinert auf die Tür starrte durch die
Shinya verschwunden war.
Shinya wetzte den Gang entlang. Glücklicherweise hatte er jetzt eine
Freistunde, diese Zeit würde hoffentlich genügen um sich wieder ein wenig zu
beruhigen. Tränen rannen ihm über die mageren Wangen. Wieso musste Die ihm so
wehtun? Wieso konnte er nicht einfach zärtlich sein? Es würde niemals mit ihm
funktionieren. Und doch wollte er nur Die.
Die und keinen anderen.
Diese Katzenaugen durchbohrten ihn bis auf den Grund seiner Seele. Trotz des
Schauers, der Toshiya dabei unwillkürlich über den Rücken rann, hielt er dem
Blick stand. Kyo machte einen Schritt auf ihn zu. Er wirkte nun trotz des
gewaltigen Größenunterschieds extrem bedrohlich.
"I-ich hab geraten!", stotterte Toshiya und sein Mut begann zu schwinden.
"Ehrlich!"
"Du lügst!", fauchte Kyo und seine Augen blitzten. "So etwas errät man nicht
einfach so! Hast du mir nachspioniert?"
Toshiya verstand. Er hatte Kyo durchschaut, was dem anderen ganz offentsichtlich
noch nie passiert war und ihn aus diesem Grund völlig aus der Fassung brachte.
So sehr, dass er vergessen hatte, sich nichts anmerken zu lassen.
"Dann hast du es also niemandem erzählt? Noch nie? Warum?", fragte Toshiya mit
heiserer Stimme.
Kyo begriff, dass es sinnlos war, jetzt alles abzustreiten, also schnappte er
sich wieder eine Zigarette und zündete sie an. Wie um sich zu beruhigen nahm er
einen kräftigen Zug und bließ ihn Toshiya mitten ins Gesicht. Dieser hustete
unterdrückt und fragte sich ob Kyo antworten würde. Tatsächlich sagte der
Kleinere nach einer Weile: "Tsss, erzählen. Als Mann von einem Mann
vergewaltigt zu werden... würdest _du_ jemandem so etwas Peinliches und...
Demütigendes erzählen? Du bist schlauer, als ich dachte Hara Toshimasa. Und
der erste, der es je herausgefunden hat. Nur _wie_ hast du es-"
Einen Moment lang sahen sie sich an. Dann ließ Kyo plötzlich seine Kippe
fallen. Sie rollte über den Boden und glimmte in einer Ecke der Toilette
weiter.
"Du--", begann er und starrte Toshiya in die dunklen Augen, in denen er eine
Leere und Tiefe fand, die ihm merkwürdig bekannt vorkam. In diesem Augenblick
wusste Toshiya, dass der andere die Puzzelteile zusammengesetzt hatte. Kyo
fummelte unbeholfen an seinem Feuerzeug herum und zündete sich eine neue
Zigarette an.
"Dieses Wochenende, oder?", flüsterte er ohne Anzeichen der üblichen
Gleichgültigkeit, die er sonst immer an den Tag legte.
Toshiya nickte nur. Er fragte sich, ob Kyo Mitgefühl empfand. Oder Mitleid.
Oder ob er einfach nur schockiert war, dass jemand sein Geheimnis aufgedeckt
hatte.
"Hakuei?"
"Nein." Toshiya lächelte matt. "Er würde nie jemandem Gewalt antun."
Er blickte seinem Gegenüber fest in die hübschen mädchenhaften Augen, die
denen seines Bruders so unähnlich waren. Jetzt war der Augenblick es
auszusprechen. Toshiya wusste, würde er nun schweigen, dann würde er nie
wieder den Mut aufbringen mit irgendjemandem darüber zu sprechen.
"Nein, Hakuei hat nichts getan", wiederholte er noch leiser.
Kyos dritte Zigarette glimmte vergessen zwischen Mittel-und Zeigefinger seiner
rechten Hand.
"Es war Daishi", hauchte Toshiya und die Erinnerung brach auf ihn ein, wie
Faustschläge.
"-Er- hat mich--"
Seine Beine gaben nach.
"Wir haben schon lange nicht mehr..."
Sakito beugte sich zu dem kleineren Jungen hinüber und hauchte ihm leise einige
Worte ins Ohr. Sein zarter Geliebter errötete.
"Saki, das stimmt nicht, wir haben doch Sonntagnacht..."
Der andere grinste spitzbübisch.
"Ja, und seitdem nicht mehr."
"Es ist Montagmorgen."
"Und?"
"Wann hätten wir denn- ich meine, wann-"
Der Rest des Satzes ging in einem Kuss unter. Ryutaro wusste nicht, was es war,
doch immer, wenn sein Koi ihm so nahe kam, wurde ihm richtig schwindelig. Er
lehnte sich kraftlos in Sakitos Umarmung. Nach einer Weile lösten sie sich
voneinander und Ryutaro hauchte: "Nicht, wir können doch nicht hier-"
Sakito grinste wieder.
"Keine Angst, ich kann noch warten, bis wir zu Hause sind. Aber versprich mir,
dass du dann mit mir schläfst."
Der andere sah ihn verlegen an.
"Versprochen."
Und er begann Sakitos Gesicht mit kurzen sanften Küssen zu bedecken. Das war
der Augenblick in dem die Toilettentür auf- und beinahe aus den Angeln flog und
gegen die geschlossene Tür der ersten Kabine knallte. Ryutaro riss die Augen
auf und Sakito drehte sich entnervt um.
"Geht es vielleicht ein bisschen diskreter?!"
Dann erkannte er den Jungen, der im Türrahmen stand.
"Takumi?"
Wieso hatte er das dumpfe Gefühl, dass die vertraute Zweisamkeit mit seinem
Freund damit ein jähes Ende nahm? Vielleicht weil der Junge mit den Zöpfen,
seit neuestem Koi seines großen Bruders, völlig außer Atem vor ihm stand, die
Kleider in Unordnung, Haare zerzaust und auf dem Gesicht ein Ausdruck der
bloßen Panik.
"Was ist los?", sagte Sakito mit fester Stimme und legte Ryutaro schützend den
Arm und die Hüfte.
"Takumi!"
Der Angesprochene schleppte sich zur Tür, bekam die Klinke zu fassen und
schmiss sie mit aller Kraft hinter sich zu. Dann ließ er sich neben den
Waschbecken zu Boden sinken.
Sakito beobachtete ihn mit wachsendem Erstaunen. Noch nie hatte er jemanden so
aufgebracht gesehen. Takumis Augen rollten wild in seinem Kopf umher und er
klimperte seine langen hochgebogenen Wimpern, als hätte er ein Rudel
Killerheuschrecken in die Augen bekommen.
"Es ist was passiert", keuchte er, während er sich eine schmale Hand auf die
Bluse presste. Dann sprang er mit einem Satz auf die Beine - dicke Tränen
quollen ihm nun aus den Augenwinkeln - und schmiss sich Sakito um den Hals.
"He, he, langsam!", stammelte dieser und versuchte den kleinen Jungen von sich
zu schieben, doch Takumi klebte ihm wie eine Klette an der Brust. Ryutaro
streckte die Hand aus und wuschelte ihm vorsichtig durch den zerzausten braunen
Haarschopf.
"Beruhige dich doch, Taku, und sag uns, was dich so aufbringt", sagte er leise.
Takumi lupfte sein fleckiges rotes Gesicht und blinzelte den blassen Schüler
durch feuchte Augen an.
"Eben in der Pause hat mich Daishi auf dem Handy angerufen, der große Bruder
von Kyo, du weißt schon", hauchte Takumi und schniefte laut.
"Und dann?"
Sakito gelang es endlich den Kleineren von seinem Pullover zu lösen (er
hinterließ dabei ein großes rundes Loch im Stoff).
"Er fragte wo Uruha ist... und ich hab gesagt ..."
Ryutaro warf seinem Koi einen Blick zu. Es hatte also kaum fünf Minuten
gedauert, bis Takumi wieder seinen üblichen theatralisch-dramatischen Ton
aufgenommen hatte.
"Und? Was hat er noch gesagt?", antwortete Sakito, nun deutlich gelangweilter
als zuvor.
"Er m-meinte, dass ich Uruha irgendwas von wegen Drogen ausrichten soll...",
murmelte Takumi aufgelöst. Sakito seufzte genervt auf.
"Und sonst?"
"Sonst?!", kreischte Takumi. "Wie sonst?! Ist das nicht grauenvoll?! Er ist
drogenabhängig, dro-gen-ab-häng-ig!!!"
"Wie wunderbar, dass du das buchstabieren kannst...", sagte Sakito mit
verzogenen Mundwinkeln.
"Hätt ich dir irgendwie gar nicht zugetraut. Dass Daishi ein Junkie ist, wusste
ich schon länger, dem ist nicht zu helfen, aber keine Sorge, Uruha ist _nicht_
abhängig. Wenn er es wäre, hättest du es schon mitbekommen. Und wenn du sonst
nichts auf dem Herzen hast, könntest du bitte verschwinden, Ryu und ich waren
gerade dabei rumzumachen..."
Ryutaro errötete, doch Takumi warf Sakito einen empörten Blick zu.
"Pah, da ist noch mehr, ich spüre das!! Daishi führt was im Schilde!!"
"Weibliche Intuition, was?", murmelte Sakito und versuchte sich wieder über
Ryutaros Nacken herzumachen, der jedoch gab ihm zu verstehen, dass es ihm vor
anderen Leuten peinlich war.
"Mach dich nur lustig, Sakito Hara!!", schrie Takumi und hüpfte wütend auf der
Stelle.
"Du wirst schon sehen, ich decke es auf!!!"
Mit diesen Worte stürmte er aufgebracht aus dem Klo. Fast zeitgleich läutete
es zur vierten Stunde.
"Das darf doch nicht wahr sein", stöhnte Sakito, doch sein Koi nahm ihn an der
Hand.
"Mach dir nichts draus, du bekommst später, was du willst... komm, wir schaffen
es sonst nicht rechtzeitig zu Deutsch..."
Alles war finster. Ah ja, genau, Augen öffnen. Nur: Wo genau befand er sich?
Das war doch nicht etwa immer noch die Toilette?
Toshiya rieb sich stöhnend die Augen. Ja, jetzt konnte er es deutlich sehen,
diese sterilen, weißen Waschbecken, die geschlossenen Kabinen mit den
metallenen Türklinken: die Toilette im dritten Stock. Er erhob sich langsam,
schwankte und lehnte sich gegen den Rand des Waschbeckens. Wie unglaublich
peinlich: Er war nun schon zum zweiten mal vor Kyos Augen in einem Klo
umgekippt. Apropos: Wo war der dunkelhaarige Junge überhaupt? Toshiya blickte
sich suchend um. Von Kyo keine Spur. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, ohne
zu warten, bis Toshiya das Bewusstsein wiedererlangte, oder dem Schularzt
Bescheid zu geben. Der Schwarzhaarige rieb sich den schmerzenden Hinterkopf.
Einen Pullover hätte er ihm ja wenigstens unterlegen können. (Darüber hinaus
sah es ganz so aus, als hätten die Putzfrauen der Schule die Spiegel über den
Waschbecken blank poliert und Kyos Zigarettenasche aufgewischt, ohne vom
bewusstlosen Toshiya Notiz zu nehmen.) Frustriert wankte der Teenager aus dem
Raum auf den langen Flur. Kyo war also doch ein egozentrisches unsoziales
Schwein.
<>, dachte er plötzlich erschrocken.
<>
Natürlich, das letzte Mal hatte Kyo ihn sogar nach Hause geschafft, aber nur
weil er ihm noch einen Gefallen geschuldet hatte und weil sich Toshiya bei -ihm-
diese dämliche Grippe eingefangen hatte.
Wütend und gleichzeitig ziemlich durcheinander schlurfte Toshiya in sein
Klassenzimmer, glücklicherweise war seine Mathelehrerin noch nicht da.
"Totchi!! Wo warst du?!"
Kaoru ließ sein Buch fallen und sprang auf. Toshiya schmiss wortlos Mäppchen,
Hefte und Bücher von seiner Bank in die Tasche, machte sie zu und warf sie sich
über den Rücken.
"Totchi!! Wohin gehst du?!"
Kaoru starrte ihn an. Der Schwarzhaarige drehte sich um und verschwand so
schnell wie er gekommen war.
"Totchi!!"
"Jetzt halt mal den Rand und hör auf ihn zu bemuttern! Du hattest deine Chance,
du hättest dich um ihn kümmern können, jetzt ist es zu spät", brummte Hakuei
und warf dem Klassensprecher einen finsteren Blick zu.
"Verpiss dich!", zischte Kaoru zurück.
"Mit Freuden."
Hakuei packte seine Sachen ebenfalls zusammen.
"Hatte eh keinen Bock heute."
*~*~*~*~*~*~*
Der Rest der Woche verlief ereignislos: Shinya und Die schwiegen sich an, wobei
der Braunhaarige ab und zu in Tränen ausbrach, Kaoru und Hakuei konnten nur mit
Mühe davon abgehalten werden sich gegenseitig die Augen auszukratzen, Takumi
brachte es fertig Sakito und Ryutaro sieben mal beim Vorspiel zu stören (als
Sakito sein Zimmer abschloss, stieg Takumi zum Fenster ein) und Kyo ließ sich
kein einziges Mal blicken. Toshiyas entfernte Verwandte war illegalerweise aus
ihrem Grab auf der einsamen Pazifikinsel ausgegraben und an ein Team irischer
Chirurgen zu geheimen Forschungszwecken verkauft worden.
Toshiya für seinen Teil hatte das Gefühl sich selbst zu entgleiten. Ihm war
ständig übel, folglich aß er kaum noch, seine Stimmungsschwankungen nahmen
unerträgliches Ausmaß an (nein, er ist nicht schwanger) und die Begegnung mit
Daishi spulte sich Tag für Tag in seinem Kopf ab, wie ein Videoband auf repeat.
Er war sich sicher, dass er wahnsinnig werden würde, sollte das noch länger so
weitergehen. Gegen Ende der Woche war es ihm gelungen sich soweit in sich selbst
zurückzuziehen, dass er von den anderen kaum noch angesprochen wurde. Er
entfloh ihnen in der Pause und vor Schulbeginn, während des Unterrichts
übersah er die Zettelchen, die Kaoru ihm schrieb, ging nie ans Telefon, wenn
jemand anrief und verbarrikadierte sich den restlichen Tag in seinem Zimmer.
Freitagnachmittag brachte Toshiya wieder einmal in seinem Bett zu, die Musik so
laut aufgedreht, dass er es niemals hören würde, wenn jemand an die Tür
klopfte und einen Stapel Schulbücher auf seinen Beinen. Der einzige Mensch, mit
dem er reden wollte, war Kyo - der einzige, der ihn verstand. Nun, da er wusste,
dass auch Kyo ganz offensichtlich Opfer einer Misshandlung geworden war, wollte
er außerdem noch so viel über ihn herausfinden: Was genau passiert war, wie
alt er gewesen war und wer es getan hatte, doch gerade der schmale
schwarzhaarige Japaner war die ganze letzte Woche nicht mehr aufgetaucht.
Während sich Toshiya in einer Mischung aus Enttäuschung und Angst (Daishi ging
bei ihnen ein und aus) in seine Mathematikformeln flüchtete, kehrte Takumi
gerade von seiner Exkursion in die Küche zurück (er hatte Tee gesucht, aber
leider nur ein Gemisch aus 2.2.4.-Pentamethyl-6.-propyldekan und Paraffinöl
gefunden). Bevor er an Uruhas Zimmertür klopfte, richtete er noch schnell seine
Löckchen (neuer Lockenstab) und warf einen prüfenden Blick in den Flurspiegel
hinter ihm. Als er die Augen gerade mit Zufriedenheit über die hübschen Formen
seines Gesichts wandern ließ, drang aus dem Zimmer ein schriller
Entsetzensschrei an seine Ohren. Takumi wirbelte herum und starrte eine Sekunde
lang zögernd auf die verschlossene Tür. Im nächsten Augenblick hatte er
bereits sein rechtes Ohr gegen das glatte Holz gepresst und verharrte in
gespannter Erwartung herauszufinden, wer geschrien hatte und warum.
"Du hast WAS getan??!!", ertönte Uruhas Stimme aus seinem Zimmer.
<>, dachte Takumi schlau, <>
Er drückte sein Ohr noch dichter gegen die Tür um Daishis Antwort nicht zu
verpassen.
"Aber, Uruha... du- du hast doch gesagt, ich soll ihm eins auswischen. Du hast
gesagt, ich soll es Toshiya heimzahlen, weil er dir Hakuei ausgespannt hat!"
Daishi klang außerordentlich verwirrt. Noch verwirrter jedoch war Takumi
draußen vor der Tür, der nicht wusste, was er da eigentlich hörte, aber das
Gefühl hatte, dass es ziemlich wichtig sein musste, wenn sein Koi sich derart
darüber aufregte.
"So hab ich es dir versprochen", sprach Daishi weiter, "weißt du nicht mehr?
Ich sollte es Toshiya so richtig heimzahlen!! Du weißt doch selbst, wie weh er
dir getan hat, du liebst Hakuei doch immer noch!! Mir kannst du mit Takumi
nichts vormachen!"
Daishis Stimme überschlug sich, als er versuchte Uruha diese Sache zu
erklären, ebenso überschlugen sich die Gedanken im Kopf des geheimen
Lauschers.
<>, dachte Takumi und hatte plötzlich furchtbare
Angst. Angestrengt hörte auf Uruhas nächste Worte um endlich zu begreifen,
worum es ging.
"Ja, wir hatten ausgemacht, dass du es meinem Bruder heimzahlst! Wir hatten
nicht ausgemacht, dass du ihn überfällst und vergewaltigst!! Du hast ihn
misshandelt! Meinen Bruder!"
"Ich dachte, du hasst ihn!!", verteidigte sich Daishi.
"Ja, aber das ist etwas völlig anderes! Weißt du, was du getan hast, du
Monster??!!! Verschwinde, oder ich bringe dich um!!"
Kurze Stille fiel über den Raum. Dann waren Schritte zu hören, die sich zur
Tür bewegten. Wie in Trance sprang Takumi auf und flüchtete ins Badezimmer um
nicht beim Lauschen ertappt zu werden. Dort sank er mit aufgerissenen Augen
neben dem Wäschekorb zu Boden. Er mochte kindisch sein, zickig und aufgedreht,
aber er war nicht dumm und ob er es wollte oder nicht - in seinem Kopf fügten
sich die Gesprächsfetzen, die er aufgeschnappt hatte, zu einem lückenlosen
Bild zusammen. Als unten die Haustür ging, wusste Takumi, dass Uruhas bester
Freund überstürzt das Haus verlassen hatte. Er blieb reglos in seinem Versteck
sitzen. Zehn Minuten später öffnete sich die Badtür und Uruha streckte den
Kopf herein. Das falsche Lächeln, das er zur Schau trug, verbarg nicht im
geringsten, wie wütend und aufgewühlt er eben noch gewesen war. Takumi hob den
Kopf und starrte ihn an.
"Da bist du ja, Taku, ich habe dich schon gesucht", sagte Uruha und trat ins
Bad.
"Ja", murmelte Takumi.
"Kommst du mit? Daishi ist schon gegangen, ich dachte, wir könnten ein bisschen
Spaß haben." Er hielt dem Jungen eine ausgestreckte Hand hin. Dieser ergriff
sie.
"Ja", flüsterte Takumi wieder.
"Lass uns Spaß haben..."
Hier irgendwo musste er sich aufhalten. Das durfte doch nicht wahr sein. Immer,
wenn man Sakito mal brauchte, war er nicht da. Wütend schmiss Takumi die
Zimmertür von Toshiyas kleinem Bruder zu. Er musste mit ihm reden, unbedingt.
Während Uruha seinen Spaß gehabt hatte und danach friedlich eingeschlafen war,
hatte er selbst fieberhaft überlegt, was Daishis und Uruhas Streit tatsächlich
zu bedeuten hatte. Nun musste er das schnellstens jemandem mitteilen, sonst
würde er noch wahnsinnig werden. Doch wem? Sakito und Ryutaro waren
unauffindbar, Toshiyas Mutter nicht zu Hause, Die, Shinya und Kaoru kannte er
nicht besonders gut, Kyo würde es nicht interessieren und die Lehrer oder die
Polizei brachte man am besten nicht mit ins Spiel.
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Es gab noch
jemanden, dem Toshiya sehr viel bedeutete und der ihn gut kannte. Hakuei.
Hektisch stürzte er aus dem Haus und machte sich auf dem Weg zum Haus von
Toshiyas Koi. Wie gut, dass er alle Addressen und Telefonnummern der wichtigsten
Leute der Schule im Kopf hatte. Fünfzehn Minuten später war er völlig
abgehetzt vor der gesuchten Haustür angekommen, schob den Gedanken daran, wie
furchtbar er aussehen musste, und dass er sicher hässliche rote Flecken im
Gesicht hatte, von sich und klingelte Sturm. Als die Haustür aufflog und ein
ziemlich gereizter Hakuei im Eingang stand, trat Takumi schnell ein, ergriff den
Ärmel des anderen und schleifte ihn in das leere Wohnzimmer (das er
glücklicherweise auf Anhieb fand).
"Ähm. Takumi. Hättest du die Güte mir zu verraten, was du hier treibst?",
fragte Hakuei, völlig verärgert über die Tatsache, dass der Kleinere einfach
so hereingeplatzt war.
Takumi setzte sich auf einen Sessel, faltete die Hände im Schoß und schwieg.
Kurz bevor Hakuei jedoch den Hörer des schnurlosen Telefons zu fassen bekam und
ihn dem Jüngeren gegen den Kopf werfen konnte, sagte er ruhig: "Setzt dich. Ich
muss dir was Wichtiges erklären."
Hakuei überlegte kurz, ob er sich darüber aufregen sollte, dass man ihn in
seinem eigenen Wohnzimmer dazu aufforderte Platz zu nehmen, entschied sich
allerdings dagegen, als er sah, wie ungewöhnlich ruhig Takumi mit einem Mal
war. Das bedeutete nichts Gutes.
"Du bist doch Toshiya Haras Koi...", begann Takumi, wurde aber sofort
unterbrochen.
"Nicht mehr. Er hat Schluss gemacht." Hakuei konnte die Bitterkeit in seiner
Stimme nicht ganz verstecken.
"Aber du liebst ihn doch noch. Also ich meine, er ist dir noch wichtig, oder?",
forschte Takumi nach, doch Hakuei zuckte nur mit den Achseln.
"Ich nehme das als Ja. Gut. Du musst mir helfen, es geht um Toshiya..."
"Wieso? Was ist mit ihm?", sagte Hakuei mit alarmiertem Gesichtsausdruck und
starrte seinen Gast an. Takumi schnalzte gereizt mit der Zunge.
"Wenn du aufhören würdest mich zu unterbrechen, könnte ich dir das
erklären."
Hakuei antwortete nicht. So ruhig hatte er den Kleineren noch nie erlebt. Eine
beängstigend tödliche Ruhe.
"Ich war eben bei meinem... Koi. Uruha Hara, Toshiyas Bruder. Er hatte Besuch
von Daishi, das ist sein bester Freund. Naja, du kennst die beiden sicher,
immerhin warst du auch mal mit Uruha zusammen. Ich bin also aus dem Zimmer
gegangen, weil ich etwas zu trinken suchen wollte, als ich zurückkam, hatten
Daishi und Uruha einen heftigen Streit. Ich..."
Takumi senkte den Blick und sah mit einem Mal sehr elend aus.
"... ich habe an der Tür gelauscht, weil ich wissen wollte was los ist. Die
hätten mir ja eh nichts erzählt."
"Und?", fragte Hakuei, als Takumi eine Pause einlegte. Wieso hatte er das
Gefühl, dass ein Streit zwischen Uruha und Daishi nichts Gutes bedeutete? Wenn
diese beiden unzertrennlichen Freunde stritten, musste es um etwas wirklich
Ernstes gehen. Immerhin hatte nicht einmal Daishis Drogenabhängigkeit die
beiden auseinanderbringen können.
Takumi zuckte die Achseln und lächelte unendlich traurig.
"Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden hatte, worum es ging... und...
naja, es wird dir nicht gefallen."
Er holte einmal tief Luft und fuhr fort.
"Weißt du, Uruha war richtig wütend als du mit ihm Schluss gemacht hast..."
Hakuei zuckte ungerührt die Achseln.
"Na und? Soll sich nicht so aufführen. Er wollte ja nicht mal zugeben, dass er
in mich verliebt war..."
"Aber genau darum geht es. Uruha hat sich so tief in seinem Stolz und seinen
Gefühlen verletzt gefühlt - und außerdem ist er, glaube ich, ziemlich
eifersüchtig auf Toshiyas hübsches Aussehen - dass Daishi ihm versprochen hat,
Toshiya fertig zu machen, es ihm heimzuzahlen. Uruha dachte, Daishi würde ihn
ein wenig schikanieren, ein bisschen heruntermachen, Gerüchte über ihn
verbreiten, seinen Ruf zerstören... das war alles was Uruha wollte."
"Das heißt also... Daishi sollte seinem besten Freund einen Gefallen tun... und
Toshiya fertig machen? Das sieht Uruha ähnlich. So hinterhältig und
missgünstig..."
Takumi nickte traurig. Seine Agen sahen sehr wässrig aus, als er sagte: "Ich
glaube auch, dass er nur mit mir zusammen ist um... um über dich
hinwegzukommen. Und über seine Eifersucht auf Toshiya. Er liebt dich noch
immer, Hakuei. Ich bin... sein Lückenfüller..."
Er begann leise zu schluchzen und presste eine kleine geballte Faust auf seinen
Mund. Hakuei wusste nicht, was er sagen sollte, in seinem Kopf flog noch alles
durcheinander, er war sich nicht sicher, ob er Takumi ganz verstanden hatte.
"Aber das ist jetzt nicht wichtig", flüsterte der kleine braunhaarige Japaner
tapfer und zog ein Taschentuch aus seiner Jackentasche hervor.
"Ich komme eigentlich wegen Toshiya. Das Problem ist, dass Daishi Uruha diesen
kleinen Gefallen schon erfüllt hat. Allerdings anders, als er es eigentlich
sollte."
Hakuei sprang auf. Er hatte gewusst, dass etwas nicht in Ordnung war.
"Was hat er ihm angetan??!! Totchi war die ganze Woche so in sich
zurückgezogen! Er hat kaum gesprochen, war leichenblass... und dann die Sache
mit seinen Haaren... was hat Daishi getan??!!"
"So wie ich das verstanden habe, hat er Toshiya am Sonntag abgefangen. Und
ihm... wehgetan. Verstehst du? Er hat ihn... ziemlich brutal misshandelt... wie
es aussieht. Ich glaube, dass Uruha das alles nicht gewollt hat. Er war sehr
wütend und-"
Takumis Stimme riss ab. Er schluchzte leise in sein Taschentuch und wagte nicht
aufzublicken.
Hakuei erhob sich.
"Wo gehst du hin?", quiekte der Kleinere, als er das Zimmer durchquerte und den
Telefonhörer aufnahm.
"Ich rufe Kaoru an", antwortete er tonlos.
"Er muss mir helfen."
Hakuei stand mit dem Rücken zum Zimmer. Takumi wunderte sich über seine
Gelassenheit, konnte allerdings nicht sehen, dass der Schwarzhaarige stumm
weinte und den Hörer so fest umkrallte, dass sich seine Fingerknochen weiß
unter der Haut abzeichneten.
Wenige Zeit später war Kaoru zu ihnen gestoßen. Er saß steif auf dem linken
Ende des Sofas (der Ort, der am weitesten von Hakuei entfernt war) und blickte
feindselig in die Runde. Was auch immer kommen würde, er mochte es schon jetzt
nicht.
"Also - wieso bin ich hier?", fragte er und zupfte ungeduldig am Reißverschluss
seiner Weste herum.
"Es ist wegen Toshiya, ich habe Uruha belauscht und viele Dinge heruasgefunden,
weil Daishi, du kennst doch Daishi, er ist doch drogenabhängig, das weiß
jeder, der mal mit ihm Kontakt hatte, ein Wunder, dass er noch auf freiem Fuß
ist und-", brabbelte Takumi aufgeregt, doch Kaoru brachte ihn mit einer Geste
zum Schweigen.
"Hakuei?", richtete er sich nun an seinen verhassten Klassenkameraden.
"Toshiya wurde von Daishi brutal überfallen und vergewaltigt", sagte dieser
kurz angebunden.
Die nächsten zehn Minuten über machte Kaoru merwürdige Verrenkungen mit
seinem Kiefer, es sah ganz so aus, als versuche er, den anderen beiden etwas
mitzuteilen, scheiterte dabei aber kläglich. Als er in Hakueis Gesicht sah,
erkannte er, dass dieser Mühe hatte nicht in Tränen auszubrechen. Der Anblick
gab ihm den Rest.
"Was sollen wir... tun?", hauchte er schließlich leise, als seine Versuche,
sich mitzuteilen, endlich griffen.
Und wieso zitterten seine Hände nur so sehr?
Hakuei zuckte stumm die Achseln und starrte auf seine Knie.
"Was ist, wenn wir... einfach mal mit Toshiya reden? Also ich- ich meine...
einer von euch beiden... weil er... verschließt sich doch, hab ich Recht? Wir
müssen also ganz vorsichtig sein", sagte Takumi behutsam und legte Hakuei die
Hand auf den Rücken. Dieser vergrub sein Gesicht in den Händen.
"Er war so anders... so schön, wie nicht von dieser Welt, so zerbrechlich... so
blass... wieso habe ich nichts bemerkt? Wieso ist mir nicht aufgefallen, dass
ihn jemand so verletzt hat?", flüsterte er erstickt.
Kaoru sah betreten auf seine Hände.
"Mach dir keine Vorwürfe... mir ist doch auch nichts aufgefallen... und wir
können nicht ändern, was passiert ist..."
"Aber ich bin einfach gegangen, an diesem Sonntagabend, als er mit mir Schluss
gemacht hat! Ich habe ihn stehengelassen. Alleine gelassen. Wäre ich bei ihm
geblieben, wäre ihm nichts zugestoßen!"
Niemand erwiderte etwas. Nur Hakueis trockene Schluchzer zerrissen die Stille,
die daraufhin über den Raum fiel.
In seinem Zimmer war Toshiya vor Müdigkeit das Buch aus den Händen geglitten.
Er hatte das merkwürdige Gefühl, dass man gerade irgendwo über ihn sprach,
aber vermutlich handelte es sich bloß um Einbildung, die übliche Paranoia
eben. Auf einmal fragte er sich, was er eigentlich damit bezwecken wollte, mit
diesem Einigeln in seinem Schmerz und in seiner Angst. Konnte das alles nicht
endlich ein Ende haben? Er spürte überdeutlich, wie sehr er jemanden brauchte,
mit dem er reden konnte, der ihn beruhigte und ermutigte. Allerdings brachte er
es nicht über sich Hakuei oder Kaoru davon in Kenntnis zu setzen und sowohl
Shinya, als auch Die hatten wohl genug eigene Probleme. Was Sakito betraf -
Toshiya würde es niemals über sich bringen, sein wohl verdientes, wunderbares
Glück mit Ryutaro zu stören, indem er ihm Sorgen bereitete. Da blieb nur eine
Lösung.
Kyo.
Er wusste sowieso schon Bescheid und konnte nachempfinden, wie Toshiya sich im
Augenblick fühlte. Außerdem brauchte der zierliche Junge doch auch jemandem
zum Reden, er hatte es ebenso bitter nötig wie Toshiya selbst, dessen war er
sich sicher. Blöderweise war Kyo so ziemlich der unsozialste Mensch, der ihm je
begegnet war. Wieso zeigte er nur null Mitgefühl oder
Verantwortungsbewusstsein, wenn er doch genau wusste, dass nur er Toshiya helfen
konnte? In Augenblicken wie diesem war der Schwarzhaarige so wütend auf Kyo,
dass er ihn wie eine Flunder gegen die Wand hätte klatschen können.
Entschlossen ließ er sich vom Bett rutschen, zog sich schnell einen Pullover
über und rannte ins Bad. Ein Blick in den Spiegel sagte ihm, das seine Haare,
nachdem seine Mutter gerettet hatte, was noch zu retten war, gar nicht so
schlecht aussahen. Er wusch sich schnell die Müdigkeit aus dem Gesicht, machte
ein paar Liegestütze und flog dann förmlich die Treppe hinunter. Operation Kyo
konnte beginnen. Er würde den Jungen belagern und berdängen, bis er gezwungen
war, ihm all seine Geheimnisse preiszugeben (oder zumindest mit ihm zu reden,
das würde für den Anfang schon genügen). Ja, vielleicht war das verzweifelt,
aber was hatte er schon zu verlieren? Nachdem er schnell einen Bissen von
Sakitos Klapperschlange pikant auf eingelegtem Aal hinuntergeschlungen (und sich
danach kurz übergeben) hatte, raste er in den Flur zurück (ja, er würde
freiwillig das Haus verlassen) um sich Jacke und Schuhe anzuziehen. Zwischen
Treppe und Haustür prallte er jedoch mit Uruha zusammen, der ebenfalls auf dem
Weg nach draußen war. Für den Bruchteil einer Sekunde starrten sich die beiden
Brüder wortlos an. Dann hob Uruha den Arm. Toshiya wich ängstlich zurück,
doch sein großer Bruder schlug die Hand nicht ihm, sondern sich selbst auf den
Mund. Er schluchzte erstickt auf - und sank dann vor Toshiyas Füßen zu Boden.
"U-uruha?", stammelte der Jüngere verwirrt, der unentschlossen seine Jacke in
der einen, die Schuhe in der anderen Hand hielt. Sein großer Bruder bot einen
elenden Anblick, er verharrte vornübergebeugt auf den Knien und weinte wie ein
Kind. Es war Jahre her, dass Toshiya ihn so aufgelöst erlebt hatte, Uruha hatte
sich ja nie die Blöße gegeben seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
"Was ist?" Zögernd wagte Toshiya einen Schritt auf den anderen zu.
Uruha hob den Kopf und blinzelte ihn durch tränenverschleierte Augen an. Sein
Make-up zog lange schwarze Schlieren über seine Wangen.
Ein demütigender Anblick.
Seine Stimme zitterte, als er sprach.
"Es tut mir so leid..."
Toshiya starrte ihn an.
"Häh? W-wovon redest du?"
Sein Bruder bedeckte sein Gesicht wieder mit den Händen.
"Von dem, was Daishi dir angetan hat..."
Der Schwarzhaarige wich an die geschlossene Haustür zurück.
"W-woher weißt du das?", krächzte er und presste Jacke und Schuhe eng an sich,
als wären sie ein Rettungsring, der ihn auf dem offenen Meer vor dem Ertrinken
bewahrte. Uruha sah ihm nicht in die Augen.
"Weil ich ihm gesagt habe, er soll sich an dir rächen! Ich habe dich so
gehasst, du hast mir Hakuei weggenommen, du hast mir Mutter weggenommen, du hast
mir Sakito weggenommen, alles! Ich bin an dem Schuld, was er dir angetan hat! Es
ist meine Schuld", schrie er heiser und knüllte seine Hände so fest in seinen
Strickpullover, dass die Fäden zu reißen drohten.
"Was soll das heißen, du hast es ihm gesagt?", sagte Toshiya tonlos.
"Was-"
Er blickte noch einmal auf das zusammengesunkene Häufchen Elend am Boden vor
ihm. Dann schlüpfte er in einer einzigen Bewegung in Jacke und Schuhe und
rannte aus dem Haus in die verregneten Straßen. Durch die offene Haustür sah
Uruha seinen kleinen Bruder fliehen.
"Das wollte ich nicht, Totchi! Bitte, glaub mir!", rief er ihm mit brechender
Stimme hinterher, doch der andere blieb nicht stehen. Nach einigen Minuten erhob
sich der Blonde mit zitternden Knien vom Flurboden. Das war's. Er hatte Hakuei
verloren, Takumi, der ihn innig und so unschuldig liebte, betrogen, seine Mutter
belogen und Toshiya - was er Toshiya angetan hatte, war unverzeihlich. Niemals
konnte er seiner Mutter oder Sakito je wieder unter die Augen treten. Sie
würden ihn verabscheuen, ihn, seine Depressionen und seine krankhafte
Eifersucht. Wie er sich selbst hasste, all die Jahre hatte er in permanenter
Abscheu gegen sich selbst gelebt, hatte sich verachtet für das, was er war,
hatte sich aber auch nichts anmerken lassen. Wie betäubt griff er nach seiner
Jacke - und ließ die Hand dann wieder sinken. Was machte das schon, wenn er
nass wurde? Da, wo er nun hingehen wollte, spielte es keine Rolle mehr, ob er
fror, oder durchweicht war. Er nahm seinen Hausschlüssel aus der Hosentasche
und legte ihn auf die Kommode im Flur. Dann schlüpfte er in seine Schuhe, trat
hinaus in den Regen und zog die Haustür hinter sich zu.
*+*+*+*+*+*+*
So, Ende von Teil 10. Ich hoffe, allen ist klar, wie sehr Uruha sich hasst für
das, was er getan hat. Außerdem hoffe ich, dass meine Leuchterblume endlich
aufhört so vertrocknete braune Blätter zu bekommen. Vielleicht sollte ich sie
gießen. Mehr habe ich im Augenblick nicht zu sagen, denke ich, außer: Ich
freue mich wie immer sehr über euere Meinung, also schreibt mir bitte, was ihr
von Kapitel 10 haltet^^!
Kapitel 11: 11
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Kommentar: Sorry, dass ihr auf dieses Kapitel so entsetzlich lange warten
musstet >.<, ich hätte nie gedacht, dass man in der Schule so viel zu tun haben
könnte (erschwerend kommt hinzu, dass mein Computer kaputt ist)... aber der
nächste Teil kommt schneller, versprochen. Das Kapitel ist nicht besonders
lang, aber ich hoffe, es gefällt euch trotzdem.
Toshiya hastete durch die verregneten Straßen. Die Zornestränen auf seiner
Wange mischten sich mit den kleinen glitzernden Tropfen. Wann hatte er zuletzt
so geweint? Über die Straße in den Park. Jetzt konnte er das Schultor sehen.
Die Gegend war völlig leer, allein der Regen teilte den Weg des dunkelhaarigen
Jungen.
Keuchend hielt er vor den Toren des großen grauen Schulgebäudes inne. Der
Grund dafür war schlicht und einfach die Erkenntnis, dass er nicht den
blassesten Schimmer hatte wo Kyo wohnte. Und selbst wenn er es wüsste - hatte
er tatsächlich vorgehabt bei Kyo einfach mal so vorbeizuschauen? Was sollte er
ihm sagen? Dass er jemanden zum Reden bräuchte? Und was, wenn Daishi die Tür
öffnete? Toshiya trottete also ein wenig auf dem Gehsteig vor dem Pausenhof auf
und ab, während die kochende Wut in ihm langsam verebbte. Nun, da sich das
wirre Gefühlschaos in seinem Inneren legte, fühlte er sich miserabel. So, als
hätte er lauter Fehler begangen und dann auch noch die letzte Chance, die ihm
blieb, vertan.
"Quatsch!", zischte er durch zusammengebissene Zähne und stapfte frustriert mit
dem rechten Fuß in eine große Pfütze. Er sollte nicht auch noch damit
anfangen sich selbst Vorwürfe zu machen, schließlich trug er dieses eine Mal
keinerlei Schuld an dem, was passiert war.
Toshiya war so gedankenversunken, dass er völlig vergaß den Fuß wieder aus
der Pfütze zu nehmen. Langsam sickerte Schlammwasser in seine ausgelatschten
Turnschuhe. Das waren die besten Bedingungen für eine handfeste Depression -
mutterseelenallein und klatschnass im Regen und niemand kümmerte sich darum wo
er steckte. Wenn er nur davon fließen könnte. Davon fließen wie der Regen,
der unaufhörlich vom dunklen Himmel strömte, als gäbe es kein Morgen mehr. Er
würde dann einfach unter Millionen von funkelnden Tröpfchen im Gulli
verschwinden und sich in irgendeiner hübschen Ecke des Abwasserkanals häuslich
einrichten. Oder er könnte sich mit einer chemischen Lösung zusammentun, Uruha
in die Schuhe fließen und seine Füße mutieren lassen. Dieser finstere Gedanke
vermittelte Toshiya wieder Kraft in Form von unbeschreiblicher Wut. Sein eigener
Bruder. Warum?
"Und ähm, was gedenkst du zu tun?"
Der kleine schmächtige Junge zwirbelte unruhig seinen niedlichen hellbraunen
Zopf.
"Hakuei?", fügte er hinzu.
Der Angesprochene machte eine fahrige Geste mit der Hand um anzudeuten, dass ihm
eine Idee gekommen war. Er fuhr sich immer wieder durch die Haare. Rötliche
Flecken auf seinen Wangen zeigten, dass er sehr lange sehr ausgiebig geweint
hatte.
Es war noch ein dritter Junge anwesend. Verloren und stumm wie ein Gugelhupf
kauerte er auf einer Kante des großen Sofas. Seine Haarfarbe biss sich
grauenvoll mit der Rotschattierung der Polster, was aber aus verständlichen
Gründen niemandem auffiel.
"Ich denke wir... sollten ihm nicht sagen, dass - dass wir Bescheid wissen."
Hakuei drehte sich so abrupt um, dass Takumi erschrocken aufquiekte.
"Aha. Und um dir das zu überlegen hast du geschlagene zwanzig Minuten
gebraucht", bemerkt Kaoru vom Sofa her gehässig. Nichts, aber auch gar nichts
konnte ihm über die Abneigung, die er Hakuei entgegenbrachte, hinweghelfen.
Die beiden Jungen funkelten sich zornig an.
"Ich war noch nicht fertig. Ich denke wir sollten niemandem davon erzählen,
weil es Totchi nicht recht wäre. Wir müssen warten, bis er sich uns selbst
öffnet. Das einzige was wir tun können ist, auf ihn aufzupassen und dafür zu
sorgen, dass es ihm gut geht."
"In diesem Sinne", warf Takumi schnell ein, "solltet ihr beiden euch am besten
vertragen. Toshiya hasst es euch streiten zu sehen."
Eine Stille folgte in der sich Takumi wie eine Maus in einem Rohr fühlte, an
dessen beiden Enden ein großer hungriger Kater wartete, bereit ihn zu
zerreißen. Wider Erwarten jedoch gingen die beiden Jungen nicht auf ihn los.
Einen Augenblick lang wirkten sie sehr aufgebracht, dann jedoch konnte man an
ihren nachdenklichen Gesichtern erkennen, dass sie sich das Friedensangebot
durch den Kopf gehen ließen.
"Du hast Recht", presste Kaoru schließlich hervor. "Ich hasse es das zuzugeben,
aber du hast Recht."
Er erhob sich und musterte Hakuei mit Blicken der Abscheu.
"Wir tun so, als würden wir uns mögen."
Dann ging er an ihm vorbei, durchquerte den Flur und verließ das Haus ohne ein
Wort des Abschieds.
"Machs gut, allerliebster Freund", knurrte Hakuei.
"Ich hoffe du erstickst an deinem widerlichen Stolz."
Takumi machte ängstlich einige Schritte auf den älteren Jungen zu.
"Und ähm - was tun wir nun?"
"Wir", sagte Hakuei heftig, "tun gar nichts."
"Aber-"
"Du gehst nach Hause, ich gehe zu Toshiya."
"Aber-"
Doch Hakuei war bereits in Schuhe und Jacke geschlüpft und hatte das Haus
verlassen. Auf halbem Weg über die Straße bemerkte er etwas, drehte sich um,
schloss die Tür wieder auf und zerrte Takumi nach draußen.
"Es regnet!!", quiekte der Junge und schüttelte empört seine triefenden
Löckchen.
"Na und?!", gab Hakuei ungerührt zurück. "Stell dich nicht so an. Ich lasse
dich sicher nicht alleine in meinem Haus. Ich muss nach links, also gehst du
nach rechts."
"Aber ich muss auch nach links. Da ist ne Bushaltestelle."
"Dann geh nach rechts, da ist bestimmt auch eine."
"Du wohnst am Stadtrand, Hakuei, rechts sind nur Felder. Und der Wald."
Takumi sah den anderen mit flehendem Hündchenblick an, woraufhin der
Dunkelhaarige einen undefinierbaren Laut ausstieß und finster vor sich
hinmurmelnd seinen Weg fortsetzte.
"Das bedeutet ich kann mitkommen?", sagte Takumi und ein Funke aufglimmender
Hoffnung lag in seinen Augen, während er sich bemühte mit dem anderen Schritt
zu halten. Als Hakuei nicht antwortete, hakte sich der Junge bei ihm unter.
"Und was sagen wir Toshiya? Ich meine, wir müssen ja nett sein und alles, aber
er darf auch nichts merken, also völlig diskret, und gleichzeitig sehr
bestimmend, natürlich brauchen wir Verbündete und einen Plan, und, oh Gott,
wie eine Geheimmission..."
Hakueis linke Augenbraue zuckte in einem verzweifelten Versuch sein Gesicht zu
verlassen. Wieso hatte er Takumi nicht einfach in einer Ackerfurche hinter dem
Haus vergraben?
Bei diesem Gedanken stülpte sich ihm der Magen um.
::Besser nicht - am Ende wäre noch was draus gewachsen... ::
"Elf... ich glaube es war elf...", brummte Kaoru und lief zum dritten Mal die
Häuserzeile ab. Wieso vergaß er immer wieder wo Toshiya wohnte? Und wieso
hatte jedes dieser Häuser ein rotes Garagentor, einen kleinen Weg zur Haustür
mit exakt vier Stufen, eine verschönernde Topfpflanze rechts neben der
Türklingel und wieso - wieso stand vor jeder Haustreppe der gleiche halb
zermatschte Kürbis mit ausgebrochenem Zahn, obwohl Halloween seit Wochen vorbei
war? Diese Gegend trieb ihn in den Wahnsinn.
In der nächsten Sekunde jedoch erfuhr Kaoru, dass es immer noch schlimmer
werden konnte, denn er begegnete dem Menschen, dem man niemals zu irgendeiner
Tageszeit allein im Regen begegnen sollte.
Kaoru blieb stehen. Direkt vor ihm ragte ein großer Junge mit rotem Haarschopf
auf. Seine Augen boten ein interessantes Schauspiel dar, da das eine ein Auto
auf der rechten, das andere eine Katze auf der linken Straßenseite zu
beobachten schien. Lustigerweise bewegte sich sowohl Katze als auch Auto.
"Hallo Die", sagte Die.
"Kch?", versuchte Kaoru.
"Naja", erklärte Die, "ich dachte du wolltest mich vielleicht grüßen. Da hab
ich dir das einfach mal abgenommen. Ist ja auch ziemlich anstrengend, mein Name
ist ja so lang."
"Was äh machst du hier, Die?", erwiderte Kaoru, wobei er seinen Freund
misstrauisch beäugte. "Und wieso schauen deine Augäpfel in zwei
unterschiedliche Richtungen?"
"Das ist praktisch. So sehe ich viel mehr", antwortete Die. Kaoru nickte.
"Sehr gewitzt. Wo ist Shinya?"
Die richtete seine linke Pupille auf Kaorus linkes Ohr, seine rechte Pupille auf
die Spitze von Kaorus rechtem Turnschuh.
"Woher soll ich das denn wissen? Es geht mir gut ohne ihn. Es geht mir gut. Es
geht mir gut!!!"
Kaoru wand sich aus Dies Umklammerung und versuchte seinen Schlägen
auszuweichen. Es war passiert. Sein rothaariger Freund war endgültig
durchgedreht. Manchmal fragte er sich, ob Shinya der einzige Grund war, weshalb
Die nicht schon viel früher den Verstand verloren hatte. Irgendwie war bei dem
Rotschopf schon immer etwas verkehrt gewesen, aber niemand hatte es nachprüfen
wollen aus Angst davor was man finden könnte.
"Na super...", murmelte Kaoru, seufzte einmal sehr tief auf, packte seinen
Freund fest am Anorak und schleifte ihn zur nächst besten Haustür. Wenn er
sich durchklingelte würde er schon irgendwann bei Toshiya landen. Hoffte er
zumindest. Sollte das nicht der Fall sein, war sein nächster Anhaltspunkt die
örtliche Irrenanstalt, wo es sicher eine nette Zelle für Die und ein
Telefonbuch mit Toshiyas Adresse für ihn selbst gab.
Irgendwie genoss er den Regen. Solange er nicht fror war es in Ordnung einfach
so dazustehen, ohne Schirm, und sich die Tropfen über das Gesicht laufen zu
lassen. Toshiya begann sich wirklich besser zu fühlen. Es musste seinen Bruder
ungeheuere Überwindung gekostet haben, sich bei ihm zu entschuldigen - vor ihm
auf die Knie zu fallen. Uruha hatte behauptet, er habe nicht gewollt, dass
Daishi ihm wehtut.
"Tsss, dann hätte er sich diese bescheuerte Sache mit der Rache nicht ausdenken
sollen. Außerdem, er kennt doch Daishi, der ist zu allem fähig...", murmelte
er finster vor sich hin und kickte mit dem Fuß wütend in die Pfütze. Nun
wurde ihm doch etwas kalt. Eiswind blies ihm durch den Pullover und ließ ihn
frösteln (und dann waren da noch seine Schuhe im Wasser).
"Was ist mit mir?"
Toshiya erstarrte. Auch ohne sich umzudrehen wusste er sofort wem die Stimme
gehörte.
"Und ja, vielleicht bin ich unberechenbar... aber dass du hierher
zurückkommst... hätte ich ja nicht gedacht..."
Während Daishi um ihn herumlief, stellte Toshiya mit Entsetzen fest, wo er sich
befand: In einer großen Wasserlache auf dem Gehsteig an der dritten
Straßenkreuzung links nach der Schule. Der Ort an dem Kyos großer Bruder ihn
damals abgefangen hatte. Da dieser Punkt zu seinem täglichen Schulweg gehörte,
hatte der dunkelhaarige Junge verdrängt, dass es hier passiert war, in einem
der Innenhöfe. Soweit er sich erinnern konnte, hatte Daishi ihn durch ein
schmales Tor auf der linken Straßenseite gezerrt.
Nun war er wieder hier. Er war hier mit Daishi und es regnete.
Zitternd vor Kälte und Angst blickte Toshiya auf. Daishi stand vor ihm, er trug
eine blaue Jacke mit großer Kapuze, die sein halbes Gesicht verschlang wie ein
Python, die Hände steckten in den Taschen.
::Hilfe::, dachte Toshiya. Dann dachte er nichts mehr.
"Du bist ja so blass, Junge", säuselte Daishi mit gespielter Verwunderung. Er
streckte seine Hand aus und presste sie gegen Toshiyas eisige Wange. Der stand
auf dem Gehsteig wie ausgestopft und ließ den Regen an sich hinunterprasseln.
Daishi zwinkerte.
"Soll ich dir was sagen? Es ist viel besser mit dir, als mit deinem Bruder. Du
bist viel schöner und irgendwie - irgendwie weicher. Aber sag ihm das nicht, er
hat auch so schon genug Komplexe."
Als Toshiya nicht antwortete machte der Ältere einen Schritt nach vorne, so
dass kein einziger Regentropfen mehr zwischen ihren Körpern hindurchtropfen
konnte. Daishi strich liebevoll über die fahle Wange.
"Du gefällst mir wirklich... eigentlich bin ich nicht der Typ dafür, aber ich
könnte mir vorstellen... nur für dich da zu sein... du würdest mir
genügen..."
Toshiya sah in die Augen seines Peinigers. Halb erstaunt stellte er dabei fest,
dass seine Pupillen ganz klein waren. Sofort wandte Toshiya den Blick wieder
ab.
::Er hat... keine Drogen genommen?::
Waren das nun schlimmere oder bessere Bedingungen?
Als Daishi seine Lippen langsam auf die seinen legte, beschloss Toshiya, dass es
gleichgültig war ob Daishi high war oder nicht. Der Geschmack der sich in
seinen Mund legte, die Berührung, alles fühlte sich genauso an, wie beim
letzten Mal. Eine fremde Hand zog den Reißverschluss seiner Jacke auf, fuhr
unter seinen Pullover. Dann, im nächsten Augenblick war sie auf einmal
verschwunden und mit ihr auch Daishi. Toshiya war wieder alleine mit sich selbst
im strömenden Regen. Mit offenem Mund blickte er um sich. Hatte er geträumt?
Wo war -
Einige Meter vor ihm wand sich Daishi auf dem Boden. Über ihm kauerte ein
kleiner Junge, der immer wieder mit aller Kraft auf ihn einschlug. Toshiya
beobachtete die Szene sekundenlang ohne zu begreifen. Dann, wie unter Schock
stapfte er drei Schritte nach links und ließ sich gegen eine Hauswand sinken.
Daishi rührte sich nicht. Diese Person mit den halblangen schwarzen Haaren
hatte ihn ganz offensichtlich von Toshiya weggerissen und niedergeschlagen und
er hatte es vor lauter Schock nicht einmal mitbekommen.
Erschöpft hob Toshiya den Kopf. Seine Knie zitterten so sehr, dass er halb zu
Boden sackte. Vor ihm auf dem Gehweg noch immer Daishi, nun reglos, seine Kapuze
war zurückgeklappt und dunkelrote Flüssigkeit zog ein Muster aus feinen Linien
über seine helle Haut. Dieser Junge mit dem dunklen Blazer trat erbarmungslos
auf ihn ein. Nun drehte er den Kopf in Toshiyas Richtung. Wo hatte er ihn schon
einmal gesehen? Diese Art wie er sich bewegte - schleichend wie ein Tiger,
lauernd... woher kannte er ihn? Erst als der Junge direkt vor ihm stand erkannte
Toshiya den misstrauischen Katzenblick.
"Kyo?", hauchte er. Seine Zunge fühlte sich taub an. "Hast du - Daishi-"
"Komm", sagte Kyo knapp, er packte den bleichen Japaner am Arm und zog ihn mit
sich. Als sie an dem Körper vorbeikamen, der noch immer ohne Regung auf dem
nassen Asphalt lag, konnte Toshiya erkennen, dass Daishis Gesicht entspannt und
blutüberströmt war.
Der kleine schmale Junge mit dem durchdringenden Blick zerrte ihn erbarmungslos
weiter.
"Okaaay... und du bist dir sicher, dass er hier wohnt?"
Kaoru lugte misstrauisch unter seiner Kapuze hervor. Irgendetwas sagte ihm, dass
er sich auf Dies Verstand besser nicht verlassen sollte. Vielleicht war es, weil
der Rotschopf seit einiger Zeit immer wieder Ich wasche meine Hände in Unschuld
vor sich hinmurmelte.
Die beiden waren nach einer regelrechten Odyssee (unter Dies Führung (er hatte
Kaoru überwältigt und sich, seinen Freund unter den linken Arm geklemmt, auf
eigene Faust auf die Suche nach Toshiya gemacht)) endlich wieder auf Anzeichen
menschlichen Lebens gestoßen und Kaoru war so verzweifelt, dass er einfach an
der nächst besten Tür klingelte. Und das, obwohl das dazugehörige Haus eine
beängstigende Stimmung ausstrahlte. Der Putz war strahlend weiß - so weiß,
dass man beinahe geblendet wurde, wenn man einen Blick auf das Namensschild
über der Klingel riskierte. Ein großer Junge in Schlabberklamotten, mit
schwarzen Haaren und Lippenpiercing entfloh gerade aus dem Vorgarten und es sah
ganz so aus, als hätte er versucht ein kleines Feuer unter der Haustreppe zu
legen.
"Puh", sagte Die und ließ seine Augen anerkennend in seinen Hinterkopf rollen,
"ich hab noch nie so ein weißes Haus gesehen. So weiß und rein wie mein
Gewissen."
Aus irgendeinem Grund war Kaoru nicht im Mindesten überrascht, dass ihnen
Sakito einige Sekunden später die Tür öffnete. Er trug eine Skibrille.
"Hi, Saki", sagte Kaoru und trat ein. Wieso waren ihm die ausgestopften
Frettchen im Küchenfenster nicht bekannt vorgekommen?
"Wir suchen Toshiya. Und was zum Teufel habt ihr mit euerer Hauswand gemacht,
man wird ja blind, wenn man sie anschaut! Ich ähm frage nur aus Interesse..."
"Oh, das... das war meine Ma. Sie hat das komplette Haus neu gestrichen, von
innen und von außen."
"Alleine?"
"Alleine. Und damit-"
"- der Putz nicht mehr so schnell schmutzig wird, hast du ihr eine selbst
gemischte chemisch verfeinerte Farbe angeboten?"
Sakito biss sich schuldbewusst auf die Lippe.
"Genau. Es... ist ein wenig zu weiß geworden, oder?"
"Ein wenig...", nickte Kaoru. "Und wieso trägst du eine Ski-"
"Wenn du Toshiya suchst", unterbrach Sakito hastig, "dann bist du hier falsch.
Er ist vor ungefähr zwei Stunden weggegangen, ich glaube er wollte jemanden
besuchen."
Kaoru legte die Stirn in Falten. Toshiya hatte freiwillig das Haus verlassen und
war noch nicht zurück? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Mit Die im Schlepptau
war es Kaoru blöderweise unmöglich nach ihm suchen. Immerhin wären sie vor
einer halben Stunde beinahe verhaftet worden, weil der Rotschopf das kläffende
Hündchen einer alten Dame gebissen hatte.
Gerade als Kaoru den Mund öffnete, um Sakito darum zu bitten sich für eine
Weile um Die zu kümmern, sah er sie um die Ecke kommen. Sie lächelte
aufgeräumt und trug einen Möbelkatalog in der Hand. Kaoru kannte Toshiyas
Familie lange genug um zu wissen, dass er der Hausherrin jetzt besser nicht
begegnete.
"Oh, Kaoru, wie reizend!", rief Sayumi Hara begeistert, "und ist das nicht Die?
Schick, wie du deine Haare trägst, das steht dir ganz fabelhaft! Schön euch zu
sehen!"
"Sie ist in Hochstimmung", flüsterte Sakito.
"Ich seh's", raunte Kaoru zurück.
"Ich geb dir Deckung, auf drei rennst du los", begann der Jüngere wieder, doch
seine Mutter hatte Kaoru bereits am Oberarm gepackt und schleifte ihn ins
Wohnzimmer.
"Ich überlege gerade, wie ich mein Arbeitszimmer einrichten soll und ich komme
einfach nicht weiter. Ich brauche deinen Rat. Schau doch mal, hier, dieser
loogfarbene Loomstuhl würde doch perfekt zu meinem Kamelhaarteppich passen,
oder?"
Das war das letzte, was Sakito vernahm, ehe sich die Tür hinter Kaoru und
seiner Mutter schloss. Der Junge sah betreten in Richtung Wohnzimmer und seufzte
auf. Dann hob er die drei Bretter, ein Kästchen Nägel und den Hammer vom Boden
auf und schritt mit langsamen, bedeutungsvollen Schritten zu der geschlossenen
Tür.
"Es fällt mir nicht leicht, aber - ich muss es tun. Es ist besser so",
flüsterte Sakito, klemmte sich eine Handvoll Nägel zwischen die Zähne und
setzte das erste Brett an.
"Was tust du da?"
Der Junge drehte sich um.
"Oh, du bist ja noch da."
Zögernd musterte er Die, als wolle er feststellen, ob der Rotschopf seine
Mission gefährden könnte. Doch Die machte keine Anstalten ihn von irgendetwas
abzuhalten, stattdessen sagte er nur: "Beachte mich einfach nicht. Ich stehe
hier nur ein wenig rum."
"Oh, äh, klar."
Gerade, als er den Hammer zum zweiten Mal in die Luft hob, klingelte es an der
Türe. Vor sich hinfluchend ließ Sakito sein Werkzeug fallen und eilte durch
den Flur.
"Ähm... hi", begann er verwirrt.
Hakuei trat ohne Zögern ins Haus, dicht gefolgt von einem triefenden braunen
Haarball, den Sakito mit Mühe als seinen hyperaktiven Klassenkameraden Takumi
identifizierte. Erstaunlich, was Haare manchmal tun, wenn sie nass werden.
"Wo ist Toshiya?"
"Ähm..."
Sakito schob Hammer und Bretter verstohlen mit einem Fuß außer Sichtweite.
"Nicht da, das hab ich Kaoru auch schon gesagt."
"Kaoru??", erzürnte sich Hakuei, "Den wird man echt nie los, wie ein Schwarm
Moskitos! Wo ist er?"
"Ähm ..."
"Ist ja auch egal."
Hakuei stolzierte auf die Treppe zu und warf seine Jacke im Vorbeigehen über
den Kleiderständer.
"Ich bleibe hier, bis Toshiya zurückkommt."
"Wie hast du mich gefunden?"
Stille.
"Du warst ewig nicht mehr in der Schule..."
Quietschende Autoreifen irgendwo unten in den Straßen. Stimmengewirr.
Womöglich ein Unfall.
"Ich dachte dir ist alles egal..."
Noch immer keine Antwort. Wütend schmiss Toshiya die Decke zu Boden, die über
seinen Schultern lag.
"Verdammt, Kyo, sag endlich was!! Wenn du mich ignorieren willst, wieso bist du
mir dann zu Hilfe gekommen?"
Er funkelte den Jungen an, der ihm mit ausdruckslosem Gesicht gegenüber saß.
"Ich hatte noch eine Rechnung offen...", sagte Kyo schließlich, und es klang
genauso gelangweilt, wie er aussah.
"Du kannst mir nicht weismachen, du hättest ihn zufällig dann verprügelt, als
er- als-"
Nach Worten ringend sprang er auf. Wieso schämte er sich so sehr es
auszusprechen. Ganz so, als würde er Kyo alles über die perversen Abgründe
seiner Seele anvertrauen.
Kyo sah weiterhin lässig aus dem Fenster. Es machte den Eindruck, als würde er
den aufgebrachten Jungen nur am Rande bemerken.
"Wenn du es wissen willst, ich hab dich gesucht!"
"Ich will es nicht wissen", antwortete Kyo ohne seinen Blick von den
Fensterscheiben zu nehmen.
"Du brauchst Hilfe!"
"Tu nicht so", Kyo gähnte unterdrückt und lehnte seinen Kopf gegen die Wand,
"als würdest du mich kennen. Das zieht nicht bei mir."
"Du hast Daishi verprügelt, du hast mich sogar hierher gebracht, ich glaube dir
nicht, dass- dass-", wieder rang er mit den Worten, "dass es dir egal ist, was
mit- mit mir ist! Du hattest Mitleid, gib es doch zu", fügte er schnell hinzu,
um nicht allzu persönlich verletzt zu klingen.
