Liebe, Leid und Leben von theDraco (Mamorus Jugend) ================================================================================ Kapitel 29: ------------ Ungezählte Male hatte sich Mamoru schon das Lied seiner neuen Spieluhr angehört. Die Melodie sagte ihm irgendwas; ganz so, als würde er sie schon seit Ewigkeiten kennen. Aber das war doch absolut unmöglich! Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie diese Spieluhr in der Hand gehalten. Zumindest nicht in diesem Leben. Er schüttelte nachdenklich den Kopf bei dieser Vorstellung. Aber anders konnte er es sich nun mal nicht erklären. Manchmal tauchten verschwommene Bilder in seinem Kopf auf. Doch sie verschwanden wieder, noch ehe sie Mamoru Gelegenheit gaben, etwas zu erkennen. Und manchmal hallten in seinem Kopf die körperlosen Stimmen wider, die er in seinem letzten Traum gehört hatte. ...Endymion... Der Name sagte ihm doch etwas. Irgendwas. Und doch irgendwie nichts. Er sah sich um. Die anderen Schüler der Moto-Azabu-Oberschule schienen ihre Pause sichtlich zu genießen. Mamoru saß derweil nur unter einem Baum und starrte Löcher in die Luft. Er atmete tief durch und richtete seinen Blick zum Himmel empor. Irgendwas war heute ganz anders als sonst. Auf eine unerklärliche Art und Weise waren die Luft reiner, der Himmel blauer, die Sonne heller, die Bäume grüner, die Temperatur höher, die Vögel lauter und die Menschen besser gelaunt. Es war beinahe so, als hätte dieser ganze Planet eine wundersame Reinigung durchgemacht, seit Mamoru als Herr der Erde erwacht war. Nur ein Aspekt störte ihn noch in diesem allgegenwärtigen Frieden. Noch immer spürte er die Schmerzen in seinem Leib. Mal etwas stärker, mal etwas schwächer, und in seltenen Momenten hatte Mamoru ganz seine Ruhe. Aber es fand doch kein wirkliches Ende. Und das bereitete ihm Sorgen. Er brauchte eine Ablenkung. Er knöpfte das Hemd seiner Schuluniform am obersten Knopf auf, griff nach seiner dünnen, silbernen Halskette und holte sie zum Vorschein. Daran war ein wunderschöner silberner Ring befestigt. Er war recht einfach gemacht, und doch wirkte er faszinierend. Statt in irgend einer Form klobig zu sein und zu protzen, schien er eher die Botschaft von Zierlichkeit, Bescheidenheit und Zerbrechlichkeit auszustrahlen, wie ein Symbol der Reinheit und Tugend. Winzige Drähte aus Silber rankten sich um den Ring herum und bildeten einen Rahmen für ein rosafarbenes Herz in der Mitte, das aus glattgeschliffenem Rosenquarz bestand. Dieses Schmuckstück war der Ehering seiner Mutter gewesen. Einer der wenigen verbliebenen Beweise dafür, dass Mamorus Eltern einmal existiert hatten. Des weiteren hing nun an der Halskette, die mitsamt dem Ring schon fast eine Art Heiligtum für Mamoru darstellte, die goldene Spieluhr, die er erst seit der letzten Nacht besaß. Sie war nicht mal faustgroß, besaß die Form eines fünfzackigen Sternes und dem Gewicht nach zu urteilen schien sie aus massivem Gold zu bestehen, obwohl sich Mamoru das nicht wirklich vorstellen konnte. Wäre es tatsächlich so, müsste dieses Ding ein kleines Vermögen wert sein. Genau in der Mitte des goldenen Sternes befand sich eine kreisrunde Klappe. Öffnete man sie, sah man auf eine von unten beleuchtete, blaue Scheibe, vermutlich aus bemaltem Glas, auf der sich ein Sichelmond um eine goldene Mitte drehte; das alles wurde von einer niedrigen