Kyo antwortete nicht sofort, er sah noch eine Weile aus dem Fenster, dann
richtete er seinen Blick langsam auf Toshiya. Ohne die Miene zu verändern
erklärte er: "Lass mich etwas klarstellen. Es ist mir völlig gleich, was mit
dir passiert, oder nicht passiert. Daishi hat sich in meine- Geschäfte
eingemischt, also nichts, was mit dir irgendwie zu tun hätte. Du selbst hast in
meinen Angelegenheiten herumgeschnüffelt, sei froh, dass ich mit dir nicht das
gleiche gemacht habe, wie mit ihm. Ich hatte große Lust. Wenn du glaubst, die
Welt dreht sich nur um klein-Toshiya, dann hast du dich geschnitten. Ich bin
nicht so schwach wie du. Und jetzt rate ich dir endlich von diesem
Selbstmitleidstrip runterzukommen, und zu verschwinden. Du bist mir egal,
Toshiya Hara, bilde dir nichts ein."
Über den Raum viel mörderische Stille, nachdem Kyo die letzten Worte
ausgesprochen hatte. Er wartete nicht erst eine Reaktion ab, sondern fuhr fort
abwesend nach draußen zu starren. Das Stimmengewirr in den Straßen war
mittlerweile verklungen und in den Tiefen zwischen den Wohnblocks herrschte eine
beinahe noch drückendere Stille, als in Kyos winziger Ein-Zimmer-Wohnung.
Toshiya stand da wie vom Donner gerührt. Dann füllten sich seine Augen mit
Tränen. Er hob die Wolldecke auf und schmiss sie Kyo wutentbrannt ins Gesicht.
"Gott, hör doch auf mit diesem arroganten Rumgetue! Wenn dir alles egal ist,
wieso bringst du mich dann hierher?! Ich habe dich nicht darum gebeten, mich
mitzunehmen!! Und tu nicht so, als würde dir alles gar nichts ausmachen. Ich
sehe doch wie du lebst! Deine Wohnung ist eine Bruchbude. Genau das ist dein
Problem, du bringst nichts auf die Reihe, du kannst ja nicht mal für dich
sorgen! Ich hasse dich abgrundtief, du verdienst es alleine zu sein!! Du weißt
genau, dass ich dich gebraucht habe, und ich gebe mir die Blöße es zuzugeben,
ich dachte, du könntest mir helfen, aber du bist eiskalt!! Du widerst mich an,
ich hoffe du bleibst einsam, für den Rest deines Lebens!"
Mit diesen Worten stürmte Toshiya aufgebracht aus der Wohnung und knallte die
Tür hinter sich zu. Im Treppenhaus verhallten seine lauten Schluchzer zwischen
den Wänden.
Kyo starrte verwirrt zur Tür. So etwas Kindisches war ihm noch nie begegnet. Es
hatte geklungen, als hätte ihn ein kleiner Junge mit kindlichen Vorwürfen
angeklagt, ihm nicht genug Liebe entgegenzubringen. Nur hatten Toshiyas Worte
tatsächlich einen gewissen wunden Punkt getroffen. Kyo erhob sich von seinem
Bett und schlurfte durch das dämmrige Zimmer. Ein vertrautes Elend stieg in ihm
auf. Manchmal war die Einsamkeit um ihn herum fast greifbar. Als er das Gefühl
hatte an der muffigen Stille ersticken zu müssen, füllte er seine Taschen mit
kleinen durchsichtigen Tütchen und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
Vielleicht wurde es Zeit diese Stadt zu verlassen, bevor er es nicht mehr
konnte. Kyo wusste, dass es schon fast zu spät war. Wenn er jetzt nicht auf
nimmer Wiedersehen verschwand, dann würde er es nicht mehr fertig bringen. Er
hatte seine Gefühle unter Kontrolle, aber nicht für immer und ewig.
"Wieso bist du jetzt so wütend?!"
"Du hast versucht uns einzuschließen!"
"Unsinn!!"
"Doch, du wolltest die Tür mit Brettern zunageln, ich hab gehört, wie du einen
Nagel eingeschlagen hast!!! Ich war dort drin alleine mit deiner Mutter, falls
dir das entgangen ist!"
"Sie ist liebenswert! Ich wollte nur, dass ihr jemand zuhört!"
"Sie ist wahnsinnig und du wolltest, dass ich mir ihre Philosophie über Möbel
und Loomstühle anhöre, bis ich sterbe!!"
"Du übertreibst."
"Du wolltest mich umbringen, gib's zu!"
"Wäre keine schlechte Idee, kann ich dabei irgendwie helfen?"
"Du hältst dich da raus, Hakuei, das ist eine Sache zwischen Sakito und mir."
"Ich muss Essen machen. Entschuldigt mich."
"Du hast versucht mich mit deiner Mutter und ihren Möbelkatalogen in einen Raum
zu sperren, dafür wirst du bezahlen. Ich koch dich in deinem eigenen Süppchen,
warte nur..."
"Iiiiiek!!!"
Gerade als Sakito versuchte vor einem rasenden Kaoru in die Küche zu fliehen
wurde die Haustür aufgeschlossen. Alle Köpfe wandten sich zur Tür. Toshiya
kam herein, stieg schnell die Treppe hoch und verschwand in seinem Zimmer. Unten
im Flur herrschte urplötzlich Stille.
"Was ist denn mit dem los? Sah ziemlich aufgewühlt aus...", murmelte Sakito,
während seine Blicke an Toshiyas Zimmertür haften blieben.
"Scheiße", flüsterte Hakuei und rannte die Treppe hinauf, Kaoru dicht auf
seinen Fersen.
"Ich dachte, du wolltest mich umbringen?", rief ihm Sakito empört nach.
"Tsss, ich sehe nur davon ab, weil du dich um meinen Bruder kümmerst. Wie dem
auch sei, ihr habt dann sicher alle Hunger..."
Auf halbem Weg in die Küche drehte er sich noch einmal seufzend um.
"Takumi, willst du mir helfen?"
"Oh jaaaa!!", quiekte der Junge, der bis eben noch völlig verloren
herumgestanden hatte, und hüpfte an Sakitos Seite.
"Was darf ich denn tun? Karotten schneiden? Salat putzen?"
"Du kannst - den Essig öffnen."
"Toll", gab Takumi zurück und trippelte voraus in die Küche, während Sakito
auf den Kleiderständer starrte und zweifelnd fragte: "Ähm, alles ok, Die?"
"So also fühlt sich ein Kleiderständer", kam eine Stimme unter Hakueis Jacke
zurück. Sakito drehte sich wieder um.
"Wenn irgendwas ist, dann äh ruf einfach... und viel Spaß noch...", sagte er
und verschwand in der Küche.
"Toshiya?"
Ein sanftes Klopfen erklang, dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit.
"Kann ich reinkommen?"
Toshiya sah auf.
"Ha-Hakuei?"
Er schniefte. Hakuei trat leise ein und versuchte die Tür geräuschlos in
Kaorus Gesicht zu drücken, doch dieser hielt sie fest und folgte seinem
Klassenkameraden ins Zimmer. Minutenlang rangen sie stumm miteinander, beim
Anblick ihres Freundes ließen die beiden allerdings wieder voneinander ab.
Toshiya saß auf seinem Bett und hatte sich in ein Nest aus Decken und Kissen
verkrochen. Sein Gesicht lugte verquollen und gerötet aus dem Stoffgewühl
hervor.
"Wir ähm... wir...", begann Kaoru und hob hilflos die Arme.
"Wir... machen uns Sorgen um dich. Wirklich. Und wir... wollen nur, dass du
weißt, dass wir da sind, also... was auch immer geschieht... ich meine, ich
denke jetzt nicht, dass etwas geschehen ist, aber für den Fall, dass, also
angenommen jemand würde dir wehtun, rein hypothetisch..."
Toshiya machte Glubschaugen. Hakuei trat Kaoru unauffällig sehr fest auf den
Fuß und raunte ihm durch die Zähne ins Ohr: "Nicht so auffällig du
Tölpel!".
"Lasst mich alleine...", flüsterte Toshiya matt und schniefte leise. Als Kyo
gesagt hatte, er sei ihm egal, hatte sich sein Herz grauenvoll zusammengezogen.
Deswegen hatte er so überreagiert. Im Endeffekt hatte er sogar vergessen, sich
bei seinem Retter zu bedanken.
Ohne auf Toshiyas letzte Bemerkung zu achten, setze sich Hakuei auf den Boden,
packte Kaorus Hand grober, als es nötig gewesen wäre und zog ihn neben sich.
"Autsch, du brichst mir die Hand, du Idiot", flüsterte Kaoru mit
zusammengebissenen Zähnen.
"Nett sein! Du willst doch nicht, dass Totchi denkt, wir hassen uns", säuselte
Hakuei leise zurück. Toshiya warf seinen Freunden einen misstrauischen Blick
zu.
"Was redet ihr?"
"Nichts", entgegneten die beiden hastig und liefen rot an. Toshiya betrachtete
erst Kaoru, dann Hakuei mit wachsendem Erstaunen. Schließlich nickte er und
sagte nachdrücklich: "Mh, verstehe schon..."
"Hä? Nichts verstehst du! Wir sind gekommen um mit dir zu reden."
Hakuei erhob sich und machte einen energischen Schritt auf das Bett zu, doch
Kaoru packte ihn hinten am Hosenbund, und zog ihn zurück auf den Boden. Wieder
warf Toshiya den beiden einen komischen Blick zu.
"Du verhältst dich so ablehnend in letzter Zeit und da dachten wir... ist
irgendwas... passiert? Vielleicht?", fragte Kaoru so diskret er konnte und
ignorierte Hakuei, der ihm schon wieder die Fingernägel in den Handteller
bohrte.
Toshiya überlegte kurz - dann lächelte er traurig und schüttelte den Kopf.
"Nein... alles ok..."
"ESSEN!!!", hallte Sakitos Stimme durch das Treppenhaus. Die Jungen sahen sich
an.
"Okay, dann...", begann Kaoru verlegen, "gehen wir mal... denke ich..."
Als die beiden sich eine Minute später unbemerkt aus dem Haus schleichen
wollten, wurden sie von dem Klang einer energischen Stimme aufgehalten: "Hier
geblieben."
Sie fuhren herum. Sakito stand im Flur und schwang etwas, das große
Ähnlichkeit mit einer Schöpfkelle hatte, nur wesentlich größer.
"Ihr dachtet wohl ihr könnt entkommen, ohne etwas zu essen? Falsch. Ich hab die
Haustür zugenagelt. Von außen. Die Fenster auch. Ihr geht erst dann, wenn ihr
meinen Eintopf aufgegessen habt."
Er drehte sich um und fuhr mit veränderter Stimme fort: "Die? Willst du auch
was essen?"
"Ich esse aus Prinzip nicht, danke", nuschelte die Stimme unter Hakueis Jacke.
Kaoru und Hakuei starrten mit offenem Mund auf die Ecke aus der die Worte
kamen.
"Aber du könntest mir einen Gefallen tun", sagte Die nach einer kurzen Pause.
"Was?" Sakito beobachtete, wie die Jacke ein wenig angelupft wurde.
"Ich fühl mich nicht ganz ausgelastet. Wenn du nur diesen Hut und die Anoraks
da-"
"Schon verstanden."
Sakito hob ein paar Kleidungsstücke auf, die über den Treppengeländer hingen
und verteilte sie gleichmäßig über Dies Körper.
"Danke", sagte Die.
"Äh, keine Ursache", antwortete Sakito zweifelnd und eilte hastig in die
Küche.
"Was genau ist das?"
Hakuei musterte den Brei auf seinem Teller. Er stach die Schöpfkelle in die
Auflaufform, was irgendwie etwas Brutales hatte, und klatschte ein Stück Masse
auf Kaorus Teller.
"Hier, mein Freund", zischte er und rammte dem Violetthaarigen den Teller in den
Bauch.
"Danke Kumpel", antwortete Kaoru mit gepresstem Lächeln und stach bei dem
Versuch einen Bissen aufzuspießen versehentlich seine Gabel in Hakueis Hand.
Toshiya saß nur da, noch immer in feuchten Klamotten und mit verschleierten
Augen und schniefte.
Sakito lächelte strahlend.
"Das ist selbst erfunden. Ich nenne es
Alles-was-vor-einer-Woche-abgelaufen-ist-Eintopf."
Als er die Gesichter seiner Gäste bemerkte, lachte er klingend.
"Das ist natürlich nur ein Name."
Kaoru erschauderte und wandte den Blick von seinem Essen. Wenn man zu lange
hinsah, hatte man das Gefühl in einem Strudel zu versinken.
"Natürlich."
Warum wurde er das Gefühl nicht los, den Fehler seines Lebens begangen zu
haben? Aber er konnte nicht zurück. Unmöglich. Dann würde doch nur wieder
alles von vorne anfangen, und das würde ihn zerbrechen lassen, wie eine
gläserne Christbaumkugel. Shinya suchte den Horizont verzweifelt mit den Augen
ab, als könnte er dort zwischen den blinkenden Sternen Die erkennen, wenn er
nur genau hinsah. Verdammt, jetzt kamen ihm schon wieder die Tränen. Wenn er
ihn nur nicht so schrecklich vermissen würde. So lange und heftig wie dieses
Mal hatte er sich noch nie mit seinem besten Freund gestritten. Am meisten
schmerzte es ihn, dass Die noch nicht einmal einen Versuch unternommen hatte,
ihn zurückzuholen. Ganz so, als wäre Shinya ihm völlig gleichgültig. Shinya
ließ den Blick über die Wände seines Zimmers gleiten. Wenn er noch länger
vollgestopfte Regale aus Buchenholz ansehen musste, würde er wahnsinnig werden.
Also schnappte er ein paar warme Sachen aus seinem Schrank und beeilte sich das
Haus zu verlassen, ehe sein Vater es bemerkte. Das letzte worauf er Lust hatte,
war ein tiefgreifendes Gespräch mit dem Alten.
Er war noch nicht besonders weit gegangen, als ihm etwas Seltsames auffiel. Auf
der Autobahnbrücke, direkt neben einem der riesigen grauen Stahlpfeiler, stand
ein junger Mann. Er lehnte über dem Geländer und starrte unablässig in die
Tiefe. Wie verloren er wirkte.
"He! Was tun Sie da?!"
Shinya begann zu rennen. Es sah nicht gerade ungefährlich aus, was der Mann da
trieb. Er lief auf die Brücke zu. Anscheinend hatte die Person ihn nicht
gehört, sie ließ sich nur noch tiefer über das Geländer gleiten. Die Autos
auf der Brücke zischten an ihm vorbei wie farbige Blitze ohne Notiz zu nehmen.
"Nicht!! Sie fallen, wenn Sie sich noch tiefer über das Geländer beugen!"
Shinya kam keuchend vor dem Mann zum Stehen.
"Passen Sie auf", wiederholte er warnend. Der Mann drehte ihm langsam das
Gesicht zu. Shinya unterdrückte einen Entsetzensschrei.
"Uruha!! Um Gottes Willen, was tust du hier?!"
Toshiyas Bruder zitterte am ganzen Leibe, seine Kleider tropften vor Regen.
"Wie lange stehst du schon hier?!"
Uruha antwortete nicht. Seine Haut war weiß wie Papier. Shinya packte ihn
entschlossen am Arm und zerrte ihn vom Geländer weg.
"Das ist verdammt gefährlich!! Wieso treibst du dich hier rum?"
Uruha sah ihn nicht an. Er sagte nur leise: "Stundenlang..."
"Was?"
Shinya musterte ihn verwirrt. Er lockerte seinen Griff, ließ ihn aber nicht
los. Irgendwie machte Uruha den Eindruck, als würde er sich in die Tiefen
stürzen, sobald jemand auftauchte um ihn davon abzuhalten.
"Ich stehe hier schon seit Stunden... und ich traue mich nicht
hinunterzuspringen. Obwohl ich es ganz fest vorhatte."
Er drehte Shinya wieder sein bleiches Gesicht zu.
"Jämmerlich, nicht wahr?"
Dann begann er zu schluchzen. Er sah so fürchterlich verloren und zerbrochen
aus, dass Shinya die Worte fehlten.
"Komm mit... ich... mach dir nen Tee oder so was...", murmelte er hilflos und
zog den anderen Jungen hinter sich her. Was für ein unglaublicher Zufall, dass
Uruha sich ausgerechnet diese Brücke ausgesucht hatte. Während er den
zitternden und schluchzenden Jungen in sein Zimmer bugsierte und in eine warme
Decke wickelte, dachte er über seine Worte nach.
::Er... wollte sich doch nicht wirklich umbringen? Das hab ich falsch
verstanden... ::
Shinya wurde blass bei dem Gedanken. Schon seit einiger Zeit hatte er das
Gefühl, dass etwas vor sich ging, von dem er nicht die leiseste Ahnung hatte.
"Ich kann nicht mehr nach Hause, nie wieder", sagte Uruha mit zitternder Stimme.
Er umkrallte die Tasse, die Shinya ihm in die Hand drückte, so fest, dass man
fürchten musste, sie würde zersplittern.
"Wovon redest du? Was ist passiert?", fragte Shinya heiser. Die Situation jagte
ihm Angst ein. ::Die, wo bist du, wenn ich dich brauche?::
"I-ich habe Toshiya verraten... ihn verletzt... a-aber ich wollte doch nicht,
dass so was passiert... sie verachten mich jetzt... ich kann dort nicht mehr
hin..."
Uruha wischte sich mit einer Hand fahrig die Tränen aus dem Gesicht.
"Was hast du getan?", hakte Shinya nach, auch wenn er sich nicht sicher war, ob
er es wirklich wissen wollte.
"Ich habe Daishi aufgetragen, sich an Toshiya zu rächen... dafür, dass er mir
Hakuei weggenommen hat... und so weiter... er hat ihm so wehgetan... i-ich
wollte das nicht..."
Nun wurde Shinya wirklich blass. Er konnte sich in den lebendigsten Farben
Daishis Rache ausmalen, dazu bedurfte es keiner weiteren Beschreibung.
"Ich kann nicht weiterleben", erklärte Uruha plötzlich mit so ruhiger Stimme,
dass Shinya ihn erschrocken anstarrte.
"Deshalb ist es egal, ob ich dir das erzähle... ich hätte Toshiya ebenso
töten können...", er wurde immer leiser, "das wäre auf genau dasselbe
herausgekommen. Und ich allein trage die Schuld. Dabei ist er so
zerbrechlich..."
Auf einmal erhob er sich und stellte seine Tasse beiseite, ohne auch nur daran
genippt zu haben. Ehe Shinya etwas erwidern konnte, war Uruha an der Tür. Er
wirkte merkwürdig gefasst. Wie ein Mensch, der zum Schafott schreitet und
weiß, dass ihn nichts auf der Welt mehr retten kann.
"Mach's gut. Sag ihnen, dass mir- dass mir alles leid tut und dass ich alles
anders machen würde, wenn ich die Chance bekäme noch einmal zu leben. Und -
danke."
Und weg war er. Shinya starrte fassungslos auf die offene Tür. Als er endlich
aufsprang und in den Flur stürzte, war von Uruha keine Spur mehr. Auch die
Straßen vor dem Haus und die Autobahnbrücke lagen verlassen da. Shinya begann
zu rennen. Was auch immer er unternahm, er sollte es schnell tun. Was für ein
Gefühlsausbruch. Ausgerechnet von Uruha, diesem Jungen, den er nur als
verschlossenen arroganten großen Bruder kannte.
Als Shinya die Tasten seines Handys drückte, zitterten seine Finger so sehr,
dass er sich ständig vertippte und die Nummer viermal neu eingeben musste.
"Komm schon...", murmelte er, während ihm Tränen in die Augen stiegen. Das war
der schrecklichste Tag, den er je erlebt hatte und er betete, dass er nicht in
einer Katastrophe enden würde.
Kapitel 12: 12
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Kommentar: Dieses Kapitel hat mal wieder eine Ewigkeit gedauert, tut mir echt
leid, Leute. In Zukunft hab ich zum Glück wieder mehr Zeit zum Schreiben. Ich
habe mich so über euere ganzen lieben Kommis gefreut ^.^!! Es waren wieder so
viele, das bringt mich echt immer dazu weiter zu schreiben, auch wenn ich weder
Zeit noch Lust habe, daher: Auch wenn länger mal nichts kommt, ich habe nicht
vor WP abzubrechen ^^"...so, zu einem ausgedehnten persönlichen Kommentar hab
ich im Augenblick zu wenig Zeit (auch wenn ich mich gerne für jeden euerer
Kommentare einzeln bedanken würde ^.^), viel Spaß (oder auch nicht) mit dem
nächsten Kapitel.
"Die?"
"Mmh?"
"Die..."
"Was?"
"Die!!!"
"Was ist denn?!"
Sakito zog dem rothaarigen Jungen entnervt eine längliche gelbe Frucht aus der
Hand.
"Könntest du endlich aufhören meine Bananen zu beeinflussen? Wenn du dich mit
ihnen unterhältst laufen sie braun an..."
Die warf Sakito einen beleidigten Blick zu und trollte sich schmollend in eine
weniger beleuchtete Ecke der Küche. Dort blickte er verstohlen um sich und zog
schnell eine Banane aus der Innentasche seiner Jacke hervor.
"Bist du auch nur eine Banane, so liebe ich dich doch wegen deiner
Persönlichkeit...", säuselte er und streichelte über die glatte gelb-grüne
Schale.
"DIE!!!!"
Während Sakito dem Jungen alle Früchte abnahm, die er unter seiner Kleidung
versteckte (fünf Bananenstauden) öffnete sich die Küchentür mit ihrer
üblichen Geräuschlosigkeit.
"Sakito..."
Eine schwache Stimme wehte ins Zimmer.
"Was?", antwortete der Junge ohne aufzublicken.
"K-könntest du... mal kommen...?"
"Ich bin dabei Die zu filzen, geht das nicht später?"
Als keine Antwort zurückkam hob Sakito den Kopf. In der Tür stand Toshiya.
Sakito wollte sich gerade über die Unterbrechung beschweren, als er in die
Augen seines großen Bruders sah. In ihnen lag ein merkwürdiges Flimmern, sie
waren weit aufgerissen und voller Angst.
"Ist was?", fragte Sakito unnötigerweise und ließ den Fruchtdetektor sinken.
Toshiya gab keine Antwort. Er war weiß wie Papier und seine zitternden Hände
hielten ein Telefon umklammert. Sein jüngerer Bruder warf die Bananen von sich
und eilte an Toshiyas Seite. Die sammelte hastig die verlorenen Früchte ein,
knotete sie in ein kariertes Tuch, schulterte sie, und floh lautlos durch das
Fenster.
"Es war Shinya...", begann Toshiya. Sogar seine Stimme zitterte. "Er sagt
U-uruha... er hat gesagt, dass..."
Sakito starrte ihn voll gespannter Erwartung an, doch Toshiya brachte kein
weiteres Wort mehr über die Lippen. Seine Hände waren so verkrampft, dass ihm
das Telefon entglitt.
"Hey, Vorsicht!"
Hakuei schnappte den Hörer drei Zentimeter über dem Küchenboden und gab ihn
an Sakito weiter.
"Was machst du nur? Also echt, To-" Seine Stimme brach ab. Er musterte seinen
ehemaligen Geliebten, der aussah wie ein fahles Gespenst, das sich im
künstlichen Licht der Küchenlampen auflöst.
"Uruha... er... will sich... umbringen... sagt Shinya...", flüsterte Toshiya
langsam, als müsse er seine eigenen Worte erst noch richtig begreifen. Dann
befreite er sich plötzlich von Hakuei, der ihm den Arm um die Schulter gelegt
hatte, und stolperte zur Haustür.
"Wir müssen ihn suchen!", rief er. Seine Hände zitterten noch immer, als er in
eine Jacke schlüpfte. "Wir müssen ihn suchen, schnell!"
Und weg war er. Sekundenlang starrten die beiden Zurückgebliebenen auf die
offene Haustür. Regen prasselte von draußen auf die blank polierten
Flurfliesen. Hakuei reagierte zuerst.
"Saki, du rufst Shinya noch mal an und lässt dir alles genau erklären, ich
hole Takumi und Kaoru und laufe Toshiya nach!"
"O-ok", gab Sakito zurück. Er tippte aus dem Kopf Shinyas Handynummer ein und
drückte auf Abheben. Während er dem Freizeichen lauschte, das bedrückend lang
durch den Hörer an sein Ohr drang, ließ er sich die Worte seines Bruders durch
den Kopf gehen. Das Rätsel um Toshiyas Verhalten und Uruhas Eifersucht fügte
sich in seinem schlauen Kopf langsam wie ein Puzzle zusammen. Vielleicht wusste
er nicht alles, aber es reichte aus um zu begreifen, dass die Lage mehr als
ernst war.
Er hasste Abschied nehmen. Wann immer er einen Ort verließ wurde er
sentimental, auch wenn er den Ort noch so sehr hasste. Mit fünf Jahren, als
seine Mutter wieder geheiratet hatte und mit ihm in eine fremde Stadt zu einem
fremden Mann gezogen war. Dann, bei der Scheidung, mussten sie wieder gehen. Und
wieder ein neuer Mann. Dann war seine Mutter gestorben und seitdem war er
zwischen Pflegefamilien und seinem leiblichen Vater hin- und hergependelt, bis
er sich entschieden hatte eine kleine Wohnung zu nehmen. Zumindest hatte er in
der Stadt bleiben können. Aber dieses Mal würde er gehen müssen. Endgültig.
Noch in dieser Nacht.
Kyo knipste das Licht aus. Den Schlüssel hatte er in der Tasche. Irgendwann
würde sein Vermieter darauf aufmerksam werden, dass er nicht mehr da war,
spätestens wenn die nächste Zahlung fällig wurde. Der Junge schulterte seine
Tasche und drehte sich um. Langsam stieg er die Treppe hinunter, Stufe um Stufe,
als müsste er jeder einzelnen Lebewohl sagen. Er hatte sein Konto aufgelöst
und die wenigen Habseligkeiten zusammengepackt. Sobald sein Fehlen bemerkt
wurde, würde man die Schlösser auswechseln und eine zwei- oder dreizeilige
Wohnungsanzeige in die Zeitung setzen. Niemand würde nach ihm suchen, denn
niemand würde ihn vermissen. So lief das in Armenvierteln wie diesem, wo
Wohnblock sich an Wohnblock drängte und alte aufgebrochene LKWs am Straßenrand
vor sich hinrosteten. Er hatte es gehasst: Den Lärm, die schreienden Kinder,
die kreischenden Mütter, die nächtlichen Krawalle, Besoffene, die sich vor
seiner Tür übergaben und nicht zuletzt die ewig lange Fahrt aus dem Vorort zur
Schule in die Stadt. Trotzdem zog sich ein feiner stechender Riss durch sein
Herz, als er die Haustür zum letzten Mal hinter sich zuzog und die nächtliche
Straße entlang wanderte. Noch nie in seinem Leben war es ihm so schwer gefallen
Abschied zu nehmen.
Kyo war nicht der einzige, der mit aller Kraft versuchte einen Schlussstrich zu
ziehen. Seit einer halben Stunde stand ein junger Mann reglos neben den
Bahngleisen und starrte wie hypnotisiert auf die Schienen, als würde er darauf
warten, dass sie sich bewegten. Mit jeder Sekunde, die verrann, wuchs ein hohles
nagendes Gefühl in ihm, dass ihm die Kraft nahm und seine Glieder lähmte.
::Wenn ich noch länger warte, dann kann ich es gar nicht mehr::, schoss ihm
durch den Kopf. War er sogar zu feige sich umzubringen? Wie oft hatte er schon
vor seinen Freunden damit geprahlt, dass er für seinen eigenen Ruf sogar in den
Tod gehen würde, wie die tapferen Samurai? Einfach lächerlich. Jetzt versuchte
er schon zum zweiten Mal an diesem Tag seinem Leben ein endgültiges Ende zu
setzen. Zwölf oder dreizehn Züge waren schon vorübergerattert, doch anstatt
zu springen hatte er nur hier neben den Gleisen gestanden und wie verrückt vor
Angst gezittert.
::Wenn ich es nicht tue... wenn ich jetzt - nach Hause gehe... ich kann nicht
mehr gut machen, was ich Toshiya angetan habe. Und ich kann nicht mit der Scham
leben, mit dieser Feigheit, dass ich es nicht einmal schaffe mich umzubringen.
Was verliere ich schon...::, sagte er sich und kratzte ein letztes Mal seinen
ganzen Mut zusammen. Er krallte die Hände in seine durchweichte Jeans und trat
entschlossen einen Schritt nach vorne. Dann noch einen. Und einen dritten.
Dann hörte er den Zug. Er kam aus der Stadt und schoss gerade um die letzte
Kurve bevor er eine eintönige geradlinige Reise durch die flache Einöde der
vereisten Felder und Wiesen antrat. Uruha sah nicht hoch. Mit zusammengebissenen
Zähnen machte er einen großen Schritt. Den letzten seines Lebens.
"Hakuei?"
"... ja."
"Du zitterst."
"... ich weiß..."
"Hast du Angst?"
"... vielleicht..."
"Machst du dir Vorwürfe?
"...weiß nicht..."
"Vorwürfe, dass du ihn hast abblitzen lassen? Dass du an seinem Tod Schuld
bist? Dass du jetzt in die Hölle kommst und für immer und ewig für dein
Versagen büßen wirst?"
"..."
"Denkst du daran, dass du bis an dein Ende Schuldgefühle haben wirst?"
Hakuei drehte sich mit knirschendem Absatz herum.
"Verdammt Junge, es gibt Momente, in denen man die Klappe hält!!"
Takumi klappte den Mund zu.
"Sorry", murmelte er beschämt, "aber ich konnte es mir irgendwie nicht
verkneifen."
"Soll ich es dir verkneifen?", fragte eine wage Stimme, die von hinten unten
kam. Die beiden Jungen blieben stehen und sahen sich keuchend um.
"Was-Die?!"
Hakuei starrte entgeistert auf den Boden. Sein rothaariger Mitschüler wand sich
in tarnfarbener Kleidung um ihre Beine.
"Wo kommst du plötzlich her?"
"Hergerobbt."
"Aber wir sind gerannt, den ganzen Weg seit Toshiyas Haus!"
"Ich robbe schnell."
"-----"
"Okay okay...", murmelte Die, erhob sich und klopfte soweit möglich den Schlamm
von seiner Hose.
"Ihr habt mich durchschaut, ich kam aus dem Kanal."
Hakuei hatte es vor Abscheu die Sprache verschlagen, aber sein Begleiter fragte
stattdessen: "Wieso machst du so was?"
Eine Art drogendurchwirktes Grinsen breitete sich langsam auf Dies
schmutzverschmiertem Gesicht aus. Er wiegte leicht vor und zurück. Aber ehe er
etwas sagen konnte hatte er eine Faust im Gesicht.
"Hier", spuckte Hakuei aus und ließ seine Hand so fest auf Dies Wange
klatschen, dass sie sich rot färbte wie seine Haare.
"Damit du dich endlich am Riemen reißt. Jetzt ist keine Zeit für deinen
Psychokram. Takumi, gehen wir."
Mit diesen Worten nahmen die beiden ihren Kurs wieder auf. Gerade als sie um die
nächste Ecke preschten meldete sich Takumi zu Wort.
"Haku, jetzt warte doch mal, so hat das keinen Sinn!", rief er. Der Wind wehte
ihm seine Worte ins Gesicht.
"Hakuei, bleib stehen!! Weißt du nicht, wie groß diese Stadt ist? Wenn wir so
kopflos darauf los rennen, finden wir ihn nie und dann - dann ist alles zu
spät..."
So plötzlich als hätte jemand einen Knopf gedrückt sank er auf den Boden und
schluchzte in seine Hände.
"Wieso sind alle so kopflos und bescheuert? Warum ist Uruha so ein Trottel?
Warum lässt er mich allein?!"
Hakuei hielt inne und blickte sich um, innerlich mit sich selbst ringend. Die
kleine zusammengesackte Gestalt auf dem Asphalt sah so erbärmlich aus, dass er
sein Mitleid nicht zurückdrängen konnte. Er kehrte um, lief die wenigen
Schritte zurück, kniete sich neben den Jungen und wuschelte ihm zögernd durch
die Haare.
"Ich habe vergessen, dass er dein Freund ist... sorry...", murmelte er, während
in ihm alles durcheinander flog. Seit Toshiya Schluss gemacht hatte, war sein
Leben ein einziger Albtraum. Sollte dieser Albtraum in einem Tod enden, würde
er sich das nie verzeihen. Seltsam, wie schnell aus einem dämlichen Streich,
einer Dummheit, bitterer Ernst wird.
"Du hast Recht, wir sollten überlegen, wie man sich am intelligentesten
umbringt..."
Und wieso klang alles was er sagte so unpassend, wie ein Clown auf einer
Beerdigung.
Er erhob sich mit schweren Gliedern, ging ein paar Schritte und versuchte seine
wirren Gedanken zusammenzuhalten.
"Dinge wie Gift, Drogen, Waffen oder so scheiden schon mal aus, er hat nichts
bei sich, denke ich zumindest, das wäre zu kompliziert für einen schnellen
Tod, er würde Leuten begegnen, die ihn davon abbringen könnten...", er ließ
ein freudloses Lachen hören, "...oder hat er Angst sentimental zu werden? Es
kann also nicht so schwer sein, ich glaube kaum, dass er sich das gut überlegt
hat. Dementsprechend suchen wir nach etwas ziemlich Unspektakulärem und
Einfachen. Tja, die Autobahnbrücke scheidet auch aus... dann bleibt noch..."
Er brach ab. Takumi starrte ihn mit weit aufgerissenen Kulleraugen an.
"Die Bahngleise", hauchte er.
Der Zug raste vorbei.
Schnell genug, um einen Menschen samt seiner Knochen, Kleider und verzweifelten
Träume vom Erdboden zu tilgen. Eigentlich weniger tilgen. Aber welches Wort
beschreibt schon das zerfetzende Geräusch, das ein Körper macht, wenn er von
einem ICE 256 buchstäblich zermalmt wird?
Jedenfalls raste der Zug vorbei.
Uruha beobachtete die Waggons, die mit hirnwindungsverknotender Schnelle
vorüberzischten und ihm beinahe die Nase absäbelten.
Da war der Zug.
Da waren die Schienen.
Aber wo zum Teufel war er selbst? Und warum?
Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, so dass er erst nach geraumer Zeit die Hand
bemerkte, die sich fest wie ein Python um seinen Oberarm geschlossen hatte.
"Mann, das war verdammt gefährlich!"
Der Junge, der seinen Arm hielt, als wäre er entschlossen ihn zu seinem
Eigentum zu erklären, stieß Uruha unsanft auf den schlammigen Boden zwischen
versumpfte Gräser und Steine.
"Du zitterst ja wie ein Kaninchen, das in Autoscheinwerfer schaut...", schimpfte
der vermeintliche Retter weiter und ließ sich neben ihn fallen.
"Hast Angst, was? Aber zeigt das nicht, dass du - das da eben eigentlich gar
nicht wolltest? Wenn du jetzt erleichtert bist den Boden unter deinem Hintern zu
spüren würde ich dir raten in Zukunft einen Bogen um die Gleise zu machen."
Uruha nickte stockend. Wie gelähmt verharrte er auf dem matschigen Untergrund
bis die anderen kamen.
Toshiya konnte ihn schon von weitem sehen. Er saß zusammengesunken auf dem
Boden und seine Kleider trieften vor Regen und starrten vor Schlamm. Noch nie in
seinem ganzen Leben war ihm beim Anblick seines Bruders ein größerer Stein vom
Herzen gefallen.
"Uruha!!"
Takumi stieß einen spitzen Schrei aus und stürmte an die Seite seines
durchnässten Freundes ehe Toshiya auch nur einen Schritt in seine Richtung
machen konnte.
"Mann, tu so was nie wieder du Idiot...", murmelte Hakuei gepresst, doch er
konnte nicht besonders lange verbergen wie erleichtert er war seinen ehemaligen
Geliebten an einem Stück vorzufinden, also umarmte er ihn steif und zog ihn
anschließend auf die Füße. Uruha stand einfach nur da ohne sich zu bewegen,
sein Gesicht wie das einer Wachspuppe. Takumi schluchzte an seine Brust. Nun
erhob sich auch der Retter aus dem Schlamm. Mit einem Stirnrunzeln musterte er
die Beteiligten. So rührend und wunderbar diese ganze Szene auch wirkte,
irgendetwas verdarb die romantische Stimmung. Uruha starrte auf Toshiya. Toshiya
starrte zurück. Vor knapp einer halben Minute hatte er sich so erleichtert
gefühlt wie noch nie in seinem Leben und jetzt zwang ihn der Blick seines
Bruders wieder auf den Boden und raubte ihm seine gesamte Kraft. Irgendwann
bekamen auch die anderen Jungs mit, welche Spannung in der Luft lag. Hakuei zog
Takumi vorsichtig von seinem Geliebten weg. Der unbekannte Retter hob die
Augenbrauen.
Toshiya fühlte sich wie ein Säugetier umzingelt von lauter gemeinen
Velociraptoren. Ein falscher Schritt und alles wäre aus. Er schluckte, öffnete
den Mund und brachte keinen Ton heraus. Sein Fuß zuckte ein paar Zentimeter
nach vorne.
Uruha stand einfach nur da. Wie eingefroren verrannen die Sekunden die es
dauerte bis Toshiya endlich sehr sehr leise sagte: "Ich verzeihe dir noch
nicht."
Nach einem kurzen Blick auf die Gleise fügte er hinzu: "Aber tu das nie
wieder."
Dann ergaben sich seine Beine endlich wieder seinem Willen.
Er drehte sich um und ging. Einfach so.
Uruha ließ den Kopf sinken. Er hatte keine Ahnung wie er die Worte seines
Bruders empfinden sollte. Er hatte in den letzten Tagen so viel empfunden, dass
er das Gefühl hatte seines Seele sei von dem ganzen Empfinden in zehntausend
Stücke gerissen und hatte eine unendliche schwarze Leere hinterlassen. Das
ganzes Leben kam ihm vor wie ein Horrorfilm, der für immer und ewig an der
schrecklichsten Stelle hängen geblieben war. Seine hohlen Gedanken wehten mit
dem rauen Wind davon, er merkte nicht einmal wie Takumi seine Hand nahm und ihn
wegführte.
Kaoru ließ sich auf den Boden sinken. Er fühlte sich unsagbar erschöpft und
ausgelaugt. Hakuei tat es ihm gleich. Zu zermürbt um zu sprechen verharrten die
beiden Jungen eine Weile in Schweigen.
"Ne ganz schön verstümmelte Sache, menschliche Gefühle, was? Immer wenn man
glaubt man ist tief verwundet wird einem ein Teil abgeschnitten von dem man gar
nicht wusste, dass es da ist. Angeblich ist Liebe unendlich, da ist es nur
logisch, dass man alles was damit zusammenhängt auch unendlich verstümmeln
kann."
Hakuei und Kaoru lugten mit scheelem Blick über ihre linke Schulter. In einer
solchen Situation konnte nur ein einziger Mensch etwas derart Passendes sagen,
auch wenn er es anders hätte ausdrücken können. Der Fremde nahm Sonnenbrille,
Perücke und Hut ab und öffnete seinen Trenchcoat.
"Die", stellte Kaoru, nüchtern wie der Magen einer drei Wochen alte Leiche,
fest.
"Du hast uns angerufen. Ich hab mich schon gewundert woher Uruhas Retter unsere
Handynummern hat."
"Ich hab meine Stimmer verstellt. Aber es ist gleichgültig wie viele Leben ich
heute wieder gerettet habe. Ich muss etwas erledigen, das von fataler
Wichtigkeit ist. Entschuldigt mich."
Der Rotschopf machte einen galanten Knicks, wobei er fast knietief in einer
örtlichen Pfütze versank, und ging seines Weges. Hakuei starrte ihm nach. Sein
Kopf fühlte sich an wie ausgepresst. Die einzige Frage, die Kaoru dazu einfiel,
war: "Sag mir eines, Hakuei. Wie - so?"
"Was fragst du mich?", antwortete Hakuei mechanisch.
"Weil ich spüre, dass du etwas damit zu tun hast. Ich weiß nicht wieso, aber
wann immer etwas Abgedrehtes passiert, haben du, Die oder Sakito ihre
Verbrecherfinger im Spiel."
Hakuei brachte ein halbes Grinsen zustande.
"Falls du Dies plötzlichen Persönlichkeitswandel meinst, ich hab ihn vorhin
geohrfeigt. Vielleicht hat das damit zu tun, dass er wieder normal ist."
Kurze Stille folgte. So eine Stille, in der man von irgendwoher einen Vogel
zirpen hört und vereinzelt Blätter vorbeiwehen um in einem absolut kläglichen
Versuch das entstandene Schweigen auszufüllen.
"Okay, er ist immer noch nicht wirklich normal, aber äh menschlicher als
vorher", sprach Hakuei schließlich den in der Luft hängenden Gedanken aus.
Kaoru fuhr sich mit der Hand über das verkrampfte Gesicht. Gerade als der
andere zu neuen Erklärungen ansetzte, warf er entnervt dazwischen: "Ich hab es
verstanden, bitte sprich jetzt nicht mehr von Die. Ich habe die düstere Ahnung,
dass ich das nicht mehr verkraften werde. Eine schreckliche Erkenntnis, zwei
Selbstmordversuche und ein Mensch, der mit seinem Wahnsinn ein ganzes Irrenhaus
füllen könnte, das ist einfach zuviel für einen Tag und wenn wir jetzt auch
noch darüber sprechen und die ganze Sache von neuem aufrollen, dann kann ich
für nichts mehr garantieren."
Hakuei grinste nur.
Verdammter Regen. Verdammte Tropfen, die ihn bis auf die Knochen durchweicht
hatten. Verdammte Fenster, die so undicht waren, dass der Eiswind herein pfiff
und den ganzen Raum auskühlte. Verdammtes Wetter und verdammter Tag, verdammte
Gefühle und um nicht zu vergessen verdammte Sehnsucht nach Die. Shinya war an
dem Punkt angelangt, da er mit sich selbst eine Art Kampf ausfocht, um seinen
ex-besten Kameraden und kurzzeitigen Geliebten endgültig vergessen zu können.
Und vielleicht war da ja noch Hoffnung. Er musste nicht zwangsweise schwul sein,
nur weil er seit fünfzehn Jahren unsterblich in seinen Sandkastenfreund
verliebt war. Er könnte sich einfach in Schale werfen und ein paar scharfe
Mittelschülerinnen aufreißen. Dieser Gedanke war es, der Shinya endgültig den
Rest gab. Wenn er sich eine japanische Mittelschülerin vorstellte musste er
unweigerlich würgen. Diese zarten nackten Knie. Er hasste zarte nackte
Mittelschülerinnenknie. Sie erinnerten ihn an all die kleinen Mädchen, die ihm
jahrelang hinterhergelaufen waren, wie verzückte Kinder hinter einem
knuddeligen Welpen. Sie hatten alle diese knappen, wehenden Röckchen getragen,
die so vortrefflich ihre zarten nackten Knie betonten und jedes Mal, wenn Die
sich nach einem dieser Knie umdrehte, hätte Shinya ihn am liebsten verprügelt.
Ja, es war eine harte Zeit gewesen.
Er dachte noch einmal nach. Eben fiel ihm ein, dass es vielleicht doch nicht die
Knie waren, nach denen Die sich umgedreht hatte, sondern etwas anderes, das
etwas höher lag. Shinya wusste zwar selbst nicht genau, was er damit meinte,
aber er fand es noch widerwärtiger, als zarte nackte Mädchenknie.
"Oh, Shin... du hast so zarte, zerbrechliche Knie... fast wie ein Mädchen..."
Shinya erstarrte.
"Wer auch immer du bist, nimm die Hand von meinem ... Knie." Seine Stimme
zitterte vor Wut.
"Och, Shin..."
Direkt vor Shinya wuchs ein rothaariger Junge aus dem Boden. Auf den eisigen
Blick des Blonden hin zog er augenblicklich seine Finger von dessen Bein.
"Die", Shinyas Stimme versagte beinahe, "wie-"
"Ich hab mich unter deinem Bett versteckt und auf den richtigen Augenblick für
meinen Auftritt gewartet", erklärte der Rotschopf. In seiner Stimme schwang
eindeutig Stolz mit.
"Seit wann..."
"Seit du hereingekommen bist", er zückte seine Armbanduhr, "also seit halb
sieben."
Es war nach Mitternacht.
Plötzlich rutschte Dies Hand erneut an Shinyas Bein hoch. Seine tiefen Blicke
zogen den Jüngeren bis auf die Unterwäsche aus.
"Aber deine schönen Knie... ich liebe zarte Knie... Brüste, Hintern, das alles
ist langweilig... aber diese Knie sind ein Grund weshalb... ich dich liebe."
Shinya wich mit angewidertem Blick zurück.
"Igitt", kommentierte er ächzend und hielt schützend das nächstbeste
Kleidungsstück, das ihm in die Hände fiel, vor seine bloßen Knie.
"Oh, ich vergaß, du hast ja eine Kniephobie!", rief Die aus und biss sich
schuldbewusst auf die Unterlippe.
"Mist... aber wie soll ich es dir sonst sagen... ich hatte mir so einen guten
Text überlegt..."
"Über meine Beine?!", rief Shinya aus, und vergaß für einen Augenblick das
Gefühlschaos, in dem er sich eigentlich befinden sollte.
"Naja", druckste Die verlegen herum und stakste von einem Fuß auf den anderen,
"ich kann doch so was nicht... ich weiß doch nicht, wie ich es sonst sagen
soll..."
Er holte einmal tief Luft. Von dem lässigen jungen Mann mit der dunkeln
Sonnenbrille war nicht mehr übrig (er hatte die Brille abgelegt, deshalb),
stattdessen kam es Shinya so vor, als würde wieder der kleine zwölfjährige
Daisuke vor ihm stehen, der versuchte die Worte ,Ich mag dich' herauszubringen,
das einzige, was ihm noch nie leicht über die Lippen gekommen war.
"Ich mag dich zurück haben, Shinya", sagte er verlegen und senkte den Blick auf
die eleganten Lederschuhe (leider ziemlich ramponiert aufgrund von endlosem
Durch-den-Schlamm-Robben).
"Du bedeutest mir mehr, als alles andere... du bist mir so vertraut, dass ich
deine Zuneigung als selbstverständlich hingenommen habe, aber - ich weiß
jetzt, dass ich dich nicht so behandeln darf und - es tut mir ehrlich leid."
Shinya sagte gar nichts. Genau diesen Moment hatte er sich immer ausgemalt. Die,
der vor ihm auf die Knie fiel und ihn um Verzeihung bat. Er selbst, der sie ihm
mit Tränen in den Augen gewährte und seinem Freund in die starken Arme fiel.
An dieser Stelle endete der Traum. Shinya hatte es nie für nötig gehalten ihn
weiter zu spinnen, weil Die sowieso nicht in der Lage war sich zu entschuldigen,
geschweige denn überhaupt einen Fehler einzugestehen.
Doch nun war er da, dieser lang ersehnte Augenblick. Aber Shinya konnte sich
nicht bewegen. Glücklicherweise nahm ihn Die von sich aus in die Arme, sonst
wäre die ganze Geschichte doch nicht mehr ganz so gut ausgegangen. Shinya
schlang als Antwort zitternd die Hände um die Schultern seines Freundes und
presste ihn so fest er konnte an sich. In dieser Stellung verharrten sie so
lange, bis der Postbote an der Tür klingelte und eine Eilsendung aus
Nordwestkanada brachte (Postboten klingeln immer dann wenn man nackt, unter der
Dusche, gerade gestorben oder in eine Liebesszene verwickelt ist, und sei es um
ein Uhr morgens).
"Toshiya?"
Ein sanftes Klopfen schwang durch die perfekt harmonische Stille. Kleine Füße
scharrten auf dem wollenen Teppich herum und gelbe Sonnenstrahlen verliehen der
Szene eine beinahe übernatürliche Weichheit. Viele Menschen sind schon wegen
weniger Kitsch gestorben, doch der betreffende Junge, herausgeputzt wie ein
viktorianisches Püppchen, scherte sich nicht um die erstaunliche Atmosphäre,
die seine Kleidung in Kombination mit seinem Umfeld ergab. Seine ganzen Sinne
waren auf das gerichtet, das hinter der Tür lag, und als er keine Antwort
erhielt, drückte er vorsichtig die Klinke herunter und wehte ins Zimmer, wie
eine Märchenfee aus längst vergangenen Zeiten.
Der Junge am Schreibtisch wandte seinem holden Gast das müde Gesicht zu.
"Ist das Absicht, Sakito?", war die einzige herbe Frage, die ihm dabei über die
Lippen trat.
"Ach, sei doch nicht so", zischte das Püppchen mit entstellend tiefer Stimme
und schleuderte den rechten Arm mit derartiger Heftigkeit nach oben, dass eine
zartlila Lilie (aus gehärtetem Plastik) vom Ärmel absprang und den Jungen am
Schreibtisch beinahe erstach.
"Ich kann ja auch nichts dafür. Es gibt eben Gerichte, die gewisse Opfer
erfordern."
"Du opferst Stolz und Männlichkeit?", folgerte Toshiya und starrte zweifelnd an
der dunklen Rüschenpracht herab.
"Nein, natürlich nicht", erwiderte sein jüngerer Bruder gekränkt, "aber ich
plane ein Mittagessen aus zweihundert Jahre alten mittelenglischen
Baumfrüchten, und wenn ich ihr ästhetisches Feingefühl durch meine normale
Alltagskleidung verletze, schmecken sie ungenießbar. Also muss ich mich
kleiden, wie sie es von den Menschen aus dem viktorianischen England gewohnt
sind."
"Obst mit ästhetischem Feingefühl?"
"Eigentlich bin ich gekommen, um nachzusehen wie es dir geht, aber ich kann auch
gerne wieder gehen", giftete Sakito ziemlich gereizt.
"Ach ja", fügte er hinzu, "und lass dich gefälligst nicht so hängen, das ist
ja grässlich! Ich weiß inzwischen was los ist, hab alles aus Takumi
herausgequetscht, und ich bin bereit Rücksicht auf dich zu nehmen, aber nur
wenn du selbst dich bemühst über alles hinweg zu kommen."
Toshiya lächelte schwächlich.
"Genau das versuche ich gerade Kleiner-"
"Kleiner?!"
"-nur dass du mich ziemlich dabei störst. Aber ich komme zum Mittagessen. Wann
genau?"
Was auch immer Sakito sonst noch sagen wollte, er schluckte es herunter und
sagte stattdessen: "In genau fünfzehn Minuten."
"Okay, ich komme dann."
Als Toshiya eine Viertelstunde später schließlich die Treppen hinunter stieg
erwarteten in zwei interessante Überraschungen in der Küche. Die eine waren
Die und Shinya, die verlegen Händchen haltend am Tisch saßen, die zweite war
ein mintgrünes Spitzenkleid mit prächtigem Hut, das über einem leeren Stuhl
hing.
"Was bedeutet das?", fragte Toshiya und meinte beides.
Mit spitzen Fingern stupste er die Rüschenpracht von der Stuhllehne.
"Hi Die, hi Shin."
Jetzt fiel ihm auf, dass hi Die, hi Shin beide in bunte Seide gewandet waren und
niedliche Käppchen auf dem Kopf trugen.
"Nein. Oh nein. Da mach ich nicht mit..."
Langsam bewegte sich Toshiya wieder Richtung Tür. Die und Shinya lächelten nur
erhaben schweigend und mit hochroten Wangen, offensichtlich war ihnen nicht ihr
Händchenhalten, sondern eher ihre Aufmachung zutiefst peinlich.
"Du. Bleibst. Hier."
Resolut (und mit einer einzigen Bewegung) sprang Sakito hinter der
Kühlschranktür hervor, griff das mintgrüne Kleidchen und stülpte es seinem
zeternden Bruder über. Dann krallte er sich seinen eigenen Kopfschmuck, setzte
ihn auf und surrte ihn mit den langen glänzenden Bändern, die links und rechts
vom Hut herabhingen unter dem Kinn fest.
"Du siehst scheußlich aus. Und ich auch. Urgh", würgte Toshiya.
"Sei still und iss. Ich hab dir doch gesagt, dieses Obst ist enorm empfindlich,
was Kleidung angeht. Wir müssen sozusagen eine gewohnte Umgebung schaffen."
Sakito knallte vier Teller auf den Tisch.
"Urgh", kommentierte Toshiya wieder, dieses Mal das Essen betreffend.
Es klingelte bevor Sakito strafende Maßnahmen ergreifen konnte.
"Oh, das ist Ryu! Ich mach schnell die Tür auf."
Mit diesen Worten lief er hinaus in den Flur. Die drei Jungen hörten kurz
darauf einen spitzen Schrei gefolgt von wildem Lachen. Dann erschien Sakito
wieder in der Küchentür, zutiefst ernüchtert und mit zusammengekniffenen
Lippen, hinter ihm Ryutaro, der vor Kichern kaum Luft bekam.
"Esst. Ich hoffe es bleibt euch im Hals stecken", zischte Toshiyas jüngerer
Bruder mit mörderischen Funkeln in den Augen und stellte auch seinem Koi, der
auf einem leeren Stuhl zusammengesunken war, einen Teller vor die Nase.
"Das sowieso", murmelte Toshiya und begann zu essen. In der Stille, die folgte
schlichen sich vertraute Gedanken in seinen Kopf. Er dachte an Kyo, an Daishi,
an Uruha. All das trieb ihn beinahe in d en Wahnsinn, weil er das Gefühl hatte
sich im Kreis zu bewegen. Die Walzermusik, die Sakito plötzlich auflegte,
machte es nur noch schlimmer.
"Ähm, Die, Shin, ihr habt euch also wieder versöhnt", sagte er daher laut,
einfach nur, um die Musik zu übertönen.
"Ja, wie du siehst... und wir haben uns ausgesprochen...", murmelte Shinya und
lächelte leise.
"Wann?"
"Gestern Abend erst."
"Und Die hat keine psychopathischen Macken mehr."
"Nein. Er hat sogar ein menschliches Essverhalten angenommen, nicht wahr, Die?"
"Jupp."
"Schön", antwortete Toshiya, der es unheimlich befreiend fand endlich mal eine
gute Nachricht zu hören. "Ich freue mich so, dass du wieder normal bist, Die."
"Mein Freunde nennen mich Ochsenfrosch."
Shinya warf seinem Geliebten einen erschrockenen Blick zu.
"Aber das ist nur mein Spitzname, Shin, ich schwörs!", erwiderte Die hastig und
schob sich eine Gabel mittelenglisch viktorianischen Obstauflaufes in den Mund,
um seinem Freund zu beweisen, dass er unmöglich weitere Erklärungen abgeben
konnte.
Shinya seufzte.
"Naja, normal ist er nicht, Totchi, aber sagen wir: So normal wie es für Die
eben möglich ist."
"Die? Wer ist Die?", fragte Die und schluckte runter.
Shinya aß schweigend weiter.
"Und du bist dir ganz sicher, dass du es dir gut überlegt hast? Du willst echt
bei ihm bleiben?", sagte Toshiya stirnrunzelnd und Shinya antwortete: "Nein, du
hast Recht. Ich sollte ihn wirklich verlassen."
"War doch nur Spaß", warf Die schnell ein und blickte seinen Koi flehend an.
"Ich weiß doch, dass ich Die heiße. So einen tollen Namen könnte ich nie
vergessen!"
"Ich weiß doch", erwiderte Shinya, lächelte sanft und sagte nichts mehr.
"Toshiya?"
"Ja!"
"Da ist jemand für dich an der Tür! Soll ich ihn hereinlassen?"
"Ja, schick ihn hoch", antwortete Toshiya und setzte einen Punkt hinter den
letzten Satz seines Deutschaufsatzes. Endlich fertig. Die letzten vier Tage
waren außergewöhnlich ruhig verlaufen. Er hatte weder Uruha, noch Takumi
gesehen, was ihm selbst Zeit gab, mit der ganzen Situation besser klarzukommen.
An diesem Donnerstagabend war er mit seiner Mutter allein Zuhause, sein
jüngerer Bruder sah sich mit Ryutaro einen Film an, und Hakuei und Kaoru waren
nach eigenen Aussagen zu einem Fußballspiel gegangen. Überhaupt seltsam, wie
diese beiden sich seit neuestem benahmen. Gerade so, als wären sie urplötzlich
die besten Freunde geworden. Wirklich merkwürdig. Wenn Toshiya es nicht besser
wüsste, würde er sagen-
Es klopfte.
"Herein!", sagte der junge Japaner und schlug seine Hefte zu. Ob es Kyo war?
Fast.
Die Deutschhefte entglitten Toshiyas Händen und landeten auf einem Stapel
Bücher neben seinem Schreibtisch. Ohne zu begreifen starrte er auf die Person,
die leise eintrat und die Tür hinter sich schloss.
"Hallo, Toshiya", sagte der Junge und streckte Toshiya einen Blumenstrauß
weißer Rosen entgegen.
"Für dich."
Kapitel 13: 13
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Walking proud
Autor: Clea
Kommentar: Ich würde mich am liebsten für jeden einzelnen euerer Kommis
bedanken, hab aber im Augenblick keine Muße mehr dafür, sorry -.- Ihr bewegt
mich wirklich zum Weiterschreiben ^.~ Besonderes Dankeschön an die, die mir
regelmäßig schreiben, I luv u all *gg*. Ich weiß auch euere Kritik, Wünsche
und Mutmaßungen sehr zu schätzen (manchmal hat mich ein bestimmter Kommi
wirklich auf eine Idee gebracht). Nur weiter so ^-^!
Ich denke in diesem Kapi wird es klarer auf welches Pairing (Toshiya x ?) hinaus
will, aber vielleicht ändere ich meine Meinung ja noch hehe...(das nur um euch
ein wenig zu verwirren ^.°)
Ach ja: Ich weiß, dass ich in Kapitel 12 geschrieben habe, die Rosen seien
weiß, und jetzt sage ich plötzlich sie sind rot, aber bitte betrachtet es als
künstlerische Freiheit u.u (rot passt einfach besser).
Außerdem lasse ich einen neuen Charakter auftreten. Ich hoffe ihr mögt ihn.
Und das mit der Zusammen- und Getrenntschreibung werde ich nie lernen =.=
Teil 13
"Hier. Für dich."
Wunderschöne tiefrote Rosen.
Solche, die man seiner Mutter zum Geburtstag schenkt. Oder dem Geliebten.
Toshiya schluckte.
Die kräftig gefärbten Blütenblätter tanzten vor seinen müden Augen auf und
ab, wie bunte Glassplitter in einem Kaleidoskop. Dieser Strauß musste ein
Vermögen gekostet haben. Über der blutigen Blumenpracht ragte ein verdrossenes
Gesicht mit dichter, schwarzer Haarmähne auf.
Daishi.
(Wer hätte es gedacht?U.U Ich muss mich dringend darum kümmern etwas subtiler
zu werden)
Sein Gesicht war blutleer, die Lippen krampfhaft aufeinander gepresst, und in
seinen Augen lag diese rätselhafte Tiefe, die an Kyo erinnerte.
Toshiyas Gehirn fühlte sich an, wie ein Sieb, das durch zu große Sandkörner
verstopft ist. Oder wie ein Abfluss, in dem sich Unmengen von Haaren angesammelt
haben, so dass kein Wasser mehr abfließen kann. In seinem Kopf jagten derart
viele Gedanken hin und her, dass er keinen einzigen zu fassen bekam. Und wie ein
leiser drohender Schatten lauerte irgendwo auf dem Grund seines Bewusstseins die
Angst, die er an jenem verregneten Abend, an dem er Daishis Opfer geworden war,
zum ersten Mal verspürt hatte, und die seither wie eine zähflüssige schwarze
Masse an ihm klebte.
Toshiya starrte sein Gegenüber an, unfähig zu reagieren. Daishi starrte
zurück, offenbar entschlossen kein weiteres Wort mehr hinzuzufügen. Nach einer
Weile ließ er den üppigen Strauß niedergeschlagen sinken. Ihm schien klar
geworden zu sein, dass sein Auftauchen eine (stichhaltige und überzeugende)
Erklärung verlangte, also begann er zögernd: "Es tut mir leid, dass ich
gekommen bin..."
Er suchte mit den Augen kurz die Regale ab, auf der Suche nach einer
Blumenvase.
"...ich weiß du willst mich nicht sehen, aber..."
Kein Gefäß in Sicht, in das ein riesiger Rosenstrauß gepasst hätte. In dem
einzigen Glas, das in Frage gekommen wäre, laichte ein Goldfisch.
"...ich wollte dir nur sagen, dass...", Daishi umklammerte mit beiden Händen
sein liebliches Geschenk, "...dass es mir unbeschreiblich leid tut. Das, was ich
getan habe, ist nicht gutzumachen...nie mehr."
Jetzt zitterten seine Hände. Die Fingerknöchel, die unter der Haut
hervortraten, hoben sich auf gruselige Art und Weise von dem unnatürlich satten
Grün der Blumenstängel ab. Plötzlich hatte Toshiya das Gefühl, die ganze
Situation sei unwirklich, völlig irreal. Das konnte gar nicht passieren, alles
war verzerrt. Der Mann, der ihn höchstpersönlich durch die Hölle geschickt
hatte, wagte es in sein Zimmer einzudringen, in seine Zuflucht, und ihn um
Verzeihung zu bitten. Um Verzeihung! Als hätte er Toshiyas Lieblingspullover
zerrissen, oder seinen Hamster eingesaugt. Dabei wirkte er wie ein
eingeschüchterter Schuljunge, der vor Aufregung und Scham zitterte, die Haut
weiß wie Krepp, der Mund trocken und verzogen. Wie ein anderer Mensch.
War das der wahre Daishi? Verängstigt und in sich zusammengefallen, einsam und
untröstlich? Man musste einfach Mitleid haben mit dieser jämmerlichen
Gestalt.
Wenn da nicht diese Augen wären. Toshiya konnte dem Blick seines Gegenübers
nicht standhalten. Welches Gefühl auch immer über Daishis Gesicht huschte,
seine Augen sparte es jedes Mal aus, sie blieben unverändert. Dieses kalte tote
lidlose Starren brachte Toshiyas Blut zum Gefrieren.
"...aber es ist mir wichtig, dass du wenigstens weißt, dass ich- es nicht
wollte", fuhr Daishi unsicher fort und wurde dabei immer leiser.
Er wollte es nicht, wiederholte Toshiya in Gedanken. Na, wie toll für ihn.