Glaskuppel geschützt. Und die Melodie, die dann erklang, war ruhig und wunderschön. Sie erinnerte Mamoru ein wenig an ein Schlaflied. Sie wiederholte sich unablässig, bis man die Klappe wieder schloss. Aber augenblicklich stand sie offen, und die wunderschöne Melodie tönte leise. Der Wind wurde dabei merklich ruhiger, als wolle er der Melodie lauschen und sie dann in die weite Welt hinaus tragen. Mamoru hatte das Kleinod schon von allen Seiten begutachtet. Irgendwie zweifelte er ja daran, dass diese Spieluhr mechanisch betrieben war. Dazu war sie einfach nur zu langatmig. Die Melodie konnte sich stundenlang widerhohlen, ohne dass man das Ding auch nur irgendwo aufzuziehen bräuchte. Es gab aber andererseits auch kein Batteriefach oder Ähnliches. Man sah genaugenommen gar keine Schrauben oder etwas Derartiges, das die Spieluhr zusammengehalten hätte; ganz so, als bestünde sie tatsächlich aus einem einzigen Guss. In die langsame, fast schon melancholische Melodie des Kleinods mischte sich plötzlich der Klang einer wohl bekannten Stimme. "Stör ich grad?" Mamoru klappte hastig den Deckel der Spieluhr zu und starrte Motoki an. "Erschreck mich nicht so!", beschwerte er sich. Dann wies er aber auf den Boden neben sich. "Setz Dich doch." Motoki machte es sich neben ihm bequem. Was nicht ganz leicht war, denn er musste dabei umständlich darauf achten, sein angeschlagenes Knie weder großartig zu belasten, noch es zu sehr anzuwinkeln. "Was macht Dein Knie?", erkundigte sich Mamoru, der die ganze Prozedur beobachtete. "Nun ja", antwortete Motoki leise ächzend, "es ist noch dran. Es wird bestimmt bald besser." "Balder als Du glaubst", erwiderte Mamoru und begann, das Hosenbein hochzukrempeln. "Also, entschuldige mal! Was wird das denn, bitte?", entrüstete sich Motoki lautstark. Doch Mamoru ignorierte es. Er besah sich das Knie einen Moment lang und legte dann die Hände drauf. Motoki zuckte unter einem schmerzerfüllten Aufstöhnen zusammen. "Pfoten weg!" "Immer schön locker bleiben", beruhigte ihn Mamoru, positionierte seine Finger neu und konzentrierte sich. Das Ergebnis war nicht gerade überragend, aber es ließ Motoki immerhin fassungslos nach Luft schnappen. Die Schramme war nun merklich kleiner als zuvor, und der schützende Schorf, der sich über der Wunde gebildet hatte, war um Einiges glatter und dünner geworden. Erschöpft seufzend lehnte sich Mamoru zurück. Er stützte seinen Rücken am Baum ab, während er einige Male tief durchatmete. Motoki brachte derweil noch immer nicht mehr als ein Krächzen heraus; ein sicheres Zeichen dafür, wie perplex er doch war. Irgendwann waren seine Stimmbänder doch wieder dazu in der Lage, Laute zu produzieren, die eher einer menschlichen Sprache glichen. "Okay, großer Medizinmann, wie Du haben das geschafft?" "Großer Medizinmann haben gemacht Hokuspokus", erklärte Mamoru. Er fühlte sich schrecklich müde, und er hatte eigentlich keine Lust, nun zu erläutern, was ein Herr der Erde so draufhatte an kleineren oder größeren Kunststückchen. "Was? Wessen Po hast Du geküsst?" Aha. Motoki ging es also schon wieder besser. Ungläubig untersuchte er jeden einzelnen Quadratzentimeter seines Knies mindestens viermal. "Jetzt mal ernsthaft: Was hast Du da gemacht?" "Wie, Du kannst mal ernsthaft sein?", fragte Mamoru in sarkastischem Ton nach. "Okay, okay, ich sehe schon. Du willst es mir nicht sagen." Motoki seufzte resigniert. Er krempelte sein Hosenbein wieder runter und lehnte sich dann neben Mamoru an den Baum. "Du, Mamoru?", setzte er an. "Kann ich mal mit Dir über was reden?" "Tust Du das nicht schon?" "Bist heute aber verdammt witzig. Hast Du nen Clown gefrühstückt? Na, jedenfalls ... ich wollte ... ich ... es geht um unsere ... Freundschaft. Was meinst Du, sollen ... wir es einfach ... noch mal ... versuchen?" Mamoru sah den Blonden lange nachdenklich an. Ihm war das Zögern in seiner Stimme keineswegs entgangen. Klar, es hatte in der letzten Zeit einige Spannungen gegeben, aber schlussendlich schien es doch so zu sein, dass die beiden ohne einander einfach nicht konnten. Ein zaghaftes Lächeln erschien auf Mamorus Lippen. "Heißt das, Du setzt Dich wieder zu mir?", fragte er vorsichtig. Motoki machte eine Bewegung, die wohl halb als Schulterzucken, halb als Kopfnicken gemeint war. "Wenn Du nichts dagegen hast?" Mamoru knuffte ihm leicht an die Schulter. "Wieso sollte ich?" Er lachte. Es klang sehr befreit und glücklich. Auch Motoki stimmte schnell ein. Als sie sich wieder beruhigt hatten, schwiegen sie eine kleine Weile. Bis Motoki auf Mamorus Halskette zeigte. "Was hast denn Du da für ein goldenes Ding hängen? Das hab ich ja noch nie gesehen." Gedankenverloren griff der Angesprochene nach der Spieluhr, liebkoste sie einen Augenblick mit den Fingern und ließ sie dann unter seinem Hemd verschwinden. "Nichts." "Komm, zeig doch mal!", bat Motoki und hielt seine offene Hand hin. "Nein! Auf keinen Fall!" Mamoru presste seine Hand auf sein Hemd; genau über die Stelle, die durch die Spieluhr ein wenig ausgebeult war. "So bissig?", stichelte Motoki in seiner alten Art. "Und warum? Hast Du das Teil von einem hübschen Mädchen geschenkt bekommen, hmmm?" Er stieß Mamoru leicht mit dem Ellenbogen an. Dieser bekam einen leicht rötlichen Schimmer auf den Wangen. Er dachte an die Frau zurück, die ihm regelmäßig nachts in seinen Träumen besuchte. Sie hatte ihm die Spieluhr immerhin geschenkt. Aber wie sollte er das Motoki erklären? Er kannte nicht mal den Namen dieser Person... "So ähnlich", antwortete er dann leicht geistesabwesend. Er erinnerte sich zurück an den Traum, den er in der letzten Nacht gehabt hatte. Endymion? Ja? Sag mal, liebst Du mich? Ja, das tu ich. Und wie sehr? Mehr als mein Leben. Endymion ... noch immer glaubte Mamoru, diesen Namen zu kennen. Als hätte er ihn schon tausendmal gehört. Und öfter. Vielleicht ein Prominenter? Ein Politiker? Oder jemand, der seit zwei, drei Jahrhunderten tot war? Ein Sportler? ...Das alles klang ja nicht sehr überzeugend. Und mit einem Mal ging ihm ein Licht auf. "Motoki, nimm das jetzt bitte nicht krumm, aber ich muss ganz, ganz dringend weg!" "Hat's was mit einem gewissen Mädchen zu tun?" Mamoru konnte an Motokis Grimasse ablesen, dass er darum betete, es möge nichts mit Hikari zu tun haben. Er verstand zwar noch immer nicht wirklich, was der Blonde gegen diese liebreizende Person hatte, aber er hatte momentan weit wichtigere Sorgen. Er zwinkerte grinsend. "Ja, aber nicht so, wie Du denkst." "Sondern?", fragte Motoki nach. Er zog skeptisch die Augenbrauen hoch. "Ich muss zu Suiren." Motoki legte die Stirn in Falten. Mit dieser Antwort hatte er ganz offensichtlich so gar nicht gerechnet. "Suiren? ...Na ja, die is ja auch ganz süß, aber ... na, wie