"...du weißt, ich habe ein Problem mit Drogen. Das ist ja ein offenes
Geheimnis. Und als ich - dir das angetan habe, war ich völlig zu. Erst später
habe ich bemerkt, was ich getan habe. Auch als ich - dich das zweite Mal -
belästigt - habe... bitte verzeih."
Toshiya starrte seinen Gast nur weiterhin an. Seine Gedanken konnten Daishis
Worten nicht folgen. Wie zum Teufel kam er überhaupt so urplötzlich hierher?
Wie konnte er es wagen hier aufzutauchen? Für das, was er getan hatte, hätte
Toshiya ihn vor Gericht bringen können. Und genau das hatte dieses sadistische
Schwein eigentlich verdient: Eine dunkle, feuchte Zelle bei Wasser und Brot, bis
ans Ende seines wertlosen Lebens.
Und dennoch: Wie Daishi gerade zu ihm sprach war verblüffend - als wäre er von
jetzt auf gleich ein anderer Mensch geworden. War er vielleicht schizophren? Ein
Irrer?
Genau das machte Toshiya so unbeschreiblich Angst, diese verdammte
Unberechenbarkeit. Und was noch viel gespenstischer war: So sehr er diesen
Menschen verabscheute, so sehr er ihn auch hasste und fürchtete - er konnte
sich nicht gegen das Mitgefühl wehren, das in seinem Herzen aufkeimte. Wenn
dieser Verbrecher so weitermachte, würde Toshiya am Ende noch Verständnis für
ihn aufbringen, auch wenn seine Entschuldigungen noch so geheuchelt, und seine
Argumente noch so fadenscheinig waren. So stark war Toshiyas Verlangen endlich
mit der Sache abzuschließen. Der ständige Hass ermüdete ihn, es war so
anstrengend ununterbrochen einen Schutzschild um sich herum aufrechtzuerhalten.
Er wollte so gerne vergeben. Vergeben und vergessen.
Toshiya spürte, wie seine klaren, bodenständigen Gedanken abflossen wie altes
Spülwasser und seinen Verstand gleich mitnahmen. Er war nur zu gewillt, Daishi
zu glauben. Vielleicht bedeutete dies das Ende seiner Angst.
"Ich sollte gehen... du musst mir nicht antworten, es ist nur-"
Der schwarzhaarige Junge machte eine zuckende Bewegung in Toshiyas Richtung,
dann fiel er wieder in seine alte, steife Haltung zurück. In seinen Augen lag
auf einmal ein flehender Ausdruck. Sie wirkten dabei beinahe lebendig.
"-es ist ein Verbrechen, das ich dir angetan habe. Aber bitte versteh, weshalb
ich so war...", plötzlich brach es aus ihm heraus, wie die Kohlensäure aus
einer Coladose, die man zu heftig geschüttelt hat, "... noch nie wollte ich so
sehr jemanden halten, wie dich. Ich bin drogenabhängig seit ich zehn bin. Mir
war immer alles egal und ich war allen egal. Du bist der erste Mensch, für den
ich ernsthaft etwas empfinde", stammelte er abgehackt. Er verbarg das Gesicht in
der rechten Hand, um das tränenloses Weinen zu verbergen, das seinem
Gefühlsausbruch folgte. Der Rosenstrauß baumelte lose in der linken wie ein
abgerissenes blutiges Körperteil.
"Ich versuche clean zu werden, aber ich brauche irgendjemanden, der mir hilft.
Uruha hat mir die Freundschaft gekündigt, Kyo ist weg. Außer den beiden habe
ich niemanden. Aber du, du bist anders, das weiß ich... ich mag dich wirklich,
Toshiya, lass mich wieder gut machen, was ich dir angetan habe, ich kann auch
anders sein. Bitte, du musst mir glauben!"
Daishi stolperte wie betrunken einen Schritt nach vorne. Toshiya wich an den
Schreibtisch zurück.
"Bitte, du musst mir glauben, bitte...", wiederholte sein Peiniger mit leisem
Schluchzen wie eine Beschwörungsformel. Er ließ die Blumen fallen, tat einen
Schritt zurück, dann einen weiteren. Dann drehte er sich einfach um und
stürzte durch die Tür. Toshiya wandte den Kopf nach links. Durch sein Fenster
konnte er Daishi kurz darauf über die Straße in den Park laufen sehen, die
Haltung noch immer so starr, als hätte er ein Brett verschluckt, und auf dem
Gesicht ein Ausdruck von unsagbarem Schmerz.
Toshiya zitterte. Zuerst leicht, dann immer stärker. Er hob seine fahrigen
Hände zum Gesicht, wischte sich über die Stirn und den Hals.
Er krallte seine Finger in den T-Shirt Stoff vor seiner Brust und schrie.
"Meine Güte, wieso schreist du denn so?"
Die Zimmertür wurde aufgerissen. Vor ihm stand sein jüngerer Bruder, in Jacke,
Schal und Handschuhen, offenbar war er gerade eben nach Hause gekommen.
"Und wer war der Junge, der wie ein Irrer aus unserem Haus in den Park gerannt
ist?"
Toshiya konnte nicht antworten. Er war auf dem Boden zusammengesackt und
umklammerte gewaltsam seine Schultern.
"Na, auch egal...", antwortete Sakito sich selbst mit einem Schulterzucken. Nach
kurzem Zögern kniete er sich neben seinen Bruder und strich ihm mit ungewohnter
Zärtlichkeit über den Rücken.
"Hey, ist ja schon gut... schrei, wenn es dir dann besser geht... glaub mir, das
ist ein gutes Zeichen...", flüsterte er mit weicher Stimme.
Toshiya blickte ungläubig auf. Es war ein gutes Zeichen, dass er sich fühlte,
als hätte man ihn in eine dunkle, tiefe Schlucht gestoßen?
"Ich mach uns was zu essen, ja? Dann geht es dir sicher gleich besser."
Sicher, dachte Toshiya, weil er dann mit dem Brechreiz kämpfen musste. Das
lenkte natürlich ab.
Über sein Gesicht huschte ein müdes Lächeln. Die Beklemmung, ausgelöst durch
Daishis Besuch, schwand bereits. Allmählich fühlte er sich wieder sicher und
geborgen.
"Gut, dann machen wir es so. Ryu ist auch da, wir essen dann in einer halben
Stunde."
Sakito erhob sich wieder. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
"Totchi? Weißt du eigentlich, dass in dem Wasserglas da ein Goldfisch laicht?"
Toshiya hob den Kopf.
"Weiß ich."
"Oh", antwortete Sakito und zog die Tür hinter sich zu.
Er wusste es nicht. Kaum hatte sein Bruder den Raum verlassen, sprang Toshiya
auf und eilte an das Regal neben seinem Bett. Tatsächlich. Und er hatte
gedacht, der Fisch sei tot. Von was hatte er sich nur all die Wochen ernährt?
Absolut erstaunlich. Er hob das Glas an, unschlüssig, was er damit machen
sollte, stellte es aber nach einigem Nachdenken wieder an seinen Platz zurück.
Was soll's, dachte er bei sich und lief zu seinem Kleiderschrank, um einen
warmen Pullover herauszusuchen.
Auf einmal hielt er inne.
Uruha hat mir die Freundschaft gekündigt, Kyo ist weg. Außer den beiden habe
ich niemanden. Aber du bist anders, hatte Daishi gesagt.
Kyo ist weg.
Was sollte das heißen? Was meinte er mit ,weg'?
Es hätte nicht funktioniert, sie waren einfach zu verschieden.
Kyo löste ein Zugticket. Zum hundertsten Mal wanderten seine Gedanken im Kreis
und kamen bei Toshiya an. Mit jeder Meile, die zwischen ihnen lag, wurde
Toshiyas lachendes Gesicht vor seinem geistigen Auge klarer, und das Verlangen
zu ihm zurück zu kehren stärker. Bisher hatte Kyo immer das Gefühl gehabt
richtig zu handeln, wenn er irgendeinen Ort für immer verlassen hatte, doch
dieses Mal fühlte es sich so an, als hätte er sich vom letzten Lichtblick
seines kümmerlichen Lebens für immer abgewendet. Langsam ging ihm auf, dass
Toshiya seine letzte Chance gewesen war.
Verdammt. Und nun?
Der Zug hielt mit quietschenden Rädern. Neben Kyo schoben sich noch eine junge
Asiatin mit Kind und eine Handvoll älterer Herren in den Waggon. Einer der
Männer murmelte voller Verachtung "Überall krummbeinige Japsen hier". Kyo
suchte ein verlassenes Abteil, fand es, und ließ sich auf einen zerschlissenen
Sitz am Fenster fallen. Geistesabwesend starrte er in die Landschaft, aber das
einzige, was er sehen konnte, war sein eigenes Spiegelbild im Zugfenster.
Es war zu spät. Jetzt konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Immerhin
spielte er schon seit langem mit dem Gedanken ein paar alte Freunde aufzusuchen,
um in ihre Aktivitäten einzusteigen.
Krumme Geschäfte sind das einzige was mir liegt, nahm Kyo mit blassem Lächeln
zur Kenntnis. Und vielleicht hatte er ja Glück. Dann könnte er richtig richtig
viel Geld machen, obwohl er noch nicht einmal ganz volljährig war. Das Gesicht
eines aufrichtigen, anständigen Bürgers stand ihm sowieso nicht. Sollte es ihm
gelingen Fuß zu fassen, und nebenbei noch ein kleines Vermögen zu machen,
würde er vielleicht den Mut finden zu Toshiya zurückzukehren.
+~+~+~+~+~+~+~+~+
"Toshiya, kommst du endlich, oder bist du am Boden festgewachsen?"
Kaorus genervte Stimme hallte durchs Treppenhaus und ließ den jungen Japaner
aufschrecken.
"Jaja, gleich, warte noch kurz...", brüllte er zurück, und fuhr sich mit einer
tiefschwarzen Maskara ein paar Mal durch die dichten Wimpern. Es war das erste
Mal seit einer halben Ewigkeit, dass er Make-up auflegte, und er hatte zu seinem
großen Bedauern feststellen müssen, dass er sich dabei wieder wie ein
Anfänger anstellte.
Drei Wochen waren vergangen seitdem Daishi Hals über Kopf aus seinem Zimmer
geflohen war. Der Blumenstrauß, das einzige Beweisstück dieses merkwürdigen
Besuchs, verwelkte in einer Zimmerecke hinter einem Stapel Bücher (Toshiya
hatte ihn dort versteckt aus Angst die anderen könnten Fragen stellen). Ihn
wegzuwerfen hatte er einfach nicht übers Herz gebracht, immerhin hatten die
wunderschönen Rosen ihm nichts zuleide getan. Was Kyo ist weg bedeutete, hatte
Toshiya auch sehr bald festgestellt. Der katzenhafte Jungen war wie vom Erdboden
verschluckt: Er kam nicht mehr zur Schule, in seiner Wohnung wohnte ein junger
brasilianischer Flammenwerfer, sein Handy war aus und niemand hatte eine Ahnung
wohin er gegangen sein könnte. Kyo musste bei Nacht und Nebel seine Taschen
gepackt und die Stadt verlassen haben, ohne eine einzige Menschenseele davon in
Kenntnis zu setzen. Sobald Toshiya sich dieser Sache bewusst geworden war, hatte
ihn ein jäher Zorn übermannt. Obwohl er keinerlei Verbindung zu dem
mürrischen Schüler gehabt hatte, fühlte er sich von ihm im Stich gelassen.
Obendrein vermisste er ihn schrecklich. Es war, als hätte alles Interessante,
all das was einen Tag aufregend macht, sein Leben verlassen. Zurück blieb eine
öde Leere. Wenigstens fehlte auch von Kyos verbrecherischem Bruder Daishi jede
Spur.
"Toshiya!!!!" Kaoru klang jetzt nicht nur ungeduldig, sondern auch mäßig
gereizt.
Toshiya hatte fest versprochen mit ihm und Hakuei ein Fußballspiel anzusehen,
als ihn plötzlich der Drang gepackt hatte sich zu schminken. Nun warteten die
beiden Jungen seit geraumer Zeit im Wohnzimmer, da das Spiel jede Minute
beginnen würde.
"Toshiya?"
Wieder war es Kaoru, der nach oben ins Bad rief, doch diesmal klang seine Stimme
merkwürdig.
"Totchi, komm schnell!"
Toshiya ließ die Maskara sinken. Er zögerte kurz, dann stürzte er mit dem
Wimpernkämmchen in der rechten Hand auf den Flur. Unten am Fuß der Treppe
stand Kaoru und fuchtelte wild mit den Armen.
"Komm schnell, das musst du dir ansehen!"
Toshiya sprang die Stufen hinunter und eilte ins Wohnzimmer. Hakuei, Sakito und
Ryutaro saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer, den Blick starr auf die flimmernde
Mattscheibe gerichtet. Offenbar waren sie gerade dabei sich eine Daily Soap
reinzuziehen, denn eine junge Frau mit zerzauster Kurzhaarfrisur schluchzte ganz
herzzerreißend in die Kamera und brabbelte irgendetwas von "Hölle auf Erden",
"Furchtbares Massaker" und "Mülltütenfabrik".
Toshiya legte den Deckel seiner Wimperntusche neben das schnurlose Telefon.
"Mann, Kao, hast du mir einen Schrecken eingejagt! Ich dachte schon irgendetwas
Schlimmes wäre passiert, stattdessen sitzt ihr hier herum und schaut
Seifenopern", beschwerte er sich.
"Psssst!!!", machte Sakito genervt, während er weiterhin wie gebannt auf den
Fernseher starrte.
Zu der jungen Frau mit den zerzausten Haaren hatte sich ein Mann gesellt. Er
hielt ein großes haariges Mikro in der Hand und verkündete mit sachlicher
klarer Stimme: "Einer der Täter konnte gefasst werden, von den übrigen fehlt
jede Spur. Die Polizei ermittelt."
Oben links wurde das verschwommene Bild eines jungen Mannes mit Lippenpiercing,
asiatischen Zügen und auffällig tätowierter Brust eingeblendet. Seine Augen
wurden von einem schwarzen Balken verdeckt.
"Ein erster Gottesdienst für die zwölf Opfer findet heute Abend um sechs Uhr
in der Dorfkirche Hintertupfingen statt", fuhr der Sprecher fort. Die
schluchzende Frau war weggeführt worden, stattdessen war nun im Hintergrund
eine kleine gotische Kirche zu sehen.
"Wir melden uns wieder mit den Tagesthemen um 21 Uhr. Guten Abend."
Eine grässliche Musik ertönte und das Bild mit dem Nachrichtensprecher wurde
durch eine strahlende gertenschlanke Dame ersetzt, die einen besonders
schmackhaften Diätyoghurt anpries.
"Häh?", kommentierte Toshiya. "Was war denn da los?"
"Eine Bande Jugendlicher hat eine Mülltütenfabrik in Hintertupfingen
überfallen, und ein regelrechtes Massaker hinterlassen. Sie sind ins
Verwaltungsgebäude eingebrochen und haben wertvolle Papiere mitgehen lassen,
und dann nach Lust und Laune unter den Angestellten gewütet.", erklärte Hakuei
mit matter Stimme.
"Das ist ja grässlich", antwortete Toshiya mit aufgerissenen Augen. "Was meinst
du mit ,gewütet'?"
Hakuei rieb sich die Lippen als sei die Sache zu furchtbar, um sie
auszusprechen.
"Sieben Männer und sechs Frauen wurden gefunden..."
Toshiya schlug sich die Hand vor den Mund.
"Tot? Zerstückelt?", rief er entsetzt aus.
"Nein. Schlimmer. Sie trugen Clwonmasken und sahen aus wie komplette Idioten.
Hinzu kommt, dass sie brutal geknebelt waren."
Toshiya riss den Mund auf angesichts dieser Gräueltat.
"Clownmasken?!!"
"Ja, sie sahen aus, wie Idioten", wiederholte Hakuei. Kaoru und Ryutaro
schüttelten betreten den Kopf, während Sakito sich über mangelnden
Polizeischutz auszulassen begann.
"Es handelt sich um eine Art Verbrecherverband. Die Polizei ist da auf ein
riesiges Netz finsterer Machenschaften gestoßen. Unter den Tätern sollen viele
japanische Immigranten sein."
"Na und? Die können uns nicht ausweisen, wir haben deutsche
Staatsbürgerschaft!", sagte Toshiya. Seine Wangen waren bleich geworden.
Hakuei schüttelte den Kopf.
"Das nicht, aber... ach ich weiß nicht, es ist doch irgendwie gruselig, oder?"
Eigentlich war es ein anderer Gedanke, der ihn beschäftigte, aber Hakuei hatte
nicht die geringste Lust ihn vor den anderen Jungen auszubreiten. Ganz besonders
nicht vor Toshiya. Sein Ex-Geliebter hatte genug eigene Probleme, die er
bewältigen musste, da brauchte er nicht noch über die Mutmaßungen seiner
Freunde nachzugrübeln.
Kyos urplötzliches Verschwinden hatte Hakuei nur mäßig interessiert, er hatte
das kleine kriminelle Gör nie ausstehen können. Und seinem Bruder Daishi
würde er sowieso am liebsten die Augen auskratzen. Jetzt dämmerte ihm, wohin
die beiden gegangen sein könnten.
Vielleicht sollte ich besser auf Toshiya aufpassen, dachte Hakuei, es ist nur so
eine dunkle Ahnung.
"Hintertupfingen! Das ist ja ganz in der Nähe! Ich wusste gar nicht, dass es da
so eine große Fabrik gibt..."
Kaoru lehnte sich in seinem Stuhl zurück und bohrte einen Löffel in sein Eis.
"Könntest du bitte aufhören unsere ganzen Löffel zu zerstören?", brummte
Sakito und beobachtete, wie Kaoru der siebte Löffel im Eis stecken blieb und
abbrach.
"Es ist einfach zu hart, Saki! Wie soll ich das denn bitte essen?"
"Das hat Walnussschaleneis nun mal so an sich", gab Sakito gereizt zurück,
brach sich gekonnt ein Stück von seinem eigenen Nachtisch ab und steckte es in
den Mund.
"Du meinst Walnusseis, oder?", sagte Ryutaro vorsichtig und leckte
versuchshalber über seine Kugeln. Offenbar schmeckte es allerdings nicht
besonders erquickend, weil er seinen Becher daraufhin auf den Tisch
zurückstellte und nicht mehr anrührte.
"Nein, ich meine Walnuss-schalen-eis. Die Schale ist doch das gesündeste daran!
Man stellt das Eis aus ganzen, unzerkleinerten Walnussschalen her, das ist das
Geheimnis."
"Das ist mir neu", flüsterte Hakuei, und Kaoru und Toshiya grinsten
spitzbübisch. Den drei Jungen war längst bewusst geworden, dass Sakitos
Einfälle (und seines Rezepte) unerschöpflich waren. Mit anderen Worten: Seine
mörderische Kreativität würde wohl erst dann ein Ende finden, wenn er die
gesamte Weltbevölkerung auf dem Gewissen hatte, und niemand mehr lebte, an dem
ein Kochrezept ausprobiert werden konnte. Sakitos gewaltige Intelligenz hatte
sich bisher nur als gewaltiger Nachteil erwiesen. In den letzten Tagen hatte er
sogar angefangen eine völlig neue Theorie über den Zusammenhang aller
Lebewesen und Pflanzen hinsichtlich ihrer Genießbarkeit aufzustellen. Sollte
ihm dies gelingen, so würde er dafür aller Wahrscheinlichkeit nach den
Nobelpreis bekommen, hatte Sakito ihnen erklärt. Sollte seine Theorie aber
falsch sein - was sehr unwahrscheinlich war - würde man ihn auf der ganzen Welt
für einen armen irren Koch halten. Und er fühle sich nicht als Koch sondern
als Künstler. Toshiya hoffte inbrünstig das letztere möge zutreffen. Nicht
auszudenken, welches Ausmaß Sakitos Kochkünste annehmen würden, wenn er erst
einmal Bestätigung darin fand.
"Hintertupfingen", wechselte Ryutaro umsichtig wie immer das Thema.
"Das kommt doch nach Großkuchen, oder? Und vor Kleinheufeld."
Kaoru schüttelte den Kopf.
"Nein, erst kommt Deselchsgeweihausen, dann Hintervorderstädtlein, dann Bonn,
Kleinkuchen und Großkuchen und dann Hintertupfingen. Hättest du einen
Führerschein, wüsstest du das Ryu. Alles (außer Bonn) sind Käffer mit
maximal dreihundert Einwohnern."
"Bonn?" Sakito drehte mit misstrauischem Blick seinen Eislöffel in den
Händen.
"Ja, das ist eine große Stadt in Nordrhein-Westfalen", erklärte Kaoru
geduldig, und versuchte so zu tun, als würde er das Eis, das genau vor seiner
Nase stand, nicht bemerken.
"Und die heißt wirklich Bonn? Was für ein bescheuerter Name! Echt, manchmal
frage ich mich, was die Leute genommen haben, die sich diese Städtenamen
ausgedacht haben...", sagte Sakito und servierte großzügig noch eine Runde
Eis.
"Ich will eher wissen, was du genommen hast", murmelte Toshiya, verstimmt weil
er nun eine weitere Portion Eis sang und klanglos irgendwo verschwinden lassen
musste, und die erste Portion war ihm schon weiß Gott schwer genug gefallen.
Als er keine Lust mehr hatte ein Versteck für die Eiskugeln zu suchen, stand er
einfach auf, ließ seinen unberührten Becher stehen, und ging auf sein Zimmer.
Verwundert hob Hakuei den Kopf. "Was hat er denn? Und hat vielleicht jemand
meinen Schneidezahn gesehen?"
Sakito blitzte ihn giftig an.
"Haha, Hakuei. So hart ist das Eis auch wieder nicht, dass deine Zähne daran
abbrechen!"
Hakuei grinste nur entschuldigend, nahm unauffällig einen
Walnussschaleneisbrocken in die Hände und rieb ihn eine Weile zwischen den
Handflächen.
"Aha", verkündete er schließlich und schnippte das Stück zurück in den
Becher, "wie ich mir gedacht habe. Das Eis schmilzt noch nicht mal. Da ist dir
aber gründlich was misslungen, Sakito."
Dieser verzog nur missmutig das Gesicht.
"Tsss, manche Menschen können Versagen und Genialität einfach nicht
auseinander halten. Es handelt sich selbstverständlich um ewiges Eis - also
Eis, das nicht schmilzt. Es muss nicht kühl gelagert werden, versteht ihr? Es
ist so gut wie unkaputtbar." (ja, dieses Wort existiert tatsächlich)
"Und wie stellst du dir dann vor, dass dieses Eis sich im Magen auflöst? Durch
Magie?", fragte Hakuei mit einem Stirnrunzeln.
"Du hast keine Ahnung von biochemischen Reaktionen, oder?", antwortete Sakito
nur und stopfte sich ein ganzes Bällchen Eis auf einmal in den Mund, um keine
weiteren Fragen mehr beantworten zu müssen.
Toshiya knipste das Licht aus und schloss die Augen. Obwohl der Schultag, das
Mittagessen, der Kuchen danach, der Fünf-Uhr-Tee, das Abendessen und
anschließend der Nachtisch ihn wahnsinnig geschlaucht hatten, war er hellwach.
Naja, dann wälze ich mich eben ein paar Stunden herum, bevor ich einschlafe,
dachte er.
Oder ich schalte das Licht wieder ein und zähle Goldfische.
Das Wasserglas mit dem Fischlaich, das er vor drei Wochen bemerkt hatte,
genügte längst nicht mehr um die Unmengen von kleinen Fischen zu fassen, die
aus den Eiern ausgeschlüpft waren, also hatte Toshiya einfach noch ein paar
weitere Gläser dazugestellt, und die Tiere gleichmäßig auf alle verteilt.
(Anm. der Autorin: Ich habe keine Ahnung von Biologie, wie vielleicht jemandem
aufgefallen ist) Allerdings laichten Goldfische irgendwie unheimlich häufig,
und er würden bald nicht mehr genug Gläser auftreiben können um all den
schillernden Wassertieren, die täglich irgendwo ausschlüpften, ein feuchtes
Zuhause geben zu können.
Und überhaupt war es ihm ein Rätsel wie um alles in der Welt alles begonnen
hatte? Wie konnte ein einziger Fisch laichen, der noch nie mit einem
glubschäugigen Partner in Kontakt gekommen war? Vielleicht hätte er in
Religion besser aufpassen sollen. Hatten Fische eigentlich Ohren?
In so tiefgründige, weltbewegende Fragen vertieft wäre dem jungen Japaner
beinahe das leise kratzende Geräusch entgangen, das irgendwo aus den tiefen
seines Zimmers drang. Ihm blieb beinahe das Herz stehen, als ihm auffiel, dass
es draußen weder windig war, noch regnete. Trotzdem tönte aus der anderen
Zimmerecke unverkennbar ein leisen regelmäßiges Scharren. Toshiya kniff die
Augen mit pochendem Herzen zusammen. Das Ticken seines Weckers kam ihm
plötzlich wahnsinnig laut vor. Es war nach Mitternacht.
Als die Türklinke ging bekam er beinahe einen Herzinfarkt. Er öffnete kurz die
Augen, um sie danach nur noch fester aufeinander zu pressen. Tatsächlich.
Soeben war seine Zimmertür aufgegangen. Draußen im Flur blieb es stockdunkel.
Niemand machte Licht. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?
Er hörte leisen Atem. Langsame behutsame Schritte.
Plötzlich ertönte ein dumpfes Geräusch, das genauso klang, als würde jemand
ein Wasserglas auf dem Teppichboden umstoßen.
"Oh verfl-", sagte ein Stimme beinahe unhörbar. "Was war das?"
Dann eine zweite, kaum mehr als ein Windhauch: "Ein Wasserglas. Der ganze Boden
ist voller Gläser!"
"Sind das Fische?"
Toshiya lag in seinem Bett und wusste nicht, was er davon halten sollte.
Irgendjemand war in sein Zimmer eingedrungen, aber er hatte plötzlich nicht
mehr das Gefühl sich in Gefahr zu befinden. Das änderte sich allerdings, als
es schlagartig wieder still wurde. Gespenstisch still. Nach einer Weile - er
glaubte schon alles geträumt zu haben - wagte er die Augenlider einen Spalt zu
heben - und konnte nur mit Mühe einen Entsetzensschrei unterdrücken. Direkt
neben seinem Bett, zwanzig Zentimeter von seinem rechten Ohr entfernt, stand
jemand. Ein dunkler Schatten, völlig regungslos. Als sich einen Herzschlag
später eine Hand auf seinen Mund legte, hatte Toshiya das Gefühl vor Schreck
zu sterben.
Jemand beugte sich über ihn. Der junge Japaner riss entsetzt die Augen auf und
starrte in die Dunkelheit, so verzweifelt bemüht etwas zu erkennen, dass grüne
Punkte vor seinen Augen auf und nieder tanzten. Das Mondlicht, das durch die
Ritzen seines Rollos fiel stellte eine zusätzliche, wenn auch spärliche
Beleuchtung dar. Doch das einzige, was er ausmachen konnte war eine menschliche
Gestalt. Nicht mehr und nicht weniger.
"Wenn ich meine Hand wegnehme hältst du die Klappe, kapiert?", zischte eine
Stimme direkt neben seinem Ohr. Toshiya bewegte seinen Kopf stockend auf und ab.
Sein Herz pochte so heftig, dass er nicht klar denken konnte. Der Einbrecher
entfernte seine Hand tatsächlich - und ersetzte sie durch seinen Mund. Toshiya
stieß einen Schrei der Überraschung aus, der von fremden Lippen erstickt
wurde. Bald darauf spürte er eine Zunge in seinem Mund. Seine verkrampften
Muskeln entspannten sich. Er erwiderte den Kuss. Was sonst hätte er tun sollen?
Die Hand, die ihm eben noch das Kiefer zusammengepresst hatte, strich nun
zärtlich über seine Wange. Irgendwann ließ der Eindringling von seinem Mund
ab und setzte lautlose Küsse an Toshiyas Hals. Dieser konnte nicht anders als
es zu genießen. Sein Verstand war schon bei dem ersten Scharren an seiner
Zimmertür in Ohnmacht gefallen. Noch einmal berührten die Lippen des Schattens
seine eigenen, dann war der Spuk vorbei. Der rätselhafte Eindringlich war
ebenso urplötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war. Zurück blieb Toshiya,
der mit maßlosem Erstaunen und einem warmen Gefühl in seinem Herzen zwischen
den Decken lag. Lange Zeit wagte er nicht einmal laut zu atmen. Dann kratzte er
seinen ganzen Mut zusammen, tastete mit seiner Hand nach der Nachttischlampe und
schaltete das Licht ein. Ein Zittern durchlief seinen Körper, als er sich in
seinem Zimmer umblickte und nichts als das umgestoßene Wasserglas auf dem Boden
entdeckte.
(Fünfzehn kleine Goldfische zappelten neben dem umgestoßenen Wasserglas
verzweifelt über den Teppich; zwölf von ihnen fielen drei Minuten später
einem grausamen Tod durch Ersticken zum Opfer, den übrigen drei jedoch gelang
es sich mit Hilfe eines gefälschten Passes nach Feuerland abzusetzen)
"Morgen...", nuschelte Toshiya und knautschte sein zerdrücktes Gesicht mit
beiden Händen. Die Sonne strahlte aufdringlich wie eine Laserkanone durch alle
Fenster und kleine Vöglein veranstalteten im Garten vor dem Haus den üblichen
Biolärm. Kurzum: Ein wunderschöner Samstagmorgen. Jetzt bekam Toshiya auch
allmählich die Augen auf, und nahm, sehr zu seinem Erstaunen, sogar etwas von
seiner Umgebung wahr. Er hatte geschlafen wie ein Stein. Vielleicht lag das an
diesem merkwürdigen Traum. Er war nachts noch einmal ins Bad gegangen um etwas
zu trinken, so müde, dass er eher im Tiefschlaf als wach gewesen war, und hatte
dabei wohl ein Wasserglas umgestoßen. Natürlich war diesem Ereignis prompt
einen völlig alberner Traum gefolgt, irgendetwas von einem dunklen Phantom, das
neben seinem Bett auftauchte, ihn leidenschaftlich küsste und wieder
verschwand. Absolut lachhaft, wenn er jetzt darüber nachdachte. Er schämte
sich beinahe für seine schmutzige Fantasie. Hatte er es etwa so bitter nötig?
"Morgen!", wiederholte Toshiya noch einmal, doch niemand antwortete.
Merkwürdig, war denn keiner wach? Er warf einen müden Blick auf die hässliche
Fischuhr, die er vor zwei Wochen aus purer Langeweile (und um seine Mutter zu
ärgern) aus dem Bad an die Wohnzimmerwand verfrachtet hatte.
Gott bin ich blöd, dachte er, als er nach langem Geblinzel endlich die richtige
Uhrzeit ausmachen konnte.
Es ist ja erst sechs Uhr morgens!
Aus irgendeinem wahnwitzigen Grund fiel ihm in genau diesem Augenblick die
Wimperntusche ein, die er am vorigen Abend auf der Kommode neben dem schnurlosen
Telefon deponiert hatte. Er hatte natürlich vergessen sie zuzuschrauben. Na
prima. Die war mit Sicherheit eingetrocknet.
Eigentlich war ,eingetrocknet' nicht direkt das richtige Wort für den Zustand
von Toshiyas nagelneuer (sündhaft teuerer) Maskara. ,Weg' traf es schon eher.
Der junge Japaner griff unbeholfen an die Stelle auf der Kommode neben der Tür,
an der sich aller Wahrscheinlichkeit nach seine Wimperntusche befinden sollte.
Er griff ins Leere. Das Problem war nicht das Fehlen der Maskara, sondern eher
das Fehlen der Kommode. Toshiya riss die Augen auf und versuchte das Bild, das
sich ihm darbot, zu begreifen, was nicht besonders schwer war. Vor ihm
erstreckte sich ein weites, perfektes Nichts. Keine Kommode, kein schnurloses
Telefon, kein Sofa, kein Fernseher, kein Sessel, kein Kissen, kein Klavier in
der Zimmerecke, kein einziges Bild mehr über dem nicht vorhandenen Schrank. Nur
diese abgrundtief hässliche Uhr hing noch an der Wand und tickte verbissen vor
sich hin, als wolle sie der ganzen Welt trotzen.
Zwei Möglichkeiten.
Entweder hatte seine Mutter über Nacht einen gewaltigen Anfall bekommen, und
das ganze Haus ausgeräumt, um es von oben bis unten neu einzurichten.
Oder aber sie waren von einer Bande Kleinkrimineller ausgeraubt worden.
Toshiya fegte aus dem Wohnzimmer in den Flur zurück. Weg. Alles. Der
Schirmständer, das Schuhregal - sogar die Kleiderhaken waren aus der Wand
gerissen worden. Mit klopfendem Herzen stürzte der Dunkelhaarige in sein Zimmer
zurück und hämmerte auf den Lichtschalter. Hier war noch alles beim alten. Er
atmete ein wenig auf und kramte in seiner Schultasche hektisch nach dem kleinen
Schminkspiegel, den seine Mutter ihm geschenkt hatte. Seine Finger ertasteten
den Plastikgegenstand, zogen ihn hervor und klappten ihn auf. Toshiya hielt den
Atem an. Tatsächlich. Wie er gefürchtet hatte. Dann war es also doch kein
Traum gewesen. An seinem weißen Halsansatz leuchteten drei gerötete
Knutschflecken. Die nächtlichen Eindringlinge (einschließlich dem Perversling,
der über ihn hergefallen war) hatte es also wirklich gegeben und nicht nur das,
sie hatten nebenbei auch die gesamte Einrichtung mitgehen lassen. Verwirrt ließ
er den Handspiegel wieder zuklappen und starrte in die Gegend. Was zum Teufel
hatte das zu bedeuten?
"Totchiiiihihi? Was ist denn hier loooos?"
Takumi.
Er kam direkt auf ihn zugerannt. Im Schlepptau hatte er Toshiyas großen Bruder
Uruha.
"Das ist alles was ich weiß", endete Toshiya und nickte einige Male in
Zustimmung.
"In Ordnung Herr Hara. Wenn Ihnen weiteres auffallen sollte, wenden Sie sich
bitte direkt an uns", gab der Polizist zur Antwort und tippte zum Gruß an seine
Kappe.
"Was war hier los?", wiederholte Takumi, der vor Toshiya zum stehen gekommen
war, und beobachtete mit erschrockenem Blick, wie die Polizistenkohorte in ihre
Streifenwägen stieg.
"Naja, wir sind äh sagen wir mal bestohlen worden", begann Toshiya vorsichtig.
"Bestohlen", fragte Takumi mit tellergroßen Augen. "Was wurde denn gestohlen?"
"Naja", begann Toshiya zögernd, "frag lieber was nicht gestohlen wurde."
"Was wurde nicht gestohlen?", fragte Takumi gehorsam.
"Äh. Das wäre dann wohl die Außenmauern."
Der Jüngere keuchte, wodurch eine kurze Stille entstand. Toshiya begegnete
zufällig dem Blick seines Bruders, den er bisher erfolgreich gemieden hatte.
Die beiden sahen sich an, wobei keiner wusste, was er sagen sollte.
"Na dann... das ist schlecht... ähm, tut mir leid für dich", begann Uruha, der
Toshiyas Blick kaum fünf Sekunden standhalten konnte.
"Du wohnst auch bei uns, Uruha. Wieso sagst du es tut dir leid für mich?",
sagte Toshiya erstaunt, woraufhin sein großer Bruder verwirrt "Oh ja, stimmt
äh wo du es sagst, doch - ja" stammelte. Wieder macht sich eine
schmarotzerhafte Stille zwischen den beiden breit. Endlich unterbrochen durch
unterschwelliges Kichern.
"Was gibt's?" Toshiya sah Takumi fragend an.
"Schaut euch doch nur an!! Ihr steht euch gegenüber wie zwei Fremde und seht
dabei einfach nur idiotisch aus!"
"Und das findest du lustig?", keuchte Toshiya empört. Uruha, etwas aufgetauter,
winkte kopfschüttelnd ab.
"Nicht fragen Toshiya. Du willst gar nicht wissen, was er so von sich gibt, wenn
wir alleine sind..."
"Aber deswegen bist du doch gerne mit mir allein, ne?", schnurrte Takumi und
klammerte sich an den linken Arm seines Freundes.
"Du liebst mich, stimmt's? Sag's, sag's, sag's, sag's!!!!"
Toshiya musste grinsen. Uruha ebenfalls. Das Eis war gebrochen. Und er würde
dafür ewig in Takumis Schuld stehen.
"Sie haben alles mitgenommen?", fragte Uruha plötzlich. "Wer?"
Toshiya zuckte die Achseln.
"Die Polizisten haben gesagt diese Verbrecherbande, die auch schon das
Mülltütenfabrikmassaker angerichtet hat. Sie haben sieben Häuser in dieser
Straße bis auf den Rohbau ausgeräumt."
Dass sein Zimmer noch da war verschwieg Toshiya. Den Polizisten von der
Spurensicherung, denen das natürlich als erstes aufgefallen war, hatte er
nichts von dem rätselhaften Besucher an seinem Bett erzählt. Das würde er
nicht tun, solange er selbst noch nicht wusste, wie er es zu verstehen hatte.
Seltsamerweise erfüllte es ihn mit einem beglückenden Gefühl etwas zu wissen,
von dem die ganze Welt nicht den blassesten Schimmer hatte. Dieses Mal wägte
Toshiya sich nicht in Gefahr. Er spürte viel eher, dass das rätselhafte und
aufregende Ereignis etwas zu bedeuten hatte, und es von großer Wichtigkeit war,
dass er so schnell wie möglich begriff, was es war.
"Gehen wir rein?", schlug Uruha vorsichtig vor.
Dass seine gewohnte Überheblichkeit restlos verschwunden war, wurde Toshiya
erst in dem Augenblick bewusst, da er Uruha genauer ins Gesicht sah. Die
Abendsonne strich mit ihren glühend roten Strahlen über die Haut seines
großen Bruders. Er sah fürchterlich mitgenommen aus, und war fahl wie eine
Leiche, doch das weiche Licht nahm seinem Auftreten den Schrecken. Er wirkte
nicht mehr ganz so ausgemergelt, seine Augen blickten nicht mehr leer in die
Gegend, und seine vollen Lippen waren zum ersten Mal seit langem zu einem matten
Lächeln gezogen.
"Was?", fragte er unsicher, als er Toshiyas Blick bemerkte.
"Nichts. Ich dachte nur - eventuell habe ich dir jetzt verziehen", sagte Toshiya
und grinste versuchshalber. So leicht dieser Satz klang - es war ein langer
harter Kampf gewesen die Worte endlich auszusprechen. "Aber nur, wenn du mir
verrätst, wie du deine Augen schminkst. Das solltest du mal wieder machen.
Steht dir."
Uruha beobachtete seine Schuhspitzen auf dem Asphalt. Er nickte, lächelte kurz
und trottete wortlos hinter seinem Bruder drein. Nur Takumi verstand, dass
Tränen der Grund dafür waren, dass die Sonne auf einmal in Uruhas Augen
funkelte. Er nahm die kalte, reglose Hand seines Liebsten in die eigene und
drückte sie fest. Gemeinsam betraten sie das Haus.
Andernorts wanderte Geld über einen langen Holztisch. Viel Geld. So viel Geld,
dass es in Kombination mit dem kümmerlichen, schlecht gearbeiteten Holztisch
ein wirklich ulkiges Bild abgab. Ein junger Japaner, blond gefärbt bis an die
Spitzen seiner schulterlangen Haarmähne, striff großzügige Portion von den
gräulich-grünen Scheinen in eine H&M Plastiktüte, und ging damit weg. Die
anderen Personen am Tisch nahmen kaum Notiz davon. Ein sehr großer Junge, der
dabei war einen Stapel Fünfer zu bündeln blickte kurz auf, und grinste so
breit, dass man das Gefühl hatte, sein Lippenpiercing würde sich in seinem
Ohrring verfangen.
"Hey, Ruki! Verwöhn ihn nicht zu sehr für den Anfang!"
Der Angesprochene drehte sich kurz um, und machte eine unschöne Geste in
Richtung des Sprechers.
"Fuck you, Miyavi! Er hat gute Arbeit geleistet, Mann!"
Miyavi feixte, und der junge aschblonde Asiate wandte sich ab und verschwand
durch die Doppeltüren. Vor ihm erstreckte sich ein weiterer Raum, der noch
verwinkelter und dämmriger war, als der, den er soeben verlassen hatte. Doch
statt Tonnen von Geld stapelten sich hier nur ein paar alte vermoderte
Matratzen. Auf einem fleckigen Sitzkissen in der Ecke kauerte ein felliges Tier,
aller Wahrscheinlichkeit nach ein Hund. Es hätte sich aber ebenso gut auch um
eine Bisamratte handeln können. In regelmäßigen Abständen leckte eine kleine
fleischige Zunge aus einem Ende hervor und tauchte in einen schmutzigen
Wassernapf, der vor dem Sitzkissen deponiert war.
Ruki sah sich kurz ihm Raum um. Dazu blieb er, wie es seine Art war in
unheimlich lässiger Haltung stehen und schließlich - als er das, was er
suchte, gefunden hatte - wanderte sein rechter Mundwinkel in einem dreckigen und
mörderisch coolem Grinsen nach oben und legte eine Reihe spitzer weißer Zähne
frei.
"Hier. Das ist deins", sagte er kurz und schleuderte die Tüte ins Dunkel des
Zimmers.
"Verdammt, pass doch auf, du Axxx", kam prompt die gereizte Antwort zurück.
Ruki haute auf den Lichtschalter neben der Tür. Jetzt lachte er richtig. Es war
sein lässiges Macholachen, das allerorts eine beeindruckende Wirkung erzielte.
Man konnte nicht umhin zu glauben, dass der kleine Asiate irgendetwas im Schilde
führte, was einem selbst sehr bald schaden würde. Außerdem hatte man das
unangenehme Gefühl, ihm hoffnungslos unterlegen zu sein.
Die Finsternis des Zimmers hatte einen weiteren Mann ausgespuckt, oder besser
gesagt einen Jungen.
Die beiden standen sich nun gegenüber, so dass die Verwandtschaft einem
Passanten, wäre denn einer anwesend gewesen (was nie der Fall sein würde, da
Passanten, die das Grundstück betraten, tot waren bevor sie irgendwelche
Verschwandschaften feststellen konnten), augenblicklich ins Gesicht geschlagen
hätte. Dieselbe zierliche Figur bei gleicher Größe, dasselbe überlegene
rätselhafte Grinsen, dieselben katzenhaften Augen, derselbe unergründliche
Blick.
"Das ist dein Lohn. Du hast dein Sache wirklich gut gemacht, Kyo-kun. Das war
also quasi deine Aufnahmeprüfung, ab jetzt bist du richtig dabei", grinste Ruki
und klopfte seinem Gegenüber ein paar Mal kräftig auf die Schulter.
"Lass das", fauchte Kyo mit blitzenden Augen und wich zurück.
"Hey, Cousin, was soll diese Laune! Du bist schon den ganzen Tag gereizt und
sitzt apathisch in irgendwelchen Ecken. Hat das mit der Kleinen zu tun?"
Kyo warf Ruki einen kurzen Blick zu, und machte sich dann daran die Geldscheine
aus der Plastiktüte zu zählen. Der andere Japaner beobachtete eine Weile
seinen verbissenen Blick.
"Du hast vorgeschlagen in dieses Haus einzubrechen, und da war echt was zu
holen, Alter, die ganzen Videogeräte und Computer in diesem Zimmer unter dem
Dach. Aber ich durchschaue dich, wie du weißt. Hey Mann, wir sind vom gleichen
Schlag. Du wolltest mit deiner Süßen alleine sein, gib's zu. Wieso sonst
hättest du uns darum bitten sollen ausgerechnet das eine Zimmer zu
verschonen?"
In Kyos Augen raste die Empörung, doch er fing sich.
"Und wenn schon. Es ist nicht meine Süße. Sagen wir - ich hatte noch eine
Rechnung mit demjenigen offen. Deshalb wollte ich, dass ihr das Zimmer nicht
leer räumt", zischte er, wobei er seinen Cousin mit seinen Blicken festzunageln
versuchte. Dieser blieb gelassen. Er grinste weiterhin sein schmutziges
Grinsen.
"Naja, was soll's. Die anderen Einbrüche haben sich ja auch mehr als gelohnt.
Da kommt es auf dieses Zimmer auch nicht an. Außerdem haben meine Männer
gesagt, dass da eh bloß Wassergläser zu holen waren. Der ganze Boden soll
voller Fischgläser gewesen sein. Tsss, gibt schon komische Käuze..."
"Pass auf was du sagst", fauchte Kyo und umkrallte sein Bündel Geldscheine.
Abweisend wie eh und je ließ er sich wieder in den Holzstuhl fallen, in dem er
zuvor gesessen hatte, und gab durch seinen mörderischen Gesichtsausdruck
eindeutig zu verstehen, dass er nicht wünschte nochmals angesprochen zu werden.
"Und die Töle ist ja auch da", sagte Ruki mit knirschenden Zähnen und
angewidertem Blick auf den Hund, der am Boden hechelte.
"Kleines Mistvieh, eines Tages werde ich dich §%*. Ich hasse Hunde
verdammt."
"Wie meinen?!", rief eine junge Frau voller Empörung. Sie trat in das
schummrige Licht des Raumes, schmetterte die Eisentür hinter sich zu und
musterte Ruki mit majestätischer Miene, die ihren anmutigen Zügen
zugegebenermaßen fabelhaft stand.
"Hast du was gegen meinen kleinen Hund gesagt? Meine süße Mimi?"
Auf einmal veränderte sich Rukis Gesichtsausdruck. Er lächelte reuevoll, wobei
er blöderweise einen großen Teil seiner Coolness einbüßte. Würde ein Mann
es fertig bringen eine coole verführerische und zugleich reuevolle Miene
aufzusetzen gäbe es eine gewaltige Menge weniger Beziehungsprobleme auf diesem
Planeten.
"Ich doch nicht, Liebling! Niemals, äh... Lu, du weißt doch ich liebe das
Hündchen..."
Wie um dies zu beweisen griff er dem Tier ins Fell und kraulte es, vielleicht
ein wenig härter als nötig.
Drei Tage später waren dieselben Personen dabei zu beobachten wie sie mehrer
Lieferwägen beluden, die im Hof einer alten stillgelegten Matratzenfabrik
parkten. Völlig schwarz gekleidet, mit Masken, die das Gesicht bedeckten und
nur die asiatischen Augen zu erkennen gaben war die Gruppe kaum von ihrer
nachtschwarzen Umgebung zu unterscheiden.
Ruki zog sich die Maske ab und warf den Kopf in einer unheimlich gut
aussehenden, lässigen Bewegung zurück.
"Ok Leute, heute sind noch einmal fünf Häuser dran. Dann hätten wir für
dieses Halbjahr vorgesorgt." Wieder stahl sich das dreckige Grinsen auf sein
Gesicht.
"Kyo", redete er den Mann neben sich an, "du hilfst erst mal. Du weißt ja, was
du zu tun hast. Wenn deine Arbeit erledigt ist, kannst du von mir aus Leine
ziehen."
Der Japaner sah ihn an. Seine Katzenaugen blitzten argwöhnisch.
"Was meinst du, Ruki?"
"Hey, ich weiß doch, du willst deiner Süßen wieder einen nächtlichen Besuch
abstatten. Das ist kein Problem. Wir haben das Haus schon einmal überfallen,
die rechnen nicht mit einem weiteren Einbruch. Solange du nichts mitgehen lässt
wird auch niemand etwas merken. Aber wenn dein Schatz bei der Polizei singt,
werde ich sie höchstpersönlich erwürgen."
In seinen letzten Worten schwang ein grimmiger Unterton mit. Kyo nickte nur. Er
wusste, dass Ruki keine Scherze machte.
"Okay, Leute! In die Lieferwägen! Und denkt dran: Um spätestens vier Uhr ist
jeder Wagen wieder hier."
Kein Wort wurde gesprochen. Die schwarzen Männer nickten in Zustimmung und
bestiegen die Lieferwägen.
"Du kommst mit mir Lu", schnurrte Ruki und versetzte seiner Freundin einen Klaps
auf den Hintern.
Auf einmal tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Einer von Rukis
Männern stand vor ihm, unmaskiert, und hielt ein Packet in den Händen.
"Was", sagte Ruki gereizt und beäugte das braune Packpapier. Dabei bemühte er
sich so zu wirken, als habe er das Objekt noch nie zuvor gesehen.
"Das hier hat der Postbote nicht genommen, äh, er sagt es ist nicht ausreichend
frankiert."
"Was ist das?", meldete sich plötzlich Rukis gaunerische Freundin Lu zu Wort.
"Das ist das Hündchen, das morgen per Eilpost nach Abu Dabhi gehen soll. Der
Boss hat nicht genug Briefmarken draufgeklebt."
Ruki schlug sich die Hand auf die Stirn, obwohl er sie viel lieber ins Gesicht
seines Untergebenen geschlagen hätte.
"Mist. Du Trottel!!!", zischte er, und dann, im gleichen Atemzug, "aber
Liebling, ich-"
Lu hatte das Paket bereits an sich gerissen und befreite ihr hechelndes
Schoßhündchen aus seinem Gefängnis.
"Du Bestie!!! Wie kannst du nur??!! Ein armes Hündchen!!! Und du hast noch
nicht einmal Luftlöcher hinein geschnitten!!!!"
"Ich hatte gehofft, er erstickt auf der Reise."
"Bitte??"
"Ich sagte: Ich hab schon oft von äh gemeinen Kreisen gehört, fiese
Organisationen, die Hündchen fangen, verpacken und nach Abu Dabhi schicken."
"Ich glaube dir kein Wort. Das hast du gemacht, ganz allein du. Aber für diese
Schandtat bezahlst du, du herzloses Ungeheuer. Ich kann nicht glauben, dass ich
noch immer bei dir bin...", knurrte Lu und stieg (mit Hund) in den Lieferwagen.
"Ja Schatz", seufzte Ruki und tat es ihr gleich.
Glücklicherweise wurde das breite Grinsen der anderen Männer, natürlich jedes
Wort gehört mitbekommen hatten, unter ihren schwarzen Masken versteckt. Das war
auch besser so, denn Ruki hasste es, wenn man über ihn lachte. Lu war die
einzige, die immer ihren Kopf durchsetzten konnte. Jeder andere hätte nach
einer einzigen blöden Bemerkung in einer solchen Situation bald mehr Blei als
Gehirn in seinem Kopf gehabt.
Toshiya knipste das Licht aus. Gar kein schlechter Tag auf den er da
zurückblicken konnte. Sein erstes normales Gespräch mit Uruha. Außerdem hatte
er seinem Bruder endlich sagen können, dass er ihm von ganzen Herzen verzieh.
Okay, er hatte es nicht ganz so ausgedrückt, aber Toshiya wusste, dass Uruha
verstanden hatte. Seitdem fühlte er sich besser. Viel besser. Es war, als
hätte ihn eine helfende warme Hand ein Stück aus seiner Schlucht
herausgezogen. Sakito hatte überglücklich ein Mittagessen für fünfzig
Personen gekocht und dabei das halbe Polizeipräsidium der Stadt vergiftet. Und
seine Mutter brütete bereits über Möbelkatalogen um das Haus komplett neu
einzurichten. Wie gut, dass Sayumi Hara jede Untertasse einzeln gegen Einbruch
versichert hatte.
Fast augenblicklich wurde Toshiya von einem tiefen Schlaf gefangen. Der dauerte
auch ganze vier Stunden, zwölf Minuten, dreizehn Sekunden und zwei zehntel
Sekunden, dann riss der junge Japaner urplötzlich die Augen wieder auf.
Ein Zittern durchlief seinen ganzen Körper.
Was war das?
Was zum Teufel-
Da, schon wieder.
Atem.
Er starrte geradeaus nach oben. Sobald sich seine Augen an die Dunkelheit
gewöhnt hatten, musste Toshiya mit gewaltigem Schrecken feststellen, dass das,
was er für die Decke gehalten hatte, ein schwarzes Gesicht war, das auf ihn
nieder blickte.
Sekundenlang regte sich nichts. Dann lupfte sich der schwarze Vorhang und
Toshiya sah in ein ausdrucksloses Gesicht. Der Fremde hatte seine Maske
abgenommen.
Wie es der Zufall wollte fuhr in genau diesem Augenblick ein großes Auto
vorbei, dessen Fahrer es offenbar nicht für nötig hielt innerorts sein
Fernlicht abzublenden. Helles, gleißendes Licht schoss einen Herzschlag lang
durch die Ritzen des Rollos und erfüllte den ganzen Raum.
Toshiya stieß einen unterdrückten Schrei aus.
Der Fremde beugte sich hinab. In seiner Hand war die glatte scharfe Klinge eines
Springmessers aufgeblitzt.
Kapitel 14: 14
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Er schloss die Augen.
Er öffnete sie wieder.
Er blinzelte bis ihm die Tränen kamen.
Nichts zu machen.
Feste Tatsachen ließen sich nicht einfach mit einem Augenzwinkern beseitigen.
Und diese Tatsache war blöderweise ein durchgeknallter Irrer mit einem
blinkenden Klappmesser, der sich um zwei Uhr nachts über Toshiyas Bett beugte,
als wolle er ihm ein Schlaflied singen oder einen Gutenachtkuss auf die Wange
hauchen. Oder ihn massakrieren und sich anschließend in seinem Blut baden. Dass
der Fremde zumindest keine Zärtlichkeiten im Sinn hatte verriet die Klinge,
deren Spitze an Toshiyas Hals drückte.
Er zitterte. Sein ganzer Körper zitterte. Zu allem Überfluss musste er auch
noch wie gebannt auf den menschlichen Schatten starren, der über ihm schwebte,
was seine Angst verständlicherweise kaum linderte.
„Ein Laut und du stirbst“, zischte der nächtliche Eindringling. Toshiya
brachte nicht einmal ein Nicken zustande, doch der Fremde schien verstanden zu
haben.
In Toshiyas Kopf überschlugen sich die Bilder: Vor seinem geistigen Augen sah
er Szenen, die in der nächsten Sekunde passieren könnten. Der Mann könnte ihn
beispielsweise erpressen. Er könnte sein Zimmer leer räumen und verschwinden.
Er könnte ihn aber auch misshandeln, oder ihm einfach gleich die Kehle
durchschneiden und dann seine Familie meucheln.
Doch etwas viel langweiligeres geschah. Der Fremde knipste lediglich die
Nachttischlampe an. Toshiya unterdrückte einen Aufschrei.
„Du?!“
„Ich hab gesagt kein Ton“, fauchte Kyo und drückte sein Messer ein wenig
fester in Toshiyas Haut, um ihn daran zu erinnern in welcher Lage er sich
befand.
„Woher kommst du plötzlich? Wieso bist du verschwunden? Ich hab mir Sorgen
gemacht! Warst du schon mal hier?“, sprudelte es aus Toshiya hervor. Das
Messer war ihm völlig egal. Sein Herz raste.
Kyo war zurückgekehrt. Zu ihm.
Der kleine Japaner klappte mürrisch sein Messer zu. Er würde Toshiya ja
sowieso nicht verletzen können, auch wenn er manchmal gute Lust dazu gehabt
hätte.
„Aber wenn du schreist hol ich das Ding schneller hervor als du ‚Hilfe’
sagen kannst.“
Toshiya hatte sich aufgesetzt. Jetzt sah er Kyo erwartungsvoll an. Sein Herz
schlug noch immer wie wild, so dass ihm gleichzeitig heiß und kalt wurde.
„Eigentlich bin ich dir keine Erklärung schuldig...“, brummte Kyo, doch
Toshiya unterbrach ihn.
„Warum bist du dann hier? Willst du etwa sagen, du hast keine Lust mit mir zu
reden? Warum schleichst du dann mitten in der Nacht an mein Bett und erschreckst
mich fast zu Tode?“
Kyo blickte den anderen verärgert an, sagte dann aber: „Hör auf mir auf die
Nerven zu gehen. Ich bin fort gegangen, das hast du ja mitbekommen. Zu einigen
Freunden. Ich arbeite mit ihnen zusammen.“
„Und wie sieht deine Arbeit aus? Du bist durch und durch kriminell,
stimmt’s?“
Aus irgendeinem Grund lockte diese Bemerkung ein Grinsen auf Kyos Gesicht, das
Toshiya noch nie an ihm gesehen hatte, und das ihm einen eisigen Schauer über
den Rücken jagte.
Ein plötzliches Knarren störte die traute Zweisamkeit.
Die beiden Jungen starrten ins Dunkel des Zimmers. Das Geräusch wiederholte
sich, eine Art Scharren, das von der Tür her kam und die Stille zerriss wie
einen zu engen BH.
„Scheiße, Cousin, du bist ja schwul“, fluchte eine Männerstimme kaum
hörbar. Kyo sprang auf. Er hatte sein Messer gezogen und schlich mit drohenden
katzengleichen Schritten auf den zweiten Eindringling zu.
„Ruki! Was treibst du hier, verdammt?!“
„Sehen was du hier treibst. Und nebenbei wäre es ganz praktisch wenn du mich
nicht beim Namen nennen könntest. Aber jetzt ist es auch egal.“
Der Neuankömmling schlug mit einer schnellen Bewegung an die Wand direkt neben
der Türklinke und das Licht ging an. Toshiya kniff die Augen zusammen. Als er
die Lider langsam wieder hob konnte er zwei gleich große Gestalten in
nachtschwarzen Kleidern ausmachen, die sich mitten in seinem Zimmer gegenüber
standen und den Eindruck machten sich duellieren zu wollen. Der eine war Kyo.
Der andere sah ihm sehr ähnlich, auch wenn er ein gewaltiges Stück lockerer
wirkte.
Ruki musterte Kyo mit einem Kopfschütteln. Dieser starrte seinen Cousin
erzürnt an.
„Verpiss dich“, fauchte er. Ruki seufzte.
„Hey, ich schnapp ihn dir nicht weg, ja? Und ich erzähls auch niemandem. Aber
Junge – du hast mich unterschätzt. Glaubste echt ich lass dich irgendwo
unbeaufsichtigt herumstreunen, solange ich der Kopf dieser Gang bin? Und wenn du
noch so gut bist, ich traue dir nicht. Ich traue niemandem. Auch nicht dem
da.“ Mit einem Kopfnicken deutete er auf Toshiya, der regungslos in seinem
Bett saß und die Szene mit angehaltenem Atem verfolgte. Wer war dieser andere
Mann, dieser Ruki? Sicher ein Verwandter von Kyo. Hatte er ihn nicht
‚Cousin’ genannt? Und worüber zum Teufel redeten sie? Erst jetzt fiel ihm
auf, dass Ruki ihn anstarrte. Das Blut gefror ihm in den Adern, als der Fremde
ihn ins Auge fasste, wie ein Raubtier seine Beute. Langsam kam er an sein Bett.
„Und du? Was für eine Rolle spielst du? Warum will Kyo dich unbedingt
sehen?“ Er leckte sich verführerisch über die Oberlippe.
„Klappe Ruki!“, fauchte Kyo. „Der Typ ist mir egal, ich sagte doch, ich
hatte noch eine Rechnung mit ihm offen.“ Er sah Toshiya nicht an.
„So?“ Ruki hob die linke Augenbraue.
„Willst du mich für dumm verkaufen? Naja, wenn er dir egal ist, dann kann ich
ja...“
Blitzschnell beugte er sich zu Toshiya hinunter und küsste ihn. Kyo wäre
beinahe das Messer aus der Hand gerutscht. Mit aller Gewalt hielt er sich davon
ab es seinem Cousin einfach in den Rücken zu bohren.
„Sei nicht albern, Idiot. Ich bin kein Homo“, zischte er, die Augen mit
einem merkwürdigen Flackern auf das seltsame Paar gerichtet. Ruki antwortete
nicht, sondern legte beide Hände in Toshiyas Nacken. Dieser wachte allmählich
aus seiner Erstarrung auf. Sobald ihm bewusst wurde, dass er eine Zunge in
seinem Mund hatte, versuchte er gegen den Fremden anzukommen, doch der schloss
seine schmalen Hände mühelos um Toshiyas Handgelenke, so dass er sich nicht
mehr wehren konnte.
Es war, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt. Bilder flammten in Toshiyas
Kopf auf und erloschen wieder, Geräusche, Gerüche, Worte... Panisch kämpfte
er gegen den festen Griff an, doch Ruki hielt ihn umschlossen wie ein
Schraubstock. Plötzlich war er nicht mehr in seinem Zimmer, sondern in einem
dunklen Hof, um ihn herum Pfützen, Müll, Steine. Durch sein Gesichtsfeld zogen
sich Regenschlieren, dennoch konnte er den schwarzhaarigen Mann erkennen, der
sich über ihn beugte. Jetzt senkte er seinen Kopf um ihn zu küssen. Toshiyas
Haarsträhnen lagen im Matsch, Regentropfen prasselten auf seine taube Haut. Und
plötzlich war alles dunkel.
„Toshiya! Verdammt...“
Diese Stimme.
Toshiya schlug langsam die Augen auf. Über ihm verschwamm die Decke mit den
Schatten der Schränke und Bücherregale. Sein Zimmer in nächtlicher Dunkelheit
(anscheinend hatten die beiden das Licht ausgeschaltet). Er war in seinem
Zimmer. Der Regen, die Mülltonnen und Daishi waren verschwunden.
Toshiya presste die Augen noch einmal zusammen, aber das einzige, was er sehen
konnte war die Schwärze hinter seinen Augenlidern. Mit zitternden Fingern
betastete er sein Gesicht und musste feststellen, dass es weder glitschig vom
Regen, noch schlammverklebt war.
Was er gesehen hatte, war nichts weiter als eine Erinnerung gewesen, ein
Rückfall in die Vergangenheit. Dennoch fühlte er sich wieder genau wie damals.
Damals, in den Minuten und Stunden danach. Nachdem er sich mit letzter Kraft,
wie betäubt nach Hause geschleppt hatte, unfähig zu begreifen, was geschehen
war.
„Ey Mann, bist du empfindlich. War doch bloß ein Kuss. Deswegen muss man
nicht für zehn Minuten ins Koma fallen...“, seufzte eine Stimme. Toshiya
drehte den Kopf nach rechts. Den Umrissen nach zu schließen standen standen
zwei Männer an seinem Bett: Kyo und dieser Verwandte, der ihm eben zu Leibe
gerückt war, um seinen Cousin zu provozieren.
„Halt die Klappe, Ruki“, brummte Kyo. Erstaunt musterte Toshiya sein
angespanntes Gesicht. Warum war Kyos Blick auf sein Gesicht geheftet, und
weshalb sah er so aufgewühlt aus? Er gab sich doch sonst nicht die Blöße
einer Gefühlsregung. Hatte er sich etwa Sorgen gemacht? Sorgen um ihn? Oder war
es Mitgefühl? Erkannte er sich selbst wieder in Toshiyas leeren Augen?
Vielleicht war es aber auch die Abscheu über die jämmerliche Gestalt auf dem
Bett, die Kyos Gesicht zerfurchte.
„Stell dich nicht so an Kyo, dein Süßer hat da anscheinend ein Problem mit
Körperkontakt. Eine Beziehung ist sicher schwierig, wenn er bei jedem Kuss
umkippt. Wo liegt das Problem?“
Für einen Augenblick sah Kyo so aus, als wolle er seinen Cousin zu einem Packet
verschnürt an zwei Betonklötze fesseln, und ihn an der tiefsten Stelle des
Meeres versenken, doch dann riss er sich aus unerklärlichen Gründen zusammen
und antwortete nur: „Das Problem ist mein Bruder Daishi.“
Ruki runzelte die Stirn. Anscheinend versuchte er Kyos Worte so zu deuten, dass
es Sinn ergab.
„Was hat dieses Hohlbrot Daishi damit zu tun? Der kann doch nicht mal zwei
Bauklötze aufeinander stapeln ohne etwas falsch zu machen...“
Toshiya konnte sich nicht bewegen. Sein Körper wollte einfach nicht.
„Was ist hier los?!“
Die Tür war aufgegangen. In sekundenschnelle wurde der Raum von Licht geflutet.
Im Türrahmen, die rechte Hand auf dem Lichtschalter, stand Sakito im weiß-blau
karierten Nachthemd und mit alberner Zipfelmütze auf dem Kopf. An seine Seite
trat Ryutaro, der sich die Augen rieb und ins gleißend helle Licht blinzelte.
Als er die beiden Männer erblickte griff er erschrocken nach der Hand seines
Freundes.
Ruki und Kyo reagierten ohne zu zögern. In einer einzigen Bewegung stülpten
sie sich die Masken über den Kopf und stürmten auf die beiden Unschuldigen zu.
Ein Schlag jeweils reichte aus und sowohl Sakito als auch sein Liebster sanken
zu Boden.
Bevor sie spurlos verschwanden, drehte sich Kyo noch einmal zu dem Jungen im
Bett um, und warf ihm einen durchdringenden Blick zu. Toshiya sank das Herz in
die Hose.
Weg waren sie.
Und dabei hatte Kyo fast keine seiner Fragen beantwortet, sondern noch eine
weitere Portion davon aufgeworfen. Er war ihm also völlig gleichgültig, so
viel zumindest war bei Toshiya angekommen. War es doch nicht Kyo gewesen, der
ihn im Schlaf überrascht und geküsst hatte? Verachtete er ihn, weil er schwul
war? Warum tauchte er einfach so auf, brachte sein Leben durcheinander und
Schlug seinen Bruder nieder, nur um dann wieder sang- und klanglos zu
verschwinden? Was sollte diese Nacht und Nebel Aktion?
Das Stechen in Toshiyas Brust mischte sich mit der eisigen Beklemmung, die der
Traum in ihm ausgelöst hatte. Er zog die Beine an und begann zu weinen.
Das war einfach nicht fair.
„Dieser ruchlose Harlekin! Wie kann er es wagen mich – mich niederzuschlagen
und Ryu- Ryu zu verletzen?! Wenn ich dem je wieder begegne, dann #§$%6&! Das
darf doch nicht wahr sein! Wäre ich nicht so verschlafen gewesen (aber wer
rechnet auch mit so was?), dann – oh, dann hätte er schon – ich hätte ihn
4§/##*+{%&-“
Sakito schimpfte wie ein Rohrspatz seit er wieder zu Besinnung gekommen war. Er
war so wütend, dass Uruha vorsichtshalber die Küchentür verriegelt hatte (da
bekommt der Ausdruck ‚kochen vor Wut’ eine komplett neue Bedeutung O.x). Er,
Toshiya, Sakito und ein noch sehr benommener Ryutaro saßen auf (von den
Nachbarn geborgten) Sitzkissen im Wohnzimmer und tranken Tee. Sakitos Flüche
hallten von den kahlen Wänden wieder.
Glücklicherweise klingelte es in diesem Augenblick an der Tür. Uruha und
Toshiya sprangen gleichzeitig auf um zu öffnen.
„Taku!“
Toshiya freute sich jedes Mal mehr den Freund seines älteren Bruders zu sehen.
Der kleinere Junge fiel ihm um den Hals und drückte ihn kurz. Zugegebenermaßen
wurde Takumi auch von Mal zu Mal normaler. Oder bildete er sich das nur ein?
„Störe ich? Ich hoffe nicht, weil wenn ja, dann kann ich auch wieder gehen,
aber wenn nein, dann bleibe ich gerne, solange es nicht zum Mittagessen ist,
aber ich rede schon wieder zu viel.“
Vielleicht war es wirklich nur Einbildung gewesen. Immerhin hatte Toshiya den
Eindruck, dass Takumi häufiger Luft holte als früher.
„Sag, Toto... du siehst wirklich grausig aus.“
Toshiyas Mine verfinsterte sich. Zumindest hielt das Gör es noch immer nicht
für nötig ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
„Danke.“
„Was ist passiert? Also ich will dir nicht unterstellen, dass etwas passiert
ist, aber du siehst so aus, ich meine, warum sonst sollte jemand so fertig
aussehen, der gerade aufgestanden ist, natürlich nehme ich nur an, dass du
gerade aufgestanden bist, ich weiß es ja nicht, allerdings-“
Uruha unterbrach ihn.
„Wir hatten heute Nacht schon wieder Einbrecher. Zwei Männer waren in
Toshiyas Zimmer. Was sie wollten ist unklar, sie haben ihm nichts getan-“
‚Fast nichts’, dachte Toshiya.
„-dafür wurden Sakito und Ryutaro außer Gefecht gesetzt.“
„Niedergeschlagen!!! Brutal niedergeschlagen!“, brüllte Sakito aus dem
Wohnzimmer. Er besaß nicht nur einen ausgeprägten Geschmackssinn, sondern
offenbar auch ein ausgeprägtes Gehör.
„Oh“, kommentierte Takumi. „Das ist schlecht, denke ich.“
„Du sagst es. Deshalb werde ich auch die nächste Zeit in Toshiyas Zimmer
schlafen“, verkündete Uruha entschlossen.
„W-was?“, stotterte Toshiya. Das hörte er zum ersten Mal.
„Anscheinend wollten diese Verbrecher etwas Bestimmtes. Ich habe langsam das
Gefühl sie haben unsere Einrichtung das letzte Mal nur zum Spaß mitgehen
lassen. Sonst würden sie doch wohl kaum wieder kommen, oder? Und du bist dir
sicher, dass du sie nicht kennst?“
Toshiya nickte verlegen ohne seinem Bruder in die Augen zu sehen.
„Sie haben nicht mit dir gesprochen?“
Toshiya schüttelte den Kopf.
„Komisch. Sakito sagt, er habe Stimmen gehört.“ Uruha musterte seinen
Bruder, bohrte aber nicht weiter nach.
„Kommt jetzt, ich fürchte wir müssen Ma anrufen und ihr alles erzählen.“
Mit diesen Worten ging er ins Wohnzimmer und ließ Toshiya und Takumi allein auf
dem Flur zurück.
„Sie haben doch mit dir gesprochen, oder?“, murmelte Takumi plötzlich,
wobei er den anderen genau beobachtete.
Toshiya nickte nur langsam ohne den Blick von seinen Schuhen zu heben.
„Aha. Verstehe. Dann gehe ich davon aus, dass du die Jungs gekannt hast? Wie
auch immer, mit den nächtlichen Besuchen ist jetzt jedenfalls Schluss.“ Er
zwinkerte vergnügt.
„Takumi...“
„Mh?“
„Macht es dir nichts aus?“ In Toshiyas Stimme lag ein unsicheres Zittern.
Takumi starrte ihn erstaunt an.
„Was meinst du?“
„Dass Uruha bei mir schläft. Ich meine, dann kannst du ja nicht mehr...“ Er
errötete.
Takumi schüttelte nur den Kopf und tippte Toshiya mit einem dünnen Finger auf
die Nase.
„Tss, mach dir deswegen keine Gedanken. Uruha rührt mich nicht mehr an,
seit... seit die Sache mit seinem Selbstmordversuch war. Er ist weder grob noch
zärtlich zu mir. Jedenfalls hat er seine alte Persönlichkeit komplett über
Bord geworfen. Und er würde nie zulassen, dass dir noch mal etwas zustößt. Er
hat so gelitten die letzten Wochen über, Toshiya. Du machst dir keinen Begriff
davon. Ich weiß es, denn ich war ja die meiste Zeit bei ihm. Er hat kein Wort
gesagt, aber ich habe es ganz deutlich in seinen Augen gesehen, in jeder
Bewegung...“
Er grinste wieder, als hätte er Toshiya eben etwas unheimlich lustiges
mitgeteilt und packte seine Hand.
„Komm wir gehen zu den anderen. Saki muss mir unbedingt genau erzählen wie er
niedergeschlagen wurde! Oh, bestimmt ist er verletzt, ich bin mir sicher, wir
können an der Wunde auch die Größe des Täters feststellen, dann wissen wir
mehr, und-“
Toshiya ließ sich wider Willen mitschleifen. Es gab derart viele Dinge, über
die er nachdenken musste, dass er meinte, sein Kopf müsse jeden Moment platzen.
Das einzige wonach er sich im Augenblick sehnte waren die stummen vier Wände
seines Zimmers und eine Tür mit Schloss.
„Mann, siehst du unausgeschlafen aus.“
Hakuei ließ den Rucksack auf seinen Platz neben Toshiya fallen und häutete
sich (das heißt: er zog seine Jacke aus, aber Toshiya fand es hatte etwas von
häuten).
„Was hast du denn alles an?“, fragte Toshiya mit einem Seitenblick auf die
Jacken und Pullover, die Hakuei abgelegte.
„Jetzt nicht mehr viel. War saukalt draußen. Aber lenk nicht ab. Du hast doch
nicht etwa die Nacht durchgemacht?“
Mit einem Grinsen verstaute er alle Kleidungsstücke in seiner Tasche.
„Quatsch, ich konnte nur nicht schlafen“, erwiderte Toshiya mit einem
Stirnrunzeln.
„Was? So sehr hast du dich nach mir gesehnt?“
„Idiot. Wir sind nicht mehr... na du weißt schon“, murmelte Toshiya mit
einem paranoiden Blick auf seine Klassenkameraden.
„Nö, das nicht, aber darf man denn nicht mal einen Scherz machen? Tsss, du
bist echt unausgeschlafen. Aber ich kriege schon raus, weshalb du nicht schlafen
konntest.“
Toshiya seufzte und fuhr sich mit der linken Hand über den kurzen Haarschopf.
„Takumi war die halbe Nacht in meinem Zimmer. Es macht ihm anscheinend doch
was aus...“, brummte Toshiya, griff einen Stapel Hefte aus seiner Tasche und
knallte sie herzlos auf den Tisch. Das kleine Balg hatte ihnen bis halb zwei
Gesellschaft geleistet, erst dann war es Uruha gelungen den Kleinen mit sanfter
Gewalt aus Toshiyas Zimmer zu schaffen und ihn in sein eigenes Bett zu legen.
Nun war Toshiya so müde, dass er seine Bewegungen kaum koordinieren konnte und
schwarze Punkte vor seinen Augen auf und ab tanzten.
„Häh? Taku war bei dir? Wieso das denn? Und was um alles in der Welt ‚macht
ihm etwas aus’?“
Toshiya gähnte unterdrückt und ließ seinen Kopf auf die Tischplatte neben
seine Hefte knallen.
„Is ne lange Geschichte. Erzähl ich dir ein andermal.“
‚Oder besser nie’, fügte er in Gedanken hinzu. Hakuei war lange nicht so
diskret wie Uruha, er würde der Sache stur nachgehen und bald herausfinden,
dass Kyo ihm mitten in der Nacht einen Besuch abgestattet hatte. Mit flauem
Gefühl im Magen dachte er an Kyos Gesichtsausdruck – und an Rukis Drohung.
Dieser Mann meinte es todernst. Er würde Toshiya ohne Zögern kalt machen, wenn
er es wagen sollte ihn oder Kyo zu verraten. Toshiya würde sich hüten seine
nächtlichen Besucher auch nur mit einem Wort Hakuei gegenüber zu erwähnen.
Schlimm genug, dass seine Brüder etwas mitbekommen hatten.
„Ich gebe erst auf, wenn ich weiß, warum-“ Hakuei brach ab. Er sah aus, als
ob ihm etwas entscheidendes aufgefallen war.
Als dieser abrupte Abriss auch bei Toshiya angekommen war, hob er langsam den
Kopf und beobachtete mit wachsendem Erstaunen das Gesicht seines Freundes.
Dessen Blick war auf die Tür geheftet. Er wirkte leicht perplex und Toshiya
hatte sogar den Eindruck, dass Hakuei um die Wangen ein wenig röter wurde, aber
er fasste sich gleich wieder. Irritiert folgte Toshiya dem Blick seines Freundes
und landete bei Kaoru, der soeben mit mürrischem Gesichtsausdruck das
Klassenzimmer betreten hatte. In Toshiyas Kopf bimmelte ein Glöckchen. Hakuei
und Kaoru. Die beiden hatten sich in letzter Zeit merkwürdig benommen,
außerdem gingen sie seit neuestem außergewöhnlich freundlich miteinander um.
Und Hakueis Gesichtsausdruck in diesem Augenblick...
Die Erkenntnis erschlug Toshiya beinahe.
„WAAAS?! IHR BEIDEN?!“
Mit einem entsetzten Aufschrei sprang er auf die Füße. Keine gute Idee, in
seinem Kopf drehte sich alles.
„Bitte?“ Hakuei blinzelte. „Was meinst du? Entschuldige, ich hatte gerade
eine Idee. Oh, hi Kaoru.“
„Morgen Totchi und - - - - - - - - - -Haku“, sagte Kaoru ohne mit der Wimper
zu zucken und ließ die Tasche von seiner rechten Schulter gleiten.
‚Ich fass es nicht’, dachte Toshiya, ‚er hat ihn Haku genannt! Er hat ihn
mit einem Spitznamen angeredet!!’
Toshiya war die letzten Wochen über so sehr mit sich selbst beschäftigt
gewesen, dass er offensichtlich völlig übersehen hatte, dass seine beiden
besten Freunde Gefühle füreinander hegten.
‚Argh!’
„Willst du nicht in die Schule, Taku?“
Uruha stupste seinen Freund sanft mit dem Ellbogen in die Seite.
„Mmh? Nö. Will bei dir bleiben. Du hast doch heute keine Uni. Ich mach
blau.“
Uruha seufzte.
„Na schön.“
Er vertiefte sich wieder in seine Lektüre. Takumi lag neben ihm auf dem Bett,
wie ein Maulwurf eingegraben in Kissen und Decken.
„Du, Uru-chan?“, murmelte er nach einer Weile in die Laken.
„Mh?“, machte Uruha. Er mochte den Spitznamen nicht besonders.
„Warum bist du eigentlich noch mit mir zusammen? Du liebst doch Hakuei... ist
das, weil ich dich ablenke und du... dann nicht mehr an alles, was passiert ist,
denken musst?“
Uruha ließ erstaunt ‚Die Frisöse – Eine Begegnung der dritten Art’
sinken. Sein Freund, halb verschluckt von der großen Bettdecke, blinzelte ihn
mit einem Auge an. Seine Schultern zitterten.
„Weil, ich mag dich sehr Uru-chan, das weißt du...“, waberte Takumis dünne
Stimme durch das große Kopfkissen, dass er fest umklammert hielt. Der ältere
zögerte kurz, dann packte er seinen Freund fest an den Oberarmen, schälte ihn
aus seinem Nest aus Kissen und Decken und schloss ihn in die Arme. Takumi war so
entsetzt darüber, dass ihm erst nach einigen Augenblicken bewusst wurde, was
geschah, woraufhin er sofort in heiße Tränen ausbrach.
„Schsch... es tut mir leid, Taku... warte noch ein bisschen... dann fangen wir
noch mal ganz von vorne an...“
Solche zärtlichen Worte war Takumi absolut nicht gewohnt. Er schluckte und
nickte.
„... aber wehe du umarmst mich nicht regelmäßig... sonst laufe ich nämlich
weg...“
Uruha musste unwillkürlich grinsen.
„Okay, regelmäßige Streicheleinheiten für mein Hündchen, hab schon
verstanden.“
Takumi schob die Unterlippe vor.
„Fiesling. Warum muss ich mich ausgerechnet immer in die fiesen Typen
verlieben...“
Schmollend krallte er sich in den Pulloverstoff vor Uruhas Brust.
Dann hob er langsam den Kopf und starrte dem anderen in die Augen.
Wenn es eine Sache gab, die Takumi wirklich beherrschte, dann war es das lidlose
Starren eines Fisches. Wenn ihm im Unterricht langweilig war, machte er sich oft
einen Spaß daraus seine Klassenkameraden nervös zu machen, indem er sie
anstarrte. Vor einem halben Jahr hatte man seinen Banknachbar Fabian nach einer
besondern langweiligen Stunde Erdkunde in eine Nervenklinik einweisen müssen.
Nach zehn Minuten zeigten Uruha erste Anzeichen von Unruhe.
„Takumi, lass das. Du machst mir Angst.“
„Beachte mich“, sagte Takumi.
Dieser neue Uruha zog ihn magisch an. Er war seit der Sache mit Toshiya völlig
verwandelt, so menschlich, manchmal richtig tollpatschig, nicht selten fehlten
ihm die Worte, und seine Seele war tief verwundet. Aber dieses Lächeln, wenn es
auch ungefähr so häufig vorkam, wie eine Eiszeit, diese forschenden Augen,
sein ganzes würdevolles weichherziges Wesen... Für Takumi war er wie das
größte Abenteuer, das er je erlebt hatte, und er wollte ihn ganz für sich
alleine.
„Uru-chan?“
„Hä?“ Beunruhigt und mit Stirnrunzeln legte Uruha „Die Frisöse – Eine
Begegnung der dritten Art“ zur Seite (und zwar auf ein anderes Buch von der
gleichen Autorin: „Der Lockenwickler – Chronik eines unbestraften
Verbrechens “). Er hatte das wage Gefühl in der nächsten Zeit nicht mehr zum
Lesen zu kommen. Takumi grinste ein Grinsen, das seine spitzen Eckzähne
freilegte.
„...küss mich.“
Toshiya schlurfte zum Briefkasten. Ganz offensichtlich hatte die Welt
beschlossen ihn mit all ihrer vielfältigen Möglichkeiten in den Wahnsinn zu
treiben. Erst stellte sich heraus, dass er auf Männer stand, dann die
unerwiderte Liebe zu Kaoru und seine chaotische Beziehung mit Hakuei (der ihn
nebenbei bemerkt in der Krabbelstunde im zarten Alter von zwei Jahren mit
kantigen gelben Bauklötzen beworfen hatte und seither immer seit bitterster
Feind gewesen war). Schließlich wurde er von Daishi misshandelt und immer
wieder heimgesucht, und jetzt dieser nächtliche Besuch von Kyo und seinem
Verbrecherverwandten. Zu allem Überfluss war ihm aufgefallen wie schnell sein
Herz schlug, wenn er an Kyo dachte und wie nervös er in dessen Gegenwart
wurde.
‚Wenn ich mich auch noch in Kyo verliebt habe, dann erhäng ich mich...’,
dachte er grimmig und öffnete den Briefkasten mit derartiger Heftigkeit, dass
er um ein Haar das kleine Metalltürchen mit dem eingravierten Postsymbol
abgerissen hätte. Jetzt tauchte der Briefträger schon zu den abenteuerlichsten
Zeiten auf. Seit dieser komische Kauz mit den vielen Tätowierungen und dem
auffälligen Lippenpiercing bei der Post angestellt war, hatte Toshiya schon zu
den merkwürdigsten Tages- und Nachtzeiten die merkwürdigsten Prospekte aus dem
Briefkasten zu Tage gefördert. Heute handelte es sich lediglich um die
Broschüren für einen Friseursalon und einen Kostümverleih.
Toshiya wurde den Gedanken nicht los, dass der neue Postbote ihm irgendwie
bekannt vorkam. Mit einem Achselzucken schüttelte er den Gedanken ab. Das
letzte was er brauchen konnte, waren Grübeleien über irgendwelche
größenwahnsinnigen Briefträger mit Ganzkörpertatoos und diversen
durchstochenen Gesichtspartien.
„Oh! Wo kommst du denn her?“
Erstaunt ließ Toshiya die Flyer sinken. Zu seinen Füßen stand ein Hündchen,
dass gerade groß genug war, um nicht durch die Löcher im Gulli zu flutschen.
Es schien lediglich aus Glubschaugen, wollartigem Fell und einer abartigen rosa
Schleife zu bestehen und das permanente Hecheln ließ es aussehen wie ein
Blasebalg.
„Süüüß“, quietschte er und hob den Witz von einem Hund auf seine Arme.
„Du siehst ja ganz schön zerzaust und schmutzig aus. Bist du etwa
weggelaufen?“
Er bedachte kurz die zur Auswahl stehenden Aktivitäten für den Nachmittag,
stellte fest, dass er rein gar nichts zu tun hatte und sagte vergnügt: „Komm,
wir gehen dein Herrchen suchen...“
Wunderbar. Abwechslung (und ein Gesprächspartner, der ihm zur Antwort
höchstenfalls auf die Schuhe sabberte) war genau das, was er brauchte.
Diese Lippen. Diese Lippen trieben ihn in den Wahnsinn.
Uruha hatte ja keine Ahnung, wie heiß er war. Takumi saß auf dem Schoß seines
Liebsten und genoss den ersten Kuss seit langer Zeit.
‚Wie vorsichtig und sanft er ist und gleichzeitig so... so...’, dachte er
mit einem mentalen Seufzer.
‚Ich könnte ewig so bleiben. Ewig, ewig...’
„Uruha, hast du vielleicht die Zeitung von heute? Ich würde sie gerne lesen,
während ich e-“
Der Kuss brach ab. Takumi drehte sich um. Uruha starrte zur Tür. In seinem
Gesicht das blanke Entsetzen. Seine Mutter, die eben hereingekommen war, hatte
nicht den blassesten Schimmer von den homosexuellen Neigungen ihres Ältesten,
Uruha hatte ihr Takumi als Mädchen vorgestellt. Noch einen schwulen Sohn würde
sie wohl kaum verkraften. Und nun hatte sie ihn in flagranti ertappt. Was ja
auch nicht weiter schlimm wäre - immerhin konnte sie Uruha kaum einen Kuss mit
seiner Freundin verbieten - trüge Takumi nicht just in diesem Augenblick einen
zerschlissenen Pullover seines (fast ein Meter achtzig großen) Geliebten. Auch
das wäre nicht der Rede Wert gewesen. Blöderweise jedoch war der Kragen des
besagten Pullovers derart ausgeleiert, das er seinem zierlichen Träger nur noch
auf der rechten Schulter hing und somit den größten Teil seiner Brust frei
legte.
Und da war einfach nichts, wie Sayumi Hara nach einem genaueren Blick unschwer
erkennen konnte.
„Da ist ja nichts...“, murmelte sie mit starrem Blick, durchquerte den Raum
und fummelte Takumi wie besessen auf der bloßen Brust herum. Die weiblichen
Attribute fehlten eindeutig.
„Heeee, ich steh nicht auf ältere Frauen“, empörte sich Takumi und hielt
schützend ein Kissen vor seine nackte Haut, „ich steh überhaupt nicht auf
Frauen.“
„Das sehe ich“, murmelte Uruhas Mutter. In ihrer Stimme lag jedoch nicht die
geringste Spur von Zorn oder Enttäuschung.
Sie kniete sich vor das Bett ihres Sohnes und faltete die Hände in ihrem
Schoß. Ihr Gesicht wurde von einem sanften Lächeln erleuchtet. Ein Inbegriff
mütterlicher Wärme und Verständnis.
‚Uh-oh’, war alles, was Uruha in diesem Augenblick dachte. Dieser lammfromme
Gesichtsausdruck seiner Mutter war kein gutes Zeichen.
„Ich möchte nicht indiskret sein, aber bedeutet das, du hast ein wenig
geflunkert?“, fragte Sayumi.
Ihr glockenklares Lachen schallte durch den Raum, wie eine erfrischende Brise.
„Du bist vielleicht einer. Da stellst du mir diesen Jungen als deine Freundin
vor. Dabei ist das ein männlicher (und minderjähriger) Schüler. Oh, aber eine
hübsche Frisur hast du, mein Kleiner. Und was für einen strahlenden Teint.“
Strahlend war auch Sayumis Lächeln. Sie erhob sich anmutig und schritt zur
Tür.
„Aber es ist okay, dass du schwul bist, Uruha. Du bist und bleibst mein Sohn
und ich werde dich immer lieben. Genauso wie Sakito. Ich akzeptiere deine
Neigung zu Männern völlig.“
Sie lächelte wieder mit derartiger Vollkommenheit und Wärme, dass jeder guten
deutschen Großmutter die Tränen gekommen wären.
Dann drehte sie sich, einem holden Engel gleich, zur Tür und griff mit ihrer
weichen mütterlichen Hand nach der Klinke.
Dann fiel sie um.
„Äh...“
Uruha blinzelte.
„Äh... Mutter?“
Die Frau auf dem Boden rührte sich. Ihre Fingerspitzen krallten sich in den
Teppich. Uruha meinte so etwas wie eine bösartige Aura zu spüren, die
urplötzlich den Raum ausfüllte. Seine Mutter schleifte sich über den Boden
zur Tür hinaus, immer wieder geschüttelt von leisem hysterischem Lachen.
„Mutter?“, fragte er noch einmal behutsam.
Das war nicht gut. Das war absolut nicht gut.
„Soooo.... mein Sohn. Du glaubst also du kannst hier ungestört deine
schmutzigen kleinen Perversitäten treiben...“ Sayumi Hara warf einen
lodernden Blick über die Schulter.
„Aber du wirst noch sehen, du kleiner Homo, du Perversling, du #*§$&/#~“
Die Tür klappte hinter ihr zu.
„Ha-hat s-sie das öfters?!“, hauchte Takumi erschaudernd und presste sich
an die Brust seines Liebsten.
„Die macht mir Angst...“
„Ja, mir auch“, murmelte Uruha. „Meine Mutter war schon immer so. Sie hat
zwei völlig gegensätzliche Persönlichkeiten. Aber so wütend wie eben hab ich
sie schon sehr lange nicht mehr erlebt... in dieser Verfassung traue ich ihr
sogar zu, dass sie das Haus anzündet oder so, nur um mich zu bestrafen...“
Uruha biss sich auf die Lippe.
„Verdammt... dabei wollte ich es ihr schonend beibringen...“
Takumi zitterte am ganzen Leib. Diese Frau war schizophren. Langsam dämmerte
ihm von wem Sakito den mörderischen Hang zum Kochen geerbt hatte. Gruselig.
Auf einmal umfingen ihn zwei Arme von hinten. Uruha drückte ihn an sich.
„Aber keine Angst, Kleiner. Ich steh zu dir. Immerhin hab ich mich für dich
entschieden.“
„Hier.“ Hakuei warf eine Plastiktüte auf Kaorus Bett. Dieser musterte sie
kritisch und holte mit spitzen Fingern einen sonnengelben Rock und ein dazu
passendes Oberteil heraus.
„Und du meinst, das wird ihr gefallen?“, fragte er zweifelnd und inspizierte
den Rock.
„Ist der nicht viel zu kurz?“
Hakuei zuckte die Achseln.
„Das ist diesen Sommer hochmodern. Sieht angezogen auch wirklich schick aus.
Der wird deiner Freundin sicher gefallen. Wann hat sie noch mal Geburtstag?“
„Übermorgen“, murmelte Kaoru.
„Ist doch perfekt. Schenk ihr nen Blumenstrauß und die Kleider. Glaub mir,
das macht die Kleine glücklich. Ich bin berühmt für meine originellen Ideen.
Die Frauen liegen mir nicht ohne Grund zu Füßen.“ Grinsend ließ sich Hakuei
auf das Bett fallen.
„Du bist widerlich“, brummte Kaoru.
„Tja. Das kannst du nur sagen, weil ich dir noch nichts geschenkt habe.“
Kaoru beschloss diesen Kommentar zu überhören.
„Passen ihr die Sachen überhaupt?“
Hakuei zuckte die Achseln.
„Naja, eins steht fest, sie wird nur beeindruckt sein, wenn sie ihr
tatsächlich passen. Und da du nicht wusstest welche Größe sie hat, haben wir
nur eine Möglichkeit. Du musst alles anprobieren.“
Kaoru ließ den Rock fallen.
„ICH?!“
„Du hast doch gesagt, dass sie dünn ist und genauso groß wie du selbst. Wenn
dir Rock und Oberteil passen, dann ihr doch bestimmt auch.“
„Spinnst du? Ich zieh doch keine Frauenklamotten an“, rief Kaoru und starrte
den anderen empört an. Dieser zuckte nur die Achseln.
„Bitte. Musst du ja nicht. Dann schenk ihr eben die falsche Größe. Mir ist
das egal, ist ja nicht meine Freundin.“
„Warte, nicht so schnell!“, keuchte Toshiya, die linke Hand in die stechende
Seite gepresst. Kaum zu glauben welche Energie in dem winzigen Hund steckte. Das
Tier hatte vor ein paar Minuten ein Stück Wurst verschlungen, das größer war
als sein ganzer Kopf, und hüpfte nun freudig hechelnd vor Toshiya her. Diesem
wurde es schließlich zu bunt, so dass er das Hündchen an seiner Schleife
packte und auf den Arm hob. Es leckte Toshiya über das Armband, biss ihn kurz
in den Finger und sabberte ihm aufs Handgelenk.
„Was schlägst du vor? Ich bezweifle, dass wir dein Herrchen bald finden,
niemand von den Leuten hier konnte mir weiter helfen...“, murmelte Toshiya und
kraulte das Hündlein. Er hatte bei den Nachbarn geklingelt und jeden Mensch auf
der Straße angesprochen, der ihm begegnet war, doch keiner hatte auch nur den
blassesten Schimmer gehabt wohin das Fellknäul gehörte.
Während seiner erfolglosen Suche nach dem Herrchen, hatte Toshiya die ganze
Zeit darüber nachgegrübelt welcher Name zu dem Sträuner passen könnte. Der
Hund mit seinem flaumigen Fell und der bonbonrosa Zunge erinnerte ihn an
irgendwelche Süßigkeiten. ‚Praline’, ‚Zuckerwatte’ oder
‚Törtchen’ klang zu drollig, also war Toshiya schließlich zu dem
Entschluss gekommen der Name ‚Spekulatius’ sei ganz brauchbar (dazu muss
gesagt werden, dass Toshiya in dieser Hinsicht etwa so kreativ war wie ein
Stück Holz; die beiden Katzen, die die Haras einmal aus dem Tierheim geholt
hatten, hatte der zwölfjährige Toshiya ‚Mundstück’ und ‚Olli-Peter’
genannt, obwohl sie ursprünglich ‚Felix’ und ‚Leon’ geheißen hatten;
beide Tiere verschwanden eines schönen Tages spurlos, wobei Sakitos (9 Jahre)
erstem Kochbuch über chinesische Küche sicher eine entscheidende Rolle zufiel,
doch die näheren Umstände bleiben bis heute ungeklärt).
„Weißt du was? Wir besuchen Kaoru, wo wir schon mal in der Gegend sind. Du
wirst ihn mögen, Q-chan...“ (‚Q’ wie ‚Spe-ku-latius’)
Langsam stieg Toshiya die Haustreppe hoch, im Arm den hechelnden Hund, und
dachte darüber nach, wie glücklich er sich im Moment fühlte. Alles war so
unkompliziert. Die Sache mit dem heimatlosen Hündchen hatte ihn von all seinen
Sorgen abgelenkt. Vielleicht würde er das Tier ja behalten, wenn sein Herrchen
nicht mehr auftauchte.
Er klingelte.
Kaorus Mutter öffnete die Haustür und ließ Toshiya hinein. Da Spekulatius
wenig Ähnlichkeit mit einem richtigen Hund (oder überhaupt einem Tier)
aufwies, hielt sie ihn vermutlich für einen hässlichen Muff und beachtete ihn
nicht weiter.
Toshiya klopfte an Kaorus Zimmertür.
„Geh einfach rein, er macht mit einem Freund Hausaufgaben und hört dabei
diese trommelfellzerfetzende Musik. Er kriegt es es eh nicht mit, wenn du
anklopfst“, sagte Kaorus Mutter im Vorbeigehen.
Toshiya zuckte die Achseln und öffnete die Tür. Der Anblick, der sich ihm
daraufhin bot, entsetzte ihn so sehr, dass er Spekulatius fallen ließ. Dieser
überschlug sich beim Fallen einige Male und blieb reglos liegen.
Kaoru hörte tatsächlich sehr laut Musik, was Toshiya aber bereits bei
geschlossener Zimmertür hatte feststellen können. Hakuei war zu Besuch, aber
er war, wie man auf den ersten Blick sehen konnte, sicher nicht wegen der
Hausaufgaben vorbeigekommen.
Kaoru lief scharlachrot an.
„Toshiya?! Ich kann das erklären!!!!“, rief er hastig.
Toshiya nickte langsam und mit scheelem Blick.
„Jaaa“, murmelte er und wich zurück, „ja, ich bin mir sicher, dass du das
erklären kannst. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich es wissen will...“
„Ich, also ähm warum hast du eigentlich nicht angeklopft-“, stotterte Kaoru
und wurde nur immer röter. Hakuei sagte gar nichts. Seine Mundwinkel zuckten.
„Hab ich ja, aber weil deine Musik so laut war, hast du es nicht gehört. Aber
ich hätte ja nicht gedacht, dass du auf... auf so etwas stehst... aber ich will
nicht länger stören. Weiterhin viel Spaß ihr beiden... Komm, Q-chan, wir
gehen“, raunte Toshiya, sammelte sein Hündchen ein und verließ fluchtartig
den Raum. Hatte Kaoru eben wirklich einen sonnengelben Minirock und ein
bauchfreies Oberteil getragen?
‚Ja’, sagten Toshiyas Augen.
‚Neeein’, dachte Toshiya und schlug sich während er lief mehrmals mit dem
Hund gegen den Kopf.
‚Das bilde ich mir sicher nur ein...’
Im Zimmer rutschte Hakuei langsam vom Bett.
Kaoru war sprachlos und noch immer tiefrot angelaufen.
Hakueis Gesicht zeigte dieselbe Farbe, allerdings konnte man den Eindruck
gewinnen, dass es eher dem Lachkrampf zuzuschreiben war, den er im Augenblick
mit aller Gewalt zu unterdrücken versuchte.
„Ha ha“, sagte Kaoru wie vom Donner gerührt. „Sehr witzig Hakuei. Toshiya
denkt jetzt ich stehe auf Frauenkleider.“
„Und?“, antwortete Hakuei und kicherte mit nervösem Blick auf Kaours
Minirock, „das tust du doch auch, oder?“
„JA VERDAMMT!!! ABER NUR AN MEINER FREUNDIN!!!!“, schrie Kaoru und sackte
auf seinem Bett zusammen.
„Ich freue mich auf deinen Versuch die Sache wieder aufzuklären.“ Hakuei
grinste teuflisch. Er konnte Kaoru zwar inzwischen ziemlich gut ausstehen, das
änderte allerdings nichts daran, dass er ihn für sein Leben gern auf die
Schippe nahm. Dieser Idiot hatte die Kleider tatsächlich anprobiert. Er war so
ungeschickt in Sachen Liebe, dass er Hakueis dämlichen Rat blind befolgt
hatte.
„Ich bring dich um, du-“, knurrte Kaoru, stürzte sich auf den anderen und
begann ihn zu würgen. Just in diesem Augenblick flog die Tür auf und Kaoru
Mutter betrat mit einem Stapel frisch gewaschener Wäsche das Zimmer.
Das einzige, was sie auf den ersten Blick verstand war, dass ihr Sohn
Frauenkleider trug und auf seinem Klassenkameraden lag. Sie lächelte schwach,
legte den Stapel Hosen ins Aquarium neben die Tür und ging wieder hinaus ohne
ein Wort zu sagen.
„Hab ich gesagt ich will wissen, wie du es Toshiya erklärst? Vergiss das. Es
wird noch viel interessanter, wenn du versuchst deiner Mutter verständlich zu
machen, warum du aussiehst wie ein Perverser und mit mir im Bett liegst“,
sagte Hakuei und lachte ein Lachen, für das ihn verschiedene Leute im Laufe
seines Lebens immer wieder gern geohrfeigt hätten.
„Und an deiner Stelle würde ich jetzt aufstehen und mich schleunigst
umziehen. Am Ende kommt noch deine Freundin vorbei. Wobei, dann lohnt es sich
wenigstens wenn du umziehst und deinen Namen änderst...“
Kaoru antwortete nicht. Er kämpfte mit dem unwiderstehlichen Drang laut
aufzuschreien.
Der Tag war herrlich.
Überall Vögel, grüne Blätter und Frauen die mit Sonnenhüten Fahrrad
fuhren.
Der Tag war nicht nur herrlich, sondern auch wie geschaffen dafür sein Auto zu
putzen, den Gehsteig zu kehren oder den Zaun zu streichen. Dabei konnte man
entspannt ein paar freundliche Worte mit den Nachbarn wechseln, die ebenfalls
ihr Auto putzten, den Gehsteig kehrten und den Zaun strichen.
Das Sonnenlicht war weich und die Luft mild. Allerorts kehrten die Jugendlichen
ihre Winterdepressionen vor die Tür und verabredeten sich mit ihren Freunden.
Nur er nicht.
Er konnte nicht.
Warum war ihm schleierhaft. Alles, was er wusste, war, dass er unfähig war.
Unfähig, den Tag zu genießen, sich die Sonne auf die Haut schienen zu lassen,
angenehm mit den Nachbarn zu plaudern. Der herrliche Tag kam ihm unwirklich vor
und die Frauen mit ihren Sonnenhüten und Fahrrädern wie Lügner. Er hatte das
Gefühl jeder Mensch, der ihm begegnete machte sich über ihn lustig. Die
Schulkinder, die auf der Straße Fußball spielten lachten. Ihre Fratzen
verfolgten ihn bis in die abgedunkelten Zimmer des Hauses.
Gleichzeitig machte es ihn wahnsinnig. Er konnte nicht verstehen, warum ihm
alles Schöne an dieser Welt so widerwärtig und falsch vorkam. Dabei wünschte
er sich nichts sehnlicher, als sich ein einziges Mal gut zu fühlen.
Alles in ihm war verfault und verbrannt. Wenn er durchs Fenster schaute begann
er zu zittern. Die Gegend verschwamm vor seinen Augen, doch er fühlte nichts.
Sogar das Selbstmitleid in seinem Herzen war restlos verkohlt. Manchmal meinte
er, Schmerz und Abscheu würden ihn jeden Augenblick zerreißen und wie eine
zähe schwarze Masse aus seinem Körper laufen, die Haustreppe hinuntertropfen,
auf den Gehsteig kriechen und alles Leben draußen vernichten.
Doch heute war es so weit. Heute würde er handeln.
Jemand, der wusste welche rabenschwarzen Aasfresser in seiner Seele lauerten. So
jemanden brauchte er. Einen Menschen, der seine schwarze verkrüppelte Seele,
seinen Schmerz am eigenen Leib gespürt hatte. Er brauchte Toshiya.
Er würde ihn verstehen. Mit diesem Jungen hatte er seine eigene Hölle
geteilt.
Daishi spürte, dass sein Körper bald am Ende war. Er hatte seit vierzehn Tagen
nicht mehr geschlafen, seit vier Tagen nichts gegessen. Die Drogen fraßen
seinen Körper von innen auf und zerstörten alle natürlichen Bedürfnisse. In
lichten Augenblicken trieb ihn die grauenvolle Angst vor dem jämmerlichen Tod,
der ihn ohne Zweifel bald ereilen würde, beinahe in den Wahnsinn. Er wollte
nicht so enden, so sinnlos, vergessen und schmutzig.
Im Drogenrausch war Daishi wie ein Ertrinkender. Ab und zu gelang es ihm noch an
die Oberfläche zu kommen und Luft zu schnappen, bevor ihn Kraft und Verstand
restlos verließen und er hinab sank in diese Hölle aus Geilheit,
Halluzinationen, und schwarzem Feuer.
So auch im Augenblick.
Er ging aus dem Haus ohne die Türe zu schließen. Die erschrockenen Blicke der
Frauen, die auf ihren Fahrrädern vorbeikamen, der spielenden Kinder und der
Zaunstreichenden Nachbarn nicht wahrnehmend lief er zielstrebig die Straße
entlang. In seinem zerfressenen Gehirn legte sich Daishi einen Plan zurecht.
Einen Plan und ein Ziel.
Das Ziel hieß Toshiya.
Sorry, Leute, dass ich so lange gebraucht habe, und dass in dem Kapitel wieder
nicht viel drin war Y.Y
Eines Tages werde ich mich bessern, ich verspreche es.
Danke für euere vielen vielen Kommis, die treiben mich immer wieder zum
weiterschreiben. Würde mich freuen auch dieses Mal wieder zu hören, was ihr
davon haltet.
Kapitel 15: 15
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Hallo Leute^^ hier kommt Kapitel 15... ich habe mir inhaltlich wirklich große
Mühe damit gegeben, ist gar nicht einfach mit so vielen Personen... ich hoffe
es gefällt euch.
Ich freue mich natürlich wie immer über euere Kommentare und Kritik.
Übrigens: Ich weiß nicht warum, aber es ist echt schwer Kyo auftreten zu
lassen, er macht was er will. Alle Charaktere machen was sie wollen. Eigentlich
hatte ich vor die Geschichte auch mal irgendwann zu beenden, aber die Jungs
machen nicht mit =.= ...
Trotzdem viel Spaß beim Lesen, oder auch nicht ^.^
Uruha ließ die Kippe fallen und zertrat sie mit der Fußsohle. Sie drückte
sich in den feuchten schlammigen Untergrund und verschwand.
‚Wie ich’, dachte er und starrte auf den matschigen Boden, der seine
Zigarette verschluckt hatte.
‚Oder wie Daishi.’
Ein altbekanntes, beklemmendes Gefühl legte sich auf sein Herz, nahm es in den
Schwitzkasten, und er fuhr fort in die dunstige Gegend zu starren. Langsam wurde
er es leid wieder und wieder über alles nachzugrübeln. Verzweiflung, Trauer
und grenzenlose Wut auf sich selbst hatten die letzten Wochen über wie Bestien
Tag und Nacht in seinem Innersten gewütet und eine Art ausgebrannte Ruine
zurückgelassen. Sein Herz fühlte sich an wie ein Trümmergrundstück, wie eine
Einöde über die ab und zu ein Flämmchen tanzte, wie ein umgestürzter Hafen.
Uruha musste bei diesen Gedanken aus unerfindlichen Gründen grinsen. Vor nicht
allzu langer Zeit hatte er sich nur noch gewünscht mucksmäuschenstill unter
der Erde zu liegen, in seinem ewigen Schlaf höchstens behelligt von einzelnen
Würmern, die sich durch seine Eingeweide fraßen.
, hatte er dabei gedacht,
Trotz dieser düsteren Gedanken stand er jetzt hier und atmete die feuchte Luft
ein. Man musste nicht unbedingt ein Medizinstudium abgeschlossen haben, um
bestätigen zu können, dass Uruha ziemlich lebendig war und sich obendrein
blendender Gesundheit erfreute.
Die Wogen in seinem Innersten hatten sich allmählich geglättet.
Wie sich Daishi wohl fühlte? Er mochte grobschlächtig, vulgär,
triebgesteuert, drogenabhängig, egozentrisch, geldgeil und raffgierig sein und
etwa so romantisch wie Cäsar mit zwölf Messerstichen im Rücken – und hinzu
kamen natürlich auch einige schlechte Eigenschaften – aber sein ehemals
bester Freund war sicher kein kaltblütiger Verbrecher. Umso mehr hatte ihn
entsetzt, wie Daishi mit Toshiya umgesprungen war.
, dachte Uruha, schnippte das
Überbleibsel seiner vierten Kippe in eine Pfütze und hielt sich davon ab eine
fünfte zu rauchen.
Er dachte kurz darüber nach, beschloss, dass seine Lunge sowieso schon eine
teerverklebte schwarze Masse war, setzte eine neue Zigarette an die Lippen und
zündete sie an.
Und was war mit Takumi?
Gedankenversunken drehte Uruha den Glimmstängel im Mund hin und her. Die Hände
hatte er in den Taschen seiner Jeans vergraben. Langsam wurde es wirklich kalt
draußen.
Takumi, dieses lipglossabhängige Kind, das keine Minute still sitzen konnte und
dessen penetrante lärmende Art mehr als einen rechtschaffenen Menschen in den
Tod getrieben hatte.
Trotz allem was geschehen war betete der Junge ihn an, hing an seinen Lippen und
wich keine Sekunde von seiner Seite. Uruha hatte sich schließlich an seine
Gegenwart gewöhnt (und Takumi war wirklich omnipresent; er tauchte immer und
überall auf). Für den Kleinen war er ein Held. Er himmelte ihn an. Selbst
jetzt noch. Diese Leidenschaft seitens Takumi trieb Uruha im Augenblick in eine
weitere Sinnkrise: Auf der einen Seite fühlte er ganz deutlich, dass es nicht
richtig war die Zuneigung dieses Jungen so für sich auszunutzen. Andererseits
wollte er nicht noch jemanden verletzen und das rothaarige Gör wäre nach einer
Trennung am Boden zerstört.
Für Takumi gab es nur Uruha.
Und alles war besser, als alleine sein.
Vielleicht würde er dem Kleinen sogar irgendwann echte Zärtlichkeit oder Liebe
entgegenbringen.
Uruha zuckte die Achseln.
Und selbst wenn nicht. Eigentlich hatte er sowieso beschlossen nicht mehr zu
lieben, so fuhr er auf jeden Fall am sichersten. Verliebt sein trübt den Blick.
Wenn man nichts hat, kann man auch nichts verlieren.
So einfach ist das.
„Was jetzt?“
Shinya blickte sich ratlos um. Die klappte sein Handy zu.
„Tja. Keine Ahnung. Wir kaufen ein Geschenk für Kaorus Freundin nehme ich
an.“
Er ließ das Telefon zurück in seine Manteltasche gleiten.
„Warum macht er das nicht selbst? Immerhin ist es seine Freundin“, murmelte
Shinya und hakte sich bei Die unter. Dieser grinste.
„Aber es ist Kaoru. Kaoru, Shinya. Dieser Kerl ist in Sachen Liebe wie ein
Meerschweinchen, das man auf einer achtspurigen Autobahn ausgesetzt hat. Wenn
wir ihm nicht helfen schenkt er der Kleinen noch einen verwesten Aal in einer
Blechtrommel oder so was...“
„Und was schlägst du vor?“
Shinya musterte zweifelnd seine Armbanduhr. Eigentlich wollte er sich mit seinem
Freund einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher machen. Andererseits musste
man Kaoru wirklich helfen. Und er würde so oder so Zeit mit seinem Liebsten
verbringen, sei es nun Zuhause oder in der Stadt.
„Da vorne zum Beispiel ist ein Geschenkeladen. Der sieht doch ganz ansprechend
aus“, schlug Die vor und zog seinen Freund in besagte Richtung. Dieser starrte
auf das Schild im hell erleuchteten Schaufenster des ganz ansprechenden Ladens:
Zwei Spanferkel würgten etwas, das aussah wie ein Rettich im Smoking. Daneben
verkündete ein verschnörkelter Schriftzug: Wenn Sie Geschenke der etwas
anderen Art suchen, sind Sie genau richtig bei uns.
Und darunter: Eingang um die Ecke.
„Also ich weiß nicht...“, murmelte Shinya. „Irgendwie hab ich kein gutes
Gefühl...“
„Quatsch, sei kein Hase, Shin!“ Die versetzte dem anderen einen Stoß in
die Rippen.
„Du hast doch keine Angst vor ausgeflippten Geschenken, oder etwa doch?“
Breit grinsend zog er Shinya um die Ecke und schob ihn die Stufen zur Ladentür
hinauf.
Mit einem Klingeln, das aus mindestens drei unterschiedlichen Richtungen tönte,
schnappte die Ladentür zu. Misstrauisch blickte Shinya um sich. Alles, was er
auf den ersten Blick erkennen konnte, war, dass von der Decke im ganzen Raum
unzählige Äste hingen (alle versehen mit Preisschildern).
„Guten Abend. Ich darf Sie in unserer Zweigstelle begrüßen. Was kann ich
für Sie tun?“
Ein ziemlich großer Mann kam mit offenen Arme auf die beiden Kunden zugelaufen.
„Äh...“, begann Shinya zurückweichend, „äh. Zweigstelle?“
„Ja, Zweigstelle der Ladenkette ‚Veilchen für dich und mich’. Wir haben
246 Geschäfte ihm gesamten Land“, verkündete der Verkäufer stolz.
„Ein Blumenladen?“, sagte Die enttäuscht. „Wozu dann das seltsame Schild
im Schaufenster?“
Der Verkäufer zuckte die Achseln.
„Nun ja, irgendwie muss man die Kunden ja anlocken, verstehen Sie? Und es
scheint ja prächtig zu wirken. Vorzüglich, vorzüglich... aber wir führen
tatsächlich außergewöhnliche Ware. Bitte folgen Sie mir. Vorzüglich.“ Der
Verkäufer wies mit gewinnendem Lächeln in die Tiefen des Raumes.
, dachte Shinya und beäugte
von hinten die blau-lila-rot gefärbten Haare des Verkäufers, die selbst
aussahen wie die Blüte einer exotischen Pflanze. Dieser Mann kam ihm
merkwürdig bekannt vor. Der Kassierer im Supermarkt hatte auch das ganze
Gesicht voller Blech. Durchstochene Lippen, wie gruselig. Schien wohl modern zu
sein. Und diese Tätowierungen waren wirklich Geschmackssache. Wie auch immer,
vielleicht ließ sich tatsächlich etwas nettes für Kaorus Freundin finden. Und
alles in diesem Laden sah so aus, wie die Dinger, die Sakito immer als
Suppeneinlage benutzte. Wenn er also schon dabei war, konnte er Toshiyas kleinem
Bruder auch eine Kleinigkeit mitbringen.
„Uruha?“
Takumi drehte sich um und sah freudig lächelnd zur Tür. Nichts geschah.
Enttäuscht sackte er auf dem Stuhl zusammen, drehte den bonbonfarbenen Lipgloss
zu (der einen betäubenden, ätherischen Erdbeergeruch verströmte) und knallte
ihn auf den Tisch. Kaum war sein Liebster mal zehn Minuten abwesend, hielt er es
nicht mehr alleine in dem leeren Raum aus.
Doch irgendetwas – zweifelsohne etwas, das vernünftiger, weiser und
gelassener war, als er selbst (vielleicht der Dalai Lama oder Winnetou oder die
gute Fee aus Aschenputtel) – sagte ihm, dass es mehr als unklug war Uruha
jetzt nachzulaufen.
, dachte Takumi in einem dieser Augenblicke der
Selbsterkenntnis, die bei ihm seltener waren, als eine Palme im nördlichen
Polarkreis.
Missmutig, absolut bedeutungslose Dinge vor sich hinlamentierend, holte der
Junge einen kleinen ärodynamischen Föhn aus seiner Handtasche, steckte ihn an
und richtete ihn lustlos auf seine Haare.
„Verdammter Regen. Ich hasse ihn“, murmelte Takumi und betrachtete sich mit
düsterem Blick im Spiegel.
„Ich hasse ihn mehr als – mehr als die Hölle. Mehr als Tod und Verderben.
Mehr als billigen Nagellack. Mehr als kaputte Glätteisen. Mehr als Louis
Vuitton-Fälschungen“, fuhr er zischend fort in dem Versuch seiner unbändigen
Wut durch wüste Beschimpfungen Luft zu machen.
Als er vor einer Stunde seine bescheidenen sieben Sachen (Handtasche, Handy,
Geldbeutel, Taschentücher, rosa Lederjacke, Föhn für alle Fälle und
Schminkutensilien mit denen man die ganze dritte Welt hätte stylen können)
gepackt hatte und zu seinem Liebsten aufgebrochen war, mussten ihm die fiesen
hässlich grauen Regenwolken entgangen sein, die nur darauf gewartet hatten ihre
Tropfen wie Kamikazeflieger auf die Erde prasseln zu lassen, sobald das kleine
zarte Küken die Haustür zugezogen hatte und zwei Wohnblocks vom trauten Heim
(und jeglichem Regenschirm) entfernt war.
Regen und Takumi.
Schlechte Kombination.
Das Ergebnis war ein seltsamer Wust aus klatschnassen Haarsträhnen, die ihm
wild ins (vom Make-up) schwarz-blaue Gesicht hingen, ein mörderischer Blick,
äußerst üble Laune und ein Anstieg auf seiner Ich-hasse-Regen-Skala um
weitere hundert Prozent.
„Verdammt. Ich HASSE Regen“, teilte Takumi den Möbeln von Uruhas Zimmer zum
ungefähr zweihundertvierundachtzigsten Mal mit, als es an der Tür klopfte. Er
schmiss den kleinen (laufenden) Föhn von sich (und bereitete damit diversen
Bewohnern von Uruhas Aquarium, das die Freude hatte dem Gerät als Landeplatz zu
dienen, ein unschönes Ende durch Elektroschock).
„Uruha?“, fragte Takumi hoffnungsvoll, bemerkte aber noch im selben
Augenblick, wie dämlich die Frage war. Wieso um alles in der Welt sollte Uruha
an seine eigene Zimmertür klopfen.
„Ich bin’s nur, Taku. Uruha hat mir gesagt, dass du hier bist“, sagte
Hakuei schlicht und trat ein.
„Hä? Was machst du denn hier?“, brummte Takumi äußerst verstimmt (noch
verstimmter als zuvor, falls überhaupt möglich).
„Wie freundlich“, sagte Hakuei und setzte sich unaufgeforderterweise auf
Uruhas Bett. Takumi schnappte empört nach Luft.
„Was willst du hier, Haku? Und wo ist mein Uruha?“
„Oh, dein Uruha?“ Hakuei hob die Augenbrauen. Takumi kochte aus irgendeinem
Grunde offensichtlich vor Wut und Eifersucht, was Hakuei unsagbar belustigte.
„Mach mal halblang, Kleiner“, säuselte er vergnügt. „Ich nehme ihn dir
nicht weg, deinen Uruha. Auch wenn er sicher noch in mich verliebt ist-“
Das war ein Messerstich in Takumis Herz.
„-und auf reife, erwachsene Persönlichkeiten steht-“
Das war Salz in die Wunde.
„-und er sich nur von dir aushalten lässt um sich die Zeit zu vertreiben-“
Jetzt drehte er das Messer noch.
„-aber du wirst ja nicht so dumm sein und ihn lieben, oder?“
Bingo.
Takumis Hass auf Regen wurde nur noch von seinem Hass auf Hakuei übertroffen.
„Aber ich bin nicht hier, um mit dir zu streiten (dafür nehm ich mir ein
andermal Zeit). Du bist heute anscheinend nicht besonders gut gelaunt, also
machen wir es kurz: Ich muss wissen, was in jener Nacht geschehen ist.“
Bedröppelt starrte Takumi ihn an und ließ langsam seinen rechten Stöckelschuh
sinken, den er dem anderen Jungen gerade ins Auge hatte rammen wollte.
„Häh?“, machte er verständnislos. „In welcher Nacht?“
„Ich meine die Nacht, jene Nacht“, waberte Hakuei geheimnisvoll, „in der
diese beiden Einbrecher in Toshiyas Zimmer aufgetaucht sind. Ich hatte neulich
eine interessante Idee. Sagen wir, ich verfolge eine ganz heiße Spur. Ich habe
auch schon jeden befragt, der irgendetwas damit zu tun hat. Bis auf dich. Also,
was weißt du darüber? Raus mit der Sprache, du Wischmopp.“
Takumi bedachte ihn mit einem giftigen Blick und begann wieder an seiner Frisur
herumzufummeln, die nun – halb trocken und noch immer verklebt von einer
beträchtlichen Menge Haarspray (die ausgereicht hätte um Sissi Spikes
aufzustellen) – von seinem Kopf wucherte wie ein Geschwür.
„Naja, also ich kam morgens bei den Haras vorbei, und da-“
„Bitte spar dir deine ellenlangen dramatischen Reden“, unterbrach Hakuei,
„fass dich kurz.“
„Schön“, machte Takumi wütend und schob sich ziellos Spängchen um
Spängchen in das Tohuwabohu auf seinem Kopf.
„Also. Ich weiß nur, dass zwei Männer nach Mitternacht bei Toshiya
aufgetaucht sind. Als Sakito und Ryutaro die beiden entdeckten, sind sie
geflohen. Seitdem schläft Uruha in Toshiyas Zimmer. Er vermutet, dass beide
Einbrüche bei den Haras irgendwie in Verbindung stehen und hat Angst, dass die
Kerle ein drittes Mal wieder kommen und Toshiya irgendwie verletzen. Punkt. Das
war’s.“
Hakuei sah eine Weile dabei zu, wie Takumi versuchte sich zu frisieren. Ständig
entglitten die halbtrockenen Strähnen seinen kleinen Händen und er begann von
neuem. Von Mal zu Mal wurde er dabei hektischer und wütender.
„Das ist nicht alles“, sagte Hakuei nach einiger Zeit bestimmt. Takumi sah
ihn mit wildem Blick an.
„Was meinst du? Du lenkst mich ab. Kannst du nicht verschwinden? Und wo bleibt
Uruha?!“
„Ganz ruhig. Weißt du was? Lass mich das machen.“
„Was?“, fragte Takumi, doch Hakuei packte ihn am Kragen, drückte ihn vor
sich auf den Boden und begann seine langen rötlichen Haare zu einer Frisur
zusammenzufassen.
„Keine Widerrede, so geladen wie du bist, kriegst du das heute eh nicht mehr
hin. Beantworte mir lieber eine Frage: Was weißt du noch? Ich bin mir fast
sicher, dass du noch mehr weißt.“
Takumi verzog den Mund.
„Nun ja... Ich hatte den Eindruck, dass Toshiya die beiden Typen kennt...“
„Was ja auch logisch wäre“, warf Hakuei ein.
„Das hab ich auch gedacht“, sagte Takumi und nickte.
„Hör auf zu nicken verdammt, sonst rutscht mir alles aus den Händen!“
„Ich hab Toshiya drauf angesprochen“, fuhr Takumi fort, „und dabei kam
raus, dass er sich mit den zwei Männern sogar unterhalten hat. Das hat er
natürlich nicht direkt gesagt, aber seiner Reaktion nach zu schließen...“
Hakuei schob eine letzte Spange in Takumis Haare und hielt ihm dann einen
Spiegel vors Gesicht.
„Danke“, murmelte Takumi kleinlaut, nachdem er sich prüfend von allen
Seiten betrachtet hatte.
„Keine Ursache“, sagte Hakuei.
„Ich glaube das war das letzte Puzzleteil, das ich noch gebraucht habe“,
setzte er mit wissender Miene hinzu.
„Das Puzzelteil wofür, Sherlock?“, erwiderte Takumi mit hochgezogenen
Augenbrauen.
Hakuei blinzelte verschwörerisch (die einzige Bewegung, die ihre coole Wirkung
jedes Mal völlig verfehlte und ihn aussehen ließ, wie ein Affe, der einen
Schwarm Fliegen ins Auge bekommen hat).
„Das kann ich nicht sagen, Kleiner. Noch nicht. Aber es wäre nicht schlecht,
wenn du dir meine Worte schon einmal merken könntest: Ich hab’s gewusst.“
„Was gewusst? Häh?“
Hakuei blinzelte noch einmal (diesmal aufgrund einer echten Stubenfliege, die
sich in einem plötzlichen Anflug des Überdrusses an ihrem kurzen Leben ins
linke Auge des Japaners gestürzt hatte).
Und weg war er.
Völlig verwirrt, aber zumindest mit verebbender Wut (jetzt, das seine Frisur
wieder saß wie eine eins) beobachtete Takumi durchs Fenster, wie Hakuei über
den Rasen lief, Uruha, der unten stand und rauchte, kurz zunickte, und die
Straße entlang um die nächste Ecke verschwand.
Wovon zur Hölle hatte dieser komische Kauz gefaselt?
Auch egal.
Er sah wieder umwerfend aus und sein Liebster sollte es langsam satt haben sich
giftigen Qualm durch die Lungen zu ziehen.
Takumi grinste sein Spiegelbild an.
Gut, er hasste Hakuei, der Kerl war wirklich ein widerlicher gemeiner
Kotzbrocken, aber eines musste man ihm wirklich lassen: Er hatte das Zeug zu
einem Starfrisör.
Der Starfrisör raste die Straßen entlang.
Kyo.
Dieser miese kleine Bastard.
Er hatte es gewusst. Dieser Verbrecher mit Minimalmimik suchte seinen kleinen
Toshiya des Nachts heim. Hakuei hatte gute Lust ihm jede Rippe seines zarten
Körpers einzeln zu brechen. Von weitem wirkte Kyo wie ein sanftes,
zerbrechliches Kind. Blöderweise lag in diesen kalten toten Augen sein wahrer
Verbrechercharakter (ohne den mörderischen Blick hätte man sie glatt mit
großen hübschen Mädchenaugen verwechseln können). Alle anderen mochten ihn
für harmlos halten, aber die Leute kannten ja auch seinen großen Bruder nicht.
Und Daishis Verbrechergene steckten auch in Kyos Körper.
Hakuei sprang über eine größere Pfütze, wich zwei Knirpsen aus, die in
Regencapes und Gummistiefeln auf der Straße Ball spielten, und kam schließlich
vor einer Doppelhaushälfte ganz am Ende der Straße zum Stehen. Alle Rollläden
waren heruntergelassen. Auf einem Fenstersims im Erdgeschoss stand ein
Blumenkübel. Die Geranien ließen trotz des Sommerregens ihre Köpfe hängen.