Du meinst." Mamoru schüttelte den Kopf und klopfte seinem neuen alten Freund auf die Schultern. "Weißt Du, Motoki, das Leben besteht nicht nur aus Frauen." Darauf grinste der Blonde bloß. "Was denn sonst?" Mamoru setzte eine gewichtige Miene auf, als er seinen Kumpel aufklärte: "Da gibt es noch Autos, Sport und vor allem: Schokolade!" Von Motokis Lachen begleitet verschwand Mamoru schleunigst. Er rannte, was die Beine hergaben, quer über den Campus, in das Schulgebäude hinein, sämtliche Treppen hinauf und Gänge entlang, bis er endlich völlig aus der Puste im Klassenzimmer ankam. Er spürte die schmerzhafte Anspannung in seiner Bauchmuskulatur, aber er ignorierte sie. Sie war im Moment unwichtig. Alles war im Moment unwichtig. Was zählte, war nur die Tatsache, dass er herausfinden musste, wer Endymion ist oder war. Und Suiren konnte es ihm sagen. Hoffentlich. Wie er vermutet hatte, war es nicht schwer, Suiren zu finden. Sie hatte sich mal wieder in einem ihrer unzähligen Bücher vergraben. Auf dem Buchdeckel stand irgendwas mit Genmanipulation. "Suiren?" Sie sah noch nicht mal von ihrem Buch auf. "Ja?" "Kann ich Dich mal was fragen?" Erst jetzt steckte sie ein Lesezeichen in ihre Lektüre und legte sie weg, während sie Mamoru freundlich anlächelte. Sie war berühmt für ihren reichen Schatz an Wissen. Man konnte sie alles fragen; sie fand die Antwort. Und falls sie mal etwas nicht wusste - was nur äußerst selten vorkam - dann gab sie nicht auf, bis sie es wusste. Die Schüler munkelten, es solle in ganz Tokyo nur ein Mädchen geben, das regelmäßig mehr Punkte in den Tests hatte; eine gewisse Ami Mizuno. Aber die ging auf eine andere Schule. Suiren jedenfalls war ein wandelndes Lexikon, und sehr freundlich und hilfsbereit dazu. Sie freute sich darüber, wenn sie anderen etwas beibringen konnte. "Klar, schieß los", lachte sie ihn fröhlich an. Mamoru hockte sich auf den Tisch und mit großer Anspannung in der Stimme fragte er: "Was kannst Du mir über Endymion sagen?" "Endymion...", murmelte sie. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Mamoru glaubte schon fast, das Rattern in ihrem Kopf zu hören. Sie erinnerte ihn in diesem Moment stark an einen dieser modernen Computer, die berühmt waren für die schier wahnsinnige Rechenleistung von sage und schreibe 200.000 Rechenoperationen pro Sekunde und noch mehr! Obwohl er irgendwann einmal davon gehört hatte, dass dies nicht mal im Ansatz die Leistung des Gehirns eines Regenwurms war. Trotzdem fand er die Zahl sehr beeindruckend. "Endymion...", murmelte sie wieder und schlug die Augen auf. Sie grinste ihn spitzbübisch an. "Ja, ich erinnere mich. Ich hab etwas von ihm gehört. Es ist allerdings nicht sehr viel. In der griechischen Mythologie war Endymion ein wunderschöner Hirte. Seine Schönheit war so dermaßen atemberaubend, dass sich die Mondgöttin Selene unsterblich in ihn verliebte. Soweit zur Vorgeschichte. Was danach passiert ist, da spalten sich die Legenden. Manche Leute behaupten, Selene selbst habe ihn in einen ewigen Schlaf versetzt, denn so wolle sie seine Sterblichkeit überbrücken und ihn ewig jung und schön machen. Eine andere Version besagt, dass der Göttervater Zeus den jungen Schönling in den Schlaf der Ewigkeit versenkte, da er nicht wollte, dass sich Selene mit einem Sterblichen abgibt. Hilft Dir das weiter?" Mamoru nickte langsam, während