, dachte Hakuei und schnalzte missbilligend mit der Zunge,
Sakito konnte man täuschen. Takumi konnte man täuschen. Kaoru, den Esel,
konnte man täuschen (nichts einfacher als das). Selbst Uruha, der gewöhnlich
flinker und aufmerksamer war als andere Menschen, konnte man hinters Licht
führen.
Aber nicht ihn.
Aus dem einfachen Grund: Er traute niemandem, auch wenn man ihm diese
Lebenseinstellung vielleicht nicht sofort ansah. Und seit Kyos Verschwinden
hatte er aufmerksam die Nachrichten verfolgt, die Zeitung gelesen und sich
unauffällig überall umgehört. Nicht nur, dass er über üble Dinge aus Kyos
Vergangenheit gestolpert war, nach und nach hatte sich sein Verdacht gefestigt,
dass ein unguter, arroganter Mensch, mit einem derart miesen Charakter wie Kyo
nicht sang- und klanglos vom Erdboden verschwand. Als die ersten Gerüchte über
eine Diebesbande kursierten, die die Gegend unsicher machte, hatten bei Hakuei
sämtliche Alarmglocken geschellt.
Und er wusste nicht weshalb, aber Toshiya war einfach immer das Opfer. Er hatte
ein ganz übles Gefühl.
Hakuei ging langsam den Weg zur Haustür. Doch noch während er den Blick auf
die graue Holztür geheftet hatte, überkam ihn eine furchtbare Ahnung.
Sekundenlang starrte er auf die grauen Hauswände von Daishis tristem Zuhause.
Er klingelte noch nicht einmal.
Er drehte der Tür den Rücken zu und rannte so schnell er konnte.
„Uruha, verdammt“, zeterte Takumi. „Jetzt hab ich mich extra für dich
hübsch gemacht – und – und – du machst noch nicht mal Anstalten endlich
reinzukommen!!“
Sein Schmollmündchen zitterte gefährlich. Selbstverständlich jedoch ließ er
sich nicht dazu hinreißen tatsächlich in Tränen auszubrechen. Immerhin hatte
er sich eben erst mit allergrößter Sorgfalt zurecht gemacht und sein Make-up
so vorsichtig und gründlich auf Vordermann gebracht, als entschärfe er eine
Bombe, als könne jede Bewegung über Leben und Tod entscheiden. Wenige Tropfen
würde genügen, um eine wahre Katastrophe auszulösen.
„Hör auf zu simulieren...“, murmelte Uruha und brach die zweite Schachtel
Zigaretten an.
Er hasste es in seinem Gedankengang unterbrochen zu werden. Hinzu kam, dass er
im Augenblick überhaupt keine Lust hatte auf Takumis kindische
Fishing-for-compliments-Spielchen einzusteigen.
„Ich hab dich vermisst!!“
„Ich bin doch nur kurz eine rauchen...“ Uruha seufzte. Er konnte dem Kleinen
nicht böse sein, der meinte es schließlich nicht so.
„Was wollte Hakuei?“
„Kannst du nur an Hakuei denken?“, schmollte Takumi und drehte sich weg (und
zwar so, dass Uruha die volle Pracht seiner Frisur von der Seite bewundern
konnte).
„Lass das, Taku, ich bin jetzt nicht für so etwas aufgelegt... ich fühle
mich gerade – ich will sagen, ich habe gerade so etwas, wie – eine
Vorahnung. Ich kann es nicht beschreiben... es ist nur so ein seltsames Gefühl,
dass ich besser nach Toshiya sehen sollte...“
Takumi starrte seinen Liebsten sekundenlang an und wandte sich dann wieder ab,
diesmal jedoch ernsthaft erschüttert. Das leise Gefühl der nagenden Eifersucht
kroch über sein Herz und knabberte an den letzten Resten (oder ersten
Anfängen?) seiner Selbstbeherrschung. Egal wie sehr er sich bemühte, ganz
gleich wie hübsch er sich anzog, wie sorgfältig er sich schminkte, Uruha sah
nur seinen kleinen Bruder.
Nun wurden seine Augen tatsächlich gefährlich feucht. Takumi zwang sich sofort
an den (wenn auch in einiger Ferne liegenden) Sommerschlussverkauf bei H&M zu
denken. Mit allergrößter Mühe schluckte er die bitteren Tränen hinunter, die
schon seit Wochen versuchten sich ihren Weg ins Freie zu bahnen.
„Warum immer Toshiya?“, sagte er nach einer Weile leise.
Uruha sah ihn kurz mit Stirnrunzeln an, wandte seinen Blick wieder auf die nasse
Straße und zog an seiner Zigarette.
„Was meinst du damit?“
Takumi biss sich auf die Lippe.
Mist.
Eigentlich hatte er seinem Freund niemals zeigen wollen, wie eifersüchtig er in
Wahrheit war. Aber jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten, der Frust
stand ihm bis zum Hals. Uruhas naive Frage war wie ein kleiner unbedeutender
Kieselstein, der eine ganze Lawine auslöst.
„Toshiya hier, Toshiya da, immer nur Toshiya...“, brummte er leise ohne
Uruha anzusehen, „...dabei sieht er ganz grässlich aus, mit diesen
abgefressenen Haaren, er lässt sich total gehen. Und ich gebe mir alle Mühe
und – und du beachtest mich nicht mal. Sogar Daishi ist dir doch wichtiger,
als ich es bin. Und Toshiya ist kein Baby, du musst ihn nicht so bemuttern, es
gibt – es gibt andere (, dachte er) die dich nötiger
brauchen-“, und mit einer Heftigkeit, die ihn selbst erschrak, fügte er
hinzu, „aber nein, Toshiya über alles!! Man könnte echt meinen, du bist in
ihn verknallt! Du hast einen totalen Bruderkomplex. Plötzlich. Früher war er
dir absolut egal. Das ist doch krank!“
Er zitterte. Nun hatte er es also gesagt.
Uruha starrte ihn an. Solche bitteren Worte aus dem sorgfältig geschminkten
Schmollmund. Ganz neue Töne.
So ernst.
Und vor allen Dingen so unfair. Wie konnte er wagen ihm Vorwürfe zu machen?!
Takumi hatte wirklich gar nichts verstanden.
Erst viel später würde Uruha klar werden, dass in Wahrheit er rein gar nichts
verstanden hatte. Das ist meistens so, erst wenn es zu spät ist, fällt der
Groschen.
Es begann zu regnen. Takumi hatte die Tränen völlig umsonst zurückgehalten,
die dicken Tropfen erledigten nun deren Arbeit und verwandelten sein Gesicht zum
zweiten Mal an diesem Tag in ein Schlachtfeld von Blau- und Schwarztönen. Der
kunstvolle Knoten auf seinem Kopf sog das Regenwasser auf wie ein Ertrinkender
und rutschte ihm Stück für Stück wie eine fette träge Schnecke in den
Nacken.
„Entschuldige mal!!“, erwiderte Uruha aufgebracht und bemühte sich dabei
nicht im geringsten seine Lautstärke zu dämpfen, „Er ist mein Bruder! Und
wer ist hier krank?! Du bist doch neurotisch, immer süchtig nach Komplimenten,
launisch wie sonst was! Du kostest mich den letzten Nerv. Und Toshiya ist nun
mal mein Bruder!! Er hat furchtbares durchgemacht, so schrecklich, dass du es
dir nicht einmal in deinen schlimmsten Träumen ausmalen kannst! Ich mache mir
Sorgen, verdammt, er ist mein Bruder und ich liebe ihn einfach!!“
, wollte Takumi ihm entgegenschreien, aber er brachte
kein Wort mehr heraus. Er wusste sehr wohl wie unfair es war, seinem Freund die
Sorge um Toshiya vorzuwerfen und er hatte nie im Sinn gehabt sich ernsthaft
über dessen Erlebnis und die damit zusammenhängenden Probleme lustig zu
machen, aber er wusste sich einfach nicht mehr zu helfen. Nachdem Kyo ohne ein
Wort des Abschiedes verschwunden war, blieb ihm nur noch Uruha. Der allerdings
kümmerte sich nur um den kleinen Bruder und seinen Exfreund Hakuei, obwohl er
doch mit ihm, Takumi, zusammen war und sich um ihn, Takumi, kümmern sollte.
Und es gibt nichts schlimmeres, als die Angst alles, was man im Leben hat, auf
einen Schlag zu verlieren. Noch während Takumi auf der feuchten Erde im
Vorgarten der Haras stand, taten ihm seine Worte unsagbar leid, er bereute jede
einzelne Silbe seiner garstigen Anschuldigungen, aber er konnte einfach nicht
aus seiner Haut.
Sie starrten sich durch den Schleier aus Dunst und Regen an. Uruha bebte vor
Zorn und Empörung. Takumi war kreidebleich geworden.
„Du bist unglaublich“, sagte Uruha schließlich kalt, „reiß dich am
Riemen. Es gibt wichtigeres als dein Ego, vielleicht begreifst du das endlich
mal, Takumi, und lässt diese pubertäre Kleinmädchenphase hinter dir. Das
widert mich an.“
Fassungslos starrte Takumi auf seine Schuhe. Vor seinem mentalen Auge fiel seine
ganze hohle Welt in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Jetzt hatte er endgültig
alles kaputt gemacht. Und das, obwohl er sich so lange nach Leibeskräften
bemüht hatte.
„Ich hasse dich“, presste er hervor, meinte eigentlich Ich liebe dich so
sehr, aber ich hasse mich (was auszusprechen ihm der letzte Funken seiner Würde
dann doch verbot), brach haltlos in Tränen aus und rannte davon, so schnell ihn
seine dünnen Beine tragen konnten.
Uruha starrte ihm nach. Er stöhnte auf und vergrub sein Gesicht in den
Händen.
Hatte er das eben wirklich zu dem Kleinen gesagt? Dass er pubertär und
egoistisch war, verzogen und nervtötend?
Ja, er war unfair gewesen – aber im Recht. Und Toshiya war ihm wichtiger, als
Takumi.
„Scheiße“, murmelte er und ging langsam zum Haus zurück.
„Nein Saki, ich halte das für keine gute Idee, wirklich-“, murmelte Ryutaro
und beäugte zweifelnd das Glas eingelegter Aale.
„Papperlapapp, Ryu“, fiel Sakito ihm ins Wort. „Ich koche, also kaufe ich
auch ein.“
Er ging ein weiteres Mal seine Liste durch. Ein einziger Blick reichte Ryutaro
aus um sich darüber klar zu werden, dass es besser sein würde, wenn sie jetzt
sofort mit leerem Einkaufskorb wieder nach Hause gingen und sich belegte Brote
zum Abendessen machten.
, hatte sich der schüchterne Junge
die letzten zwanzig Minuten über eingeredet, leider war es ihm nicht mal
annähernd gelungen sich selbst zu überzeugen. Sakito bekam immer das, was er
wollte. Sei es ein ‚hervorragend’ in Chemie, sündhaft teuere chinesische
Zierfische zum Spottpreis, Menschenopfer oder (vielleicht in naher Zukunft?)
seine eigene Fernsehserie.
„Ah, hier sind die getrockneten Zebramägen. Gib mir bitte mal einen davon
rüber. Dann brauche ich noch Hammelfleisch, verwesten Aal, Kobraaugäpfel und
ein Kilo Zwetschgen.“
„Also ich weiß nicht...“, sagte Ryutaro halb angewidert halb
verschüchtert.
Sakito runzelte leicht die Stirn.
„Ja, du hast Recht, Ryu. Vielleicht sollte ich die Zwetschgen wirklich besser
weglassen. Ich trau der Sache nicht, nach all den Skandalen um faule Früchte
und Würmerplage...“, antwortete er ohne den konzentrierten Blick von seiner
schlauen Liste zu heben. Sein Freund seufzte lange und leise auf.
„Was? Willst du sagen, ich bin krank?“, brummte Sakito und rückte seine
Lesebrille zurecht. Ryutaro lächelte kurz.
„Ich hab dich lieb, Saki. Ich liebe dich“, flüsterte er und drückte sanft
die Hand seines Freundes.
Doch gerade als dieser aufblicken wollte, stieß Ryutaro einen spitzen Schrei
aus, machte einen Satz nach vorne und fiel ihm unbeholfen in die Arme.
Irgendjemand war aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht und hatte ihm eine
eiskalte Hand auf die Schulter gelegt.
Nun trat ein sehr großer Mann hinter dem zitternden Rücken des schmalen
Japaners hervor. Sein breites Grinsen löste ein sehr beunruhigendes Gefühl in
Sakito aus, wie immer, wenn jemand urplötzlich seine Hand auf die Schulter
seines Freundes legte und ihn dann ohne Grund und Ziel minutenlang wie ein
Wahnsinniger angrinste.
„Ich sehe, sie haben einen Zebramagen in ihrem Einkaufskorb. Dürfte ich ihnen
da auch weitere Mägen empfehlen?“, fragte der Mann. Es war erstaunlich, wie
er es schaffte zu sprechen, ohne dass sein Grinsen auch nur einen Hauch von
Breite verlor.
Nichtsdestotrotz verpuffte die Beklemmung in Sakito augenblicklich.
„Sie sind der Verkäufer?“, fragte er strahlend.
„In der Tat. Vorzüglich, vorzüglich“, antwortete der Mann. Sein
Lippenpiercing schillerte wie das Arbeitsgerät eines Axtmörders.
„Haben sie eventuell auch Dinge, wie Methanal, Kupfersulfat oder H zwei SO
vier? Ich habe nichts davon finden können...“, fragte Sakito eifrig weiter.
In seinen Armen zitterte noch immer sein Freund, bleich wie ein Gespenst, und
wagte nicht aufzusehen.
Ryutaro liebte Toshiyas kleinen Bruder wirklich über alles. Mehr als sein Leben
(was zu beweisen war, da er jedes seiner Gerichte probiert und nur durch ein
Wunder und ein sehr nützliches Gegengift jedes Mal überlebt hatte), aber
manchmal wünschte er sich, sein Liebster würde für irgendwelche anderen
sadistischen Hobbies Begeisterung hegen. Warum musste es denn ausgerechnet
Kochen sein? Warum nicht Kaninchenzucht, oder Safaris durch den Dschungel oder
Sammeln von hochgiftigen Insekten?
Dieser Laden war ein einziges Gruselkabinett und der Verkäufer hatte etwas von
Hannibal Lecter.
„Aber selbstredend haben wir auch eine Chemikalienabteilung. Wenn sie mir
bitte folgen würden. Sie ist ein wenig versteckt hinter den Skeletten der
prähistorischen Vögel. Hinter Archäopterix gleich links. Vorzüglich,
vorzüglich...“, erklärte der Verkäufer und wies seinen Kunden den Weg. Fest
an Sakitos Hand geklammert stakste Ryutaro - entgegen der eigenen Vernunft und
seines Selbsterhaltungstriebes - zu den Regalen, die mit unzähligen
Reagenzgläsern gefüllt waren. Ein Blick zur Seite sagte ihm, dass der Hals des
Verkäufers aussah, als würde er in der nächsten Sekunde von seinen
Tätowierungen aufgefressen werden. Zumindest soweit man das durch den obersten
offenen Knopf des Laborkittels sagen konnte.
Er sah aus wie ein irrer Doktor.
Ein eiskalter Schauer lief Ryutaro über den Rücken.
Ryutaro und Sakito waren nicht die einzigen, die mehr oder weniger auf der Suche
nach irgendetwas (sei es nun verwester Aal oder ein Ort, den der Verkäufer des
Lebensmittelladens nicht erreichen konnte) ihre wöchenlichen Einkäufe
erledigten. Ein Junge von dem schon häufig genug die Rede gewesen war stand in
eben diesem Augenblick wie festgewachsen vor dem Schaufenster einer Drogerie und
haderte mit sich selbst.
„Meinst du, ich soll reingehen, Q-chan?“
Toshiya kraulte gedankenversunken durch das zerzauste Fell seines
Adoptivköters. Dieser sabberte ein wenig, nieste ein paar Haare aus und sah
hinterher genauso blöd aus wie zuvor. Toshiya jedoch schien der unverändert
apathische Blick des Tieres plötzlich irgendetwas mitzuteilen, denn sein
Gesicht leuchtete auf und er murmelte: „Ja, du hast Recht. Ich darf mir von
Daishi nicht mein ganzes Leben zerstören lassen. Ich würde mich so gerne
wieder schminken, aber ich hab alles weggeworfen.“
In der Tat. Und was er nicht weggeworfen hatte, war ihm von Kyo und seiner
Diebesbande geklaut worden und zierte im Augenblick höchstwahrscheinlich den
Schminktisch von Rukis temperamentvoller Freundin. Was nur gerecht war, immerhin
zierte ihr Hund im Moment Toshiyas Arm (mehr oder weniger, das ist
Geschmackssache) (und weiß der Teufel welcher Teufel das Tier seiner
liebevollen Besitzerin weggenommen und es ausgesetzt hatte). Eine Tatsache, von
der der Junge natürlich (noch) keinen blassen Schimmer hatte.
„Ok, ich geh jetzt rein“, sagte Toshiya und es klang wie ok, ich komm jetzt
rein, nehmen Sie ihre Hände laangsam nach oben und lassen Sie die Waffen fallen
oder auch wie ok, ich geh jetzt rein, Jackie. Mann, ist echt kein Schwein mehr
am Leben hier drinnen, alle niedergemetzelt, aber kein Feind in Sicht.
Toshiya betrat also wie ein Held den Drogeriemarkt und schlich sich verstohlen
zur Abteilung für Schminksachen. Er fühlte sich wirklich viel besser in
letzter Zeit. Dieser Hund war ein Geschenk des Himmels (Ruki, Gott, wo ist der
Unterschied?). Die letzten Wochen über hatte er sein eigenes Spiegelbild nicht
mehr ertragen und nur sehr langsam pendelte sich bei ihm wieder ein normales
Verhalten ein.
Weder konnte er es ertragen lange alleine zu sein, da er sofort in ein tiefes
Loch aus Verzweiflung, bitterer Einsamkeit und unangenehmer Flashbacks fiel,
noch hielt er die Gesellschaft von Freunde oder Familie aus. Er hatte
ununterbrochen das Gefühl sie erwarteten etwas von ihm, außerdem wurde er die
Schuldgefühle nicht los. Er fühlte sich schuldig, weil er seiner Mutter und
Sakito nichts von allem erzählte, weil er Uruha gegenüber völlig verklemmt
war, weil er seinen Freunden nicht mehr vertraute, weil er Daishi vielleicht
hätte entkommen können, weil er Kyo auf die Nerven gegangen war und zu guter
Letzt weil er das Gefühl nicht los wurde an allem Schuld zu sein. Ein
Teufelskreis.
„Du erwartest gar nichts von mir, Q-chan“, murmelte Toshiya und knuddelte
den Hund kurz, den er aus Spaß in den linken Ärmel gesteckt hatte, nur um zu
sehen ob er hineinpasste. Er passte hinein.
„Ich glaube ich hab mich verliebt... und wieder hoffnungslos... ich bin nicht
zu retten, was Q-chan? Dabei gibt es so viele nette Männer auf der Welt...
warum ausgerechnet Kyo... Er verachtet mich. Aber du kennst ihn ja gar nicht. Du
solltest ihn sehen, er ist so hübsch, auf seine eigene, besondere Art“,
schwärmte Toshiya, „und er hat so tolle Augen. Er ist stark. Ich bin froh mit
Liebe an jemanden denken zu können, das lenkt mich ab...“
Eine Verkäuferin, die links von ihm eine Reihe Lippenstifte eingeräumt hatte,
starrte Toshiya erst sekundenlang entgeistert von der Seite an und verzog sich
dann schnurstracks hinter das Regal mit Haarshampoo. Dieser Kunde redete
tatsächlich mit seinem Ärmel.
„So, das, das und das... wir bezahlen, Q-chan, und dann probier ich es gleich
zu Hause aus...“
Er hatte gewartet.
Zwei Stunden lang. Vor dem Haus. Vor seinem Haus. Er hatte seinem ehemals besten
Freund beim Rauchen zugesehen und nichts empfunden. Er wartete nur auf Toshiya.
Auch diesen Streit hatte er mitbekommen. Jedes einzelne Wort. Und dieser andere
Junge, Hakuei, der wie ein Besessener aus dem Haus gerannt war. Alles hatte er
beobachtet, in seinem verstümmelten Gehirn festgehalten, jede einzelne ihrer
Bewegungen. Dabei erinnerte er sich, dass er diese Menschen einmal geliebt
hatte. Aber es war nun nicht mehr seine Welt. Er war nur noch müde, wollte
nicht mehr, er fühlte sich krank und leer und tot. Er wollte, dass alles ein
Ende fand. Aber nicht einfach so. Ein besonderes Ende musste es sein. Eins, das
niemand mehr vergaß. Genau, sie sollten ihn nicht vergessen. Nicht Uruha, nicht
Hakuei, nicht Kyo. Alles was er brauchte war Toshiya. Irgendwann war er
aufgestanden, hatte sein Versteck in den Büschen verlassen und sich davon
geschlichen. Toshiya war nicht zu Hause, es hatte keinen Sinn länger hier zu
warten. In die Stadt, er musste in die Stadt. Aber jeder schleppende Schritt
schmerzte mehr in seiner Seele, was er voller Verwunderung zur Kenntnis nahm.
Schmerz. Er fühlte sich beinahe lebendig.
Und Verzweiflung. Verzweiflung in irgendeiner Ecke neben Mülltonnen
zusammenzusacken und zu verenden. Wie ein krankes Rind. Panisch klammerte er
sich an den Gedanken, dass ihm noch ein Rest Menschenwürde geblieben war.
Solange er in diesem Körper herumlief, sicher.
Es würde nicht mehr lange dauern. Seit Tagen hatte er weder gegessen, noch
geschlafen, der Drogenrausch raubte ihm alle natürlichen Gefühle, Hunger,
Müdigkeit, Durst.
Bunte Lichter, bunte Menschenmassen, blinkende Reklame.
Die Fußgängerzone. So weit hatte er sich geschleppt? Umso besser.
Daishi sank wieder in eine Phase der apathischen Gleichgültigkeit. Es hatte
sowieso keinen Sinn. Das einzige, was er wusste war, dass er Toshiya finden
musste. Und noch nicht einmal das machte Sinn. Er tat es für sich selbst, als
letzten Dienst an die Person Daishi. Alle Menschen die er gekannt hatte, sollten
sich mit Schmerz an ihn erinnern. Wenigstens das. Auch wenn es prinzipiell
sowieso egal war.
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Toshiya schwang vergnügt die Plastiktüte mit Schminkutensilien. Weshalb
fühlte er sich auf einmal so lebendig? Die Haare würde er sich auch wieder
wachsen lassen. Und mit Hakuei reden. Und mit Sakito. Und Uruha sagen, wieviel
ihm seine Fürsorge bedeutete, auch wenn er ihm das nie gezeigt hatte. So viele
Dinge, die noch zu erledigen waren. Er war so guter Dinge, dass er kaum auf den
Weg achtete und prompt – wie nicht anders zu erwarten in einer Fußgängerzone
– mit jemandem zusammenstieß.
„Oh, Verzeihung“, murmelte Toshiya, sammelte seine Tasche und sein Hündchen
Spekulatius vom Boden auf und blickte der Person, die er angerempelt hatte,
entschuldigend entgegen.
Und erstarrte.
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„Hakuei? Wo bist du?“
„In der Stadt. Ich suche Toshiya.“
Uruhas Finger zitterten.
„Ich helfe dir suchen. Ich – ich habe so ein blödes Gefühl, ich kann es
nicht beschreiben...“
Kurze Stille.
„Du auch?“
„Wo genau bist du, Haku?“
„Pfirsichstraße, an der Kreuzung, in der Nähe des Parks.“
„Ich bin in fünf Minuten da. Ich nehm das Auto.“
Er legte auf. Mit der linken Hand wischte er sich über sein feuchtes Gesicht.
Gott, war ihm heiß. Toshiya. Er hatte grauenvolle Angst um ihn. Warum hatte er
das Gefühl, Daishi würde ihm in genau diesem Augenblick etwas antun? In einer
einzigen Bewegung schlüpfte er in seine Jacke und griff mit bebenden Händen
nach Schlüsselbund und Geldbeutel.
„Wie? Du gehst? Wohin des Weges?“
Sakito kam in den Flur gelaufen. Er rührte in einer gewaltigen Schüssel, die
er ihm Arm hielt.
„Ja, ich gehe Toshiya suchen. Ich habe ein komisches Gefühl, dass – dass
irgendetwas passiert ist.“
„Aber er ist doch nur in die Stadt gegangen. Ich war mit Ryu einkaufen und hab
ihn vorhin auf dem Heimweg getroffen. Er hat ein Hündchen gefunden, irgendeinen
Streuner und wollte sich auf die Suche nach dem Herrchen machen. Du kennst ihn
doch.“
„Eben“, murmelte Uruha. Toshiya mutterseelenallein in der Stadt, irgendein
Tier als einzigen Schutz. Wunderbare Vorstellung. Zumindest hatte er jetzt einen
Anhaltspunkt.
„Wo genau hast du ihn getroffen?“
„Vor der Eisdiele auf dem Marktplatz. Das ist so ungefähr eine halbe Stunde
her.“
Uruha atmete hörbar auf. Sie hatten noch nicht viel Zeit verloren.
Und dennoch. Er wurde das beklemmende Gefühl nicht los, dass etwas nicht in
Ordnung war.
Hätte Uruha in diesem Augenblick nur gewusst, wie richtig und falsch er
gleichzeitig mit dieser Befürchtung lag.
Er zog die Haustür zu und klappte sein Handy auf um Hakuei zu benachrichtigen.
Am besten sie würden sich gleich auf dem Marktplatz treffen und von dort aus
losgehen. Vielleicht hatte irgendjemand Toshiya gesehen.
„Was ist denn mit ihm los?“, fragte Ryutaro, als sein Liebster rührend die
Küche betrat. Dieser zuckte nur die Achseln und stellte die Schüssel auf den
Boden, die nebenbei gesagt ein ungeheueres Gewicht hatte.
„Macht sich Sorgen um Toshiya. Ist ihn suchen gegangen. Dabei hab ich ihm
gesagt, dass wir ihn erst getroffen haben und da ging es ihm (bis auf diese
Krankheit von Hund) wirklich blendend...“
Ryutaro runzelte die blasse Stirn.
„Seltsam. Normalerweise ist er nicht so. Meinst du es ist etwas dran?“
Sakito schüttelte den Kopf und vier Packungen Mandeln in die Schüssel.
„Nö. Ich habe kein komisches Gefühl. Und wenn Toshiya irgendetwas
zugestoßen wäre würde ich sicher etwas spüren“, antwortete er. Ryutaro
lächelte sanft. Typisch Sakito. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Es
klingelte.
„Machst du die Tür auf, Ryu? Ich kann gerade nicht weg. Der Teig muss
ununterbrochen gerührt werden...“
„Hey!“, sagte der Junge und machte das Peace-Zeichen.
Ryutaro starrte ihn an.
„Kann ich reinkommen?“
Ryutaro starrte ihn an.
„Ist saukalt in dieser Stadt. Mein Bruder ist nicht zufällig bei euch?“
Ryutaro starrte ihn an.
„Wer bist du?“
Der Junge feixte und schnippte mit dem Zeigefinger gegen das Schild seiner
Kappe.
„Meinst du mich?“
Ryutaro starrte ihn an.
Er konnte nicht anders. Er musste ihn anstarren.
„Wer bist du?“, wiederholte er, der einzige Satz, der ihm momentan sinnvoll
erschien.
Der Junge grinste sehr breit. Seine spitzen Eckzähne blinkten. Seine Augen
leuchteten merkwürdig. Von seinen bunten Kontaktlinsen ging ein geradezu
gruseliges Schillern aus. Ryutaro runzelte die Stirn. Seine weichen Augen
musterten mit maßlosem Erstaunen das lebende Kunstwerk vor ihm.
„Das sag ich dir nur, wenn du mich hereinlässt, Kleiner, ich friere.“
Von drinnen drang die Stimme Sakitos an seine Ohren, der sagte: „...
Rosinen... und noch ein wenig Arsen...“
Ryutaro gab sich geschlagen. Er stieß die Tür weiter auf. So gefährlich (bis
auf die gruselig strahlenden Augen) sah der Fremde nicht aus. Und wenn doch,
könnte er ihm immer noch etwas zu essen anbieten.
Es gibt die interessantesten Zufälle. Dieser war ein ganz besonders
interessanter. Toshiya konnte nicht glauben wem er geradeswegs in die Arme
gelaufen war. Kyo anscheinend ebenfalls nicht, denn er stand einfach nur da, die
Hände in den Taschen und sah in mit (zur Abwechslung mal) erstauntem Blick an.
Nur Ruki reagierte. Allerdings anders, als man vielleicht erwartet hätte. Er
starrte Toshiya an, dann das hechelnde Hündchen auf dessen Arm und schien
blitzschnell irgendetwas zu begreifen, denn er packte Q-chan, knüllte ihn in
seine rechte Hand, nahm ein paar Schritte Anlauf und warf ihn mit einem
olympiareifen Meisterwurf fünfzig Meter weit über die Menge aus Fußgängern
hinweg.
„Verdammt, das war knapp“, keuchte er und rückte seine (völlig nutzlose
angesichts der Dämmerung eher hinderliche aber megacoole) Sonnenbrille
zurecht.
„Schatz?“, tönte es auch promt von hinten. Rukis Freundin wedelte strahlend
mit ihrer Tasche vor seiner Nase herum.
„Sieh doch, was ich gefunden habe! Solche Schuhe suche ich schon lange!“
„Wunderbar, Süße“, antwortete Ruki. Mit einer Hand wischte er sich den
Schweiß weg, der ihm beim Anblick des Hundes auf die Stirn getreten war.
„Ist irgendwas, Takkun?“, fragte die Asiatin und blinzelte ihren Liebsten
verständnislos an. Was dazu führte, dass sie von der plötzlichen Angst
befallen wurde, ihre Wimpern seien nicht mehr ausreichend getuscht. Sie zog also
ein schmuckes kleines Schminktäschchen hervor, förderte ihre Wimperntusche
daraus zu Tage, klappte einen Handspiegel auf und begann ihre Wimpern
nachzudunkeln.
„Aaaah!!!!“, schrie Toshiya. Ein unkluger Schachzug, da zumindest Ruki seine
Anwesenheit ansonsten vermutlich wieder vergessen hätte. Kyo, dessen Cousin und
Lu sahen ihn erstaunt an.
„Das ist doch MEINE Wimperntusche!!!!!“
Er stürzte sich auf die Frau und entriss ihr die Kappe mit dem Bürstchen.
„Da ist ein Sprung im Plastik, genau wie bei MEINER Wimperntusche!“
„Ach, Unsinn“, antwortete Lu und lächelte.
„Doch, da ist auch ein Kratzer, MEINE Wimperntusche hatte genau denselben
Kratzer!“
„Das ist unmöglich. Die hat mein Schatz mir mitgebracht. Nicht wahr,
Takanori?“
Die hübsche Chinesin wandte sich ihrem Freund zu.
Der hatte es irgendwie geschafft sich zu dematerialisieren.
Lu starrte auf den Fleck an dem Ruki bis vor drei Sekunden noch gestanden hatte
und langsam ging ein Licht auf. Ein sehr großes blendendes gleißend helles
Licht, von dessen Wucht man innerhalb weniger Minuten erblindete.
„Takanori??!!! Du Verräter!!! Komm sofort zurück!!! Du beschenkst deine
Freundin also mit deinem Diebesgut??!! Das ist widerwärtig, komm zurück!!!“
Mit diesen Worten und einem empörten Aufschrei hastete sie von dannen. Perplex
starrte Toshiya ihr nach. Dann hob er das andere Ende seiner Wimperntusche auf,
das Rukis Freundin fallen gelassen hatte, und schraubte das gute Stück zu.
Etwas anderes fiel ihm im Augenblick nicht ein.
Kyo stand ihm gegenüber und sah ihn an. Der hatte offenbar auch nichts besseres
zu tun. Beide Jungen kamen sich einen Moment lang ziemlich dämlich vor.
„Oh“, sagte Toshiya plötzlich.
„Q-chan? Mein Hund! Dein Cousin hat meinen Hund weggeworfen!“
Völlig aufgeregt hob er sich auf die Zehenspitzen, als hoffte er so den
Landeplatz des kleinen Streuners ausmachen zu können.
„Dachte ich es mir“, murmelte Kyo missgelaunt. „Du hast diesen Kläffer
also gefunden und gepäppelt. War ja nicht anders zu erwarten. Gleich und gleich
gesellt sich gern.“ Toshiya drehte sich überrascht zu ihm um.
Die plötzliche Erkenntnis, das Kyo vor ihm stand – Kyo, der ihm noch eine
ganze Menge Antworten schuldig war – wischte jeden Gedanken an sein
Adoptivhündchen fort.
Er musste die Gelegenheit beim haarigen Schopf packen.
Was hatte er schon zu verlieren?
Ein gewaltige Welle des Mutes schwappte über Toshiyas Herz hinweg.
„Was machst du hier?!“, fragte er mit Tränen in den Augen.
Er war verwirrt.
Kyo.
Aber warum musste er dann weinen?
„Einkaufen“, antwortete Kyo und bedachte sein Gegenüber mit einem Blick,
der in etwa sagte Was sonst, du Hirni?.
„Nein ich meine – ist das nicht gefährlich? Die Polizei, ich meine... was
ist, wenn sie euch schnappen?“
Kyo zuckte gelangweilt mit den Achseln.
„Warum sollten sie? Die wissen ja nicht, dass ich es bin... die kennen weder
Namen, noch Gesichter... wir haben Decknamen und leben zwei Leben. So einfach
ist das.“
Und giftig setzte er hinzu: „...nicht, dass dich das irgendwas angehen würde.
Aber so lohnt es sich wenigstens dich aus dem Weg zu schaffen.“
Toshiya ging nicht auf die üblichen Fiesheiten ein. Er hatte sie sogar beinahe
vermisst. Alle anderen behandelten ihn in letzter Zeit wie ein rohes Ei.
„Und warum-“, begann er von neuem, verstummte aber sofort wieder. Kyo sah
ihn so angewidert an, dass es reiner Selbstmord wäre ihn weiterhin mit Fragen
zu löchern.
Wie er vor ihm stand, die Hände in den Taschen vergraben, der Mund
zusammengepresst, dieser verbissene durchdringende Blick. Die zerzausten
schwarz-blonden Haare. Selbst jetzt, da Toshiya ihm so nahe war, sehnte er sich
nach ihm. Verrückt.
Er war durcheinander, wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Also tat er etwas,
was er noch nie zuvor gewagt hatte.
Er ergriff die Initiative.
Drei Schritte trennten sie, zwei, einer. Toshiya zögerte für den Bruchteil
einer Sekunde.
Dann küsste er Kyo.
Er küsste ihn einfach so, ohne Vorwarnung, ohne Grund.
„Ich hab dich vermisst, Kyo...“, flüsterte er mit Tränen in den Augen.
Dann drehte er sich langsam um und ging. Eigentlich brauchte er keine Antworten.
Ihm war gleich, warum sein Haus ausgeraubt worden war, wer ihn geküsst hatte,
oder was Kyo und dieser Ruki nachts in seinem Zimmer zu suchen gehabt hatten.
Oder was Kyo über Q-chan wusste. Alles was er eigentlich hatte sagen wollen,
hatte er gesagt. Eine Reaktion von Kyo wollte er nicht abwarten, weil er genau
wusste, dass er sein vorschnelles Handeln dann bereuen würde. Die Welt um ihn
herum drehte sich weiter. Aber Toshiya fühlte sich, als habe er die Zeit
verlassen. Er ging um die nächste Ecke und ließ sich mit geschlossenen Augen
gegen die Hausmauer sinken.
Kyo stand noch immer am selben Fleck ohne sich zu rühren. Die Menschenmassen
zogen an ihm vorbei, rempelten ihn an. Nie im Leben hätte er damit gerechnet,
dass Toshiya so für ihn empfand. Niemals im Leben. Er hob die Hand zum Mund.
Er würde mit Ruki und Lu zurückgehen.
Doch wohin er auch immer fliehen würde, er wusste genau, dass ihm der Gedanke
an Toshiyas Berührung in jeden Winkel dieser Erde folgen würde.
„Scheiße.“
Warum musste dieser Typ ihm immer in die Quere kommen?
Geblendet von den bunten Lichtern der Stadt, die sich in seinen Tränen
spiegelten, schob Takumi sich durch die Massen in der Fußgängerzone. Er hatte
keine Lust gehabt nach Hause zu gehen. Nicht jetzt. Nicht in dieses leere Haus,
in dem niemand auf ihn wartete. Eines Tages würde er zwischen den stummen
Wänden noch verrückt werden.
Jetzt hatte er Uruha verloren. Er wusste es. Alles war vorbei. Takumi schluchzte
verzweifelt auf. Der Laut ging im bunten Treiben unter. Kyo hatte sich ohne ein
Wort davongestohlen. Genau wie seine Mutter. Sie war einfach gegangen. Dieses
Mal ohne eine Nachricht zurückzulassen. Sicher hatte sie vergessen, dass sie
überhaupt einen Sohn hatte.
Takumi ließ sich auf eine Bank sinken. Neben ihm saß ein Penner, der in seinem
großen dunkelgrünen Rucksack wühlte. Neben dem Penner stand ein kleines Kind,
das schrie wie am Spieß. Seine Mutter, eine schlanke braunhaarige Frau mit
schönen Beinen unter dem knielangen Rock, nahm den Jungen an der Hand,
versprach ihm mit sanfter Stimme ein Eis und zog ihn weiter.
, dachte Takumi. Die warmen Augen einer Mutter hatte er nie an der
gesetzten Karrierefrau gesehen, die ihn aufgezogen hatte. Sie war eine kleine
Japanerin mit langem schwarzen Haar, das sie jeden Morgen mit großer Sorgfalt
zu einem Knoten band. Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie schon immer
diese Frisur gemacht. Fast so, wie Hakuei ihm die Haare frisiert hatte.
Er hatte ihr nie genügt.
Solange er sich erinnern konnte war seine Mutter unzufrieden gewesen. Sie hatte
zwei Söhne zur Welt gebracht und war dreimal verheiratet gewesen, ein Japaner
und zwei Deutsche, aber nie war sie zufrieden gewesen. Sie fühlte sich verkannt
und missverstanden als kleine Asiatin, obwohl sie mit ihrem Fleiß und ihrer
Intelligenz fünf deutsche Frauen aufgewogen hätte.
Seine Mutter war von ihren männlichen Vorgesetzten in Asien wie in Europa immer
unter ihrem Preis verkauft worden. In einer Welt der Männer wollte es ihr
einfach nicht gelingen in ihrer Firma aufzusteigen. Und Takumi war nun einmal
ihr Sohn und nicht ihre Tochter. Deswegen hatte sie ihn nie ausstehen können.
Trotzdem hatte sie bei der Scheidung darauf bestanden ihn mit sich nach
Deutschland zu nehmen, während Tara, sein älterer Bruder, bei seinem Vater in
Japan blieb.
, dachte Takumi, schluchzte auf und fuhr sich
mit dem Ärmel über das verschmierte Gesicht. Dass es dadurch nur noch alles
schlimmer machte, kümmerte ihn nicht im geringsten. Er hatte die Welt, den
Regen, verschmiertes Make-up, Streit mit Uruha, alleine sein und seine eigenen
dämlichen Angewohnheiten satt.
Voller Schmerz starrte er auf seine spitz zulaufenden pinken Stöckelschuhe. An
der linken Schnalle war ein Strasssteinchen ausgefallen. Takumi blinzelte. Sein
Blick wanderte ein Stück nach vorne. Direkt vor seinen Füßen stand ein Paar
abgetragener Nike-Turnschuhe. An der einen Seite, ganz hinten knapp über der
Sohle, klaffte ein riesiges Loch, das einen Blick auf gräulich-blaue Strümpfe
zuließ.
Takumi hob den Kopf. In den Schuhen steckte ein Mann, der ihn offenbar die ganze
Zeit über angestarrt hatte, doch die Tränenschleier vor seinen Augen trübten
seine Sicht, so dass er kaum etwas erkennen konnte. Der Mann wandte den Blick
nicht ab. Und Takumi hatte Menschen so satt. Ganz besonders irgendwelche Irren,
die in der Stadt abhingen und Leute anstarrten. Da er keine Lust hatte sich
weiterhin angaffen zu lassen, stellte er sich auf seine wackligen Knie und sah
zu, dass er wegkam. Er schob er sich an dem Penner vorbei, warf ihm ein paar
Euro in den Hut und eilte zitternd die Straße entlang. Eiskalt war es auch.
Seine Jacke lag auf Uruhas Bett. Uruha.
Die Fußgängerzone hinter sich lassend bog Takumi in eine leere Straße ein. An
deren Ende leuchtete ihm ein Schild mit Bussymbol entgegen. Wie praktisch. Dann
musste er zumindest nicht nach Hause laufen. Links und rechts der Straße
parkten Autos. Die Häuser lagen still da. Verglichen mit dem lärmenden
Stadtinnern kam ihm die Gegend wie ein Friedhof vor.
Es dämmerte.
Takumi ließ sich auf einen der Sitze an der verlassenen Bushaltestelle sinken.
Er starrte auf den Boden. Jetzt fehlten drei Strasssteine an der Schnalle seines
linken Schuhs. Na wunderbar. Aber er würde sie sowieso wegwerfen. Er würde
sich allem entledigen, das ihn an seinen Streit mit Uruha erinnerte. Sonst hielt
er es nicht aus weiterzuleben. Jetzt, da alles verloren war. Was er seinem
Freund an den Kopf geworfen hatte, war nicht mehr gutzumachen. Und auf ein neues
wurde er von verzweifeltem Schluchzen geschüttelt.
Dann riss ihn etwas aus den tristen Gedanken. Auf dem Sitz zu seiner Rechten
hatte sich jemand niedergelassen. Takumi drehte den Kopf ein Stück in die
Richtung. Sein Blick blieb an den Füßen des Mannes hängen.
Abgetragene Nike-Turnschuhe. Sie hatten ein großes Loch an der Seite durch das
man die blauen Strümpfe sehen konnte.
Uruha hastete durch die Straßen auf die sich langsam, wie ein dunkler Schleier,
die Dämmerung legte.
Er wurde das Gefühl nicht los, dass in diesem Augenblick etwas schreckliches
passierte.
Hätte er nur den blassesten Schimmer gehabt wie richtig er damit lag, wäre er
vielleicht an sein Handy gegangen, das in seiner rechten Jackentasche vibrierte.
Eilig zog er es hervor. Auf dem Display leuchtete Takumis Nummer auf.
Uruha schnaubte. Jetzt tat es ihm also schon leid? War ja klar, dass der Kleine
es keine Stunde ohne ihn aushalten konnte. Noch immer verärgert über Takumis
unmögliches Verhalten drückte er den Anruf weg.
Fassungslos ließ Takumi sein Handy sinken. Uruha hatte ihn weggedrückt. Aber
er war ja auch selten dämlich. Jede andere Nummer hätte er wählen können und
er versuchte ausgerechnet seinen Freund anzurufen.
Er wollte ja keine Hilfe. Er wollte nur Uruhas Stimme noch einmal hören.
Er hatte ihn fast eingeholt, immerhin trug er Turnschuhe und Takumi konnte auf
seinen High-heels nicht besonders schnell rennen. Dennoch gab er alles.
Der andere schloss langsam aber sicher auf. Takumi hatte keine Kraft mehr.
Noch zehn Meter trennten sie. Fünf.
Drei.
Zwei.
Eins.
Sooo, Ende dieses Kapitels... verzeiht meine holprige Ausdrucksweise, nächstes
Mal gebe ich mir wieder mehr Mühe. Und ich hoffe ihr versteht Taku: Er sieht
alles zu pessimistisch, aber er kann einfach nicht anders. Ein Streit mit Uruha
ist für ihn ein Weltuntergang, deshalb reagiert er so übertrieben und ist
aufgelöst wie ein Würfel Zucker.
Mich interessiert sehr was ihr über das Chapter denkt, ich bitte um Kommentare
und Gedanken ^^
Kapitel 16: 16
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Das einzige was ich zu sagen habe ist: Ich weiß, dass sowohl Takumis Mutter,
als auch er selbst (zumindest teilweise) sich völlig unlogisch verhalten, aber
sie müssen glücklicherweise nicht vernünftig sein. Sie sind beide chaotisch,
neurotisch und ihr Verhalten ist ziemlich überzogen^^ Daher auch die abnormale
Denkweise, nehmt es ihnen (bezwihungsweise mir) nicht übel. Dieses Kapitel geht
irgendwie nur sehr schleppend voran, aber ich hoffe ihr verzeiht mir auch diese
Tatsache. Ich weiß mein Humor ist manchmal echt gewöhnungsbedürftig, und es
tut mir leid, wenn die letzten Kapitel nicht so lustig waren, aber ein Gag
funktioniert nur spontan, wie mir der Unsinn eben gerade in den Sinn kommt...
und sooooo düster ist Totchis Leben ja auch nicht... ich weiß ich war gemein
zu ihm, aber immerhin ist er dadurch reifer geworden... und ich mache es ja
wieder gut...
Und an alle Daishi Fans: Schickt ihm doch ein paar Primeln ins Krankenhaus, er
freut sich sicher (ich habe beschlossen, dass er Primeln blöd findet).
Die Frau drehte sich zu ihrem Mann um, der so plötzlich stehen geblieben war,
als hätten seine Schuhsohlen beschlossen mal eben mit dem Boden zu verwachsen.
Sie wedelte mit ihren Einkaufstüten.
„Was ist los, Günther? Warum bleibst du stehen?“
„Ich weiß nicht, Martha... aber ich glaube der Mann da ist eben umgekippt! Er
ist schon so merkwürdig an mir vorbeigewankt...“
„Um Gottes Willen, du hast Recht! Er rührt sich nicht mehr, schnell einen
Krankenwagen, irgendjemand rufe einen Krankenwagen!! Hilfe, da ist jemand
zusammengebrochen!!“
„Ach, das ist bloß irgend so ein besoffener Japse, lassen Sie den doch
liegen...“, murmelte ein großer Mann mit Lippenpiercing, der sich zu dem
älteren Ehepaar gesellte.
Um den Ohnmächtigen hatte sich bald ein Kreis aus Menschen gebildet. Kaum fünf
Minuten später war der Notarzt vor Ort.
Nachdem er Puls, Lungen- und Pupillenfunktion des Mannes geprüft hatte, nahm er
knapp Stellung zum Stand der Dinge: „Vollrausch, würde ich sagen. Der Arme
steht unter Drogen. Ein Wunder, dass er hier in der Stadt herumgelaufen ist.“
„Lebt er denn?“, fragte Martha ängstlich und umklammerte ihre Einkaufstüte
(die bis zum Rand gefüllt war mit billigen schwarzen Nylonstrumpfhosen).
Der Doktor nickte.
„Ja, aber wir sollten trotzdem keine Zeit verlieren und ihn umgehend in ein
Krankenhaus bringen. Danke, dass Sie so schnell reagiert haben. Sie haben ihm
sicher das Leben gerettet.“
Martha atmete erleichtert auf und richtete mit beiden Händen ihre Dauerwelle,
die vor Aufregung ganz durcheinander geraten war.
„Was für ein Glück! Der Mann ist ja noch so jung! Noch keine
fünfundzwanzig! Er hat ja sein ganzes Leben noch vor sich! Ach so jung möchte
ich auch nochmal sein... dann würde ich ein bisschen mehr Sport treiben, nach
Malibu fliegen, und mit dreißig einen feschen Südländer heiraten. Nichts für
ungut, Günther, mein Schatz.“
„Ach tatsächlich?“, antwortete Günther mit zusammengekniffenen Augen.
Während also das ältere Ehepaar in aller Öffentlichkeit einen Streit um
Sport, Malibu und hübsche Südländer vom Zaun brach (der zu einer ernsthaften
Ehekrise eskalierte die in der Scheidung mit fünfundsechzig endete), wurde
Daishi also auf dem schnellsten Weg ins nächste Krankenhaus verladen, wo er
schließlich die nächsten Wochen verbringen würde, ohne Toshiya oder
irgendjemand anderen auf irgendeine Weise zu behelligen.
Nun, da Daishi sauber in einer Klinik verstaut war ohne jemandem Schaden
zugefügt zu haben (außer vielleicht Marthas Dauerwelle, die ja vor Aufregung
ganz schön durcheinander gekommen war) wird sich der aufmerksame Leser sicher
fragen, um wen es sich dann bei dem Mann mit den abgetragenen Nike-Turnschuhen
(die an der Seite von einem kolossalen Loch geziert wurden, das unschöne
Einblicke in das Innenleben des Schuhs (und auf einen hässlich grau-blauen
Socken) gewährte) handelte, der unseren Lieblingshyperaktivem Takumi so
hartnäckig gestalkt und schließlich eingeholt hatte.
Dazu sollten wir vielleicht an der Stelle anknüpfen, an der Takumis Absatz
beschloss sich aus der ganzen Geschichte abzuseilen, die ihm langsam zu heikel
wurde.
„Verd-“, fluchte Takumi. Er hatte gewusst, dass das irgendwann passieren
würde. Nur warum ausgerechnet jetzt?
Warum musste sein rechter Pfennigabsatz ausgerechnet jetzt abbrechen, da ihm ein
Irrer in abgetragenen Nike-Turnschuhen auf den Fersen war?
Wie in Slow-motion knickte er ab, flog in hohem Bogen durch die Luft und landete
der Länge nach in der nächsten Pfütze. Übrigens die einzige Pfütze weit und
breit. Irgendwie war heute nicht sein Tag.
Der Mann hatte ihn eingeholt. Jetzt stand er mit rasselndem Atem neben der
Wasserlache. Takumi rührte sich nicht. Zum einen hatte er das Gefühl, dass er
lieber noch ein bisschen liegen bleiben wollte, um dem Fremden nicht ins Gesicht
sehen zu müssen, wo bereits seine Turnschuhe und die darunterliegenden Socken
ein Verbrechen an jeglicher Ästhetik darstellten. Zum anderen tat sein rechter
Knöchel höllisch weh. Dieser vermaledeite Absatz. Er musste sich beim
Umknicken eine unschöne Verletzung zugezogen haben. Mal ganz abgesehen davon
war er bis auf die Knochen durchweicht von schmutzigem versifften
Pfützenwasser. Der Mann schien sich an keinem dieser Dinge zu stören, packte
den schmalen Jungen an der Hüfte und warf ihn sich über die Schulter, wie ein
nasses Handtuch. Ungefähr so fühlte Takumi sich auch im Augenblick. Er ließ
sich ohne großen Protest wegtragen. Was machte es jetzt noch aus? Es wäre
reine Energieverschwendung sich gegen einen Mann zu wehren, der ihn ohne Mühe
aufhob und davontrug, als wäre er ein Sack Hausmüll.
Langsam glitt Takumi sein Handy aus den nassen zitternden Händen, traf auf dem
Asphalt auf und zerschellte in tausend pinke Plastiksplitter.
„Idiot. Hohlbrot. Was soll der Scheiß?“
Toshiya drehte sich um.
„Kyo?!“, schniefte er ungläubig. Kyo war ihm gefolgt.
„In der Tat, Trottel“, antwortete Kyo und lächelte säuerlich.
„Warum beschimpfst du mich?“, fragte Toshiya mit naivem Unschuldsblick, weil
ihm im Augenblick keine andere Frage und kein anderer Gesichtsausdruck einfiel.
„Wie kannst du es wagen, mich mitten in der Stadt einfach so, einfach so...
ekelhaft“, motzte Kyo und schloss zu dem Verbrecher auf, der ihn eben auf
unschicklichste Weise ohne Vorwarnung geküsst hatte. Die Situation war so
absurd, dass Toshiya plötzlich grinsen musste. Also hatte er irgendetwas in Kyo
bewegt. Ansonsten wäre er ihm wohl nicht den ganzen Weg nach Hause gefolgt.
„Was grinst du so bescheuert“, fauchte Kyo und seine Augen blitzten
gefährlich. Er hatte gute Lust Toshiya einfach eine reinzuhauen. Dieser wurde
plötzlich wieder von dem unerschütterlichen Mut ergriffen, der ihn bereits
mehr als einmal in größte Schwierigkeiten gebracht hatte.
„Ich habe dich geküsst. Na und? Gibt’s daran irgendwas auszusetzen?“,
fragte er lässig, als hätte er Kyo eine Tasse Lavendeltee gebracht, obwohl
dieser ausdrücklich nach Kamille verlangt hatte.
Kyo platzte fast vor Wut. Ausgerechnet er, der sonst immer eiskalt und völlig
cool war, mit seiner Devil-may-care-Lebenseinstellung, bebte innerlich vor
Entrüstung ob dieser Demütigung.
„Ob es daran was auszusetzen gibt, du hirnverbrannter Idiot? Du hast mich
beleidigt! Das wirst du büßen...“, brummte er und dann, ganz leise, fügte
er hinzu, „... aber lass dir eines gesagt sein. Wenn du das getan hast, weil
du dir etwas erhoffst, dann bist du wirklich krank. Und lebensmüde.“
Toshiya zuckte die Achseln. Was sollte er darauf schon groß antworten. Gerade,
als er sich wieder umdrehen und weitergehen wollte, packte ihn etwas, rammte ihn
mit aller Gewalt gegen die nächste Hauswand und hielt ihn so fest
dagegengepresst, dass er kaum atmen konnte. Unglaublich, wieviel Kraft in
diesem, nun ja Kind steckte. Immerhin war Kyo ein Jahr jünger als Toshiya (und
ungefähr zwei Meter kleiner, aber das mal beiseite gelassen).
„Wage es nicht noch einmal. Niemand fasst mich so an. Ich hasse Berührungen.
Aber wenn du vorhast zu sterben, dann bitte...“, zischte Kyo.
Toshiya überlegte.
Warum hatte er auf einmal große Lust Kyo zu reizen? Und woher kam dieses
wagemütige lebensmüde Gefühl in seinem Herzen? Eigentlich sollte er kuschen,
sich entschuldigen und bloß keine weitere Dummheit begehen.
Er beugte seinen Kopf nach vorne, zumindest soweit das bei Kyos Klammergriff
möglich war, und drückte seine Lippen auf dessen Stirn. Sekunden vergingen.
Kyo schien vor Wut zu beben.
Er hatte es schon wieder getan. Zwar dieses Mal nicht auf den Mund, aber er
hatte ihn schon wieder geküsst.
„Lass mich in Ruhe du Perverser. Mach lieber mit Hakuei rum“, murmelte Kyo,
wobei es ihm offensichtlich schwer fiel sich davon abzuhalten den anderen nicht
gleich k.o. zu schlagen. Toshiya gluckste. Warum war ihm noch immer zum Lachen
zu Mute? Jetzt hatte sich sein Verstand wohl endgültig verabschiedet.
Kyos Selbstbeherrschung bröckelte. Er sagte sehr leise: „Lass dir eines
gesagt sein. Wenn du mich so provozierst, dann werde ich dir wehtun. Ernsthaft
wehtun. Ich kann das, glaub mir.“
„Na und?“, hauchte Toshiya wagemutig.
„Ich habe rein gar nichts zu verlieren. Ich bin deinen Bruder gewohnt.“
Er ließ ein bitteres Lachen hören.
Kyo starrte ihn an. Was war plötzlich mit Toshiya passiert? Seit wann war er so
direkt und gefasst? Und dieser Galgenhumor... das war doch nicht normal.
„Du verstehst mich nicht“, brummte er und presste den anderen Jungen noch
ein wenig fester gegen die kalte Steinmauer, um ihm das bescheuerte Lachen
abzudrehen. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Feine Tropfen rannen über
Toshiyas Gesicht. Er blickte Kyo furchtlos in die Augen. Dieser wurde dadurch
noch einen Tick wütender. War Toshiya wirklich so dämlich oder warum wollte er
es nicht begreifen?
„Hör mir zu, Idiot“, fauchte er weiter und legte eine Hand um Toshiyas
Hals.
„Reiz mich noch weiter und ich werde dir Schmerzen zufügen. Es gab schon
einmal einen Jungen, der gemeint hat, er müsse mir unbedingt seine grenzenlose
Liebe zeigen. Ich habe ihn so verprügelt, dass er mit unzähligen
Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Die Memme war eh schon
angeschlagen, hatte ein schwaches Herz. Ich hab ihn fast umgebracht. Begreifst
du das? Nur weil er... nur weil mich unbedingt berühren musste...“
Das machte Toshiya dann doch ein wenig nachdenklich. Aber aus anderen Gründen,
als man vielleicht annehmen würde.
„Hängt das damit zusammen, dass du auch misshandelt wurdest? Von wem
eigentlich?“, plapperte Toshiya und versuchte seine durch Kyo ausgelöste
Atemnot einigermaßen zu ignorieren. Er war der Meinung, dass es sowieso schon
egal war, ob er sich gerade um Kopf und Kragen redete. Und obwohl er kaum Luft
bekam und Kyos Griff langsam wirklich wehtat, wurde er das Gefühl nicht los,
dessen Nähe auf eine sehr absurde Art und Weise zu genießen. Er konnte sich
noch immer beim besten Willen nicht erklären, was an dem kaltherzigen
egoistischen Jungen ihn so sehr anzog.
„Wenn du es wissen willst, ja, verdammt“, rief Kyo und drückte seine Hand
um Toshiyas Hals zu.
„Dann sag doch endlich was los war, danach kannst du mich gerne verprügeln.
Ist doch eh schon egal“, würgte Toshiya. Kyo schnaubte erzürnt. Er konnte
nicht glauben wie lebensmüde und aufdringlich dieser Typ plötzlich war. Bebend
vor Wut schloss er die Finger noch fester um Toshiyas Hals.
„Aber du bist nicht so stark wie du tust. In Wahrheit“, Toshiya hustete,
„in Wahrheit hast du Angst eine Bindung einzugehen. Du hast-“ Seine Stimme
versiegte wie Wasser, wenn man den Hahn zudreht. Langsam wurde es wirklich eng
mit der Luft und wenn Kyo sich nicht in den nächsten Sekunden dazu bequemte
seinen Hals freizugeben, würde er wohl zum dritten Mal vor dessen Augen
umkippen. Nur, dass Kyo dieses Mal wenigstens die direkte Ursache wäre. Leider
brachte Toshiya kein bitteres Lachen mehr zu stande, ihm fehlte schlicht
ergreifend der Atemspielraum.
„Ja“, brummte Kyo und ließ Toshiya so plötzlich los, dass er zu Boden
fiel. Zitternd fasste er sich an den Hals und keuchte.
„Ja, ich habe tatsächlich Angst. Aber du hast keine Ahnung warum. Oder besser
um was.“
Toshiya hob den Kopf.
„Ich sage es dir ein letztes Mal. Wenn du es weiter darauf anlegst, werde ich
dir Schmerzen zufügen.“
„Weil du meine Berührung nicht erträgst, oder was?“, presste Toshiya mit
halbem Lachen hervor. Was sollte dieses ganze dramatische Gerede über
Schmerzen?
„Das war mal“, murmelte Kyo düster, „als ich jünger war. Ich bin nicht
mehr so schwach wie damals...“ Seine Miene verfinsterte sich. Toshiya rappelte
sich auf so schnell er konnte, machte ein paar mutige und wankende Schritte auf
Kyo zu-
-und nahm ihn in den Arm. Er stolperte an die schmale Schulter und umklammerte
sie mit zitternden Händen.
Es dauerte keinen Herzschlag und Toshiya fand sich ein zweites Mal eingeklemmt
zwischen Mauer und Kyo wieder.
„Du bist so ein hirnloser Idiot!!! Warum begreifst du es nicht??! Wenn du
weitermachst, dann steige ich drauf ein, und ich bin ein unerträglicher und
eifersüchtiger Partner. Ich würde jeden umbringen, der dich anschaut, Kaoru,
Hakuei, Uruha... Verstehst du nicht? Ich kann mich nicht kontrollieren...“,
fauchte Kyo. Toshiya kniff die Augen zusammen.
„Au, du tust mir weh“, presste er hervor. Dieses Mal wurde es im wahrsten
Sinne des Wortes wirklich eng. Kyo hielt ihn so fest an die Wand gepresst, dass
Toshiya meinte seine Rippen müssten jeden Augenblick bersten.
„Siehst du, was ich meine? Falls du es noch nicht gecheckt hast: Ich gehe
nicht einfach so eine Beziehung ein. Wenn ich mit jemandem zusammenkomme, dann
gehört er mir. Und zwar mit Haut und Haaren. Das erträgst du nicht, glaub
mir.“ In seiner Stimme schwang Verbitterung mit. Aber Toshiya wusste genau,
was er wollte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er sich einer Sache wirklich
sicher.
„Das ist mir egal!!“, hauchte er kraftlos, „Glaubst du, ich habe nichts
durchgemacht?! Ich hab auch einiges hinter mir... ich weiß, was ich will. Und
es ist mir egal, Kyo, ich nehme alles in Kauf...“ Toshiya wäre auch noch
deutlicher geworden, wenn ihm nicht langsam aber sicher so richtig schwarz vor
Augen geworden wäre. Kyo hatte ihn schon wieder im Würgegriff.
Nein, der Kleine war wirklich nicht harmlos. Und wenn es um Zärtlichkeit und
Liebe ging, wurde er anscheinend zur Bestie.
Aber Toshiya war es gleich. Er hatte das Gefühl endlich einmal nicht auf dem
Holzweg zu sein (ok, er wurde gerade von einem jüngeren, kleineren Japaner fast
erwürgt und war trotzdem noch so dämlich auf seine Position zu beharren, aber
das mal beiseite). Außerdem wusste er nun, dass er Kyo in der Tat nicht egal
war. Unter diesen Umständen würde er eher sterben, als aufgeben.
Takumi würde momentan lieber aufgeben, als sterben. Doch blöderwiese hatte er
keine Wahl. So ist das, wenn man zur falschen Zeit mit den falschen Schuhen (und
einem treulosen Absatz) am falschen Ort ist.
Der Kerl hatte sich seiner widerlichen Nikes (und glücklicherweise auch der
Socken) entledigt. Positiv zu vermerken ist, dass er es offenbar viel zu eilig
hatte, um sein Opfer ebenfalls zu entkleiden. Takumi kämpfte in einem
Augenblick noch mit dem Brechreiz, im nächsten hatte er bereits
unbeschreibliche Angst. Sein Peiniger war irgendein Sack Mitte vierzig, er hatte
ihn noch nie zuvor gesehen, was ein weiterer postiver Zug des Ganzen war, und er
hatte auch absolut keine Lust sich sein Gesicht in irgendeiner Weise
einzuprägen.