er über das nachdachte, was er da gehört hatte. "Was weißt Du über die Göttin Selene?", fragte er weiter. Suiren antwortete prompt: "Selene ist eine hoch verehrte griechische Mondgöttin gewesen. Sie galt als die Tochter des Hyperion. Außerdem war sie die Schwester und die Gemahlin des Helios." "Schwester und Gemahlin?" Mamoru zog eine Augenbraue hoch. Suiren nickte bekräftigend. "Tja, die Beziehungen der Götter eben. Die sind ja alle irgendwie miteinander verwandt. Jedenfalls trug Selene im späteren römischen Reich den Namen Luna; wurde noch später allerdings mit Diana gleichgesetzt. Diana ihrerseits galt als Geburts-, Mond-, und Jagdgöttin. Sie wurde bald der griechischen Artemis gleichgesetzt. Sie galt als die Tochter des Jupiter und der Latona. Wie Du siehst, ist das alles nicht ganz einfach. Besonders, wenn sich die griechischen und die römischen Mythologien mischen, wird's schwierig." "Sag mal, Suiren, hast Du mir auch noch was über diesen Helios? Wo Du gerade dabei bist...", fragte Mamoru lächelnd. "Na, logo!", grinste Suiren. Sie schien jetzt richtig in Fahrt zu kommen. "Helios war der griechische Sonnengott, Sohn des Titanen Hyperion, Enkel des Uranos, Bruder der Selene und der Eos und - wie gesagt - Selenes Ehemann. Er galt als allsehend und wurde als Zeuge aufgerufen, wenn jemand vor Gericht einen Eid abgelegt hat. Man setzte ihn Apoll gleich. So, das wäre mal alles. Brauchst Du noch was?" Mamoru zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht. Fällt Dir ganz spontan noch was ein? Primär interessierte mich ja eigentlich nur Endymion. ...Natürlich war der Rest auch sehr spannend und informativ!", beeilte er sich zu sagen. Es war immer besser, Suiren zu loben und ihr geballtes Wissen hoch zu preisen. Ihre Intelligenz war immerhin ihr ganzer Stolz, und sie war in diesem Punkt auch ein ganz klein wenig eitel. "Nun ja", machte Suiren, "ich kann Dir im Moment nur noch sagen, dass der schlafende Endymion angeblich nach Elysium gebracht wurde. Oder Elysion, wie es die Griechen nannten. Dabei handelt es sich um ein paradiesisches Land am Westrand der Welt, jenseits des Ozeans, wohin die Lieblinge der Götter entrückt wurden, ohne zu sterben. Man nannte diesen Ort auch . Später dachte man sich Elysium als einen Teil der Unterwelt, die man im Griechischen auch als Hades bezeichnete. Der Gott Hades gebot über diese Region. Er wurde im Römischen Pluto genannt. Also, wenn Du noch mehr Informationen brauchst, ich kann gerne mal etwas herumstöbern, wenn ich das nächste Mal in der Bücherei bin. Das ist gar kein Problem, das mach ich super gerne!" Mamoru wehrte ab. "Danke für das Angebot, aber ich denke, das reicht vorerst. Vielen lieben Dank für Deine Mühen, Suiren, Du hast mir damit wirklich sehr weitergeholfen. Das war riesig nett von Dir." Sie nickte ihm zu und widmete sich wieder ihrem Buch über Genmanipulation. Mamoru hingegen wandte sich um und ging zu seinem Sitzplatz zurück, wobei sich Schmerzen wie ein glühend heißer Draht durch seinen Bauch zogen. Als er sich setzte, verebbte das grässliche Gefühl wieder allmählich. Seine Gedanken waren aber ganz woanders. Irgendwie glaubte Mamoru eher an diese Version. Denn wenn das tatsächlich der Wahrheit entsprach - sofern eine Mythologie über Götter und schöne Hirten überhaupt der Wahrheit entsprechen konnte - dann würde es seinen Traum erklären, in