Es war feucht und dunkel. Takumi war einige Treppen hinuntergeschleppt und in
irgendeine Ecke geworfen worden. Ein sehr nützlicher Klebebandstreifen über
Augen und Mund hinderte ihn daran den Widerling zu sehen oder sich zu
übergeben. Die Luft schmeckte, als habe sie die letzten fünfhundert Jahre hier
unten herumgelungert (vielleicht in Gesellschaft von ein oder zwei Leichen).
Seine falschen Wimpern konnte er wohl ganz vergessen. Sollte er die klebrige
Augenbinde je wieder loswerden, würde sie sicher die Hälfte seines Gesichts
mitnehmen.
Falls er sie je wieder loswurde.
Plötzlich zitterte er.
Langsam, ganz schleppend wurde ihm seine Situation bewusst. Und er bekam Angst,
wie er sie noch nie in seinem Leben empfunden hatte. Er musste an Toshiya
denken.
Schon erstaunlich wie wert- und sinnlos ihm auf einmal sein ganzes Leben vorkam.
Klamotten, Make-up, hübsch aussehen, im Mittelpunkt stehen... alles was ihm
wichtig war, alles auf das er Stunden und Aberstunden verschwendet hatte...
Wie traurig.
Der Mann berührte ihn.
Und hob seinen Rock hoch.
Und fasste ihn an.
Takumi bebte. Tränen sammelten sich unter dem Klebebandstreifen. Schließlich
startete er einen letzten verzweifelten Versuch sich retten. Ein bisschen spät.
Das einzige was er damit bewirkte war, dass zusätzlich noch seine Handgelenke
in den Würgegriff genommen wurden.
„Zappel nicht rum“, murmelte der Mann hektisch. Takumi erstarrte zu Eis.
Diese Hände. Vor seinen Augen blieb alles schwarz.
Vielleicht waren die Splitter seines Handys auf dem Asphalt das letzte was er in
seinem Leben je sehen sollte.
[So, jetzt ist aber Schluss mit der sinnlosen Gewalt.]
„Mehl... Butter... wunderbar. So, jetzt dreimal nach rechts rühren... dreimal
nach links... schütteln... wieder rühren... würgen... viermal rechtsrum...
einmal linksrum...“
Ryutaro schob die Küchentür auf. Das erste was er erblickte war Sakito, der
auf dem Boden hockte und voller Konzentration in eine große blaue
Plastikschüssel starrte, in die er mit regelmäßigen Abständen diverse Dinge
warf, die er dann mit einem großen Holzlöffel, kräftigen Handbewegungen und
unter übelkeitserregnden Geräuschen verquirlte.
„Äh, Saki. Äh, da ist jemand für... äh... ich weiß nicht für wen. Er
sagt er sucht seinen Bruder.“
„Hi“, sagte der Junge und feixte.
Sakito blickte auf. Und blinzelte. Die Sekunden verrannen.
„Setz doch die Brille ab. Dann siehst du etwas“, schlug Ryutaro leise vor.
„Oh. Ja“, murmelte Sakito zerstreut, striff seine liebste Schweißerbrille
mit den getönten Gläsern über den Kopf und musterte den Gast. Dann stieß er
einen gellenden Schrei aus.
„AAAAARGH!! Nicht du!!!!“
Der Junge grinste aus unerfindlichen Gründen.
„Kennen wir uns?“, fragte er und tippte an das Schild seiner wild
gemusterten Kappe.
Ryutaro starrte von der Seite auf die spitzen Eckzähne. Was für eine
ausgesprochen bescheuerte Frage in Anbetracht der Tatsache, dass dieser Kerl
eben bei den Haras geklingelt hatte. Wenn er Sakito nicht kannte, wozu dann der
ganze Aufwand?
„Wer bist du?!“, rief Sakito und umklammerte seinen Holzlöffel.
„Häh?“, machte Ryutaro verdutzt und starrte von einem Jungen zum anderen.
Wer kannte jetzt wen und wer kannte jetzt wen nicht? Kannte sich überhaupt
irgendjemand? Häh?
„Ich weiß nicht wer du bist, aber du siehst jemandem verdammt ähnlich, den
ich kenne“, sagte Sakito und hielt sich den Holzlöffel wie ein Schwert vor
die Brust.
„Aber das kann nicht sein. Zwei von der Sorte kann es nicht geben. So grausam
ist das Leben nicht. Wen suchst du, deinen Bruder? Und wer ist das bitte?“
In einer fahrigen Handbewegung setzte er seine Schutzbrille wieder vor die
Augen, knotete sich ein Taschentuch vor den Mund, hielt den Kochlöffel im
Anschlag und wartete die Antwort auf seine Frage ab, bereit den Fremden wenn
nötig mit einem einzigen Schlag k.o. zu hauen.
Der Junge ließ seine lackierten Nägel durch die zehn oder elf
Milli-Molly-Mandy Ketten gleiten, die ihm um den Hals baumelten.
„Ich bin Tara und suche meinen kleinen Bruder, Takumi. Bin erst vor drei
Stunden mit dem Flieger aus Japan gekommen. Bei uns zu Hause ist niemand, aber
ich hab euere Adresse im Notizbuch von meinem Bruder gefunden. Könnt ihr mir
weiterhelfen?“
Ryutaro klappte der Mund auf. Takumis Bruder. Nun sah er es auch. Ein Wunder,
dass ihn die völlig offensichtliche Tastache nicht angefallen und in die Nase
gebissen hatte. Diese grellen Kontaktlinsen, das süße Gehabe, die zappelige
Art, das enorm auffällige und kunstvolle Styling und nicht zuletzt diese
Eckzähne und das gruselige Grinsen. Ein vollkommener Takumi Klon, selbst die
Haarfarbe stimmte. Das Leben konnte manchmal echt gruselig (und furchtbar
hinterhältig) sein.
Sakito antwortete nicht. Seine Miene war versteinert. Offensichtlich hatte er
eben mit einem Schlag seinen Glauben an die Gerechtigkeit und das Gute im Leben
verloren. Immer noch den Löffel umklammernd stürzte sich der arme Junge
kopfüber in die große Plastikschüssel, die ihn mit einem Schmatzen aufnahm.
„AAAAHH! SAKI!!“, kreischte Ryutaro, war mit einem Satz an der Seite seines
Freundes und versuchte ihn aus der Schüssel zu ziehen. Dieser, entschlossen
seinem Leben ein Ende zu setzen, hielt seinen Kopf weiterhin im zähen gelben
Teig vergraben. Einzelne Blasen stiegen auf und zerplatzen an der Oberfläche.
Den blubbernden Geräuschen nach zu schließen gab Sakito sich alle Mühe damit
sich in seinem eigenen Gematsch zu ertränken. Ein wagemutiges Unterfangen, wenn
man bedenkt, dass er einige Minuten zuvor noch Arsen, Lurchzunge und drei Liter
Schweinehaar hineingerührt hatte. Eidechsenschwänze dümpelten um die
schwarzen Haarsträhnen im Teig. Es ließ sich nicht ganz klar sagen, aber man
konnte nach längerem Hinsehen den Eindruck gewinnen, dass die gelbliche Masse
leichte Wellen schlug, die über die Tierteile hinwegschwappten. Am
Schüsselrand klebte etwas, das stark nach einem winzigen Surfbrett aussah.
Eventuell aber auch nur ein Blatt oder ein Finger.
„Magst du Takumi nicht? Was hat er denn angestellt? Er ist doch so ein süßer
kleiner Junge. Ganz sein Bruder.“
Sakito tauchte urplötzlich aus dem Teig auf wie ein Untoter aus seinem Sumpf
(und genauso sah er auch aus fand Ryutaro) und warf Tara einen wirren Blick zu.
„Also dir haben wir die nervtötende Art dieser glitzernden Tussie zu
verdanken...“, murmelte er.
„Von deiner Nase tropft Teig“, stellte Tara ungerührt fest.
Sakito hob seinen Kochlöffel drohend in die Luft.
„Sieh bloß zu, dass du wegkommst“, brummte er. „Noch so jemandem wie
Takumi halte ich nicht aus. Du kannst gleich nach Japan zurückgehen.“
„Langsam, langsam. Jetzt reagier doch nicht so übertrieben. Bin ja gleich
wieder weg. Ich will nur wissen, wo Taku ist, dann verschwinde ich gleich
wieder. Nachdem ich jetzt in Deutschland bin, werden wir uns in nächster Zeit
wohl sowieso öfters sehen.“
Sakito ließ seinen Kopf wieder in die Schüssel plumsen.
„Takumi ist nicht hier im Haus. Ich hab keine Ahnung wo er sich aufhält, aber
wenn du das wissen willst fragst du am besten Uruha“, erklärte Ryutaro,
packte Sakito mit beiden Händen an den Schultern und zog ihn mit einem
kräftigen Ruck aus dem Teig.
„Lass, Ryu, mein Leben hat keinen Sinn mehr...“, murmelte Sakito düster,
krallte sich am Schüsselrand fest und versuchte seinen Kopf wieder gewaltsam in
die Wogen zu tauchen. Sekundenlang rangen die beiden miteinander, bis Sakito
sagte: „Und im Teig sind übrigens extrem große Luftblasen. Ich würde nicht
mal ersticken, wenn ich drin einschlafen würde...“
„Saki, warum tust du mir das an?“, keuchte Ryutaro und umarmte seinen
klebenden Freund von hinten.
„Und wer ist Uruha?“, warf Tara ein.
„Uruha ist mein großer Bruder“, sagte Sakito und wischte sich mit einem
Taschentuch die Pampe aus dem Gesicht. „Er ist mit Takumi zusammen.“
Tara hob die aufgemalten Augenbrauen.
„Soso. Schwul also. Er kommt wirklich ganz nach mir.“
„Das wusstest du nicht?“ Sakito runzelte die grün-blau gefleckte Stirn.
„Wie lange warst du denn in Japan?“
„Sagen wir so. Als ich Taku das letzte Mal gesehen hab, spielte er mit seinen
Freunden aus der Grundschule im Sandkasten. Das war so vor neun Jahren. Unsere
Eltern haben sich getrennt, ich bin mit meinem Vater in Japan geblieben, Takkun
ist bei Mama nach Deutschland. Und die hat mich vor ner Woche angerufen. Mann,
ich war ganz schön geschockt ihre Stimme nach so langer Zeit wieder zu hören.
Sie meinte bloß, sie ist auf Geschäftsreise und hat dabei völlig vergessen
Takumi das zu sagen. Ich solle mich doch bitte um ihn kümmern. Als könnten das
nicht auch die Nachbarn tun. Ich also, vorbildlicher Bruder der ich bin,
schwinge mich in den nächsten Flieger und düse nach Deutschland. Super,
ne?“
Tara klimperte die Wimpern, ließ sich auf einen der roten Klappstühle sinken,
schlug die Beine übereinander, zog einen Spiegel aus der Tasche, klappte ihn
auf und begann aufmerksam seine Lippen zu inspizieren.
„Eure Mutter ist auf Geschäftsreise gefahren und hat zufällig vergessen
Takumi das mitzuteilen?“, fasste Sakito zusammen. Er rieb sich das Furunkel,
das sich langsam und sehr blau auf seiner rechten Wange bildete.
„Rein zufällig“, nickte Tara und fuhr sich mit der Zunge über die spitzen
blinkend weißen Zähnchen.
„Rabenmutter, was?“, brummte Sakito. „Mist, das juckt ganz schön.“ Er
befühlte fluchend seine fleckige Haut. Eventuell hatte er seinen Kopf ein wenig
zu vorschnell in den Teig getaucht. Vielleicht hätte man statt Otterzitzen eher
Gelbwurzextrakt hinzufügen sollen. Oder einfach ein, zwei Blätter Lavendel.
Zumindest entsprach der Geschmack nicht direkt seiner Vorstellung.
„Tja, sie ist ne miserable Mutter, stimmt. Warum rufst du Taku nicht an und
sagst es ihm selbst, hab ich ihr natürlich gesagt. Sie kam mit irgendwelchen
fadenscheinigen Gründen an, das nicht zu tun. Wenn ihr mich fragt hat sie
einfach Schiss. Der Kleine ist ihr eigentlich zuviel, sie kümmert sich
wahrscheinlich eh kaum um ihn, aber gleichzeitig hat sie ein schlechtes
Gewissen. Und Angst vor Takus Vorwürfen. Tja, Frauen... so sind sie eben...
Zumindest hat sie jetzt anscheinend einen Weg gefunden um sich klammheimlich aus
dem Staub zu machen. Auch nicht schlecht. Du hast da was.“
Tara deutete angewidert auf Sakitos Gesicht, von dessen Haut sich merkwürdige
Gebilde abhoben, die zusätzlich noch eine sehr lustige Färbung aufwiesen.
„Ryu, erinner mich daran, dass ich den Teig nächstes Mal nicht so lange
rühre“, sagte Sakito und vertiefte sich in ein Rezept, das er aus der linken
Hosentasche gezogen hatte. Er studierte die Auflistung der Zutaten. Dann nahm er
einen Kuli zur Hand, strich eine Mengenangabe durch und korrigierte sie.
„Und weniger Otterzitzen. Entschieden weniger Otterzitzen.“
Ryutaro sagte nichts. Er warf seinem Liebsten nur einen mitleidigen Blick zu und
ging die Salbe suchen, die schon die ein oder andere größere Katastrophe
wieder behoben hatte.
„Und wo finde ich diesen Uruha?“, sagte Tara mit Blick auf die Uhr.
„Gar nicht“, antwortete Sakito. „Er sucht meinen Bruder Toshiya.“
„Wie viele seid ihr denn?“
„Drei Jungen.“
„Und kochen die alle so abgefahrene Sachen?“
Sakito musterte verstimmt das breite Grinsen auf Taras pausbäckigem Gesicht.
„Ich bin das einzige Genie in der Familie falls du das meinst.“
Die Tür flog mit einem Knall auf.
„Saki, Ryu!! Hat Totchi sich schon gemeldet“, rief eine aufgebrachte Stimme.
Tara erhob sich von dem Klappstuhl und musterte interessiert den hübschen
blonden Jungen, der in der Tür stand. Er sah so aus, als sei er ohne
Regenschirm (oder mit, das ist in dem Fall egal) quer durch einen Monsun gerannt
und habe dabei mit einem hirnkranken Bären getanzt. Hinter ihm tauchte ein
weiterer Junge auf, eben so groß wie der erste, eben so zerzaust und
durchweicht und mindestens eben so bildhübsch. Ja, das Ganze wurde langsam
wirklich interessant.
„Uh. Oh. Saki. Wie hast du das gemacht?“
Mit verzogenen Mundwinkeln ließ Uruha seinen Blick über Sakitos Gesicht
gleiten (keine besonders intelligente Idee, da Sakitos Haut so aussah, als wäre
jegliche Berührung mit ihr tödlich oder zumindest ansteckend).
„Papperlapapp“, winkte Sakito ab. „Ich hab jetzt keine Lust mit dir über
Schminke und Hautcremes zu diskutieren.“
Hakuei und Uruha warfen sich einen Blick zu.
„Das meinte ich nicht, Saki“, sagte Uruha und näherte sich ein paar
Schritte. „Es ist eher so... so... ist ja auch egal. Hat Totchi sich
gemeldet?“, fügte er, wieder wesentlich aufgebrachter, hinzu.
„Nö“, sagte Sakito und wandte Ryutaro widerwillig das Gesicht zu. Dieser
verlor keine Sekunde und bedeckte es großzügig mit einer widerlich stinkenden
Salbe.
Uruha ließ sich völlig fertig auf den nächsten Stuhl fallen.
„Scheiße“, murmelt er, das Gesicht in den Händen. „Scheiße.“
„Wir finden ihn schon. Bestimmt machen wir uns Sorgen um nichts“, sagte
Hakuei und klopfte seinem Ex-Freund tröstend auf die Schulter.
„Das mein ich aber auch“, stimmte Sakito zu. „Danke Ryu, das dürfte
reichen.“
Ryutaro nickte, drehte die Salbe zu, erhob sich, zog einen Klappstuhl neben
Uruha und legte beschwichtigend seine Hand auf die des Blonden.
„Saki hat Recht. Toshiya ist sicher wohlauf.“
Es klingelte.
„Oh, da sind sie“, murmelte Sakito geschäftig, sprang auf und wuselte zur
Haustür. Draußen standen Die und Shinya.
Und dahinter eine Gruppe von etwa fünfzig Senioren inklusive Touristenführer.
„Wir können nichts dafür“, sagte Shinya und trat schnell ein. „Sie sind
uns einfach gefolgt.“
„Äh-hähä“, machte Die.
„Hallo Die, hallo Shin. Nett euch zu sehen, aber woher kommt ihr so
plötzlich?“, sagte Sakito. Und an die Menschenmasse gerichtet: „Meine
Damen, meine Herren, treten Sie bitte ein. Mein Name ist Sakito Hara. Herzlich
willkommen in meinem bescheidenen Heim.“
„Hi, Die. Hi, Shinya“, wiederholte Ryutaro Sakitos Worte. „Kommt rein und
setzt euch. Was führt euch hierher?“
„Oh dies und das“, summte Die vergnügt.
„Wir wollten Toshiya besuchen“, antwortete Shinya.
„Der ist nicht da. Uruha und Hakuei suchen ihn nun schon seit Stunden“,
flüsterte Ryutaro und deutete mit einem Kopfnicken auf Toshiyas älteren Bruder
und dessen Ex-Freund, die beide durchnässt bis auf die Knochen in ihren
Klappstühlen hingen. Uruha sah aus als würde er gleich in Tränen ausbrechen,
während Hakuei den Eindruck machte kurz vor einem Wutausbruch zu stehen.
„Oh“, murmelte Shinya.
Und noch einmal: „Oh. Verstehe. Sie denken an – an die Sache mit Daishi und
haben natürlich Angst um Toshiya...“
„Woher weißt du das mit Daishi?“, fragte Ryutaro erstaunt. Shinya
schüttelte langsam den Kopf.
„Uruha hat’s mir mal erzählt. Ist ne andere Geschichte. Wie auch immer,
Toshiya wird sicher bald auftauchen.“
„Verzeihung“, sagte eine krächzende Stimme von links. „Dürfte ich das
mal-“
„Aber bitte. Gerne doch“, antwortete Shinya freundlich und hob seinen Arm,
damit die alte Rentnerin die Tischplatte inspizieren konnte.
„Ach verzeihen Sie, junger Mann“, sagte jetzt ein verlottertes
Hutzelmännchen und stupste Uruha mit seinem knorrigen Stock in die Rippen.
„Könnten Sie sich vielleicht erheben, seien Sie so nett. Ich möchte mir nur
die Sitzfläche einmal ansehen. Interessanter Stuhl, wirklich... Hulda,
Weinfried! Kommt her und seht euch das an!“
Auf Kommando schleppten zwei weitere Greise ihre rheumatischen Knochen zu Uruhas
Stuhl. Dieser erhob sich sichtlich verwirrt. Dann fiel sein Blick auf Sakito,
der in der Mitte der Küche auf einer Holzkiste stand und mit großen Gesten auf
diverse Dinge im Raum wies. Dabei drückte er immer wieder einen der Knöpfe auf
der Fernsteuerung in seiner Hand, Geräte und Schränke traten aus den Wänden
und verschwanden wieder. Die Senioren jubelten und klatschten in ihre knochigen
Gichthände.
„Sakitoooooooo“, sagte Uruha fröhlich. „Könnte ich dich mal ganz kurz
sprechen?“
Er lächelte die Rentner vergnügt an, die sich zu ihm umdrehten.
„Bitte, Uruha, ich muss arbeiten, geht das nicht spä-gack“, würgte Sakito,
als sein großer Bruder ihn in den Schwitzkasten nahm und in den Flur
schleifte.
„Verzeihung. Entschuldigung. Dürfte ich bitte vorbei“, sagte Uruha und
schob sich durch die Masse aus Glatzen, knorrigen Gliedern und
Stützstrümpfen.
„WAS ZUR HÖLLE MACHEN DIESE OMIS UND OPIS IN UNSERER KÜCHE???!!!“,
brüllte er, sobald die schalldichte Tür lautlos und geschmeidig wie eine
Jungfrau hinter ihnen zugesaust war.
„Meine Küche, Uruha, meine Küche. Und diese Omis und Opis sind eine
Seniorenreisegruppe, die eine Führung durch eben meine Küche gebucht
haben.”
„Sie haben was?“
Uruhas Mundwinkel zuckten.
„Sie haben eine Führung durch die Küche gebucht“, wiederholte Sakito
lässig, „den ganzen Nachmittag lang erkläre ich ihnen die Funktionen meines
Wunderwerks und abends gebe ich noch einen Kochkurs. Könntest du mich jetzt
bitte loslassen? Ich muss arbeiten. Und anstatt in der Gegend rumzusitzen und
Toshiya nachzuheulen, der sowieso bald wieder auftaucht, könntest du dich ja
nützlich machen und Getränke ausschenken. Du glaubst nicht, wie ausgetrocknet
diese alten Leute immer sind...“
Sakito wand sich aus dem Griff seines Bruders, schlüpfte zurück in die Küche
und bestieg unter tosendem Beifall der Senioren erneut sein Rednerpult.
Mit eckigen Schritten kehrte auch Uruha in die Küche zurück, ließ sich auf
seinen Stuhl sinken und starrte mit apathischem Blick zu Tara hinüber, der
belustigt die Szene verfolgte.
„Und wer bist du schon wieder? Ein Rentner mit besonders wirkungsvoller
Antifaltencreme?“, murmelte er mit scheelem Blick zu Tara gewandt. „Ryu? Gib
mir bitte das Glas da.“
„Äh, das würde ich nicht trinken, das hat Saki eben aus einer Flasche
eingegossen, die so komisch blau gedampft hat...“, sagte Ryutaro zögernd.
„Ganz egal“, brummte Uruha, langte selbst über den Tisch, grabschte das
Glas und stürzte es hinunter.
„Also?“, fuhr er fort und starrte Tara an. „Entweder du zeigst mir sofort
deinen Behindertenausweis oder du bewegst deinen Hintern aus der Küche. Was
hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“
Tara warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus.
„Hier gefällt’s mir“, gluckste er und tupfte sich vorsichtig eine
Lachträne aus den Glitzerwimpern. „Hier bleibe ich.“
„Miiiiieeeeep“, machte Die. „Falsche Antwort.“
„Er sucht seinen Bruder“, versuchte Ryutaro die Lage zu erklären. Es fiel
ihm nicht ganz leicht, weil drei besonders aufdringliche Greise an seinem
rechten Arm hingen und Fotoaufnahmen von seinen Fingern machten, da Sakito ihn
soeben als seine Muse vorgestellt hatte.
„Ach so. Und wer ist dein Bruder? Methusalem? Das ist leicht, hier sind jede
Menge davon, such dir einen aus. Ich packe ihn dir auch gerne ein. Fangen wir
mit denen da an“, murmelte Uruha finster und verscheuchte die Senioren von
Ryutaros Arm.
„Mein Name ist Tara“, sagte Tara. „Und ich suche Takumi, meinen kleinen
Bruder. Bin eben erst mit dem Flieger aus Japan gekommen, weißt du?“
„Takumi?“, sagte Uruha.
„B-B-Bruder?“, sagte Hakuei.
„Japan?“, krächzte der Rentner, der es sich auf Hakueis Schoß bequem
gemacht hatte. „Das ist aber ganz schön weit, mein junger Herr. Da war ich
noch nie auf Kur, das war mir immer zu weit.“
„Taku ist nicht da... wir... haben uns heute Nachmittag gestritten und er ist
völlig aufgebracht davongerannt. Keine Ahnung. Ich geb dir seine
Handynummer“, murmelte Uruha und begann seine Jacke nach seinem Handy zu
druchwühlen.
„Gib mir lieber deine“, sagte Tara prompt und bleckte seine spitzen
Zähnchen. „Ich kann auch morgend wiederkommen und nachsehen, ob der sich bei
dir gemeldet hat.“
Er ließ ein anzügliches Lachen hören. Uruha und Hakuei warfen sich einen
Blick zu. Shinya eilte Ryutaro zu Hilfe, der von alten verzutzelten Männlein
und Weiblein umlagert wurde. Und Die – nun ja... es sollte vielleicht noch
einmal darauf hingewiesen werden, dass Die sehr leicht manipulierbar ist.
„Tatsächlich?“, entrüstete sich Die. „Rheuma und Heuschnupfen? Was Sie
nicht sagen!“
„Doch doch“, ereiferte sich eine Frau von ungefähr fünfundneunzig. Die
Aufregung in ihrem Gesicht machte sie glatt fünfzehn Jahre jünger und man
hatte das Gefühl sie würde nicht wie all die anderen Greise in der Küche beim
ersten Sonnenstrahl zu Staub zerbröseln, sondern erst beim zweiten oder
dritten.
„Und dann letzten Donnerstag, oder war es Dienstag, ich weiß nicht mehr, sind
auch noch meine oberen Brücken rausgebrochen. Wie damals 1947. Und wieder kein
Zahnarzt in der Nähe.“
„Nein!!“, rief Die aus.
„Doch“, sagte die Alte todernst (doch dabei mehr tot als ernst).
„Oh-oh“, sagte Shinya. Ihm schwante übles. Es wurde Zeit Die von den
Rentnern zu trennen. Sie mussten sowieso noch bei Kaoru vorbeischauen und ihm
das Geschenk für seine Freundin überreichen.
Die ließ sich gerade von einem besonders verschimmelt aussehenden Greis darin
unterweisen wie man es anstellte sich einzucremen ohne dabei sämtliche Teile
seines Gesichts zu verlieren. Mit einem genervten Seufzer riss Shinya seinem
Freund die Wärmedecke vom Schoß, griff seine Einkaufstüte und Ryutaro, und
suchte schnellstens das Weite.
Tja, und Kaoru?
„Mama, wie oft noch? Ich brauche keine Selbsthilfegruppe!“
Kaoru ließ sich genervt gegen die Stuhllehne sinken.
„Ja. Natürlich“, antwortete seine Mutter, warf ihrem Spross einen kurzen
Blick zu und fuhr damit fort die Spülmaschine auszuräumen.
„Ich meine es ernst. Es war alles ein Missverständnis, glaub mir. Ich-“
„Kaoru, du musst dich nicht rechtfertigen. Ich akzeptiere wie du bist, das ist
kein Grund sich zu schämen. Dein... Freund... ist natürlich immer willkommen.
Lass dir nur Zeit. Ich verstehe, dass das nicht leicht ist für dich.“
Kaoru vergrub das Gesicht in den Händen. Warum wollte seine Mutter ihn einfach
nicht verstehen? Seit sie ihn in Mädchenkleidern und mit Hakuei auf der Brust
ertappt hatte – zugegeben eine sehr eindeutige Situation – war sie
felsenfest davon überzeugt ihr eigen Fleisch und Blut sei vom anderen Ufer. Und
das obwohl er ihr die ganze Geschichte mehr als einmal von A bis Z dargelegt
hatte. Ihrer Meinung nach wollte er seine sexuelle Neigung momentan verdrängen,
was am Anfang nur natürlich war. Dabei hatte er Hitomi, seine süße Freundin,
schon des öfteren mit nach Hause gebracht, aber offensichtlich hatte seine
Mutter den Wink mit dem Zaunpfahl nie verstanden und geglaubt es handle sich
lediglich um eine Klassenkameradin. Und nun versuchte sie, hartnäckig wie Pest,
Seuche und Lepra zusammen, ihm mit mütterlichem Rat zur Seite zu stehen.
„Ich will dir doch nur helfen, Kaoru“, sagte sie jetzt und blickte ihren
Sohn mit großen ernsten Augen an.
„Aber vielleicht solltest du besser mit Vater reden. Ein Gespräch unter
Männern sozusagen. Ich hab mit ihm geredet-“
„Du hast WAS?!“
„-und ihm deine Lage verdeutlicht und er hat vollstes Verständnis. Ah, die
hier hab ich dir aus der Apotheke mitgebracht.“
Seine Mutter eilte zu ihrer Handtasche, die über dem Stuhl hing, förderte
einen Stapel Broschüren daraus zu Tage und legte sie ihrem verstörten Sohn vor
die Nase.
Kaoru breitete auf dem Tisch aus und ein starkes Gefühl der inneren Schwäche
überkam ihn.
Ich bin schwul – Was nun?
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Gleichgeschlechtlicher Geschlechtsverkehr – Risiken und Vorgehensweisen
Pink Friday im Club Coco
Gaybar – nur für Cross-Dresser
„Und denk dran: Auch mit Männern muss man ein Kondom benutzen“, sagte seine
Mutter streng und warf ihm ein paar Exemplare hin. „Oh, es hat geklingelt, ich
gehe an die Tür.“
Kaoru ließ langsam den Kopf auf die Arme sinken.
„Das glaub ich einfach nicht.“
Nicht zu fassen.
Wie viel Glück konnte man haben?
Takumi torkelte die Straße entlang.
Dieser alte Sack war offenbar älter gewesen, als er angenommen hatte.
Kurze Rückschau:
Der Mann berührte ihn.
Und hob seinen Rock hoch.
Und fasste ihn an.
Takumi bebte. Tränen sammelten sich unter dem Klebebandstreifen. Schließlich
startete er einen letzten verzweifelten Versuch sich retten. Ein bisschen spät.
Das einzige was er damit bewirkte war, dass zusätzlich noch seine Handgelenke
in den Würgegriff genommen wurden.
„Zappel nicht rum“, murmelte der Mann hektisch. Takumi erstarrte zu Eis.
Diese Hände. Vor seinen Augen blieb alles schwarz.
Vielleicht waren die Splitter seines Handys auf dem Asphalt das letzte was er in
seinem Leben je sehen sollte.
Dieses Stöhnen war wirklich widerlich. Der Typ keuchte wie eine Dampflok. Seine
Finger zitterten über Takumis Haut. Und glitten ab.
Das nächste was an seine Ohren drang war ein merkwürdiger japsender Laut, wie
ein Tier, das Schmerzen hat. Dann landete ein schwerer Körper mit voller Wucht
auf ihm. Vom plötzlichen Aufprall wurde ihm schwarz vor Augen. Fünf Minuten
lag er so da, aufgrund der stechenden Schmerzen in Rippennähe unfähig sich zu
bewegen. Er fasste sich an die Seite. Und blinzelte.
Seine Arme waren frei.
Natürlich, dieser Widerling hatte sie im Schraubstock gehalten. Derselbe
Widerling, der jetzt mit dem ganzen Gewicht seines ekelhaften Körpers auf ihm
lag und sich nicht mehr rührte. Takumi vergewisserte sich nicht mal mehr, ob er
noch atmete, er befreite sich von dem Klebeband, schob den Mann mit aller Kraft
von sich, hievte sich auf die Beine und floh ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Takumi riss sich den Klebestreifen vom Mund und unterdrückte einen Aufschrei.
Seine Knie waren weich wie Butter, und sein Brustkorb schmerzte wie die Hölle.
Der Aufprall von diesem Perversen hatte seinen Rippen offenbar nicht gut getan.
Hinzu kam der verstauchte rechte Knöchel. Und natürlich die Tatsache, dass er
mehr aus- als angezogen durch die Straßen humpelte. Er fühlte sich wie
ausgespuckt, aber zumindest war er in Sicherheit. Als er keinen Schritt mehr
gehen konnte, ließ er sich auf die nächste Bank fallen und brach in Tränen
aus. Er konnte noch immer nicht glauben, dass er mit dem Schrecken davongekommen
war. Nichts war geschehen, aber der Schock saß tief. Doch woher die plötzliche
Wende?
, dachte er bitter.
Wirklich seltsam. Dabei hatte dieser Typ ihn doch vor einer halben Stunde erst
mühelos über die Schulter geworfen. Und dann bekam er irgendeinen Anfall und
brach ohnmächtig zusammen? Komisch.
Was Takumi nicht wusste war die Tatsache, dass der Mann mittleren Alters,
athletisch und körperlich völlig fit, zeitlebens zu hohem Blutdruck geneigt
hatte und die Aufregung tatsächlich etwas zu viel für sein Gehirn gewesen war.
Eine Ader war geplatzt und hatte den Übeltäter ins Aus befördert. Ein
erstaunlicher Zufall, das Ganze hätte auch zwei Stunden später passieren
können, oder zwei Jahre später, aber es war nun einmal so gekommen. Eben einer
dieser dummen Zufälle (von denen diese fanfic nur so strotzt, ja, ich weiß
u.u).
In Takumis Fall aber eher eine glückliche Fügung.
Er erhob sich unter Schmerzen, humpelte zur nächsten Telefonzelle und wählte
den Notruf. Zwischen heftigen Schluchzern gab der Junge seine Lage durch. Dann
überlegte er kurz und bat auch um den Notarzt, der den Perversen wieder
aufpäppeln und dann am besten lebenslänglich einsperren sollte. Dann setzte er
sich wieder auf die Bank und wartete.
Toshiya besah sich die roten Striemen, die Kyo ihm zugefügt hatte, im Spiegel.
„Autsch“, murmelte er und fuhr vorsichtig mit dem Finger über die Haut. Kyo
lehnte lässig an der geschlossenen Tür und beobachtete ihn dabei.
„Du bist ganz schön brutal“, stellte Toshiya fest und wandte Kyo sein
Gesicht zu.
Dieser seufzte genervt auf.
„Zick nicht rum. Ich weiß nicht warum ich überhaupt noch hier bin. Ruki
schafft uns beide aus dem Weg, wenn er Wind davon kriegt.“
„Quatsch“, sagte Toshiya, erhob sich und suchte einen warmen Wollpullover
aus seinem Schrank heraus. „Und du bist noch hier, weil ich darauf bestanden
habe an einem ruhigen Ort mit dir zu reden.“
„Und da schlägst du ausgerechnet euer Haus vor.“
„Warum nicht?“
„Auf dem Weg in dein Zimmer bin ich über zwei Rentner gestolpert, hab mir die
Finger in einem herumliegenden Gebiss eingeklemmt und hätte mich auf der Treppe
beinahe in einem Stützstrumpf verfangen, der über dem Geländer hing.“
„Wenn du dich so anstellst...“, gab Toshiya zurück und stülpte sich den
Pullover über den Kopf. Kyo blitzte ihn wütend an.
„Werd bloß nicht frech. Euer Haus ist die reinste Irrenanstalt.“
„Weiß auch nicht was die ganzen alten Leute zu bedeuten haben, aber ich
fürchte Sakito steckt dahinter. Besser wir lassen sie in Ruhe... so und nun
reden wir.“
Missmutig drehte Kyo den Kopf zur Decke.
„Weiß zwar nicht, was der Scheiß soll, ich hab alles gesagt, was ich zu
sagen hatte, aber bitte...“
Toshiya schritt entschlossen auf ihn zu, beugte sich ein wenig hinab und
drückte seine warmen Lippen auf Kyos Wange.
Dieser hatte für den Tag endgültig genug. Er packte Toshiya an den Schultern
und rammte ihn so fest gegen die Wand, dass sein Kopf mit einem lauten Knall
dagegen schlug.
„Begreife. Endlich.“, brüllte er ihm ins Gesicht. Toshiya keuchte vor
Schmerz.
„Wenn du das nochmal tust, dann werde ich dir schlimmeres antun, als dich nur
ein wenig zu würgen! Das ist meine letzte Warnung, glaub mir.“
„Nein, du musst begreifen“, erwiderte Toshiya trotzig. Jetzt ging das Ganze
wieder von vorne los.
„Ich will mit dir zusammen sein, Kyo. Lass mich bei dir bleiben, ich brauche
dich.“
Kyo starrte ihn an.
„Ist dir klar, was du damit verlangst?“, fragte er mit ungläubigem Blick
und ohne Fauchen, Würgen oder Schreien.
„Du gehörst dann mir – und zwar mir allein. Ich werde dich auch nicht mehr
gehen lassen. Wenn du es dir also plötzlich anders überlegst, hast du Pech
gehabt. Und wie ich gesagt habe: Ich bin ein eifersüchtiger Mensch. Das hältst
du nicht aus.“
„Doch“, beharrte Toshiya. „Ich will es so.“
„Ich mache mit dir was ich will“, zählte Kyo auf. „Ich komme und gehe
wann ich will. Ich behandle dich wie es mir gerade passt. Und wenn du Pech hast
wirst du in mein Untergrundleben verwickelt.“
„Ist mir Schnuppe.“
„Ich breche in Häuser ein-“
„Wunderbar.“
„-deale mit Drogen-“
„Hervorragend.“
„-habe die Schule geschmissen-“
„Bestens.“
„-und mehr als einen Menschen krankenhausreif zugerichtet. Du weißt was ich
mit Daishi gemacht habe. Ich tue das jedem an, der es wagt dich zu beanspruchen.
Irgendwann vergraule ich alle deine Freunde.
„Na dann...“
„Ich hasse Familie-“
„Großartig, meine ist sowieso reif für die Anstalt.“
„-ich hasse Kinder-“
„Kann ich nicht bekommen.“
„-ich hasse Tiere-“
„Hab ich nicht.
„-Gespräche-“
„Führe ich nicht.“
„-Gefühlsduseleien-“
„Papperlapapp.“
„-sowie jeglichen romantischen Schnickschnack.“
„Kann ja nur gut sein“, murmelte Toshiya. In seinen Ohren klang das alles
wie Lappalien. Und was war so schlecht an einem Beschützer auch wenn er jünger
war als er selbst? Außerdem war er sich sicher – absolut sicher – das
richtige zu tun, er wusste selbst nicht weshalb.
„Trotz allem willst du mit mir zusammen sein?“, schloss Kyo und sah Toshiya
durchdringend an. Seine dunklen Haarsträhnen überschatteten die blitzenden
Katzenaugen.
„Ja. Trotz allem. Du hast richtig gehört.“
Kyo sah ihn eine ganze Weile an. Dann stieß er sich, die Hände in den Taschen
vergraben, langsam von der Tür ab.
„Schön“, brummte er. „Dann gibt es kein Zurück mehr. Ich hoffe du bist
dir im Klaren darüber, was du eben getan hast.“
Er öffnete die Tür.
„Ich suche jetzt Ruki und setzte ihn mit der Sache auseinander, es ist besser
für dich er weiß Bescheid, dann überlebst du noch ne Weile...“, er lachte
rau, „...und dann komme ich zurück. Du wirst schon noch merken, was du dir da
eingebrockt hast. Aber dann ist es leider zu spät.“
Mit diesen Worten verschwand er.
Toshiya saß auf seinem Bett und starrte mit klopfendem Herzen zur Tür.
Takumi saß auf der Parkbank und starrte mit klopfendem Herzen zum Ende der
Straße. Jede Sekunde müsste ein Krankenwagen um die Ecke biegen. Langsam wurde
er unruhig. Zwar hatte er erst vor fünf Minuten den Anruf abgegeben, aber was,
wenn dieser widerliche Perversling in seinem stinkenden Kellerloch aufgewacht
war und nun die Gegend nach seinem Opfer durchkämmte? Eine weitere Flucht
würde Takumi nicht durchstehen, seine schmerzenden Rippen und das Stechen im
rechten Knöchel sagten es ihm ganz deutlich.
„Mein Gott, geht es Ihnen gut?“, sagte eine leise Stimme direkt neben
Takumis linkem Ohr. Er schrie auf und wirbelte mit derartiger Heftigkeit herum,
dass er um ein Haar von seiner Sitzfläche gerutscht wäre. Vor ihm stand ein
bildhübscher Junge in eng anliegenden Jeans und tiefrotem Kapuzenpullover
(Kapuzinerpullover^^hähäh). Seine nachtschwarzen Haare waren schulterlang und
umflossen sein blasses Gesicht wie flüssiges Glas. Volle Lippen, von der Kälte
gerötete Wangen, große dunkle Augen mit langen kohlschwarzen Wimpern, feine
Hände mit schlanken weißen Fingern.
Takumi starrte ihn an. Dieser Junge war fast ebenso schön wie Toshiya.
Merkwürdigerweise umgab ihn auch dieselbe weiche Atmosphäre, die ihn wirken
ließ wie von einem anderen Stern.
„V-verzeihung“, stotterte der Junge nun und machte errötend einen Schritt
zurück.
„I-ich wollte Sie nicht erschrecken wirklich! G-geht es Ihnen gut?“
Takumi wandte sich ganz zu dem Jungen um und lächelte matt: „Ja, danke, es
geht schon.“
Der Junge starrte mit entsetzensstarrem Blick auf Takumis verschmiertes Gesicht,
die zerzausten Haare und die geöffnete Bluse und sagte hastig: „Ich rufe
einen Arzt!“
„Nein, nicht nötig, den habe ich schon gerufen...“, murmelte Takumi und
fragte sich ob man ihm wirklich auf dreizehn Kilometer Entfernung ansah, was
geschehen war.
„Dann warte ich hier, bis er da ist. Sie sollten nicht alleine sein, nicht in
dieser Gegend“, fuhr der Junge fort und setzte sich mit entschlossener Miene
neben Takumi.
„Das ist nett. Hör auf mich zu siezen, mein Name ist Takumi Michige. Du bist
auch Japaner, ne?“, sagte Takumi und ließ den Blick neugierig über das
perfekte Gesicht des fremden Jungen gleiten. Er hatte wirklich gewaltige
Ähnlichkeit mit Toshiya.
„Ich heiße Daisuke, Daisuke Hameshima. Ja, meine Eltern sind beide
Japaner.“
„Wie alt bist du?“, fragte Takumi ohne zu zögern.
„Siebzehn.“
„Oh, ein Jahr älter als ich. Und was machst du hier so ganz alleine? Für
dich ist es genauso gefährlich.“
Daisuke schüttelte lächelnd den Kopf.
„Ich kenne die Gegend und all ihre Schlupfwinkel und Verstecke wie meine
Westentasche, ich wohne nämlich gleich um die Ecke. Ich kann sehr schnell
verschwinden und auftauchen, wie du gemerkt hast. Aber du hast natürlich Recht,
wenn mein Vater erfährt, dass ich um die Uhrzeit hier herumlungere wird er sehr
wütend. Ist ja schon fast dunkel...“
Zwei Autos bogen um die Ecke, ein Streifenwagen und ein Krankenwagen.
„Ah, da sind sie ja...“, murmelte Takumi. Sein Herz begann vor leiser Angst
zu pochen. Er hatte wirklich keine Lust darauf alles haarklein vor irgendwelchen
wildfremden Polizisten auszubreiten und sich auch noch von einem Arzt
begrapschen zu lassen, aber da musste er wohl durch.
Daisuke beobachtete Takumis Gesichtsausdruck aufmerksam, dann stand er auf und
sagte: „Gut, ich geh dann... und falls du mal Hilfe brauchst oder so,
hier.“
Er reichte ihm eine kleine Visitenkarte mit Name und Handynummer.
„Ich kenne gezwungenermaßen einige Jugendgangs in diesem Block. Meine
Schwester Eri ist ihre Anführerin.“ Er grinste.
Takumi lächelte dankbar zurück und nahm die Karte mit zitternden Händen
entgegen.
„TOSHIYA?????!!!!!!“
Uruha stand im Zimmer, die rechte Hand an der Türklinke, auf dem Gesicht ein
Ausdruck der maßlosen Entgeisterung.
„Ja...“, antwortete Toshiya zerstreut und radierte die Drei, die er eben
eingetragen hatte, vorsichtig wieder weg. Sudoku war komplizierter, als es
aussah. Seit einer guten Stunde brütete er nun schon über dem Zahlenrätsel
und kam auf keinen grünen Zweig. Vielleicht sollte er noch einmal ganz von
vorne anfangen. Mit einem lauten Seufzer begann er alle Eintragungen wieder aus
den Feldern zu löschen.
„Was ist, Uruha...?“
„T-T-T-“, stotterte sein großer Bruder, weiter kam er nicht, denn Hakuei
preschte an ihm vorbei, stieß ihn grob zur Seite, griff Toshiya an den
Shultern, drehte seinen Schreibtischstuhl herum und küsste ihn auf den Mund.
„Nnng“, machte Toshiya erschrocken.
„Nnngmbllnnn!“
„Oh Gott, Totchi!“, keuchte Hakuei und drückte seinen Freund in eine feste
Umarmung. Dann küsste er ihn wieder. Und schloss ihn erneut in die Arme.
„Mann, hast du uns einen Schrecken eingejagt...“
„H-Häh?“, sagte Toshiya verwirrt in den Stoff von Hakueis Jacke.
„Was soll das, lass mich los!“
Er schob seinen überschwenglichen Freund von sich und stellte sich
sicherheitshalber noch hinter seinen Schreibtischstuhl.
„Warum hab ich euch einen Schrecken eingejagt?“
„T-T-T-“, stammelte Uruha.
„Wir dachten du seist gekidnappt! Entführt! Misshandelt! Wo kommst du so
plötzlich her?! Wir haben uns solche Sorgen gemacht!“, rief Hakuei und
wühlte sich aufgebracht durch den schwarzen Haarschopf.
„Ich war Einkaufen, dann bin ich hier hoch in mein Zimmer und seitdem versuche
ich so ein verflixtes Sudoku-Rätsel zu lösen“, zählte Toshiya auf. Kyo
ließ er dabei lieber erst mal außen vor.
Uruha starrte ihn an.
„Du bist nach Hause gekommen ohne was zu sagen?“, brüllte Hakuei.
Toshiya zuckte die Achseln.
„Naja, da waren diese Rentner und ich wollte nicht stören...“
Hakuei ließ sich auf Toshiyas Stuhl sinken, schloss die Augen und atmete
langsam ein und aus.
„Das glaub ich nicht...“
„Aber warum macht ihr euch dann solche Sorgen? Wenn was ist, rufe ich schon zu
Hause an...“
„Nein tust du nicht“, sagte Uruha. Er sah seinen kleinen Bruder scharf an.
„Mmh? Wie meinst du das, Uruha?“, fragte Toshiya verwirrt.
„Hakuei weiß Bescheid über Daishi. Und ich auch, wie du weißt. Wir hatten
beide so ein seltsames Gefühl, das irgendwas nicht in Ordnung ist und haben uns
verdammte Sorgen gemacht.“
Toshiya wurde bleich.
„K-kann ich ja nicht wissen...“, stotterte er und versuchte Daishis Bild zu
verdrängen, dass augenblicklich in seinem Geiste aufflammte.
Uruha kam auf ihn zu und schloss ihn in die Arme.
„Ich weiß, das kannst du nicht wissen. Tut mir leid“, sagte er.
Argh, kein Cliffhanger dieses Mal... tut mir leid T.T
Kapitel 17: 17
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Aaaah, sorry Leute!!! Ich habe mir dieses Mal so lange Zeit gelassen (oder
besser gesagt ich hatte keine Zeit >.<), es tut mir leid! Aber es freut mich,
dass viele Leute mir geschrieben haben um eine Fortsetzung zu fordern und euere
Kommentare haben mich natürlich ermutigt, arigatou!! Ich würde sicher die Lust
verlieren (bei so vielen Charakteren und einer verworrenen Geschichte ist das
schreiben ganz schön kompliziert) wenn ihr mir mit eueren Kommentaren nicht
immer Mut machen würdet ^-^
Ich schreibe diese Fanfic auf jeden Fall zu Ende, auch wenn es manchmal ein
wenig (sehr) lange dauert. Danke an alle, die bis hierhin gelesen haben
*verbeug* und ich freue mich natürlich weiterhin über Kommentare und
Anregungen.
Dieses Kapitel beginnt seeehr schwerfällig und es zieht sich so sehr, weil ich
anfangs wirklich keine Muse hatte... so wie Sakito...
Das Ticken einer Uhr.
Dunkles Holz. Das Knistern und Knallen des Feuers im Ofen, das gegen das
Blickfenster züngelt und dort schwarze Rußflecken hinterlässt. Alte
Blumentapeten, vergilbt, mit dem Geruch nach altem Papier und Moder. Graue
Katzen, bemalte Tassen, Teekessel, Teller mit Gebäck...
Inmitten dieser behaglichen Atmosphäre, gewärmt von der angenehmen Hitze des
Holzofens, ein Mann im Schaukelstuhl. Über seine Beine war eine große rot-blau
karierte Wolldecke gebreitet, an einigen Stellen durch bekrallte Katzenpfoten
aufgeraut. Mit jeder Schaukelbewegung ging ein Knarren und Knarzen einher, wohl
zurückzuführen auf die morschen Holzdielen, untermalt von dem Klackern der
Stricknadeln. Im wollenen Schoß des Mannes ruhte ein großes flauschiges
Fadenknäuel. Jedes Mal, wenn der Stuhl nach vorne schaukelte nahm er eine
Masche auf. Beim Zurückschaukeln strickte er sie ab.
Selbst sein Atem ging regelmäßig ein und aus, ein ewiger Kreislauf von Luft
holen und Ausatmen, ganz so als ob der Mann vorhabe in seinem breiten Stuhl
langsam in den Tod zu schaukeln, mit jedem Atemzug ein bisschen mehr Seele
aushauchend.
Was wohl in seinem Kopf vorging...? Vielleicht dachte er zurück an alte längst
vergangene Tage oder an die Menschen deren Gesichter auf den vergilbten Fotos an
den Wänden zu sehen waren.
„Weißt du eigentlich wie lächerlich das ist?“
Der Mann drehte seinen Kopf zur Tür, in der nun ein Besucher stand. Langsam, so
wie seine Knochen es zuließen.
„Mein Junge...“, krächzte er, die Stricknadeln entglitten seinen
schwerfälligen Händen und fielen mit dumpfem erstickten Geräusch auf die
Decke.
„Was für ein Glück...*hust*...dich noch einmal *keeeeuch* zu sehen...komm
näher. Bist du eine Vision aus meiner Jugend, ein Engel vielleicht?“
Der junge Mann schnaubte so heftig, dass die beiden Katzen, die auf dem Tisch am
Fenster gespielt hatten verschreckt unter das kümmerliche kleine Bett
huschten.
„VISION?! ENGEL?! ICH BIN DEIN SCHLIMMSTER ALBTRAUM!!! UND DAS BÖSE HAT AUCH
EINEN NAMEN - SHINYA, FALLS DU DICH ERINNERST!! DIE, DU BIST SO EIN KRANKER
IDIOT!!!“
Der fremdländische Besucher (Shinya wie wir eben erfahren haben) schritt so
aggressiv ins Zimmer, dass man fürchten musste seine Füßen brächen durch das
morsche Holz der Dielen. Mit einer Handbewegung riss er dem armen Mann (Die wie
wir eben erfahren haben) die schützende Wolldecke von den Knien, trat dann
einmal kräftig gegen den Schaukelstuhl, aus purer Liebe zu Gewalt, wie man den
Eindruck gewinnen könnte und scheuchte dann die beiden grauen Kätzlein aus dem
Raum. Schließlich baute er sich vor dem Hutzelmännlein auf, das zitternd in
seinem Schaukelstuhl kauerte und blitze es mit der ganzen Macht seiner Wut an.
Hat die Welt je etwas grauenvolleres gesehen?
„Du hast so schreckliche Auge, Shin-chan“, wimmerte Die und verbarg sein
Gesicht in den Händen.
„ACH, JETZT WIESST DU PLÖTZLICH WIEDER WIE ICH HEISSE, JA?!“
„J-jaa...“
„UND WIE HEISSE ICH??!! SAG MEINEN NAMEN!!“
„Sh-Shinya“, jammerte der Alte furchterfüllt.
„DU KOMMST MIT!“
Grob packte er Die am Schlafittchen, riss ihn aus dem wohligen Schutz seines
Schaukelstuhls und schleifte ihn aus dem Zimmer.
„Wasch dich!“, befahl er in etwas angemessenerer Lautstärke und stieß
seinen Freund zum Waschbecken.
„Aufgemalte Altersflecken, pfff...“, grummelte Shinya mit angewidertem
Gesichtsausdruck, als Die sich die braunen Punkte von Händen und Hals
schrubbte.
„Du bist jämmerlich, Die...“
„Lass mich doch“, giftete der andere Junge zurück, mit einem Male erfüllt
von jugendlichem Trotz.
„Ja, einfach lassen sollte ich dich, du Spinner...dann könntest du für die
nächsten siebzig Jahre im Altersheim versauern!“
„Da wollten sie mich ni-“
„Sag einfach gar nichts mehr“, unterbrach ihn Shinya, „und komm endlich.
Bevor ich es mir anders überlege und dich in der nächsten Truhe einmotte.“
„Wenn ich Orangenschale hinzufüge...“, murmelte Sakito. Zum hundertsten Mal
durchblätterte er sein fünfundneunzigstes Kochbuch. Und schmiss es
schließlich frustriert von sich.
„Ach, ich weiß nicht! Ich hab heut einfach keine Muse!“, stieß er
deprimiert hervor und ließ sich auf den Fliesenboden sinken.
„Liebling“, flüsterte Ryutaro und trat hinter seinen Freund. Der lehnte
seinen Kopf gegen Ryutaros Bauch.
„Das ist mir noch nie passiert...“, murmelte Sakito mit leerem Blick.
„Noch nie...“
„Das ist doch ganz egal. Du bist noch immer der – Meisterkoch, der du warst.
Ich glaube daran. Ganz fest.“
Ryutaro hockte sich zu dem frustrierten Genie auf den Boden und schloss ihn
vorsichtig in die Arme. Sakito kuschelte sich in die Umarmung.
„Und das was du zubereitet hast, sieht doch gut aus! Mach es einfach fertig,
ich“, er schluckte, „ich esse auf jeden Fall davon, und ich bin mir sicher,
dass es mir schmecken wird. Jeder große Künstler braucht mal Schaffensphasen
in denen er nicht so kreativ ist.“
„Meinst du Ryu?“, nuschelte Sakito.
„Ganz bestimmt.“ Ryutaro nickte bekräftigend.
„Danke dass du mich aufbaust...du hast ja Recht...“, flüsterte Sakito,
drehte sich um und küsste seinen Liebsten zärtlich auf die Lippen.
„Wie süß“, sagte Tara. „Meint ihr, ihr kriegt das noch mal so hin, wenn
ich meine Digicam hole?“
„Was willst du eigentlich hier?“, fauchte Sakito und barg Ryutaros Kopf in
seinen Armen.
„Der Kleine Ryu-kun ist putzig wenn er errötet“, grinste Tara ohne auf
Sakitos Frage einzugehen und wippte mit den Füßen, die in schwarzen
Engineer-Boots steckten.
„*Seufz* Ich wünschte ich hätte auch so eine glückliche Beziehung wie ihr
beiden, aber der Mann meines Lebens ist nun mal mein kleiner Onii-san, tja er
ist übrigens aufgetaucht, zum Glück muss ich sagen, sonst hätte ich
Scotlandyard einschalten müssen, ach was red ich, ich stör euch doch
nicht?“
„Fast gar nicht“, erwiderte Sakito trocken.
„Wie geht es Takumi“, sagte Ryutaro, der seinen zerzausten Kopf aus der
Umarmung seines Freundes befreit hatte. Sakito schnappte sofort nach seinen
Schultern und presste ihn wieder an sich.
„Sei vorsichtig, Ryu-chan. Dieser Typ ist bestimmt gefährlich“, brummte er
und musterte Tara finster, der in einer der Ecken der Küche in einem blauen
Klappstuhl fläzte, den er weiß Gott wo aufgetrieben hatte.
„Takkun? Wie es ihm geht? Nun jaaa...mal so mal so...im Moment wohl nicht so
besonders würde ich meinen...aber wo ihr doch gerade kocht...mein kleiner
Bruder hat sicher Hunger...“
„No way.“
„Aber Sakito...“, flüsterte Ryutaro beschwichtigend.
„Aber Sakkun...“, säuselte Tara.
„Nenn mich noch mal so und du kannst deine falschen Wimpern von der Decke
kratzen, du billiger Terror-TV cosplayer“, sagte Sakito eisig. (Terror TV=
Japanische Oshare-Kei Band, die offenbar ähnlich gekleidet sind wie Takumis
großer Bruder)
„Aber Sacchan - sei soch sicht sooo...“
„Halt, niemand wird hier ohne meine Erlaubnis umgebracht“, rief Uruha,
hechtete in die Küche und packte seinen kleinen Bruder am Kragen, der mit
funkensprühenden Augen irgendjemand ins radioaktive Spülwasser tauchte,
zweifelsohne mit dem Verlangen der Person einen langsamen und qualvollen Tod zu
bereiten..
„Hör auf, bitte...“, flehte Ryutaro, der am linken Arm seines Liebsten
zerrte. Nach minutenlangem Ringen gelang es den Anwesenden Sakito Hände zu
lösen, die sich fest um Taras Hals geschlossen hatten.
„Ich hasse ihn“, stellte Sakito fest, trottete zu dem blauen Plastikstuhl
und ließ sich darauf nieder.
„Er stört meine Energiemeridiane. Er verstrahlt bad vibrations. Er ist ein
Dieb, er klaut mir meine Muse. Trotzdem gibt es in einer halben Stunde
essen.“
Uruha seufzte und verkündete dann, als Ryutaro ihm aufmunternd zulächelte:
„Gut, wir kommen dann. Äh. Ja.“
„Ich hol nur meinen kleinen Bruder“, sagte Tara, reichlich vergnügt für
einen Menschen, der eben beinahe ertränkt und dann um ein Haar erwürgt worden
wäre. Ehe Uruha Widerspruch einlegen konnte war der glitzernde Japaner schon
aus dem Haus gefegt, nur kurz aufgehalten von fünfzehn seiner vierzig
Perlenketten, die sich beim Rennen ununterbrochen in sämtlichen Klinken und
Haken verfingen und den Träger dabei beinahe strangulierten. Das Leben eines
Dekora-Visu muss hart sein.
„Eins sag ich euch gleich...“, knurrte Sakito. „Es schmeckt fürchterlich.
Ich bin heute völlig unkreativ.“
Die anwesenden Personen starrten auf ihre Teller.
„Wenn er schon zugibt, dass es schrecklich schmeckt...“, murmelte Hakuei und
Uruha nickte gequält.
Das Haus der Haras hatte sich mehr und mehr zu einem Sammelbecken der
Nachbarschaft entwickelt, was Sayumi Hara an diesem Morgen, bevor sie in die
Arbeit gefahren war, mit hochgezogenen Augenbrauen festgestellt hatte.
„Sakito, sag deinen Brüdern sie sollen ihre Namen auf einen Zettel schreiben
und an den Kühlschrank hängen, sonst vergesse ich noch wer von der ganzen
Meute meine Söhne sind“, hatte sie säuerlich gesagt und Sakito hatte
gelächelt. Seine Mutter war doch immer wieder zu Scherzen aufgelegt. Als ob er
so etwas überholtes wie einen Kühlschrank in dieser Küche dulden würde.
Tatsächlich war nicht nur Ryutaro zu Besuch, sondern auch Hakuei, der die
Trennung von Toshiya noch nicht wirklich überwunden hatte und bei jeder
Gelegenheit seine Hand nahm, außerdem Tara, Takumi und Kaoru. Eine merkwürdige
Mischung wie sich bald herausstellte.
Ryutaro lächelte zunehmend entmutigt in die Runde, Toshiya war der einzige, der
diese freundliche Geste bis zuletzt erwiderte. Sakito beobachtete missmutig das
Essen auf seinem Teller, als ob er darauf wartete, dass es einen Purzelbaum
schlug, obwohl er genau wusste, dass Karotten und Kartoffeln so etwas
normalerweise nicht machen. Hakuei warf Toshiya aus den Augenwinkeln wieder und
wieder verstohlene Blick zu, bis dieser sich zu ihm drehte und ihn fragend
ansah. Mit einem gequälten Lächeln ergriff Hakuei Toshiyas Hand, die auf der
Tischplatte lag, doch dieser zog sie erschrocken weg und senkte den Blick
wortlos auf seinen Teller. Tara sah belustigt von einem zum anderen, er wirkte
immer, als ob er kurz davor war etwas unglaublich komisches auszusprechen, das
ihm in den Sinn gekommen war. Dann kicherte er unterdrückt, seine Augen
blitzten und er knuffte seinen Bruder leicht in die Schulter. Dieser saß
regungslos am Tisch. Mit leerem Blick und neutraler Stimme hatte er Sakito,
Ryutaro und Toshiya begrüßt und seitdem kein Wort mehr gesagt. Er war weiß
wie Krepp und wirkte wie kurz vor einem Zusammenbruch. Uruhas Blick streifte
immer wieder die Gestalt seines Ex-Freundes, doch Takumi schien nichts um sich
herum wahrzunehmen. Uruha stocherte verstimmt in seinem Essen herum. Alles in
allem herrschte also eine unangenehme bedrückte Stimmung, umhüllt von
peinlicher Stille.
Oh-oh, dachte Ryutaro. Irgendwie schienen er und Toshiya in letzter Zeit immer
die einzigen zu sein, die gute Laune und halbwegs normales Verhalten an den Tag
legten.
„Na, Kaoru?“, sagte er in dem letzten verzweifelten Versuch eine
Unterhaltung zu starten und die Stimmung aufzulockern. Aus irgendeinem Grund
hatte Ryutaro das Gefühl, dass es allein seine Aufgabe war die Jungen am Tisch
von der beklemmenden Atmosphäre zu befreien und sein schlechtes Gewissen wurde
langsam unerträglich.
„Was führt dich hierher?“, hakte er nach, wobei er Kaoru ein
hoffnungsvolles Lächeln schenkte.
Dieser hob den Blick und sah Ryutaro an, dem unvermittelt die Gabel aus der Hand
glitt.
„Was...mich-hierher führt?“, wiederholte Kaoru ruhig. Er wirkte wie der
Vesuv kurz vor dem Ausbruch.
„Ah-genau“, antwortete Ryutaro, der sich mit einem Mal wie ein Pompejaner
fühlte.
„Hat deine Freundin nicht heute Geburtstag?“, bemerkte Sakito stirnrunzelnd.
Offenbar war es ihm gelungen sein unsagbar unkreatives Essen zu vergessen.
„Jaa“, sagte Kaoru gedehnt und fixierte Sakito.
„Jaa, die hat heute Geburtstag.“
Stille.
„Tja und- willst du nicht hingehen? Sie sehen? Ihr gratulieren?“, klinkte
sich Tara ein, der das alles schon wieder sooo spannend fand. Hier in
Deutschland war doch wirklich immer etwas los.
Kaoru schraubte seinen Kopf langsam in Taras Richtung.
„Ich bin hingegangen. Gesehen hab ich sie auch. Nur leider nicht lang genug um
ihr auch zu gratulieren.“
Erneute Stille vermischt mit Kaorus irrem Blick. Hätten Blicke eine Stimme
würden Kaorus Augen sicher geistesgestörte spitze Schrei ausstoßen. (O.O)
„Äh...häh?“, sagte Hakuei und setzte einen verständnislosen Blick auf.
„Wie meinst du das, Mann?“
„Aber glücklicherweise konnte ich ihr das Geschenk überreichen, das Shinya-
SHINYA!! und Die-DIE!!! besorgt haben.“
„Weißt du, dass du gerade was verrücktes an dir hast, Kaoru oder wie du
heißt?“, gluckste Tara. Irgendwie hatten alle Leute denen er bisher in diesem
Land begegnet war eine Schraube locker. Angefangen bei der Stewardess, die ihn
immer so irre angelächelt hatte, mit diesem unweiblichen Lippenpiercing, bis
hin zum Postboten, der heute morgen zum Wohnzimmerfenster eingestiegen war und
die Briefe ins Aquarium gelegt hatte. Beim Hinausgehen hatte er zwar die Tür
benutzt, aber sich mit schriller Schreien und den Worten „Ich komme
wiiiiiedeeer“ verabschiedet. Und immer diese Piercings und Tätowierungen.
Offenbar Mode hier. Eigentlich ganz schick.
Kaoru oder wie du heißt warf Tara einen besonders geisteskranken Blick zu als
ob er dessen These bestätigen wolle.
„Ach wirklich? Etwas verrücktes habe ich an mir? Wie würdest du dich
verhalten, wenn deine Freundin mit dir Schluss gemacht hat, weil du ihr eine
Dose Antifaltencreme(99 Cent bei DM, mit Konservierungsmitteln[haha ^^“]), ein
Ticket fürs Fitnessstudio (S&R - Schlank und Ranks Fitnesssalon) und ein
Päckchen Stützstrümpfe (nur 3,95 Euro bei Aldi) geschenkt hast.“
„Du hast was?!“
Die Jungen am Tisch sahen ihn wie bedröppelt an.
„ICH wollte ihr natürlich etwas nettes schenken. Etwas hübsches. Das hab ich
auch zu Shinya gesagt, bevor ich ihn mit genügend Geld losgeschickt habe. Aber
offenbar versuchen meine Eltern und meine Freunde gerade mein Leben zu
zerstören.“
-Woanders-
„Die, was ist in der Tüte.“
„Hasenfutter.“
„Die!“
„Ok, ok...die Tüte hab ich gestern mitgehen lassen...in Sakitos Küche...“
„Was?! Du willst mir doch nicht sagen, dass du einem armen alten Greis die
Wärmedecke geklaut hast!“
„Nein nein...*lach*...keine Sorge...für wen hältst du mich denn? Es sind
Stützstrümpfe.“
„Du bist jämmerlich!!“
„Ich bin alt und krank!“
„WENN DU SCHON SO EINE SPINNEREI HABEN MUSST, DANN LEG DIR GEFÄLLIGST EINE
ANDERE ZU, KAPIERT?!“
„Schön, wie du willst, Shin-chan...“
-Ganz woanders-
„Friedelbert...haft du mein Gebiff gefehen?“
„*hust*Auf dem Fenstersims, Hulda. Neben den Tabletten gegen
Wadenkrämpfe.“
„Da find keine gegen Wadenkrämpfe. Nur gegen Trombofe, Schlaflofigkeit,
Schlaganfälle und Alterswahnwitf.“
„Aber Hulda...da sind sie doch...“
„Oh, du haft Recht...oh...was ist den das für eine Tüte, Friedelbert?“
„Die hab ich dir mitgebracht...du weißt schon...gestern, als wir in der Stadt
waren...kurz bevor wir diese spannende Führung durch die Küche von diesem
Jungspund hatten...“
„Für mich?“
„Ja, mach sie nur auf!“
*raschel**raschel**find**reiß*
„OOOH!! Wie schööön!!! Eine herrliche Kette mit einem schmucken kleinen
Kreuz. Und eine Karte!! Eine Einladung zum Italiener!!! Oh Friedelbert, danke!!
Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, dass du in einem Schmuckladen
warst.“
„Ich auch nicht Hulda, ich auch nicht...“
„Ach, ich fühle mich wieder jung, wie 43...du bist doch immer noch der alte
Charmeur...“
-Und wieder zurück-
„Aber Kao...da ist sicher was verwechselt worden...Shinya hätte deiner
Freundin niemals so etwas gekauft, er hat Geschmack!“, sagte Toshiya voller
Mitgefühl.
„Ich weiß“, zischte Kaoru. „Und ich verwette meine Milz darauf, dass
dieser hirnkranke Idiot Die dahintersteckt. Wenn ich den in die Finger
kriege...was ist denn?!“
Kaoru warf Hakuei, Tara und Uruha einen strafenden Blick zu. Die drei Jungen
richteten sich wieder auf, wurden aber immer noch von heftigen Kicherkrämpfen
geschüttelt.
„Kaoru, echt mal...du bist dämlich...“, murmelte Hakuei, bemüht sein
fettes hämisches Hakuei-Grinsen zu verbergen.
„Halt die Klappe, du bist als nächster dran“, brummte Kaoru, schaufelte
blitzschnell eine Portion von allem was er auf dem Tisch finden konnte (die
kleinen zappelnden Dinger in der blauen Schale, die Sakito eben aufgetragen
hatte, eingeschlossen) auf seinen Löffel und stopfte ihn Hakuei (der
praktischerweise neben ihm saß) in den Mund.
Es war, als ob jemand dem Wecker der Zeit die Batterien herausgenommen hätte.
Alle Jungen in der Küche (natürlich bis auf Sakito) hielten den Atem an und
starrten auf Hakuei. Der griff sich an die Kehle, erkennend, was er da eben
hinuntergeschluckt hatte. Sakitos Essen, ausgerechnet an seinem Bad-cook-day.
„Oh-oh Gott...“, hauchte Ryutaro.
„Haku?“, sagte Toshiya voller Entsetzen. „Haku? Sag was!“
„Tsss, geschieht ihm recht...“, fauchte Kaoru.
„Bist du irre? Du hast ihn umgebracht!!“, rief Uruha.
Aus Hakueis Augenwinkeln liefen Tränen.
„Ist es scharf?“, sagte Ryutaro hektisch, „Soll ich dir eine Lösung
bringen, die Salzsäure neutralisiert?“
Hakuei schnappte nach Luft und wischte sich die Tränen weg.
„Es...es...es...“, stammelte er fassungslos.
„Was? Was?“, fragte Toshiya, den Telefonhörer in der Hand, bereit sofort
den Notarzt zu rufen.
„Was schon...schmeckt scheiße...“, brummte Sakito verstimmt und ließ
missmutig den Kopf auf die Tischplatte knallen. Eine Handvoll Karotten rollte
vom Aufprall aufgeschreckt auf den Fußboden und wurde von einer der
selbst-reinigenden Fliesen verschlungen.
„Herrlich!!“, rief Hakuei aus, griff nach seiner Gabel und begann sich Essen
in den Mund zu schaufeln. „Es schmeckt wunderbar!!“
Eine Weile passierte nichts.
„Er ist verrückt geworden...“, murmelte Uruha entgeistert. „Okay, niemand
rührt etwas an, ich hole-äh-den Kammerjäger!“, schloss er mit Blick auf die
zappelnden schwarzen Dinger aus der blauen Schale, die gerade dabei waren sich
gleichmäßig auf dem Tisch zu verteilen (und wenn man genauer hinsah konnte man
tatsächlich eine Formation aus dem Schwanensee-Ballett erkennen).
„Nein, er hat Recht“, sagte Ryutaro mit großen Augen, der vorsichtig an
einer Karottenscheibe geleckt hatte.
„Schmeckt toll!!“
Nun wagten auch die anderen die dampfende Mahlzeit anzurühren und in der Tat
– es kann ohne zu übertreiben behauptet werden, dass keinem Menschen je zuvor
solche Gaumenfreuden vergönnt waren. Sakito aß eine halbe Kartoffel mit
Soße.
„Päh“, sagte er. „Widerlich.“
Glücklicherweise – oder vielleicht sogar leider? – schenkte ihm keiner der
anderen Beachtung, alle waren viel zu sehr mit ihrem Festmahl beschäftigt um zu
verstehen, dass, wären sie der Ursache auf den Grund gegangen, es ihnen
womöglich gelungen wäre Sakitos sonst eher zweifelhafte Begabung wirklich auf
die Dauer zum Talent eines Meisterkochs zu verwandeln. Tja, Pech gehabt.
„Takumi! Warte...“
Toshiya fasste den kleineren Jungen vorsichtig am Oberarm.
„Heeey, was hast du mit meinem süßen kleinen Bruder vor?“, sagte Tara mit
anzügigem Grinsen und umschlang Takumis Hüfte von hinten. Takumi starrte in
Toshiyas Augen. Er wirkte auf einmal wie versteinert. Toshiya war irritiert.
„Lass ihn los“, sagte er schließlich, wischte Taras Hände weg und zog
Takumi hinter sich her die Treppe hinauf.
„Setz dich“, sagte Toshiya mit freundlichem Lächeln, als der Junge
schüchtern in sein Zimmer getreten war. Dieser gehorchte.
„Und jetzt sag – was ist los?“
„Mmh?“, machte Takumi. Das war der erste Laut, der seit über zwei Stunden
über seine Lippen drang.
Toshiya setzte sich neben ihn. Es war sonnenklar, dass mit Takumi etwas ganz
gehörig nicht in Ordnung war. Er war plötzlich so ruhig und wenn er sich
bewegte, hatte jede Geste etwas schwerfälliges und trauriges. Dann dieses
bleiche Gesicht und der verschlossene Blick. Eigentlich war es vor allem der
verschlossene Blick, der Toshiya zu denken gab.
Warum humpelte Takumi neuerdings? Überhaupt bewegte er sich so behutsam und
ängstlich, als schleiche er über Glassplitter. Auch wenn es sonst nie so
gewirkt hatte, Toshiya war überzeugt, dass der kleine braunhaarige Japaner ein
von Herzen sanftmütiger Mensch war und was auch immer Uruha ihm gesagt hatte,
er hatte es wohl nicht verkraftet.
Toshiya seufzte.
Sein großer Bruder war so ein Trampel.
Dabei war er sich fast sicher, dass Uruha seinen kleinen hyperaktiven Freund
brauchte, auch wenn er sich darüber vielleicht nicht ganz im Klaren war.
Diesen Gedanken im Hinterkopf fragte Toshiya ohne lange um den heißen Brei
herumzureden: „Hängt es mit meinem Bruder zusammen, dass du so komisch
bist?“
Eine ganze Weile saßen sie so da, einfach so ohne ein Wort zu reden, Toshiya im
Schneidersitz auf dem Fußboden, Takumi auf dem blauen Plastik-Klappstuhl. Als
auch nach fünf Minuten nichts passiert war erhob sich der ältere Junge,
langsam und schwerfällig, als wäre er schon viel zu alt für hastige
Bewegungen. Dann nahm er Takumi in den Arm und drückte ihn an sich.
Was soll’s, dachte Toshiya und umschloss den zierlichen Jungen noch ein wenig
fester, ich bin sowieso kein normaler Junge. Ich weine wie ein Mädchen, ich bin
in einen Mann verliebt, dann darf ich mir auch die Blöße geben jemanden zu
umarmen. Außerdem tut das wirklich gut.
Auch Takumi schien die Wärme zu genießen. Er legte seinen Kopf an Toshiya
Schulter. Toshiya konnte den regelmäßigen Atem dicht an seinem Ohr hören.
Irgendwann beschloss er eine Frage zu wagen.
„Hat dir jemand wehgetan, Takkun?“
„Mmh“, nuschelte Takumi in den Pulloverstoff an Toshiyas Schulter.
„Und...erzählst du mir, wer?“
„...so’n Mann“, murmelte Takumi. Toshiya starrte erstaunt auf den braunen
Haarschopf, der an seine Wange gedrückt war. Er hatte fest damit gerechnet
‚Uruha’ zu hören.
„Wann?“
Takumi hob den Kopf und sah ihn durch verquollene Augen an. Seine Haare waren
von Toshiyas Wollpullover elektrisiert und standen in alle Richtungen ab. Er sah
aus wie ein Hündchen, das man ein paar Mal kräftig über den Teppich gerieben
hat.
Wie in Zeitlupe beobachtete Toshiya die Träne, die sich aus Takumis Augenwinkel
stahl, sich auf seine Wage wagte, diese hinuntereilte und dann auf nimmer
Wiedersehen in seinen Schoß tropfte.
„Es war gestern“, schniefte Takumi. „Ich habe mich mit Uruha gestritten,
mi-mit meinen Uruha, dann bin ich weggelaufen und ich hab geweint und – hast
du vielleicht n Taschentuch?“
Toshiya warf ihm eine Packung Softies zu.
„Nimm so viele du brauchst“, sagte er ermattet.
„Danke“, heulte der andere Junge, zog ein Tempo aus der Tüte und
zerknüllte es in seiner Faust.
„Ich bin in die Stadt gelaufen und dann war da dieser Mann, der hat mich
verfolgt, ich bin ja auch weggerannt, aber mein Absatz und – und – und ich
hab Uruha noch angerufen, aber er ist nicht rangegangen...“ Er warf das Tempo
in den Abfalleimer neben dem Schreibtisch, zog ein neues hervor, knüllte es
wieder in seine verkrampfte Hand und schluchzte so bitterlich auf, dass Toshiya
nicht anders konnte als ihn wieder in die Arme zu ziehen. Der Kleine sah so
elend aus.
„Was ist dann passiert?“
„Er hat mich in so ein Kellerloch verschleppt und mich gefesselt und versucht
mich auszuziehen. Ich hab nichts gesehen, weil er mir die Augen verbunden
hat...“
„Und – weiter?“, sagte Toshiya tonlos. Er starrte auf das Norma Jean
Baker-Poster an seiner Zimmerwand, aber eigentlich sah er es gar nicht. In
seinem Kopf reiste er zurück an einen verregneten Ort, den er jede Nacht in
seinen Alpträumen besuchte.
„Was ist passiert? Was hat er getan?“, wiederholte er nun beinahe panisch,
als Takumi zur Antwort nur ein paar Mal unterdrückt aufschluchzte.
Nachdem ein paar Augenblicke verstrichen waren, schmiss Takumi das zweite
Taschentuch in den Abfalleimer und nahm sich ein drittes. Plötzlich sagte er
mit normaler Stimme: „Nichts. Er hat nicht getan. Also nicht das was du
denkst. Dazu ist er irgendwie nicht gekommen. Als er mich begrapscht hat, ist er
plötzlich umgefallen. Einfach so Toshiya, stell dir das vor. Er war ganz schön
schwer, ist auf mich gekippt. Als ich die Augenbinde abgenommen hab, hab ich
gesehen, dass er ganz gelb-blau war im Gesicht. War wohl ein Anfall oder so.
Dann bin ich weggerannt. Ein Junge hat mir geholfen. Er heißt Daisuke. Er war
sehr nett.“
Takumi, der sich während seiner Rede aus der Umarmung gewunden hatte, sah
Toshiya nun völlig ernst und mit großen Augen an.
„Totchi, ich hatte solche Angst. Ich hab gedacht ich muss sterben und davor
noch durch die Hölle gehen. Kannst du dir das vorstellen, Totchi?“
Toshiya erwiderte Takumis Blick.
„Ja. Sogar sehr gut.“
Die Türklingel ging.
Sakito (noch immer mies gelaunt wegen seinem maßlos missglückten Essen)
öffnete die Tür. Draußen stand eine bildhübsche Frau mit sehr asiatischen
Zügen, vielleicht eine Chinesin. Unter ihrem linken Arm klemmte ein neurotisch
hechelnder Unfall von einem Hund. Wohl doch eine Thailänderin, dachte Sakito,
sonst hätte sie das Ding da schon verspeist.
„Was willst du?“, sagte er forsch, wobei er dem Hund einen misstrauischen
Blick zuwarf. Mein Gott, gab es Augen die dämlicher in die Gegend glotzten? Ja,
vielleicht die seiner Familie, als sie zufällig auf die Rentierherde gestoßen
waren, die Sakito ihm Wohnzimmer hielt. Dabei hätte alles so glatt gehen
können. Hatte seine Mutter an diesem Morgen ausgerechnet die Wohnzimmertür
öffnen müssen? Aber die Rentiere mal beiseite. Beim Anblick des Hündleins
bekam Sakito Lust ein Zungenragout zuzubereiten. Mit großer Zufriedenheit
stellte er fest, dass seine Muse langsam wieder zu ihm, dem Herrn und Meister
zurückkehrte. Daher wiederholte er nun weitaus freundlicher: „Kann ich Ihnen
helfen?“
Die Frau, die bisher noch nichts gesagt hatte lächelte charmant, runzelte die
Stirn (versucht das mal gleichzeitig), rammte ihn um und trat
Uneingeladenerweise ins Haus.
„Dein Bruder Toshiya. Ist er da?“
Sie drehte sich im Hausflur, wobei ihre schönen scharfsinnigen Augen jedes
Detail erfassten. Der Hund glotzte doof und hechelte.
Sakito rappelte sich auf.
„Was gibt Ihnen die Erlaubnis so in unser Haus einzudringen?“, brummte er
und rieb sich den Hinterkopf, der unsanft gegen die Wang geschlagen war.
„Dein Bruder Toshiya. Ist er da?“, wiederholte der Eindringling mit
strahlendem Lächeln und Sakito hatte plötzlich das unbehagliche Gefühl mit
einem Roboter zu sprechen.
Und weil die schöne junge Frau vermutlich auch ein drittes Mal ihre Frage
wiederholen würde, gab Sakito gleich von vorneherein auf und sagte mit einem
Seufzen: „Ja, er ist oben in seinem Zimmer. Warum?“
„Danke“, erwiderte die Chinesin, ja, eigentlich war es doch eher eine
Chinesin und ihr Hund sah aus wie eine Kreuzung aus einer Ratte und Mao. Sie
machte auf dem Absatz kehrt, ihr langes nachtschwarzes Haar umwallte sie, als
sie die Treppe hinaufflog. Oben auf der letzten Stufe wandte sie sich noch
einmal um und sagte zu Sakito: „Die neue Kommode sieht viel besser aus, als
der Kleiderständer, den ihr vorher im Flur hattet.“
Und schon war sie in Toshiyas Zimmer verschwunden, ohne überhaupt zu wissen, wo
es lag, wie Sakito gerade auffiel. Verwirrt starrte er nach oben.
Woher in Gottes Namen wusste diese Teufelsbraut dass die Eichenholzkommode neben
der Haustür neu war?
„Halli-hallo“, flötete Lu und warf vergnügt ihr glänzendes Haar zurück,
„habt ihr mich vermisst?“
Toshiya und Takumi starrten sie an. Takumi ließ vor Schreck das
Papiertaschentuch fallen, das er in Händen hielt.
„Ok, ihr habt mich nicht vermisst, aber das könnt ihr nur sagen“, sie
lächelte ihr umwerfend schönes Lächeln, „weil ihr mich noch gar nicht
kennt. So, aber deshalb bin ich nicht hier.“
Zielsicher durchschritt die Chinesin den Raum (sie trug übrigens schwarzes
Lederstiefel, die so hohe Absätze hatten, dass sie wohl schon häufiger
zwischen Fußboden und Decke steckengeblieben war) und ließ sich auf dem blauen
Klappstuhl nieder, der einsam im Zimmer herumstand.
„Der ist praktisch“, sie meinte wohl den Stuhl, „hab ich auch in allen
Farben, gibt’s bei Ikea. Ach jeder hat ihn, tja das ist das Blöde daran, wenn
etwas Mode ist, dann kauft sich jeder Idiot einen Ikea-Klappstuhl. Aber nun zur
Sache.“
Die beiden Jungen starrten sie noch immer mit solchem Erstaunen an, als wäre
die Frau hereinspaziert und hätte verkündet sie sei die Führerin der
Whu-Whlah-Sekte und fordere, dass Toshiya und Takumi sich die Hände abhacken
und sie aufessen sollen, und zwar auf der Stelle. Oder, dass das, was sie im Arm
hielt tatsächlich ein Hund und nicht eine scheußliche Missgeburt eines Tieres
war, wie sie nur unser Jahrhundert hervorbringen kann.
Toshiya stieß plötzlich einen Schrei aus.
„Spekulatius!!! Mein Q-chan!!! Mein Hündchen!!! Ich hab dich so vermisst!
Seit dich dieser Irre weggeworfen hat hab ich dich nicht mehr gesehen- dieser-
Moment mal!“
Argwöhnisch musterte er die heiße Braut von ihre hochhackigen Stiefeln bis zum
Scheitel ihrer glänzenden schwarzen Haare. War das nicht die Freundin von Kyos
Gangstercousin, diesem Ruki oder wie der hieß? Mit wachsendem Misstrauen
streckte er seine Hände aus um sein wiedergefundenes Hündlein aus den Klauen
dieser Tigerin zu entreißen.
„Ah-ah“, sagte Lu sofort mit strahlendem Lächeln, „wenn du diesen Hund
anrührst, dann muss ich dir leider einen Finger abschneiden. Nichts für
ungut.“
Toshiya zog sofort seine Hand zurück. Diese Frau machte keine Witze, das sagte
ihm die dunkelrote Farbe auf ihren vollen Lippen. Sie sah aus, als hätte sie
ihren Lippenstift vor dem Auftragen Blut getaucht.
„Hund?“, wiederholte Takumi verdattert.
„Jaaaa...rühr den Hund nicht an, Totchi...Madame, geben Sie ihn lieber
mir...bei mir ist er in sicheren Händen...“, sagte Sakito, der plötzlich
ebenfalls im Raum stand. Seine Augen blitzen. In der rechten Hand hielt er ein
überdimensional großes Küchenmesser mit dem man eine ganze Elefantenherde
hätte zerlegen können. Lu warf ihm einen empörten Blick zu.
„Nein, du nicht, ich weiß, dass du alles, was dir nicht bis zum Bauchnabel
reicht in deine Giftsuppen mischt“, zischelte sie. Dann, mit völlig
veränderter Stimme und erneutem Lächeln (zum Glück bin ich schwul, dachte
Toshiya) erklärte sie: „Aber nun zur Sache. Mein Name ist Lu. Natürlich ist
das nur mein Deckname, und seid es nicht wert auch nur das mindeste Vertrauen
von mir zu erhalten, also belassen wir es dabei. Ich soll dir etwas ausrichten,
Toshiya, Schätzchen...“
„M-mir?“, stotterte Toshiya. Er hielt es für eine Ehre die wirklich
anzuzweifeln war.
„Ja, dir!“, sie zwinkerte ihm verführerisch zu. Toshiya verzog das Gesicht.
Takumi hob die Augenbrauen. Sakito wetzte sein Messer mit braunem Schleifpapier
und prüfte in regelmäßigen Abständen die Schärfe.
„Ich will mich nicht lange damit aufhalten. Die Botschaft lautet: Und mein persönlich Rat, Kleiner, ist: Beherzige die Nachricht, er
macht keine Scherze, wie du dir vielleicht denken kannst. Und er sieht alles.
Tja, er ist wohl besessen.“ Sie lächelte wieder vergnügt und erhob sich. Das
Tier knurrte, weil es wohl fand, dass es an der Zeit war ein wenig den Hund zu
markieren. Oder weil ihm langsam der Saft ausging (der Sabber-Lache auf Toshiyas
Teppich nach zu schließen zumindest). Es klang wie wenn jemand auf einen
Regenwurm tritt, also eher ein Matschen, als ein Knurren. Aber das ist ja auch
egal.
Die Chinesin namens Lu packte also ihren Kläffer im Leerlauf, ihren
niederschmetternden weiblichen Charme, warf noch einmal ihr Haar nach hinten und
fegte aus dem Raum. Fünf Sekunden später ging die Haustür. Sakito stürzte in
den Flur. Kurz darauf kehrte er in Toshiyas Zimmer zurück und starrte die
beiden Jungen, die wortlos auf dem Boden saßen, irritiert an.
„Ich fass es nicht. Sie hat die Kommode mitgehen lassen.“
„Von was hat diese Irre geredet?“, fragte Takumi atemlos vor Aufregung und
packte Toshiya am Arm.
„Wer beobachtet dich? Und wem sollst du nicht nahe kommen? Was hat das zu
bedeuten?“
„Ähm...nicht so wichtig...“, sagte Toshiya ausweichend. Wieder klingelte
es.
„Ich geh“, sagte Sakito knapp und verschwand.
„Sag schon“, drängelte Takumi ungerührt und rutschte näher zu Toshiya
heran. Dieser zog sich erschrocken zurück. Kyo konnte ihn sehen, wie auch immer
er es anstellte, er wusste über jede Handbewegung Bescheid, die er tat.
Offenbar hatte er mitverfolgt, wie er Takumi im Arm gehalten hatte und
vielleicht auch Hakueis Annäherungsversuche an diesem Mittag. Besser kein
Risiko eingehen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
„Sag“, maulte Takumi. Langsam war er doch wieder der Alte.
„Taku...bitte dräng mich nicht. Ich kann es dir nicht sagen, ich bringe dich
sonst in Gefahr. Bitte, das klingt verrückt...ich- es tut mir leid...“
Toshiya sah betreten zu Boden. Als Takumi voller Mitgefühl nach seiner Hand
langte zog er sie schnell weg.
„Es...tut mir leid“, wiederholte er, wobei er den Jungen eindringlich in die
Augen sah, in der Hoffnung dieser würde verstehen, dass er sich von ihm
fernhalten solle.
„Oh“, sagte Takumi, „ok. Diese soll wohl bedeuten ich soll dich
nicht mehr umarmen...stimmt's? Oder sonst irgendjemand?“
Toshiya nickte stockend.
„Aha. Toshiya?“
„Mmh?“
„Das ist doch krank. Wer auch immer dir das antut, das ist doch krank...
„Aber ich liebe ihn...“, murmelte Toshiya. Takumi starrte ihn an.
„Oh-“, stieß er hervor, als ihm langsam ein Licht aufging, wenn er auch
sonst gar nichts von der rätselhaften Chinesin und ihrem blöden Ratten-Terrier
verstand.
„Es ist dein Freund? Du hast einen Freund? Er ist wohl ganz schön
eifersüchtig?“
Toshiya nickte wieder.
„Und kriminell? Ich meine diese Botin eben...ne echte Gangsterbraut...“ Er
schüttelte sich, wodurch seine Haare nur noch zotteliger wurden.
Nochmals nickte Toshiya. Er hielt den Blick fest auf den Boden gerichtet. Durfte
er Takumi so viel verraten?
„...ist es...dein Freund, also den du liebst...ist es Kyo?“, fragte Takumi
plötzlich. Toshiya hob überrascht den Kopf. Der kleinere Junge sah ihn mit
ernsten Augen an.
„Also ja“, murmelte er, als Toshiya keine Anstalten machte zu reagieren.
„Und-“
In diesem Augenblick schwang die Tür auf und ließ zwei merkwürdige Gestalten
hinein, noch merkwürdiger als Lu und ihr Hündlein, was wirklich etwas heißen
will.
„Äh...“, begann Sakito, der die beiden in Toshiyas Zimmer geleitet hatte.
Er wies sie mit einer Handbewegung (übrigens mit der Hand in der noch immer das
Schlachtermesser steckte) in den Raum.
„Äh...“, versuchte er wieder. Dann schüttelte er den Kopf, schloss die
Tür hinter den Besuchern und setzte sich auf Toshiyas Bett.
„Hi Die. Hi Shinya“, sagte Toshiya. Irgendwie hatte er lansgam genug. Ob ihn
die Irren noch immer finden würden, wenn er in Sakitos Küche zog? Die
Schränke waren ja sehr geräumig (und in jedem gab es fließend Wasser, Strom,
eine Minibar und die Möglichkeit zum Einbau eines Whirlpools oder einer
Sauna).
„Totchi, sorry, dass wir so hereinplatzen, aber hast du vielleicht eine Frau
gesehen, so eine Chinesin mit langem schwarzen Haar und einer Mao-Tse-Tung-Puppe
(oder was das sein soll) auf dem Arm? Sie ist hier hineingegangen und nun finden
wir sie nicht mehr?“
Toshiya starrte seine beiden Freunde an. Nein, eigentlich war er sich nicht mehr
sicher ob er mit ihnen befreundet sein wollte. Sowohl Die, als auch Shinya waren
in etwas gehüllt, das aussah wie schwarze Overalls. Beide trugen eine Mütze
und hatten ein Tuch vors Gesicht gebunden, das Shinya eben zum Sprechen ein
wenig gelupft hatte. Sie sahen einfach lächerlich aus.
„Ja. Die war hier. Warum fragt ihr, was habt ihr mit der zu tun? Und wie seht
ihr überhaupt aus?“, sagte Toshiya und begutachtete Shinyas Aufzug mit einem
Stirnrunzeln.
„Ach, Totchi, das ist eine lange Geschichte...“ Shinya ließ verzweifelt die
Arme hängen.
„Du glaubst nicht in welche Schwierigkeiten ich schon wieder geraten bin und
das nur wegen Die...“
Besagter Mann zog eine Kalaschnikow aus seinem voll bepackten Rucksack. Er
blinzelte in das Schussrohr und überprüfte dann die Munition.
„Doch, das glaub ich sofort“, antwortete Toshiya. Warum hatte er
urplötzlich das Gefühl ganz dringend Urlaub zu brauchen?
„Totchi, frag lieber nicht...“
„Hatte ich auch nicht vor.“
„Soll ich ihn erschießen“, brummte Die und zielte mit seiner Waffe auf
Toshiya.
„Da wo ich herkomme erschießt man Leute wegen dummen Fragen.“
„Er hat ja nicht gefragt“, erwiderte Shinya hektisch und wandte sich wieder
an Toshiya, der wie versteinert den Blick auf Dies Maschinengewehr gerichtet
hatte.
„Jedenfalls tut Die es schon wieder...du weißt schon...das mit seinen
Macken...erst der Tick mit dem Essen, dann diese Depri-Phase, dann hat er sich
eingebildet er sei ein Greis mit Stützstrümpfen und Wärmedecke und als ich
ihn angeschnauzt habe er soll sich gefälligst ne andere Marotte zulegen...nun
ja...“
„Da ist er schnurstracks einer Gang beigetreten und spielt jetzt den
Bad-boy?“, schloss Sakito mit hochgezogenen Augenbrauen (und nervösem Zittern
in der Stimme, weil Die seine Kalaschnikow immer auf denjenigen richtete der
gerade sprach).
Shinya nickte frustriert.
„Die Gang gehört einem Ruki oder so...und unser erster Auftrag lautet seine
Freundin zu begleiten und ihren Hund zu füttern. Aber sie ist einfach zu
schnell. Wir habe sie jetzt schon zum sechzehnten Mal verloren. Und dieser Hund
ist eine Bestie...er frisst nur Elchinnereien... Ich muss geistig umnachtet
gewesen sein, als ich mit Die in diese Bande eingetreten bin, aber ich konnte
ihn da doch nicht alleine lassen...der schafft es noch und bringt sich um...“
„Oder uns...“, sagte Sakito mit Blick auf den Waffenlauf, der ihm noch immer
vor die Brust gehalten wurde.
„Soll ich ihn erschießen, Shin? Da wo wir herkommen-“, er versuchte auf den
Boden zu spucken, was aufgrund des Tuches, das vor seinen Mund gebunden war,
nicht ganz gelang, „werden Leute erschossen, wenn sie andere unterbrechen.“
„Jedenfalls“, schloss Shinya, „diese Frau ist eine Verrückte, sie ist
wahnsinnig-“
„Was du nicht sagst“, unterbrach ihn Sakito gereizt, „zum Glück ist sie
die einzige Bedrohung hier!“
„Er ist klein, da brauch ich nicht viel Munition“, knurrte Die und kappte
den Patronenstreifen, der vom Maschinengewehr hing.
„Und wie geht’s dir?“, fragte Shinya mit traurigem Lächeln. Toshiya
zuckte die Achseln.
„Naja...aber nicht mehr so schlimm...ich- ach, ist ja auch egal...auf jeden
Fall ist alles ok.“
„Ich könnte heulen vor Glück“, brummte Die.
„Tja, wir... wir gehen dann...“
Mit diesen Worten verkrümelten sich Shinya und sein Gangsterfreund. Takumi
nervte zwar noch ein Weile herum, doch weil ihm bald klar war, dass Toshiya
nichts mehr sagen wollte verließ auch er das Zimmer und überließ Uruhas
kleinen Bruder seinen Gedanken.
Zwei Wochen vergingen ohne nennenswerte Ereignisse. Toshiya fiel bald auf, dass
Takumi das Haus der Haras mied. Offenbar wollte er Uruha nicht begegnen. Dieser
reagierte gar nicht gut auf alles was seinen Ex-Freund betraf. Wann immer dessen
Name fiel, verhielt Uruha sich so als sei er mit plötzlicher Taubheit
geschlagen und wenn Toshiya ihn trotz allem weiterhin löcherte, musste er
plötzlich immer unbedingt etwas wichtiges erledigen. Zeitungen austragen zum
Beispiel. Uruha hatte das letzte Man in der vierten Klasse Zeitungen
ausgetragen. Toshiya fand die Ausrede wirklich schwach. Aber alles in allem kam
es nicht zu Streitigkeiten.
Der einzige, der wirkliche Probleme machte, war Die. Ständig fuchtelte er in
der Schule mit einem Messer herum und erschreckte die Jungen und Mädchen der
unteren Klassen. Außerdem weigerte er sich strikt das pechschwarze Tuch
abzunehmen, das gut die Hälfte seines Gesichts verhüllte und als er der
Mathelehrerin heimlich einen Strick um den Hals legte, während sie eine
Sinuskurve an die Tafel zeichnete, um sie über dem Lehrerpult aufzuknüpfen,
riss dem Direktor endgültig der Geduldsfaden. Es setzte einen saftigen Verweis
und ein halbes Jahr lang Flurputzen. Die Anzeige und den Rausschmiss von der
Schule konnte nur ganz knapp durch die besänftigenden Worte des Musterschülers
und Lehrerlieblings Shinya verhindert werden. Fortan traf man den Jungen mit den
feuerroten Haaren in den Pausen (er hatte sich bald den Spitznamen AC Mailand
eingehandelt) und vor und nach dem Unterricht auf diversen Fluren oder Toiletten
an, wo er mit grimmiger Miene die Fliesen schrubbte, den Strick immer
griffbereit in der Jackentasche falls er mal ganz spontan jemanden hängen
müsse. Ein 13-jähriger Junge aus der sechsten Klassen wurde nur durch einen
glücklichen Zufall vor dem sicheren Tode gerettet, er war über den von Die
frischgeputzten Boden im dritten Stock gelaufen. Der Direktor der Schule war
seit Mittwoch der letzten Woche krankgeschrieben.
Nur eine Sache fehlte. Und zwar Kyo.
Toshiya verstand es nicht. Erst warnte ihn dieser Junge, fletschte die Zähne
wie ein Tiger und drohte ihn zu fressen, dann überwachte er ihn, schickte ihm
die Freundin seines Cousins um ihn einzuschüchtern und dann – dann ließ er
nichts mehr von sich hören. Was in aller Welt sollte das? Toshiya war leicht
verstimmt. Und unendlich traurig. Vielleicht, ja vielleicht hatte er sich
wirklich in Kyos Gefühlen getäuscht. Den Gedanken hielt er kaum aus. Er musste
immerzu an ihn denken, wenn er aufwachte, wenn er sich anzog, wenn er zur Schule
ging, im Unterricht, beim Mittagessen, den ganzen Nachmittag über, wenn er
schlafen ging. Es machte ihn wahnsinnig. Und mit jeder Sekunde die verstrich
sehnte er sich mehr nach Kyo, nach seiner Nähe und seiner Umarmung. Manchmal,
wenn er mit Uruha stritt, ein Lehrer ihn ausschimpfte oder er an Daishi denken
musste, hatte er das Gefühl, dass nur Kyo ihm Geborgenheit geben könne.
Aber er war ja nicht da. Toshiya fühlte sich einsam.
Draußen heulte der Wind. Uruha zog sich die Decke bis zum Kinn. Wo kamen nur
plötzlich diesen verdammten Schuldgefühle her? Warum fühlte er sich so elend,
wenn der Regen gegen seine Fenster prasselte? Immer, wenn er sich einsam fühlte
tauchte der Schmerz wieder in seiner Seele auf, genau das Gefühl dass er
empfunden hatte, als er im Regen neben den Gleisen stand und mit sich selbst
rang, schließlich entschlossen seinem Leben ein Ende zu setzen. Die Dunkelheit,
die er damals tief in seiner Seele gespürt hatte würde ihn für immer
verfolgen, das wusste er genau. Alles tat ihm so unendlich leid. Dass er Toshiya
so verletzte hatte und dann Takumi...warum eigentlich hatte er den Kleinen
plötzlich nicht mehr ertragen? Und weshalb noch mal hatte er sich mit ihm
gestritten? War es vielleicht, weil er das Gefühl gehabt hatte in seinem Herzen
sei kein Platz für ihn und Toshiya gleichzeitig? Was hatte er überhaupt
gefühlt? War er nicht einfach nur völlig durcheinander und unendlich traurig
gewesen?
Eigentlich war es Takumi, der ihn in der Zeit danach immer wieder zum Lachen
gebracht hatte. Uruha drehte den Kopf und blickte aus dem Fenster. Die Nacht war
pechschwarz. Kein Mond drang durch die Finsternis. Äste und Blätter der Bäume
vor dem Haus knackten und rauschten wütend im Wind, der an ihnen zerrte. Heute
Nacht würde er keinen Schlaf mehr finden.
Auch Toshiya lag mit weit geöffneten Augen im Bett und starrte an die Decke.
Was für ein Sturm. Zum Glück konnte er in seinem warmen Bett liegen und musste
nicht unter einer Brücke schlafen, auf einem Stück Karton, das von dem
mächtigen Regenschauer fast in den Fluss gewaschen wurde. Toshiya lächelte
matt in die Dunkelheit hinein. Solche Gedanken kamen ihm immer nur nachts, wenn
er sich alleingelassen fühlte und kein Auge zu bekam, weil sich sein Herz so
schmerzhaft zusammenzog.
Als er zu seinem Fenster blickte blieb ihm das Herz stehen. Er ließ
grundsätzlich nie den Rollladen hinunter, weil er beim Einschlafen gerne die
Sternen, die in den Zweigen der Bäume hingen, beobachtete. Oder die
Regentropfen, die silberne Spuren über das Glas zogen in denen sich das Licht
der Straßenlaterne brach. Aber jetzt sah er den Regen nicht mehr. Draußen auf
seinem Fenstersims stand jemand. Ein dunkler Schatten, der ins Zimmer blickte,
mit einem schwarzen Gesicht, Toshiya konnte nur den Umriss eines Mannes
erkennen. Stumm fuhr er aus dem Bett hoch und drückte sich gegen die Wand, die
rechte Hand über den Mund geschlagen um nicht laut aufzuschreien. Es dauerte
nur wenige Sekunden, bis ihm klar wurde welcher Wahnsinnige mitten in der Nacht
an seinem Haus hinaufklettern würde um in sein Fenster zu starren. Sein Herz
schlug noch immer wie wild, aber nun wagte er auch wieder sich zu bewegen.
Langsam und mit zitternden Knien erhob er sich, wickelte schnell eine Wolldecke
um die Schultern und blickte zum Fenster, noch immer das dringende Gefühl um
Hilfe rufen zu müssen. Der dunkle Umriss des Mannes draußen zeugte von keiner
Regung. Zögernd ging Toshiya auf den Schatten zu. Sein Herz pochte. Was, wenn
es doch nicht Kyo war. Mit jedem Schritt wuchs seine Angst. Bebend nahm er den
Fenstergriff in die Hand, drückte ihn nach unten, wobei er sich zwang nicht auf
den schwarzen Schatten zu achten, der unmittelbar vor ihm aufragte. Als er das
Fenster aufstieß trug ein eisiger Windstoß den Fremden in sein Zimmer. Er
setzte schnell einen Fuß hinein, damit Toshiya das Fenster nicht mehr
schließen konnte. Regen prasselte in den Raum und durchweichte den
Teppichboden. Der Sturm heulte und machte Toshiya taub für alle anderen
Geräusche. Er stand einfach nur da, gelähmt vor Angst und zitternd vor Kälte
und starrte wie gebannt auf den nächtlichen Besucher. Dieser sprang
leichtfüßig auf den Boden, eine blitzartige Bewegung, die Toshiya
zusammenfahren ließ, und schloss das Fenster hinter sich.
„Kyo?“, hauchte Toshiya, als der Fremde auf ihn zu preschte und ihn in die
Tiefe des Zimmers zu seinem Bett drängte. Eine eiskalte Hand legte sich auf
seinen Mund.
„Still“, zischte Kyo, „niemand darf wissen, dass ich hier bin!“
Toshiya Herz klopfte so wild, dass er das Gefühl hatte es müsse jeden
Augenblick zerspringen. Kyo stieß ihn aufs Bett und kniete sich über ihn. Er
trug einen kühlen Hauch mit sich, ganz, als ob der Sturm, der vor dem Haus
entlang fegte sich in seinen Kleidern verhängt hätte. Er tropfte vom Regen,
seine Haare ein zerzaustes Gewühl aus nassen Strähnen, die ihm in Gesicht und
Nacken klebten. Kyo zerrte Toshiya die Decke vom Körper und drückte ihn in die
Kissen. Toshiya leistete keinen Widerstand. Er konnte Kyos eiskalte vom Regen
schwere Kleidung spüren, die sich an seine nackten Beine drückte und ihm einen
Schauer über den ganzen Körper jagte. Er zitterte noch immer, wusste aber
nicht mehr ob vor Angst oder Aufregung. Der Regen aus den klatschnassen Haaren
rann über Kyos Gesicht und tröpfelte auf Toshiya, der unter ihm lag und zu ihm
hinaufsah.
„Woher kommst du so plötzlich?“, flüsterte Toshiya.
Kyo antwortete nicht. Er schien seinen Freund anzusehen.
„Willst du dich nicht umziehen? Ich kann dir trockene Kleidung geben, einen
Pullover...“ Toshiyas Stimme verebbte. Kyo rührte sich nicht. Also langte er
vorsichtig und zögernd nach oben und tastete im Dunkel über Kyos Jacke. Er
fand den Reißverschluss, zog sie auf und schob sie über die schmalen
Schultern. Wie gut er roch, nach Regen und Wärme. Nun bewegte Kyo sich auch.
Immer noch zwischen Toshiyas gespreizten Beinen kniend schlüpfte er schnell und
lautlos aus dem triefenden Kleidungsstück und warf es neben dem Bett auf den
Boden, wo es mit einem dumpfen Klatschen landete. Dann wandte er wieder den
Kopf. Toshiya konnte seine Augen nicht sehen, aber er hatte das beinahe
unangenehme Gefühl, dass Kyo seinen Blick über den ganzen Körper laufen
ließ, der unter ihm lag, von dem hübschen Puppengesicht und den kohlschwarzen
Haaren über den schlanken angespannten Bach, die Hüften, bis zu den langen
weißen Beine, die das verrutschte Nachthemd freigelegt hatte.
„M-mir ist so kalt...“, wagte Toshiya schließlich ein Flüstern, „b-bitte
lass mich uns wenigstens zudecken...“
„Klappe“, fauchte Kyo, presste seinen eiskalten durchnässten Körper fest
an Toshiya, beugte sich hinab und küsste ihn so stürmisch, dass Toshiya die
Luft wegblieb. Er zitterte vor Kälte, Regentropfen rannen die Innenseite seiner
Schenkel hinab und ließen ihn erschaudern. Aber er spürte die Kälte schon
nicht mehr, der Körper, der sich auf ihn legte, Kyos Hände, die sich wild,
fast schon gewalttätig seine Haut entlang tasteten, sein heißer Atem
beanspruchten sein ganzes Denken, ließen ihn schwindlig werden.
Seltsam.
Uruha runzelte die Stirn. Er hatte sich ans Fenster gesetzt um gedankenverloren
den Regen zu beobachten, der vom Himmel stürzte und in Bächen die schwarze
Straße entlang rauschte. Vorhin hatte er den Eindruck gehabt etwas in der
Finsternis vor seinem Fenster wahrgenommen zu haben, irgendetwas, weniger als
ein Schatten, aber dennoch hatte er es gesehen. Es war über die Straße
gehuscht, umhüllt von Dunst und Regen, zwischen zwei Straßenlaternen, genau an
der Stelle, die von den beiden matten Lichtkegeln am weitesten entfernt war. Und
plötzlich hatte er das Gefühl gehabt, dass etwas anwesend war, irgendjemand,
vielleicht sogar im Haus. Immerhin wäre es nicht das erste Mal, dass jemand
einbrach. Mit wachsender Unruhe im Herzen sprang Uruha von seinem Stuhl auf,
wickelte den Bademantel fest um seinen Körper, stapfte mit leisen Schritten
über den Teppichboden seines Zimmers, in den Flur hinaus und trat vor Sakitos
Zimmertür. Als er seinen Kopf dagegen legte war leises regelmäßiges Atmen das
einzige, was er vernehmen konnte. Ebenso verhielt es sich mit dem Schlafzimmer
seiner Mutter. Und weiter zu Toshiyas Tür. Uruhas Unbehagen wuchs, aber er
versuchte sich einzureden, dass es nur die gewohnte grundlose Angst um seinen
kleinen Bruder war. Vorsichtig, darauf bedacht keinen Laut zu verursachen
presste er sein Ohr gegen das kühle Holz und konzentrierte sich auf die
Geräusche im Zimmer. Der Flur lag still und schwarz da, auf dem ganzen Haus
ruhte eine wohlige Wärme, aufgrund der Kälte hatte seine Mutter abends den
Holzofen im Wohnzimmer angeschürt. Nichts regte sich, alles im Haus war finster
und vertraut.
Uruha erschrak fürchterlich, als er Toshiyas Bettdecke rascheln hörte. Gleich
darauf zwang er sich zur Ruhe. Der Junge hatte sich beim Schlafen umgedreht, das
war alles. Aber – er horchte so angestrengt er konnte – was war das für ein
Geräusch? Uruha konnte Atmen vernehmen. Aber es klang nicht so, als ob Toshiya
schlafen würde, sondern eher, als ob – und jetzt Stimmen! Ein kaum hörbares
Flüstern, ein Hauchen, wenig mehr als ein Atemzug, dann ein anderes als Antwort
– Uruhas Gedanken überschlugen sich. Jemand war in Toshiyas Zimmer, jemand
war wie ein Dieb in das Haus eingedrungen, er hatte sich nicht getäuscht!
Gerade, als er in den Raum stürzen wollte, hörte Uruha ein leises Keuchen,
ganz schwach und unterdrückt und auf einmal wurde ihm klar, dass er und seine
Hilfe in Toshiyas Zimmer sicher nicht erwünscht waren. Irgendeine Person war
tatsächlich bei seinem kleinen Bruder eingestiegen, aber ein Dieb war es nicht,
denn er war wohl auch kaum an Schmuck, Geld oder Geräten von Wert interessiert.
Wer auch immer da drinnen war, er war willkommen, nun war es nicht mehr zu
überhören, auch wenn die beiden Personen sich offenbar Mühe gaben jeden Laut
zu unterdrücken.
Langsam und lautlos rutschte Uruha neben der Tür zu Boden. Das war doch einfach
nicht zu fassen!
Kapitel 18: 18
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Die Zweige der Bäume knarzten, vom Wind gepeitscht schlugen sie gegen die
Flurfenster im ersten Stock, der Himmel draußen war mit dem Regen zu einer
grau-schwarzen Dunstmasse zerflossen.
Uruha seufzte lautlos auf.
Was für ein Wetter, man könnte meinen, die Welt ginge jeden Augenblick unter.
Ein Blitz zuckte über den Himmel und zerriss für den Bruchteil einer Sekunde
die sturmzerwühlte Finsternis. Ein mächtiges Donnern folgte, das Uruha auf dem
Fußboden zusammenfahren ließ. Er fühlte sich winzig klein, geradezu
jämmerlich-verschwindend unbedeutend im Angesicht der Naturgewalt, die über
die Stadt hinwegfegte. Der Wind heulte immer lauter ums Haus. Einige Male schon
hatte Uruha geradezu damit gerechnet, dass das Unwetter Teile des Daches mitnahm
oder vielleicht eine Seitenwand. Und dann würde er durch ein großes Loch in
der Hausmauer nach draußen in die ewige Nacht gesogen werden.
Ewige Nacht.
Warum fühlte er sich so, als würde dieses Dunkel für immer andauern?
Eigentlich war es unendlich still. Alles was ringsum zu vernehmen war hatte mit
dem gewaltigen Gewitter zu tun, mit Sturm und Regenschauer, abgebrochenen
Zweigen, heruntergerissenen Blättern, doch nirgends ein menschlicher Laut. So
als wäre er plötzlich alleine auf der Welt. Ganz alleine.
Schön, er hatte ihnen zugehört. Warum wusste er selbst nicht. Toshiyas Atmen,
unterdrücktes Stöhnen, das war schon alles gewesen und auch nur für wenige
Minuten. Danach konnte man noch längere Zeit das Rascheln der Bettdecke hören,
anscheinend hatte der Mann – wer auch immer er war – irgendetwas gegen die
vorherige Geräuschkulisse unternommen. Und dann... dann hatte urplötzlich
Totenstille geherrscht. Eine unsichtbare Hand hatte Uruha festgehalten, es war
ihm nicht gelungen sich von der Zimmertür seines kleinen Bruders zu entfernen
und nun musste er sich mit aller Gewalt davon abhalten die Tür einzutreten und
sich persönlich davon zu überzeugen, dass Toshiya am Leben war. Es ging ihm
sicher gut.
Nicht wahr?
Kein Laut drang mehr an sein Ohr, egal wie fest er es gegen die Tür presste.
Und so saß er seit zwei Stunden auf dem Boden, ratlos, reglos, zusammengefallen
neben Toshiyas Zimmertür und starrte zum Fenster hinaus, das am anderen Ende
des Gangs lag.
Irgendwann – er wusste nicht wie lange er auf dem Fußboden ausgeharrt hatte
– war er dann aufgestanden und langsam in sein eigenes Zimmer gelaufen. Er
hatte sich ins Bett gelegt und obwohl er sich sicher gewesen war kein Auge zutun
zu können nickte er beinahe augenblicklich weg.
Und schlug die Augen wieder auf. Uruha blinzelte. Hatte er geschlafen? Beinahe
gruselig wie er so plötzlich so wach sein konnte. Genau genommen waren es zwei
Stunden und dreiundvierzig Minuten im süßen Land der Alpträume gewesen,
glücklicherweise erinnerte er sich nicht mehr an die pechschwarzen Tunnel durch
die er im Schlaf gekrochen war, auf der Flucht vor einem körperlosen
Ungeheuer.
Uruha schwang seine Beine aus dem Bett, lief schnell ins Bad hinüber und zog
sich an. Dann schlich er hinunter in die Küche. Das Haus lag noch immer so da
wie einige Stunden zuvor, in vollkommener Stille und Wärme. Nur der Sturm hatte
sich gelegt. Uruha schlüpfte in seine Hausschuhe, presste beide Hände fest an
die warme Kaffeetasse und trat ans Küchenfenster. Der Garten vor dem Haus sah
aus wie ein Schlachtfeld. Überall lagen abgebrochene Äste, Tonnen von
durchweichtem Laub, wo der Sturm das Gras aufgewühlt oder herausgerissen hatte,
hatte sich eine schlammige Pfütze gebildet. Ein bulimischer Gom hockte auf
einem Erdhügel und deutete mit dem Finger auf einzelne Steinbrocken, die mal
hier einen Grashalm, mal dort eine Winterprimel erschlagen hatten. Uruha wandte
sich schnell vom Fenster ab. Er erinnerte sich nur zu deutlich an Sakitos
eindringliche Warnung nicht die Kreaturen des Gemüsebeets anzusehen.
Während er seinen Kaffee schlürfte und etwas apathisch auf die Spülmaschine
starrte, die sich mal hier mal dort zeigte, keimte in ihm plötzlich das
unstillbare Bedürfnis auf Takumi zu sehen. Dass es vielleicht an der letzten
Nacht liegen könnte ignorierte er. Tatsache war: Er brauchte jetzt jemanden,
den er in die Arme schließen konnte. Außerdem wühlten die Schuldgefühle sein
Herz so sehr auf, dass er das Verlangen einen lauten Schrei loszulassen nur mit
Mühe unterdrücken konnte.
Um halb nach sieben stand er vor dem Wohnblock. Ohne zu Zögern drückte er auf
die Klingel und wunderte sich auch nicht erst nach vier Minuten pausenlosem
Klingelns jemanden an der Gegensprechanlage zu haben.
„Welches unwürdige dreckige Erdenwesen wagt es mich um die Uhrzeit auf diese
widerwärtige Art und Weise aus dem Bett zu klingeln?“, wisperte eine grimmige
dünne Stimme aus dem Lautsprecher.
„Ähm, hier ist Uruha, Tara, bist du das?“
Kurze Stille.
„Uruha, wie schön, dass du mal vorbeikommst“, quiekte die Stimme plötzlich
völlig verändert.
„Äh“, sagte Uruha, der sich nicht daran erinnern konnte eingeladen worden
zu sein, „ich möchte zu Takumi, ist er da?“
„Er schläft noch“, flötete Tara, „aber das macht nichts, komm nur hoch.
Hach, aber ich hab doch gar nicht aufgeräumt...“
, dachte Uruha. Die Lust seinen Ex-Freund zu sehen verebbte.
Mit einem Surren schnappte die Eingangstür auf und Uruha trat in das muffige
düstere Treppenhaus, dass nach Heizungswärme und nassen Schuhen roch. Vierter
Stock, wenn sein Verstand ihn nicht täuschte. Als er langsam Stufe um Stufe
erklomm fiel ihm auf noch niemals hier gewesen zu sein. Seltsamerweise hatte
Takumi ihn auch nie eingeladen. Ja, wenn er genau drüber nachdachte, hatte der
Kleine ihn gerne besucht und es immer genossen im Haus der Haras abzuhängen,
mit Sakitos grünen Küchendiener zu pokern (er war ein miserabler Spieler;
aufgrund seiner kleinen Händen entglitten ihm immer wieder die Karten, weshalb
er selten lange geheim halten konnte ob er ein gutes Blatt auf der Hand hielt
oder nicht). Mit einem schuldbewussten Stechen im Herzen stellte Uruha fest,
dass Takumi sein eigenes Zuhause vielleicht nicht unbedingt mochte, immerhin war
er dort seit Jahren alleine mit seiner seltsamen Mutter, von der man bisher auch
noch nichts Gutes gehört hatte. Und vielleicht, dachte er, als er durch die
Wohnungstür trat, die Tara ihm aufhielt, vielleicht hatte er sich sogar für
sein Zuhause geschämt und daher nie einen Besuch seines Freundes verlangt.
„So früh schon auf?“, sagte Uruha, weil er nicht wusste, über was er sich
mit Tara unterhalten sollte. Der Typ war ihm nicht geheuer. Dem erholsamsten
Schlaf gerissen, den ich seit langem hatte“, sagte Tara. Er trug Hasenpuschen
und einen rosa Bademantel mit flauschigen Ohren an der Kapuze. An der pink-rosa
gemusterten Kapuze mit aufgestickten Perlenherzen.
Nun wusste er Bescheid. Uruha wusste es jetzt: Taras Geschmack war ein Unfall
– so was wie ein Modetschernobyl.
„Wo ist Takumi?“, fragte Uruha und blickte sich im kleinen Wohnzimmer um, in
das er nun geleitet wurde. In der Mitte des Zimmers stand ein alter klobiger
Holztisch, um ihn herum waren vier unterschiedliche Stühle platziert. Auf einer
Kommode an der Wand stapelten sich Blätter und Zeitschriften, am Boden daneben
lag ein altes Telefon. Die gesamte Einrichtung wirkte so, als hätte Takumis
Mutter sie aus drei oder vier Wohnen zusammengeklaut. Was vielleicht auch der
Fall war, dachte Uruha nach längerem Überlegen. Ein flaues Gefühl legte sich
auf seine Magengrube. Er hatte immer angenommen Takumi stamme aus relativ
wohlhabenden Verhältnissen. Aber er hatte ja auch nie nachgefragt.
„Mein Brüderlein schläft“, sagte Tara, der dem Gast jetzt eine Tasse in
die Hand drückte.
„Hier haste n Schluck Tee. Soll ich Takkun wecken?“
„Nein“, erwiderte Uruha sofort. „Nein, ich wecke ihn selbst. Wo ist sein
Zimmer?“
„Du meinst unser Zimmer“, sagte Tara und nickte aus unerfindlichen Gründen
fröhlich mit dem Kopf. Er sah dabei aus wie ein Huhn das Körner pickt, fand
Uruha. Im perlenbestickten Bademantel. Gott, diese Farben brachten ihn um den
Verstand.
„Und wo ist – äh euer Zimmer?“
Tara deutete auf eine der vier umliegenden Türen.
„Danke“, murmelte Uruha, obwohl er sich dessen gar nicht sicher war und
drückte so vorsichtig wie möglich die Klinke besagter Tür herunter. Es sollte
vielleicht bemerkt werden, dass er sich dazu kaum bewegen musste, weil man von
der Mitte des Wohnzimmers aus praktisch alle Türen erreichen konnte, wenn man
nur die Hand ausstreckte. Nennen wir es einfach gut angelegt.
Takumi lag in einem Gewühl aus Wolldecken. Seine Haut hob sich weiß von den
dunklen Stoffen ab. Uruha erschrak, als er ihm ins Gesicht sah. Bleich und
eingefallen kam er ihm vor, selbst ihm Schlaf wirkte er geschafft und
erschöpft. Seine Stirn war zerfurcht, er bot auf alle Fälle alles andere als
das Bild eines schlafenden Engels. Warum wirkte er denn so angespannt? Uruha
vergewisserte sich ob die Zimmertür auch wirklich geschlossen war und setzte
sich dann auf die Bettkante. Mit wachsendem Unwohlsein – und wachsendem
Schuldgefühl falls überhaupt noch möglich – beobachtete er den Schlafenden
ein Weile, dann berührte er den nackten bleichen Oberarm, der neben Takumis
Gesicht lag. Für einen Moment musste Uruha lächeln. Wie süß, er schlief mit
den Händen über dem Kopf, wie ein Baby. Dann zuckte er zusammen. Takumis Haut
war eiskalt. Vielleicht war er deshalb so bleich. Uruha erhob sich um die
Heizung höher zu drehen, aber da er keine fand, setzte er sich wieder ans Bett
zurück und zerrte eine der Decken über Takumis nackte Arme. Dieser fuhr bei
der plötzlichen Berührung erschrocken aus dem Schlaf hoch.
„Nicht erschrecken, ich bin’s nur, Uruha“, flüsterte Uruha schnell, ohne
zu wissen warum er flüsterte. Vielleicht weil er ununterbrochen das Gefühl
hatte, dass Takumis Bruderwanze ihm so gut wie ihm Genick saß, sorgsam darauf
bedacht kein Wort von dem, was gesprochen wurde, zu überhören. Einfach
widerlich an anderer Leute Türen zu lauschen.
Takumi war offenbar so sehr erschrocken, dass ihm nun Tränen über die Wangen
rollten. Er atmete keuchend ein und aus und starrte in Uruhas Augen. Dieser
wusste nicht was er sagen sollte. Er hatte nur dieses Gefühl im Herzen das er
nicht in Worte zu fassen wusste, das Gefühl, dass ihm alles unendlich Leid
tat.
„Es tut mir alles unendlich leid...“, fiel ihm nun ein, auch wenn das dieses
innerste Gefühl natürlich nicht im entferntesten ausdrückte.
Was für eine miese Entschuldigung. Dabei wusste er noch nicht einmal mehr
wessen Schuld es (was auch immer) überhaupt gewesen war.
Takumi starrte ihn an – dann brach er in so bitterliches Schluchzen aus, wie
Uruha es noch nie vernommen hatte. Es machte ihm Angst. Es klang so verzweifelt.
Jedes Vibrieren seiner Stimme versetze seinem Herzen ein Stich. Es klang so, als
ob Takumi nie wieder damit aufhörte. Es rief in ihm das Verlangen wach dem
Kleinen die Hand auf den Mund zu pressen, nur damit er es nicht mehr hören
musste.
Takumi warf sich ihm auch nicht in die Arme wie Uruha gehofft oder besser gesagt
erwartet hatte. Er saß einfach nur da, an die Wand gepresst, beide Hände in
die Wolldecke vor seiner Brust gekrallt, mit zerzausten Haaren und tiefen
Augenringen und weinte.
„Takumi...“, machte Uruha einen Versuch die Tränen einzudämmen. Hilflos
sah er den Jungen an.
„Das macht er jetzt schon seit Wochen“, sagte Tara und goss den Benjamin
Fikus endlich.
„Sehr hilfreich, Tara“, sagte Uruha spitz. Innerlich aber sank sein Herz
noch ein paar Etagen tiefer. Seit Wochen? Seit Wochen saß der Kleine zuhause
und heulte sich die Augen aus dem Kopf? Fast schon ein schmeichelhafter Gedanke,
doch Uruha weigerte sich strikt es als Takumis Reaktion auf die Trennung zu
deuten. Sie hatten sich ja noch nicht einmal wirklich getrennt. Nur gestritten
und dann war er weggelaufen, erzürnt und schmollend. Nun, Takumi war vielleicht
zart besaitet, doch dies war immerhin noch lange kein Grund so – so –
Takumi umklammerte seine zitternden Schultern mit bleichen ausgemergelten
Händen. Erschüttert starrte Uruha auf das Häufchen Elend vor ihm. Bis es
irgendwann klickte. Das hatte gar nichts mit ihm zu tun.
„Takumi...was ist los? Warum weinst du?“, fragte er laut um das Klopfen
seines eigenen Herzen zu übertönen. An der nächsten Ecke lauerte ein
schreckliches Déjà-vu und er sah es bereits mit widerlicher Fratze zu ihm
hinübergrinsen. Es würde ihn kriegen, keine Frage.
Keine Antwort. Takumi hob den Kopf. Er blickte ihn an und weinte, was Uruha
einen weiteren feinen Riss durch das Herz zog . Innerliche betäubt zog er sich
auf Bett, griff nach Takumis Schultern und schloss ihn langsam in die Arme. Der
Junge reagierte nicht. Wie ein halberfrorenes kleines Kind drückte sein Gewicht
auf Uruhas Brust. Leblos. So verdammt leblos, dass Uruha mit aller Kraft, die
noch in seinen müden Gliedern steckte, den Drang unterdrückte den Jungen
augenblicklich von sich zu stoßen. Diese eisige Berührung erinnerte ihn an so
etwas wie die Hand des Todes.
„Wenn du es genau wissen willst“, sagte Tara und strich liebevoll über die
feuerrote Blüte seines Kaktus, „offenbar ist der Kleine sehr übel belästigt
worden. Hat er mir zumindest erzählt.“
Er träufelte ein Tröpfchen Wasser auf die Kakteen und zog den Rollladen ein
wenig nach oben, damit die Pflanzen Licht bekamen (völlig sinnlos an einem
grauen verregneten Novembermorgen).
Takumi starrte seinen Bruder über Uruhas Schulter hinweg durch einen Schleier
aus Tränen empört an.
„Schau doch nicht so, Kleiner“, sagte Tara besänftigend, „du willst doch,
dass er es weiß, oder?“
Takumi schüttelte entsetzt den Kopf. Nein, er wollte das wirklich nicht. Er
wollte ihn nicht mehr sehen, er wollte überhaupt gar niemanden mehr sehen.
Oder? Oder? Warum bekam er eigentlich nie eine Antwort wenn, beinahe rasend vor
Verzweiflung, Fragen über Fragen ein Loch in seine Gedanken bohrten.
„Jedenfalls war da so ein alter Sack, der ihn so richtig gekidnapped hat –
entschuldige die wüste Ausdrucksweise Tacchan, ich will wirklich nicht deine
Gefühle verletzen – hat ihn auch in so ein Kellerloch geschleppt und
begrapscht, aber Takumi hatte wohl nen Schutzengel. Soll ja vorkommen.
Entschuldigt mich.“
Er wuselte aus dem Zimmer, die Schleppe seines viel zu langen Bademantels
wischte ihm nach und schaffte es gerade noch so durch die Zimmertür, die er
beschwingt hinter sich zuwarf.
So.
Nun waren sie also alleine.
Uruha hatte ihn losgelassen. Sie sahen sich an. Takumi verlegen. Uruha
erschüttert aber ohne den Ausdruck auch nur der leisesten Gefühlsregung. Wenn
geistige Leere eine Gefühlsregung ist, dann, nun ja, mit dem Ausdruck bloßer
geistiger Leere in den matten Augen.
„Hast du mich deshalb angerufen?“, sagte er tonlos.
Takumi nickte.
Hätte ihn dieser Kerl doch nur umgebracht. Umgebracht und tief in der Erde
vergraben. Dann wäre ihm dieser Anblick jetzt erspart geblieben, der schlimmer
war als alles andere auf der Welt. Und am Ende versuchte Uruha wieder sich etwas
anzutun. Nein, das durfte nicht sein, nicht Uruha, nicht schon wieder.
„Du kannst nichts dafür. Du hättest mir auch nicht helfen können...“,
murmelte Takumi und streichelte mit seiner kalten Hand über Uruhas Wange.
„Ich bin nicht rangegangen. Ich bin nicht rangegangen, als du
mich...ich...“
Uruha starrte auf die Bettdecke.
Ja, unendliche Schuldgefühle, beißende nagende bittere Schuldgefühle sind
schlimmer als echter aufrichtiger Schmerz. Menschen können daran zugrunde
gehen. Eine Sekunde nicht aufgepasst und man hat eine Schuld auf sich geladen,
die auf dem Herzen lastet und alle Gefühle erdrückt. Viele Menschen flüchten
dann in den Alkohol, voller Abscheu vor sich selbst, voller Hass und Dunkelheit
und Einsamkeit, aber niemand hat Mitleid mit ihnen, denn sie sind ja schuld.
Takumi schloss ihn in die Arme. Und klammerte sich an ihn. Er wusste genau was
Uruha gerade dachte.
„Ich liebe dich so sehr, sag einfach, dass du mich zurücknimmst...“
Uruha wusste nicht, was er antworten sollte. Er wusste nur, dass jetzt keine
Zeit war an Züge zu denken. Takumi brauchte ihn.
„Ach wie süß“, kommentierte Tara trocken und verließ zum zweiten Mal
binnen zwei Minuten den Raum (und das ohne ihn vorher wieder betreten zu
haben).
Als Toshiya wieder zu sich kam war es bereits Morgen. Ganz ganz langsam schlug
er die Augen auf, ohne jedoch eine Sekunde lang überlegen zu müssen, was
vorgefallen war.
Er rappelte sich auf. Diese Schmerzen. So gut wie überall, doch am
schlimmsten-
Toshiya starrte auf seine Beine und warf dann einen Blick in die große
Spiegeltür an seinem Kleiderschrank. Er sah sich selbst ins Gesicht und
errötete. Das wiederum fand er so albern und peinlich, dass er nur noch röter
wurde. Hastig wandte er den Blick ab. Das, was Kyo letzte Nacht mit ihm gemacht
hatte, konnte locker als Vergewaltigung durchgehen. Mit dem minimalen
Unterschied, dass er alles zugelassen, in der Tat sogar mehr als alles andere
gewünscht hatte. Und Kyo hatte es sehr schnell getan. So war ihm kein
Herzschlag Zeit geblieben in die Vergangenheit zu reisen, an jenen düsteren
wolkenverhangenen Tag – eigentlich war das Wetter damals sehr ähnlich gewesen
wie heute, dachte Toshiya als er ans Fenster trat. Das Unwetter der vorherigen
Nacht hatte seine Spuren zurückgelassen. Überall Grünzeug, das sich
ausgerissen und zerwühlt auf der Erde türmte. Die Nachbarn machten sich auf
die Suche nach diversen Gegenständen, die der Sturm mitgenommen hatte, zwei
Blumenkübel, ein Gartenstuhl, einige Müllsäcke und den Smart (den hatte es
schon zum dritten Mal in den Nachbargarten geblasen). Die Bäume vor dem Haus
sahen Sakito direkt nach dem Aufstehen täuschend ähnlich und drunten im Matsch
tummelten sich die Regenwürmer. Toshiya erschauderte. Matsch. Das durfte doch
nicht wahr sein. Zum einen Verband er mit der schlammigen Masse Horrorvisionen,
er spürte noch genau wie sich der weiche Untergrund angefühlt hatte, als er im
Matsch gelegen und zu Daishi aufgeblickt hatte. Zum anderen... Toshiya öffnete
das Fenster. Ein eisiger Hauch schnitt ihm die Luft ab. Trotz allem sog er
genussvoll den kalten Wind ein und schloss die Augen. Es roch wie Kyo. Kyo roch
wie der Wind und die Blätter und die Erde.
Toshiya trat vom Fenster zurück. Mit aller Gewalt sperrte er die Gedanken an
Daishi aus, was ihm nicht so einfach gelang, aber er würde kämpfen.
Er schloss das Fenster, setzte sich wieder aufs Bett und sah an sich herunter.
Wieder wurde er rot um die Wangen. Kyo war wirklich hart mit ihm umgesprungen,
überall diese Flecken, an manchen Stellen sogar leicht bläulich. Wenn er an
die Nacht dachte wurden seine Knie ganz weich und ein überwältigendes warmes
Gefühl flutete sein Herz.
Nur...
Was war dann geschehen? Irgendwie hatte er – selbst am Rande der Ohnmacht –
das Gefühl gehabt, dass Kyo es eilig hatte, wirklich zärtlich war er sowieso
nicht gewesen. Das konnte er vielleicht gar nicht.
Toshiya seufzte auf. Das Glücksgefühl erstarb jäh. Sein Freund war nicht nur
wenig zärtlich sonder sogar sehr brutal mit ihm umgesprungen. Kein Berührung
hatte er akzeptiert, nur seine Handgelenke fest auf das Kopfkissen gedrückt.
Für einen Moment hatte sich Toshiya dem Gedanken nicht entziehen können, dass
Kyo seinem großen Bruder nicht unähnlich war. Als er fertig gewesen war –
und Toshiya musste bei der Erinnerung unwillkürlich schlucken – hatte er eine
Hand um seinen Hals und eine auf seinen Mund gelegt. Und dann... dann war ihm
langsam schwarz vor Augen geworden. Für den Bruchteil einer Sekunden hatte
Toshiya plötzlich Angst gehabt Kyo würde ihn umbringen. Er hatte sich kurz
gegen den festen Griff gesträubt, der ihm die Luft abdrückte, doch keine
Chance.
Toshiya schluckte wieder. Wie hatte er das nur im ersten Moment vergessen
können?
Was hatte Kyo sich dabei gedacht? Dass er die Polizei rufen und ihn verpfeifen
würde? Oder, dass... dass er vielleicht das Bedürfnis haben würde ihn zu
umarmen, Zärtlichkeiten auszutauschen? Und deshalb hatte er ihn gewürgt bis er
ohnmächtig geworden war?
Mit leisem Schrecken musste Toshiya sich eingestehen, dass Kyo und Daishi sich
in gewisser Weise tatsächlich furchtbar ähnlich waren. Und dass er bisher nur
einen winzigen Teil von Kyos Charakter erfasst hatte. Ihm dämmerte, dass er
sehr bald in Kyos Kontrolle abrutschen würde.
Er musste sich jemandem anvertrauen. Ewig konnte er seine Beziehung sowieso
nicht geheim halten.
Bizarrerweise erledigte sich Toshiyas Problem geradezu wie von selbst.
Er war über Stunden hinweg damit beschäftigt gewesen den verwüsteten Garten
wieder halbwegs in Stand zu setzen. Fiese Kreaturen, wie Primeln, Gnome oder
auch gemeine Saftkugler erleichterten ihm die Arbeit nicht direkt. Und als er
ermattet und trotz des eisigen Wetters völlig verschwitz wieder ins Haus
zurückkehrte, um irgendein Teufelzeug zu trinken, das Sakito aufgebrüht hatte,
konnte er mehr als nur eine blutige Schürfwunde aufweisen. Mit geradezu
beschämten Grinsen stellte er vor dem Spiegel im Flur fest, dass die
Verletzungen nicht unpraktisch waren. Wenigstens lenkten sie fürs erste von
allem ab, was sein wild gewordener Geliebter auf seiner Haut hinterlassen
hatte.
„Ui“, Sakito pfiff durch die Zähne, „du siehst ungut aus.“
Toshiya zog die braunen Gärtnerhandschuhe von seinen Händen und klatschte sie
auf die Garderobe.
„Nicht dorthin! Die sind doch total voll Dreck“, schimpfte Sakito.
„Und voll Blut“, ergänzte Toshiya. Sakito blickte ihn unter gehobenen
Augenbrauen an.
„Nun übertreib mal nicht. Die paar Kratzer-“
„-Fleischwunden-“
„-werden dich nicht umbringen.“ Sakito verschränkte die Arme vor der Brust.
Plötzlich stieß er einen entsetzen Schrei aus, der Ryutaro, der eben aus der
Küche kam, erschrocken zusammenfahren ließ. Doch bereits eine Sekunde später
atmete der angehende Genie-Koch wieder auf und sagte, als Antwort auf die
verwirrten Gesichter, „Es wird dich nicht umbringen. Ich habe das ganze Beet
erst letztes Frühjahr völlig entgiften lassen.“
Ryutaro sah ihn an. Beinahe vorwurfsvoll. Toshiya blickte erstaunt von einem zum
anderen.
„Jah... die Saftkugler legen keine Pythoneiner mehr. Darum habe ich mich auch
gekümmert.“
Toshiya konnte das flaue Gefühl, dass sich nun auf seine Magengrube legte nicht
abschütteln.
„Jah, die hab ich auch rausgenommen, nun hör endlich auf mich so anzusehen,
Ryu!“, fuhr Sakito gereizt fort.
„Was ist mit den Gnomen?“, wollte Ryutaro wissen.
„Gnome, Gnome, was soll mit ihnen sein?“, murmelte Sakito, die Stirn in
Falten gelegt, was deutlich zeigte, dass er nachdachte, was noch deutlicher
zeigte, dass sehr wohl etwas mit den Gnomen sein konnte. Hektisch suchte Toshiya
seine Oberarme nach Gnombissen ab, die feine halbmondförmige Löcher in die
Haut stanzten. Er war sich sicher gewesen die ein oder anderen kleinen Zähnchen
auf seiner Haut zu spüren, als er die Winterprimeln seiner Mutter vor dem
Ertrinken im Eiswasser des Teichs gerettet hatte.
„Heute Morgen“, sagte Ryutaro seinerseits stirnrunzelnd, „hab ich einen
gesehen. Er saß auf einem Erdhügel und rollte mit den Augen.“
„Und?“, machte Sakito. „Lass ihn doch, wenn es ihm Spaß macht. Wenn Die
sich auf einen Erdhügel setzen und mit den Augen rollen würde, ließest du ihm
doch auch den Spaß.“
Er fühlte sich sichtlich unwohl. Sein Argument hatte wenig überzeugt
geklungen.
„Sakito!“, hauchte Ryutaro eindringlich, „Das ist Wahnsinn! Ich bin mir
fast sicher die kleinen Erdenwesen haben sich irgendeine Geisteskrankheit
eingefangen. Sieh doch-“, er packte Toshiyas Arm und hielt ihn demonstrativ
nach oben, wie das ausschlaggebende Beweisstück für einen bislang ungelösten
Mordfall.
„-schau! Sie haben ihm satanssternförmige Bisse in die Haut gemacht.“
„Mein Gott!“ Sakito wirkte fassungslos. Toshiya war es. Musste er jetzt
sterben??
„Du hast Recht... sie – sie haben sich einer schwarzen Sekte
angeschlossen... wir müssen was unternehmen.“
„Fragen wir den Alten G-Uru (nur zufällige Namensverwandheit), er weiß
sicher weiter“, sagte Ryutaro panisch, Sakito nickte und weg waren sie. Sie
hatten noch nicht einmal die Tür hinter sich zugezogen.
Toshiya betrachtete seinen Arm. Ryutaro hatte eindeutig zu viele Zimtsterne
ausgestochen. Die kleinen Bisswunden auf seinem Arm sahen völlig normal aus,
halbmondförmig, wie eben Gnombisse. Toshiya atmete auf. Die ganze Aufregung
umsonst. Er sah zur offenen Haustür.
„Warum SAGEN sie nicht einfach, dass sie ausgehen möchten?“
Er brauchte fünf Schritte, eine Handbewegung und einen weiteren Schritt um es
herauszufinden.
Seine erste Reaktion war ein annerkennendes Nicken.
In der Tat hatte Sakito es doch glatt geschafft die gesamte Küche mit so etwas
wie blubberndem Schleim zu überziehen.
Die Anerkennung deshalb, weil Toshiya es nicht für möglich gehalten hätte
etwas noch unsagbar blöderes zu tun als drei Ziegen durch ihr Wohnzimmer zu
jagen (die dann alle Sofakissen aufgegessen hatten). Den Grund weshalb Sakito
das getan hatte, hatte Toshiya bereits vergessen. Er musste sich nun schon so
viele komplizierte Rechtfertigungen für jedes Desaster seines kleinen Bruders
merken, dass die Sache letzte Woche endgültig den Rahmen gesprengt hatte.
Er betrachtete fasziniert die Küche. Einen Grund hierfür gab es nicht. Den
konnte es nicht geben. Aus welchem Grund ließ jemand – jemand –
Toshiya watete durch den blau-roten Schleim, bis ihm einfiel das er wohl nur
dann ein Glas Wasser finden würde, wenn er sich durch die Brühe wühlte, die
zähflüssig den Kühlschrank überzog.
Eher unschön, wie Toshiya beim Verlassen des Raumes bemerkte, war die Tatsache,
dass Sakitos kleiner grüner Küchenhelfer offenbar nicht schnell genug gewesen
war. Selbst mit einer Glibberschicht überzogen wirkte er seltsam mumifiziert
und verdorrt.
Toshiya zuckte die Achseln und ging in sein Zimmer. Hoffentlich quoll das Zeug
nicht durch seinen Türspalt.
Das letzte
woran er sich erinnern konnte war, dass er die Treppe hinaufschlich,
um sich ein Glas Wasser im Bad zu holen,
er kam nicht mehr dazu
die Türe zu öffnen-
>.< Sorry, Leute, es hat unendlich lange gedauert, bis ich diesen Teil
geschrieben hatte... wollte auch noch mehr schreiben, aber ich glaube ich lade
jetzt lieber stückchenweise hoch, als ein Jahr lang gar nichts. Ich hoffe das
Kapitel hat euch wenigstens ein bisschen gefallen. Es neigt sich dem Ende zu...
aber um noch mal was sinnvolles zustande zu bringen... ist ein Ortswechsel
nötig. Armer Toshiya. Grausam, aber egal. Da muss er mal wieder durch. ^.^Ich
werde weiterschreiben, yeah!!
Kapitel 19: 19
--------------
Kyo lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe.
Vermummte Gestalten wuselten im Raum umher, doch er saß still in einer Ecke,
den Kopf gegen die Scheibe des einzigen Fensters gelehnt, er schien von seiner
Umgebung wenig mitzubekommen.
„Hey! Dornröschen!“
Kyo blinzelte, bewegte sich aber nicht.
„Willst du den ganzen Tag so herum sitzen? Es gibt jede Menge zu tun!“
Ruki stöhnte genervt auf und warf ein Bündel Scheine in Kyos Schoß.
„Ist ja nicht zu fassen, da lässt man ihm ein wenig Freiraum, damit er seinen
Süßen besuchen kann und dann ist er den ganzen Tag lang nicht mehr
ansprechbar“, maulte Ruki vor sich hin, während er Dinge, die aussahen wie
metallene Werkzeuge, und die quer über den Boden verstreut lagen, in einen
großen Sack packte. Anschließend kniete er sich auf den schmutzigen Beton um
den Beutel zu verknoten.
„Wobei“, murmelte er und ein leises Grinsen umspielte seine Lippen, „wobei
er etwas hatte, dieser Toshiya. Mehr noch als das ... er ist so schön, dass
man-“ er hob schlagartig den Kopf und fixierte Kyo, der noch immer keine
Regung zeigte, „dass man Lust bekommt ihm Gewalt anzutun. Ist es nicht so,
Kyo? Vielleicht sollte ich mal-“
Doch noch bevor er seinen Satz beenden konnte, hatte sich eine Hand um seine
Kehle geschlossen.
Kyos Augen loderten. Ruki hatte ihn nicht einmal aufspringen hören.
:: Jepp, wunder Punkt::, dachte er. Laut sagte, oder besser, keuchte er: „Du
hast ja doch zugehört.“
Ganz langsam zog Kyo Ruki sich heran, so nah, dass kaum mehr die Zunge von Lus
Hündchen zwischen ihre Nasenspitzen gepasst hätte.
„Was auch immer du tust ist mir egal.“ Kyos sprach sehr leise. „Morde und
stehle, meinetwegen. Aber lass dir eines gesagt sein, Ruki. Wenn du auch nur auf
die Idee kommst einen Finger an Toshiya zu legen – wenn du ihn auch nur in
Gedanken anrührst-“, er packte noch ein wenig fester zu, „dann werde ich
dich töten.“ Er ließ ihn los und wandte sich ab.
Ruki rieb sich den Hals. Sein rechter Mundwinkel hob sich zu einem Grinsen.
„So viel liegt dir an ihm? Dann würde ich dir eines raten: Kehr zu ihm
zurück.“
Kyo schnaufte.
„Beziehungstipps von jemandem der einem Fellball den Platz im Bett seiner Frau
überlassen musste?“
Ruki lachte leise.
„Mach dich nur lustig. Aber unser coup ist zu Ende, wir haben ausgesorgt für
das ganze nächste Jahr. Du bist frei zu gehen, wohin du willst.“
Kyo ging wieder zum Fenster hinüber.
Frei zu gehen, wohin er wollte. Er schloss die Augen.
„Kyo, wie bist du-“
Aber er presste ihm die Hand auf den Mund. Toshiya starrte zu ihm hinauf, mit
weit aufgerissenen Augen. Kyo regte sich nicht. Ein seltsames Gefühl hatte ihn
ergriffen. Das Mondlicht fiel auf Toshiyas Haut und brachte sie zum Funkeln.
Seine Haare waren schwärzer als die Nacht. Sein Gesicht ... Kyo hob die freie
Hand und fuhr langsam über Toshiyas Wange, so andächtig als ob er ganz genau
in Erinnerung behalten wolle, wie weich sich die Haut unter seinen Fingern
anfühlte. Toshiya war so schön, dass Kyo nicht wusste ob er wachte oder
träumte. Er berührte die nackte Brust unter ihm. Und Toshiya hatte gesagt, das
er sein war. Aber wie war das möglich?
Ja, wie war es möglich? Kyo öffnete die Augen. Vor dem Fenster entfaltete sich
der Alltag. Ein grauer, wolkenverhangener Himmel stieg über dürren, laublosen
Bäume auf, die wie Gerippe aus der flachen Landschaft hervor staken. Und dann
hatte er es sich einfach genommen, das, was sein Körper bereits beim ersten
Mal, da er Toshiya erblickte, verlangt hatte. Seine Perfektion machte ihn
rasend, er hatte sich nicht zurück halten können. Kyo senkte den Blick auf
seine Hände. Als Toshiya ohnmächtig unter ihm lag, hatte er plötzlich das
Bedürfnis gehabt, laut aufzuschreien, ihn zu packen und zu schütteln, um sich
zu vergewissern, dass er ihn nicht umgebracht hatte. Kyo ballte seine Hände zur
Faust, hob den Kopf und richtete den Blick erneut auf die triste Landschaft
draußen. Es hatte sein müssen. Im ersten Moment, im Rausch von Toshiyas
Körper, war es ihm nicht schwer gefallen. Doch als er ihn bewusstlos auf den
Laken liegen sah, war Kyo entsetzt zurück gewichen. Ihm war, als hätten sich
seine schlimmsten Alpträume erfüllt, als wäre Toshiyas lebloser Körper aus
der Zukunft zu ihm geschwebt.
Was hatte er sich dabei nur gedacht? Wusste Kyo nicht bereits jetzt, dass
Toshiyas eines Tages vom Strudel seines verfehlten und kriminellen Lebens
einfach aufgesogen werden würde?
Er beobachtete die dürren Äste, die vom Wind geschüttelt wurden.
Dann drehte er sich um, warf noch einmal einen angeekelten Blick in Richtung
Küche und steuerte auf die Treppe zu. Kyos Bild huschte in seinen Kopf zurück,
von wo es minutenlang durch diverse Küchenaktivitäten verdrängt worden war.
Aber nun war es wieder da, das Bild von der dunklen Figur, die die Nacht zu ihm
ins Zimmer getragen hatte. Toshiya schloss kurz die Augen, um sich noch einmal
jedes Detail von Kyos Erscheinung in Erinnerung zu rufen. Seine Haut, nackt und
kalt unter den nassen Kleidern, Kyos hübsches Gesicht, die triefenden Haare.
Aber das, woran er sich am deutlichsten erinnerte, war sein Geruch gewesen.
Dieser Duft nach Regen, nach Sturm, nach den tiefen, dunklen Wäldern.
Vielleicht hatte Toshiya auch deshalb keine Angst gehabt, kein déjà-vu. Es
hatte sich angefühlt, wie die natürlichste Sache der Welt, Kyo selbst war ein
Teil der weiten und unzähmbaren, nächtlichen Wälder.
Toshiya musste lächeln bei dem Gedanken an seinen wilden Geliebten: War es
nicht tatsächlich so? Kyo war nicht dafür geboren, als braver Bürger in einer
Gesellschaft zu leben, er brauchte seine Freiheit mehr als alles andere. Dieser
Gedanke tröstete Toshiya über die Tatsache hinweg, dass er seinen Liebsten nun
wohl wieder wochenlang nicht sehen würde.
Er war auf der ersten Treppenstufe stehen geblieben, um seinen Gedanken nach
zuhängen. Nun seufzte er lange und schwer auf und setzte sich wieder in
Bewegung.
Das letzte
woran er sich erinnern konnte war, dass er die Treppe hinauf schlich,
um sich ein Glas Wasser im Bad zu holen,
er kam nicht mehr dazu
die Türe zu öffnen-
Und wieder einmal nimmt das Schicksal seinen Lauf.
Es beugte sich über Toshiya, der mitten im Flur lag, die Arme von sich
gestreckt, das Gesicht verborgen von wirren schwarzen Haaren.
Doch was war das? Stimmen aus dem Erdgeschoss. Toshiyas Geschwister waren wohl
nach Hause gekommen. Verzweiflung ergriff sein Herz – aber nein, er konnte ihn
nicht mitnehmen, nicht jetzt, er würde es nie aus dem Haus schaffen mit dieser
schönen Beute. Als der Entschluss gefasst war, zögerte er keine Sekunde. Noch
bevor Sakito überhaupt den Fuß auf die unterste Treppenstufe setzen konnte,
war er verschwunden.
„Verdammt, wir verpassen den Film Ryu“, murmelte Sakito während er, zwei
Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf hastete.
„Unsinn“, keuchte Ryutaro, der ein paar Schritte hinter ihm war und die Hand
auf die schmerzende Seite gepresst hielt.
„Wir sind in fünf Minuten wieder weg, im Kino ist bestimmt noch Werbung, denn
– Saki!“
Ryutaro blieb abrupt am Anfang des Flurs stehen. Er hatte Sakito am Arm gepackt,
den es dabei fast wieder rückwärts die Treppen hinunter geschleudert hätte.
„Was ist? Wir müssen und beeilen“, erwiderte Sakito und wollte gerade
seinen Sprint wieder aufnehmen, als er es auch sah.
„Was ist das? Wer ist das?“, flüsterte Ryutaro. Die Hand vor den Mund
geschlagen, trat er langsam näher. Sakito schlug mit der rechten Faust auf den
Lichtschalter und konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken.
„Toshiya!“
Die beiden Jungen stürzten an seine Seite. Sakito packte Toshiya an den
Schultern und schüttelte ihn.
„Toshiya, sag doch was!“
Als Toshiya die Augen aufschlug, lag er auf seinem Bett. Im ersten Moment
blickte er nur verständnislos im Raum umher, bis seine Augen Sakito und Ryutaro
fanden, die am Fenster auf Klappstühlen kauerten.
Ryutaro sprang sofort auf, als er bemerkte, dass Toshiya zu Besinnung gekommen
war. Sakito starrte nur zu ihm hinüber.
„Alles ok?“, fragte er, während Ryutaro Toshiyas Stirn fühlte und viel zu
aufgewühlt war, um zu sprechen.
„Was ist passiert?“, murmelte Toshiya und rieb sich die Augen.
„Ryu und ich sind nochmal nach Hause gekommen, weil ich vergessen hatte, den
Teewärmer auszumachen.“ [Anmerkg. d. Autorin: Es handelt sich um eine 1,50
Meter hohe, 2000 Grad heiße Stichflamme, um die herum geschlossene
Granitschalen mit speziellem Teewasser platziert werden; Sakito muss vergessen
habe sie abzudrehen, da man, wenn die Hitzekammer einmal versiegelt ist, nur
noch auf Zehenspitzen durch ein kleines, schmales Fenster ins Innere der Kammer
sehen kann]
„Als wir die Treppe hoch kamen, sahen wir dich einfach am Boden liegen, mitten
im Flur.“
Toshiya glotzte.
„Ich habe geschlafen?“
„Du warst ohnmächtig, Idiot.“
Die Tür flog auf.
Uruha stürzte auf ihn zu und packte ihn an den Schultern. Toshiya schenkte ihm
keinerlei Beachtung, er war viel mehr auf die Person konzentriert, die hinter
seinem Bruder hereingekommen war. In der Tür stand Takumi. Verlegen blickte er
zu Toshiya hinüber. Als Toshiya ihn anstrahlte, wagte er ein schüchternes
Lächeln.
Also hatte Uruha sich endlich mit Takumi ausgesprochen.
Uruha schüttelte ihn noch immer. Jetzt wurde es langsam doch etwas lästig.
„Au, Uruha, du tust mir weh. Was ist denn?“
„Toshiya!“
„Ja?“
Als bei Toshiya der Groschen fiel, warf er Sakito einen
warum-um-alles-in-der-Welt-hast-das-getan-Blick zu. Der sagte nur trotzig:
„Was?! Hätten wir dich einfach so liegen lassen sollen? Wir wussten ja nicht,
was mit dir ist, also haben wir Uruha angerufen. Und du warst immerhin
geschlagene 20 Minuten außer Gefecht.“
Während Uruha ihn mit Fragen bestürmte, ließ Toshiya sich bedröppelt auf die
Kissen zurück fallen. Zwanzig Minuten? Was war nur passiert? Er versuchte sich
an den Augenblick zu erinnern, da er ein plötzliches Schwindelgefühl, oder
Übelkeit oder irgendetwas verspürt hatte, aber da war nichts. Er wusste nur
noch, dass er zwei oder drei Schritte in den Flur, auf seine Zimmertür zu,
gemacht hatte – und dann war er hier, in seinem Bett aufgewacht. Während er
noch so über alles nachdachte, beschlich ihn ein mulmiges Gefühl. Mit aller
Gewalt konzentrierte er sich darauf, die Fragen seines großen Bruders zu
beantworten. Die Ahnung, dass irgendetwas seltsames und beunruhigendes vor sich
ging, schob er dabei von sich.
„Und, was ist nun? Hast du dich entschieden?“
Ruki musterte Kyo von Kopf bis Fuß. Dieser zuckte nur die Achseln.
Ruki seufzte auf und ließ sich in die Hocke sinken.
„Oh Mann, du und Daishi, ihr seid echt zu nichts zu gebrauchen ...
unschlüssig, wie ein Sack Mehl. Apropos – wo ist Daishi überhaupt?“
Wieder zuckte Kyo die Achseln.
„Ich glaube die Drogen haben ihn ausgeknockt. Ich hab über mehrere Ecken
mitbekommen, dass er im Krankenhaus ist, oder eine Entziehungskur macht, oder
was auch immer ...“ Er kramte eine Zigarette aus seiner Tasche hervor, und
zündete sie an.
„Kümmert mich nicht, was er treibt.“
Sein Blick wurde finster.
„Ich hoffe er verreckt.“
Ruki runzelte die Stirn.
„Ich weiß, dass ihr noch nie die besten Freunde wart – aber seit wann hasst
du ihn so?“ Er erhob sich wieder und beobachtete Kyo von der Seite.
„Denn du hasst ihn wirklich, kein Zweifel.“
Kyo wollte gerade zu einer genervten Antwort ansetzen, als einer von Rukis
Untergebenen vor die Tür der Lagerhalle trat.
„Kyo, es gibt Probleme.“
Die Worte wirkten wie ein Schlüsselreiz. Kyo wirbelte herum und fixierte den
Japaner mit lodernden Augen. Dieser schien sich in seiner Haut gar nicht wohl zu
fühlen. Er wich zurück, während er sagte: „Eri hat vor zehn Minuten Bericht
erstattet. Sie hat etwas seltsames beobachtet. Aber“, stammelte er, „frag
sie selbst, sie ist noch da.“
„Probleme?“, murmelte Ruki. „Hat das etwas mit deinem Kleinen zu tun?“
Kyo antwortete nicht. Er war bereits in die Halle getreten. Dort, an einem Tisch
mit Lu, neben den Vans, die die Bande für Diebeszüge benutzte, saß eine keck
aussehende junge Frau mit weiß-blond gefärbten Haaren. Sie hatte etwas
geradezu wildes an sich, eine Art Flackern in den dunkelbraunen Augen, das ein
unbezähmbares Wesen erahnen ließ.
Eri musterte Kyo, der auf sie zueilte. Ihre Füße, die in Engineer-Boots
steckten, hatte sie auf den Tisch geworfen, ihre Hände ruhten auf den
Oberschenkeln. Sie machte, ganz im Gegensatz zu Kyo, einen enorm gelassenen
Eindruck.
„Was ist passiert, was hast du gesehen?“
Eri grinste spitzbübisch – und streckte die Hand aus.
„Erst das Geld, dann die Information.“
Kyo war so wütend, dass er sie am liebsten mit einem Buschmesser zu Boden
gestreckt hätte, doch er beherrschte sich und blätterte knurrend ein paar
Scheine in Eris Hand.
„Jetzt raus mit der Sprache, du Halsabschneiderin.“
Es war absolut erstaunlich, dass Eri noch immer grinste. Die anderen
Gangmitglieder, Ruki eingeschlossen, waren ein paar Schritte zurück getreten.
Sie wussten welche Folgen ein Wutausbruch von Kyo haben konnte (ganz besonders
gut kannte sich Ein-Ohr-Harry damit aus; als er noch keine Ahnung gehabt hatte,
hatte er einfach nur Harry geheißen). Doch Eri war unerschütterlich. Sie
schmiss ihre Beine auf den Boden, stand schwungvoll auf und fasste Kyo ins
Auge.
„Ich habe keine Angst vor dir, das weißt du genau. Und ich habe dir auch noch
nicht verziehen. Auch, wenn du die Aufträge erteilst, du stehst noch immer tief
in meiner Schuld.“
Sie funkelte ihn an.
„Ok, schön“, brummte Kyo und ließ sich auf einen der Stühle sinken.
„Und ihr könnt euch verpissen!“, fuhr er die versammelte Menge an, die sich
daraufhin so schnell, wie möglich trollte. Nur Ruki, Lu, und Lus Quasimodo-Hund
blieben.
„Also, zu dem Problem... Meine Mädels haben Toshiya den ganzen Tag im Garten
arbeiten sehen, dann ist er ins Haus gegangen... erst in die Teufelsküche, dann
die Treppe hinauf.“
Sie hielt inne.
„Und?“, sagte Ruki. „Weiter?“ Kyo sagte nichts. Er hatte den Kopf
gesenkt und hörte angespannt zu.
„Nun... ein wenig seltsam war das schon. Emma meinte, sie habe jemanden auf
dem Grundstück gesehen, jemand, der nicht zur Familie gehört, aber dann sei er
wieder verschwunden gewesen. Jedenfalls haben Toshiyas kleiner Bruder und dessen
Freund ihn eine halbe Stunde später gefunden.“
Kyo schaute auf.
„Gefunden?“, klinkte sich Ruki ein. „Wie meinst du das? Ist er tot oder
was?“
Kyo rührte sich nicht. Er hatte den Blick auf Eri gerichtet. Diese schüttelte
den Kopf.
„Nein, aber er hatte das Bewusstsein verloren. Und das verrückte ist –
niemand weiß, wie. In meinen Augen wirkt es beinahe so – als sei er betäubt
worden. Alle Symptome sprechen dafür. Nun ja, das Haus der Haras kann ich ja
schlecht betreten, ich musste mich also mit den üblichen Mitteln behelfen.“
„Hätte sich jemand an euch vorbei schleichen können – und ins Haus
gelangen?“
Eri runzelte die Stirn, als versuche sie herauszufinden, ob Kyo ihr gerade einen
Vorwurf gemacht hatte.
„Nun ja, theoretisch – ja. Das Haus ist groß und hat viele Fenster und
Türen, und wir mussten unauffällig bleiben. In genau dem Augenblick, als
Toshiya zusammengeklappt ist, ist sein Bruder gerade zurückgekommen, deshalb
wissen wir nicht genau, was passiert ist.“
Als Eri geendet hatte, schwieg Kyo. Er rührte sich nicht, aber unter der
Oberfläche brodelte es, das konnte man sehen.
Lu fasste sich ein Herz: „Hey, mach dir nichts draus. Ein Schwächeanfall,
sonst nichts.“
„Scheint er ja häufiger zu haben“, murmelte Ruki. Und dann: „Also lässt
du ihn tatsächlich beschatten. Du hast wirklich einiges von mir gelernt.“
Eri erhob sich und blickte Kyo fragend an.
„Ich komme mit. Ihr müsst für mich etwas überprüfen...“, sagte Kyo und
stand auf.
Toshiya schichtete Bücher auf sein Pult.
Er hatte mäßige Kopfschmerzen, aber ansonsten ging es ihm gut. Als er an
diesem Morgen aufgewacht war, hatte er ein mulmiges Gefühl im Magen gehabt,
ganz so, als ob irgendetwas bedrohliches vor sich ging, von dem er keine Ahnung
hatte.
Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und legte den Kopf in die Hände.
Ob das mit Kyo zu tun hatte? Vielleicht hatte er ja so eine Art sechsten Sinn,
wenn es darum ging, dass Kyo in Gefahr war. Und die Tatsache, dass es keine
Möglichkeit gab, Kyos Wohlbefinden zu überprüfen, trieb Toshiya fast in den
Wahnsinn. Den ganzen gestrigen Tag lang hatte er darüber nachgedacht, wie er
Kyo erreichen könnte, war aber zu keinem Ergebnis gekommen.
Toshiya schrak auf: Jemand hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt.
„Hey, Dornröschen... schon wieder müde?“
Hakuei. Wer sonst.
Toshiya versuchte ein Lächeln. Das aller dümmste, was er jetzt tun konnte,
war, Hakuei zu erzählen, dass er gestern einfach zusammengeklappt war. Der
würde ihn am Ende noch nach Hause tragen.
Hakuei hatte sich neben ihn gesetzt und sah ihn an. Toshiya seufzte innerlich
auf. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Hakuei endlich nicht mehr so
für ihn empfand – aber wie sollte er das ändern? Wer hätte gedacht, dass
sein selbst erklärter Erzfeind sich als so hartnäckiger Verehrer entpuppen
würde. Aber Moment mal ... Toshiya erinnerte sich an etwas. Es gab doch die
Möglichkeit, dass Hakuei sehr bald schon eine glücklichen Beziehung führen
würde. Kaoru hatte das Klassenzimmer betreten.
„Hakuei, schau mal, wer da ist ...“, sagte Toshiya deshalb und wies
lächelnd in Richtung Tür. Hakuei blinzelte den Klassenstreber, Björn, der
hinter Kaoru eingetreten war, verständnislos an. Dann sprang er auf.
„Stimmt! Ich wollte Mathe abschreiben – ich krieg sonst echt Ärger...“
Und weg war er. Kaoru ließ sich neben Toshiya nieder.
„Hey, alles ok?“
Toshiya hatte den Kopf mit einem lauten Knall auf den Tisch fallen lassen. Warum
raffte eigentlich niemand irgendetwas? Gerade eben war ihm klar geworden, dass
Hakuei und Kaoru wohl etwas füreinander empfanden, aber selbst noch keine
Ahnung davon hatten. Na großartig. Alles muss man selber machen.
Und wieder auf dem Nachhauseweg.
Tief in Gedanken versunken trottete Toshiya den Gehsteig entlang. Er war so
konzentriert auf die Frage, wo Kyo wohl gerade steckte, dass er ständig über
irgendwelche Steine, Flaschen und Katzen stolperte.
„Woah.“ - und ja, gerade eben wäre er fast über dieses Mädchen gefallen,
dass auf dem Boden kniete. Sie tastete mit beiden Händen den Gehweg ab,
offenbar suchte sie etwas.
„K-kann ich helfen?“, stammelte Toshiya, den dieses plötzliche Auftauchen
überrumpelte.
Das Mädchen hob den Kopf und funkelte ihn an. Toshiya wich unwillkürlich einen
Schritt zurück. Er war sich nicht ganz sicher, ob Tränen in ihren Augen
glitzerten, oder doch eher Zorn. Schwer zu sagen, ihr Gesichtsausdruck war auf
jeden Fall sehr doppeldeutig.
„Ich hab meinen Hausschlüssel verloren“, schniefte sie und ließ die
Schultern hängen.
Wohl doch eher Tränen.
„Oh...“, machte Toshiya.
„Äh... kann ich suchen helfen?“
Das Mädchen schüttelte beklommen den Kopf.
„Ich hab meinen ganzen Schulweg eigentlich schon fünf mal abgesucht.“
Sie wirkte ziemlich verzweifelt.
„Aber ich muss ihn finden, ohne komme ich nicht ins Haus.“
„Logisch“, kommentierte Toshiya. „Ist bei dir niemand zu Hause, der dich
reinlassen kann?“
Sie schüttelte wieder den Kopf.
„Nein... meine Eltern arbeiten beide und mein kleiner Bruder kommt erst gegen
vier Uhr aus der Schule. Ich würde ihn ja anrufen, aber mein Handy hab ich auch
daheim liegen lassen.“
Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Ihr Gesicht erhellte sich.
„Hast du vielleicht eines dabei?“
„Mh, nein, sorry.... aber ich wohne gleich um die Ecke, du könntest also
unser Telefon benutzen, wenn du magst.“
Sie strahlte.
„Das wäre klasse. Du bist meine Rettung. Wie heißt du überhaupt?“, fragte
sie, als sie ihre Tasche schulterte, um Toshiya zu folgen. Sie war gut zwei
Köpfe kleiner als er, extrem zierlich, unverkennbar sportlich und hatte eine
Kurzhaarfrisur, die ihr hübsches Profil optimal betonte. Toshiya musste an
Akane Tendou denken.
„Toshiya Hara. Und du?“
Das Mädchen grinste ihn an. Sie schritt so zügig aus, dass Toshiya laufen
musste, um Schritt zu halten.
„Ich heiße Eri Matsumoto.“
Endlich zuhause, dachte Toshiya, als er die Türe aufschloss. Und das beste von
allem: Es gab kein Mittagessen. Sakito war heute Mittag zu Ryutaro gegangen,
daher würde Toshiya wohl mit einer Schale Müsli vorlieb nehmen müssen – und
das zum ersten Mal seit Monaten. Toshiya stiegen Freudentränen in die Augen,
als er daran dachte.
„Hier ist das Telefon.“
Er reichte dem Mädchen namens Eri den Hörer, zeigte ihr das Wohnzimmer und
ließ sie alleine.
Sie sieht wirklich süß aus, dachte Toshiya, als er zur Tür eilte. Es hatte
geklingelt. Er betete inständig, dass Sakito nicht doch beschlossen hatte, nach
Hause zu kommen, in einem Anfall von Fürsorge für Toshiya. Weit gefehlt. Es
war Hakuei.
„Huh? Was willst du denn hier?“
Hakuei feixte.
„Immer diese Freudenschreie ...“ Er trat ins Haus, bevor Toshiya sich auch
nur den Ansatz einer Ausrede überlegen konnte. Mit Hakuei alleine zu sein war
ihm nach wie vor unbehaglich, seit sie sich getrennt hatten. Gut, vorher auch
schon, aber das war wieder etwas anderes gewesen.
„Ehrlich gesagt – du meintest doch heute morgen, Sakito sei nicht da... und
ich wollte dir eh noch ein paar Fragen stellen, also dachte ich, ich nutze die
Gelegenheit, ohne dabei gleich mein Leben zu riskieren.“
Eri kam aus dem Wohnzimmer und streckte Toshiya den Hörer entgegen. Hakuei
blickte mit hochgezogenen Augen von ihr, zu Toshiya, und wieder zurück, als
fragte er sich, ob Toshiya plötzlich hetero sei.
„Oh das-“
„Ich bin Eri“, sagte Eri und schüttelte Hakuei die Hand. An Toshiya gewandt
sagte sie: „Vielen Dank, dass du so hilfsbereit warst. Leider konnte ich
meinen Bruder nicht erreichen. Aber das ist auch nicht schlimm...“
Sie warf sich wieder ihre Tasche über den Rücken, und war schon fast an der
Tür, als Toshiya rief: „Hey, warte! Bleib doch hier, wenn du nirgendwo hin
kannst. Wir wollten eh gerade essen.“
„Ach, wollten wir das“, sagte Hakuei zähneknirschend und warf Toshiya einen
ich-weiß-genau-warum-du-das-getan-hast-Blick zu. Toshiya lächelte
entschuldigend und huschte in die Küche.
„Danke, ist cool von dir“, sagte Eri und folgte ihm.
„Danke, ist cool von dir“, äffte Hakuei sie nach und folgte den beiden.
„Tja...“
Toshiya blickte sich um.
„Ich hab eigentlich noch nie etwas zu essen hier gemacht.“
„Wäre ja soweit auch kein Problem, ne, wenn man in dieser verdammten
Giftküche wenigstens den Herd vom Hexenkessel unterscheiden könnte“, sagte
Hakuei trocken.
„Wenn wenigstens irgendetwas da wäre“, murmelte Toshiya und musterte
zweifelnd die kahlen, weißen Wände.
Eri ging hinüber ans Fenster, holte aus, und trat mit aller Kraft in etwa
eineinhalb Meter Höhe gegen die Wand. Sofort klappte etwas aus, das stark nach
dem Geschirrschrank aussah.
Toshiya und Hakuei starrten sie an. Eri zuckte nur die Achseln.
„Was? Ich trainiere ein wenig Kung-Fu...“
Noch bevor Toshiya auch nur einen Bissen von den herrlich duftenden Spaghetti
probieren konnte, die er mit Eris Hilfe aus allem Essbaren zubereitet hatte, das
sich nicht bewegte, wenn man es anstupste, klingelte es erneut an der Haustüre.
Toshiya seufzte auf, ließ die Gabel fallen und ging an die Tür. Wenige
Sekunden später trat Kaoru hinter ihm in die Küche. Toshiya trug ein
merkwürdig wissendes Lächeln zur Schau, als er sagte: „Hakuei ist auch da.
Und Eri.“ Er deutete auf das Mädchen. Sie winkte ihm vergnügt zu. Kaoru
gaffte sie an.
„Ich hab sie gerade eben erst kennen gelernt – sie hat ihren Hausschlüssel
verloren“, erklärte Toshiya. Er blickte seinen Freund an.
„Hee, Kaoru!“, sagte Hakuei und ein böses Grinsen lag auf einem auf seinen
Lippen.
„Willst du Eri nicht hallo sagen?“
Kaoru starrte ihn an, dann sah er wieder zu Eri zurück und es wirkte fast so,
als ob er aus einer Art Tiefschlaf aufwachte.
„Oh, sorry. Hi, Eri.“ Er setzte sich zu den anderen an den Tisch. Toshiya
triumphierte innerlich.
Ich wusste es doch, dachte er vergnügt, als er Kaoru eine große Portion von
allem auf den Teller häufte. Ich wusste es... wie er ihn angestarrt hat – das
kann man ja kaum missverstehen.
Eri war das netteste Mädchen, das Toshiya jemals kennen gelernt hatte. Sie war
außerdem unglaublich schlagfertig. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als Kaoru ihr
eine Tasse reichen wollte, schlug sie ihm so hart in die Magengrube, dass er zu
Boden ging – nur weil sie dachte, er habe sie anfassen wollen.
„Das Mädchen hat einen sechsten Sinn, ich mag sie“, sagte Hakuei und
wischte sich die Lachtränen aus den Augen. Kaoru warf ihm vom Boden her einen
finsteren Blick zu.
„Ich weiß nicht wovon du redest“, presste er mit schmerzverzerrten Zügen
hervor.
Eri entschuldigte sich, reichte ihm die Hand und zog ihn wieder in die Höhe.
„Das ist schon fast so ein Reflex, tut mir echt Leid“, sagte sie lachend und
schüttelte ihre weiß blonde Mähne.
„Ja, ich weiß ganz genau, was du meinst“, ereiferte sich Hakuei.
„Mir geht es genauso, immer wenn ich ihn sehe, mache ich automatisch das hier,
ich weiß auch nicht, warum“, und er trat Kaoru mit aller Kraft auf den Fuß.
Eri hatte schließlich ihren Bruder erreicht und ging um halb fünf, begleitet
von Kaoru, der sie unter keinen Umständen alleine gehen lassen wollte, wo es
doch schon fast dämmerte.
„Ich glaube, bei dem dämmert was anderes“, sagte Hakuei giftig, als er mit
Toshiya alleine war.
„Klar, Eri ist das schutzloseste Mädchen, das ich je getroffen habe und Kaoru
ist genau der richtige, um sie vor all den bösen Jungen zu schützen, die da
draußen lauern.“
Er ließ sich gegen den Schrank fallen.
„Ha, wahrscheinlich hatte Kaoru einfach Angst davor alleine im Dunkeln nach
Hause zu laufen.“
Toshiya warf ihm einen komischen Seitenblick zu.
„Schon ok, Haku ...“
„Mh?“
„Es ist in Ordnung ... du musst es nicht vor mir verbergen, ich weiß längst
Bescheid.“
Er lächelte seinem Ex-Freund aufmunternd zu. Dieser starrte nur bedröppelt
zurück.
„Was meinst du?“
„Naja... du und Kaoru... das meine ich.“
„Dass wir uns immer fast prügeln? Dass ich ihn am liebsten häuten und
ausstopfen würde? Mann, Toshiya, ich glaube du bist nicht der einzige, der so
gewitzt war, sich einen Reim darauf zu machen.“
Toshiya schüttelte seufzend den Kopf. Musste er es also doch aussprechen? Er
hatte gehofft, Hakuei würde ihm diese Sache abnehmen. Aber manchmal muss man
die Leute eben zu ihrem Glück zwingen.
„Du magst ihn sehr, nicht wahr? Ich meine, es ist ja offensichtlich... ihr
wart in den letzten Wochen so nett zueinander, nur äußerlich habt ihr euch
bemüht, den Schein zu wahren. Aber ich hätte ja nicht gedacht, dass Kaoru
tatsächlich schwul ist...“
Hakuei glotzte ihn an. Die Sekunden verstrichen und Toshiya sah ihn immer noch
still lächelnd an. Offenbar meinte er es ernst. Hakuei beugte sich zu ihm
hinüber (Toshiya saß neben ihm auf dem Boden) und fühlte ihm die Stirn.
„Ich glaube dein Hirn hat heute morgen bei Mathe wirklich etwas abgekriegt“,
murmelte er.
„Was?“
„Du glaubst doch nicht im ernst, dass er und ich-“ Er schüttelte sich und
verzog angeekelt das Gesicht. „Ganz ehrlich ... niemand, der noch alle Tassen
im Schrank hat, würde auf die Idee kommen.“
Toshiya sah ihn überrascht an. Hakuei blickte gequält zurück. Auf einmal
ergriff er Toshiyas Hand.
„Toshiya... ich würde alles dafür tun, dass du mich zurück nimmst.“
Toshiya zog erschrocken seine Hand weg und rutschte zwei Meter nach links.
„Tu das nicht.“
„Wieso denn nicht?“
„Weil-“
Toshiya schluckte. Durfte er etwas verraten? Nein, unmgölich. Aber er hatte nur
diesen einen, überzeugenden Grund, also musste er es irgendwie anders sagen.
„Ich bin bereits verliebt...“, flüsterte er.
Hakuei ließ die Hand sinken.
„Das dachte ich mir fast“, sagte er bitter. „Du warst so... glücklich die
letzten Tage über, du hast richtig... geblüht. Deswegen bin ich auch hier.“
Toshiya sah ihn verdutzt an. Stimmt, Hakuei wollte ja ursprünglich etwas mit
ihm besprechen. Aber er war nicht in Kaoru verliebt? Oh nein, dachte Toshiya,
wie soll Kaoru das nur verkraften?
„Wer ist es?“
„W-wie meinst du das?“, stammelte Toshiya, während er panisch in seinem
Gehirn nach einer halbwegs plausiblen Ausrede kramte.
„Wie kann man diese Frage missverstehen?“
Toshiya senkte den Kopf.
„Ich kann es dir nicht sagen. Also bitte – bitte frag nicht weiter. Du
bringst uns alle in Schwierigkeiten.“
Hakuei nickte kurz und stand auf.
„So ist das also. Ich hatte also recht.“
„Was?“ Toshiya verstand gar nichts mehr. Hakuei blickte ihn mit
zusammengebissenen Zähnen an.
„Verdammt, Toshiya ... du weißt nicht, was du da tust.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das Zimmer. Toshiya sprang auf
und lief ihm hinterher.
„Wohin gehst du denn?“
„Nach Hause, ein paar Telefonate führen“, sagte Hakuei, nickte ihm zu und
zog die Haustür hinter sich zu. Toshiya sank neben dem Treppengeländer zu
Boden. War er so durchschaubar?
Und wo war Kyo nur? Gerade in diesem Augenblick vermisste er ihn so sehr, dass
er meinte, sein Herz müsse zerspringen.
Er blickte von seinem Buch auf. Langsam legte sich die Dämmerung auf die
Großstadt, drohte sie einzuhüllen, zu ersticken. Er liebte die Nacht. Alles
war dann so verändert, die Farben, die Geräusche, selbst die Gerüche waren
anders. Er lächelte sanft, während er die Sonne betrachtete, die blutrot
hinter den Häusern der Stadt versank, die sich schwarz gegen den Horizont
abhoben, fast so wie eine blinkende, goldene Münze, die man in Teer geworfen
hat.
Wieder hob er sein Buch.
Whose woods these are I think I know...
Er liebte jede Art von Buch, ganz besonders Gedichtsammlungen. Immer, wenn er
das Bedürfnis hatte alleine zu sein, kam er hierher auf die Brücke, setzte
sich auf den kalten Beton, ließ die Füße nach unten zum Wasser baumeln und
wälzte Gedichte.
Er richtete seinen Blick in die Ferne. Hinter der Stadt erhoben sich die
waldbedeckten Berge, die die Betonwüste nicht hatte verschlucken können. Wie
sehr er sich jetzt, in diesem Augenblick, wünschte, in einem Wald zu stehen,
seine Handflächen auf die grobe Rinde der Bäume zu legen. Nichts als Stille
würde an seine Ohren dringen.
The woods are lovely, dark, and deep. - But I have promises to keep. And miles
to go before I sleep. And miles to go before I sleep.
Er hob die Hand und schüttelte seine Uhr nach vorne. Es half ja alles nichts,
er musste gehen, seine Schwester erwartete, dass er bis sieben Uhr zu Hause war.
Also packte er seufzend seine Gedichtsammlung in seine Schultasche, sprang auf
die Beine und wollte sich gerade in Bewegung setzen, als eine Klammer sich um
sein Herz legte. Immer enger drückte sie zusammen. Er sank zu Boden, die Hand
auf die Brust gepresst. Er kannte dieses Gefühl, zu viel Sauerstoff
einzusaugen, aber gleichzeitig nicht genug Luft zu bekommen. Sein Herz schlug so
schnell, dass er am ganzen Leib zitterte.
„He, alles klar?“
Jemand packte ihn an den Schultern. Er schüttelte langsam den Kopf. Durch einen
trüben Schleier konnte er stechend blaue Augen erkennen. Lange schwarze Haare.
Er wollte jetzt nicht das Bewusstsein verlieren, nur nicht jetzt, seine
Schwester würde ihn nie mehr allein aus dem Haus lassen. Mit aller Kraft
kämpfte er dagegen an, zwang sich dazu ruhig zu atmen, auch wenn er das Gefühl
hatte, ersticken zu müssen.
Nach wenigen Minuten war alles vorbei.
Hakuei musterte stirnrunzelnd den zierlichen Jungen, der geschwächt gegen das
steinerne Geländer der Brücke lehnte.
Sein Gesicht, das halb von dunklen Haaren bedeckt wurde, war so schön, dass
Hakuei für einen seltsamen Augenblick das Gefühl hatte, Toshiya vor sich zu
sehen. Außerdem war auch dieser Junge von einer merkwürdigen Aura umgeben. Er
wirkte so zart und zerbrechlich und verträumt, dass Hakuei sich nicht einmal
gewundert hatte, als er ihn direkt vor sich zu Boden sinken sah. Als er in die
Straße eingebogen war, hatte Hakuei bereits jemanden dort sitzen sehen, auf dem
höchsten Punkt der Brücke. Beim Näherkommen konnte er einen Jungen erkennen,
der andächtig in die Abendsonne blickte, mit einem stummen Lächeln auf den
Lippen, fast so, als wäre er auf einem anderen Stern. Das Bild war von so
vollkommener Harmonie gewesen, dass Hakuei sich die Augen reiben musste. Aber er
war nicht verschwunden. Stattdessen hatte der Junge seine Tasche gepackt, sich
auf der Betonmauer umgedreht und war auf die Brücke gesprungen. Im nächsten
Augenblick lag er bereits auf dem Boden, mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Strange, dachte Hakuei, was ist denn das für einer. Er packte den zierlichen
Jungen am Oberarm und zog ihn in die Höhe.
„Alles klar?“, fragte er ihn noch einmal.
Jetzt nickte der Junge. Langsam hob er den Kopf. Er brachte ein schwaches
Lächeln zustande.
„Was machst du auf dem Boden, Daisuke?“, sagte eine forsche Stimme hinter
ihnen. Hakuei drehte sich um. Tatsächlich, die Welt war eine Nussschale. Oder
eine verschimmelte Apfelsine. Das war doch Eri.
Sie musterte Hakuei mit zusammengekniffenen Augen.
„Du schon wieder?“
„Freut sich eigentlich gar niemand, mich zu sehen?“, brummte Hakuei.
Allerdings konnte er selbst nicht behaupten, über die Begegnung begeistert zu
sein. Dieses Mädchen war ihm suspekt.
Er hatte ihre Aufmerksamkeit jetzt auf Daisuke gerichtet.
„Was ist los? Wieder ein Anfall?“
Daisuke hob schnell den Kopf – er sah Hakuei flehentlich an. Dieser glaubte zu
verstehen und antwortete: „Ich hab ihn nicht gesehen und bin mit ihm
zusammengestoßen. Deshalb sitzt er auf dem Boden.“ Eri wirbelte herum und sah
Hakuei mit lodernden Augen an.
Hinter ihrem Rücken formte Daisuke mit dem Mund ein stummes Wort, das ganz so
aussah, wie Danke.
„Ach wirklich?“, fauchte Eri. „Hast du dich entschuldigt?“
„Hat er, lass uns gehen...“, sagte Daisuke und zog an Eris Hand.
„Bitte.“
„Nichts da.“ Eri riss ihre Hand weg. „Erst, wenn der Kerl sich ordentlich
entschuldigt hat. Er hätte dich umbringen können.“
Hakuei schüttelte seufzend den Kopf. Vom verschmähten Liebhaber zum Mörder.
Konnte dieser Tag eigentlich noch beschissener werden?
Aber dieser Junge, dieses Kind, tat ihm irgendwie Leid, also musste er das
Spielchen wohl oder übel mitspielen.
„Okay“, sagte er.
„Ich lade euch beide auf eine Pizza ein?“
Wenn schon, denn schon. Dieser Daisuke hatte offenbar kein Glück mit seinen
Bekanntschaften.
„Will ich auch hoffen“, schnaubte Eri und schritt voraus. Hakuei folgte ihr
und musste mehr als einmal den Drang unterdrücken, ihr einfach fest auf den
Hinterkopf zu schlagen und dann abzuhauen.
„Tut mir echt Leid“, murmelte Daisuke mit hängendem Kopf. Er trottete neben
Hakuei her, der sich immer wieder fragte, ob nur er ständig in so verrückten
Situationen landete. Wobei – eigentlich war das so, seit er auf Toshiya stand.
Ja, Toshiya war schuld, das musste es sein. Ganz besonders, weil sich alle Irren
der Stadt in seinem Haus die Klinke in die Hand gaben.
„Kein Ding“, sagte er und zuckte die Achseln. „Du bist also Daisuke?“
Der Junge nickte.
„Ich gehe in die elfte Klasse... das da vorne“, er deutete auf Eri, die
zwanzig Meter vor ihnen ging und bereits um die Ecke gebogen war, „das ist
meine große Schwester, Eri.“
„Ich bin Hakuei“, sagte Hakuei. „Ist deine Schwester so eine Art
Karate-Meister?“
Daisuke schüttelte lachend den Kopf.
„Du kennst sie also schon? Nein, sie kann Kung-Fu... aber im Moment hat sie
nur Gelegenheits-Jobs.“
„Und was sind das so für Gelegenheits-Jobs? Nervensäge?“
Daisuke musste wieder lachen. Hakuei sah ihn an. Seltsam, wie sich seine
Ausstrahlung verändert hatte. Er wirkte jetzt richtig lebendig, nicht mehr so
zurückgezogen.
„Nein, was sie macht ist alles top secret, meistens habe ich keine Ahnung
davon. Ich glaube, das muss so sein, weil sie Leute beschattet...“
Hakuei bleib stehen. Ihm war ein Licht aufgegangen. Ein gewaltiges Licht.
Daisuke drehte sich verwundert um. Um sein Erstaunen zu verbergen, lief Hakuei
schnell weiter.
„Und ihre Arbeitgeber... wer ist das so?“ Er versuchte desinteressiert zu
klingen, so als ob er einfach ein wenig small talk führen wolle.
Daisuke zuckte die Achseln.
„Unterschiedlich.... im Moment...“ Er brach ab.
Hakuei hielt es nicht aus.
„Ein gewisser.... Tooru Nishimura vielleicht? Genannt Kyo?“
Jetzt war es Daisuke, der vor Entsetzen stehen blieb. Er starrte Hakuei
verstört an.
„Also ja?“, sagte dieser. „Kein Grund zur Aufregung, du hast nicht zu viel
verraten, ich kannte deine Schwester nur schon und – nun ja... es gibt eben
große Zufälle.“
Sehr große, dachte er bei sich und vergrub beide Hände in den Taschen. Es war
also genauso schlimm, wie er befürchtet hatte. Auf einmal machte es ihm nichts
mehr aus, dem hübschen Kind und seiner lebensgefährlichen Schwester eine Pizza
zu spendieren.
„Toshiya, kann ich reinkommen?“
Toshiya blickte von seinen Hausaufgaben auf. Diese Stimme hätte er nicht
erwartet. Es war Takumi. „Natürlich“, sagte Toshiya und schlug sofort sein
Heft zu. Er hatte sowieso nie Lust auf Mathe gehabt. Soweit er sich erinnern
konnte, überhaupt noch nie in seinem ganzen Leben.
„Wie geht es dir?“
Er nahm Takumi bei der Hand und zog ihn zu sich hinüber. Dieser zuckte nur die
Achseln und lächelte traurig.
„Geht schon... Uruha und ich... wir sind wieder zusammen. Also alles zurück
zum Alten.“
Toshiya verstand, was er meinte.
„Geduld... irgendwann rafft mein Bruder es auch.“ Takumi zuckte wieder die
Achseln.
„Aber deswegen bin ich nicht hergekommen.“
Er kramte in seiner Tasche, zog etwas hervor, das aussah, wie ein Hochglanz
Magazin, und knallte es vor Toshiya auf den Schreibtisch. Es war die neuste
Ausgabe der Independent, eines dark-fashion Magazins, das zweimal im Monat
erschien.
„Da“, sagte Takumi, als habe er Toshiya einen Beutel mit abgetrennten,
blutigen Gliedmaßen vor die Nase geworfen, die eindeutig einen Mord bewiesen,
den er schon immer vermutet hatte.
Toshiya starrte auf das Cover. Unmöglich. Undenkbar.
„Wie...“, begann er, vergaß aber auf halbem Weg, was er eigentlich hatte
sagen wollen.
Die Person auf dem Cover, mit düsterer Schminke, verboten gut aussehend, war
– Kyo.
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