dem der Mann namens Endymion und die Frau sehr glücklich mit einander waren, kurz bevor die Frau so verzweifelt geschrieen und seinen Namen gerufen hatte. Das würde sie nicht tun, wäre sie selbst es gewesen, die ihn in den ewigen Schlaf versetzt hatte. Nein, ein anderer muss es gewesen sein. Und wenn nicht Zeus, dann eben eine andere, sehr mächtige Person. Vielleicht ihr Gemahl Helios, der eifersüchtig war? Wie auch immer. War der nicht eigentlich ein sehr milder Ausdruck für den Tod? Das erinnerte Mamoru an seine Spieluhr. Noch an diesem Morgen war ihm die Melodie wie ein Schlaflied vorgekommen. Aber er würde jetzt garantiert nicht zu Suiren gehen und sie fragen, ob es in der Antike schon Spieluhren gegeben habe. Er bezweifelte es nämlich stark. Noch dazu eine Spieluhr der Götter! Absurd! Ob Endymion wohl einen teuren schwarzen Anzug getragen hatte? Mit einem Zylinder, einem Gehstock, einem Umhang, Handschuhen und einer Maske? Wohl kaum. Was war überhaupt mit diesen Klamotten passiert? Fragen über Fragen. Und noch immer quälte ein grässliches, unbehagliches Gefühl Mamorus Bauch. "Ich bin wieder zu Hause!", brüllte er den Flur entlang. "Das find ich toll!", brüllte seine Tante zurück. "Dann kannst Du ja die Wäsche abhängen und bügeln!" Mamoru verspürte auf einmal den übermächtigen Impuls, sich einfach umzudrehen und wieder fort zu gehen. Aber er verdrängte ihn mehr oder weniger erfolgreich. Er seufzte schwer, während er seine Schuhe auszog. "Kann ich zumindest vorher noch was essen?", fragte er. "Na klar doch. Ich hab schon gekocht. Steht in der Küche bereit." Zumindest etwas Gutes! Er hatte nämlich schon einen Bärenhunger. Eigentlich konnte er es sich selbst kaum erklären; früher war er kein großer Esser gewesen. Aber in der letzten Zeit schaufelte er für Zwei in sich hinein. Sein Stoffwechsel schien mit Lichtgeschwindigkeit zu arbeiten. Und in genau diesem Tempo vertilgte Mamoru auch die riesige Menge Fisch und Reis. "Hey, Du Mähdrescher! Das Essen ist nicht nur für Dich alleine!", beschwerte sich Kioku, als sie in die Küche kam. "Lass Deinem Onkel auch noch was!" Mit vollgestopften Backen und schwer enttäuschtem Blick sah er sie an. Eigentlich wollte er sich gerade die dritte Portion holen. Er schluckte schwer und schob sich noch das letzte Reiskorn in den Mund. "Sehe ich ja gar nicht ein", maulte er. "Ich hab noch Kohldampf." "Ich sag's ja immer", murmelte Kioku leise vor sich hin. "Die Pubertät ist was ganz Schreckliches." "Was hast Du gesagt?", erkundigte sich Mamoru, der nur ein undeutliches Gemurmel vernommen hatte. Er griff nach seinem Teller, um ihn zur Spüle zu tragen. "Ich sagte, geh und kümmere Dich um die Wäsche!", erläuterte sie. Als Mamoru sich etwas zu ruckartig von seinem Platz erhob, schoss ein grässlicher, stechender Schmerz durch seinen Körper. Er ließ den Teller wieder auf den Tisch fallen, umschlang mit den Armen seinen Bauch, beugte sich vor und stieß einen kurzen Schmerzlaut aus. Kioku blickte ihn geschockt an. Dann grinste sie. "Komm mir bloß nich so, Freundchen! Das zieht bei mir nicht. Du kannst Dir Deine Schauspielkunst an den Hut stecken." Doch es war nicht gespielt. Bei weitem nicht. Die Pein raubte ihn fast die Sinne. Das quälende Stechen dauerte nur wenige Herzschläge lang an, doch es reichte, um seinen Gleichgewichtssinn kurzzeitig auszuschalten. Haltlos kippte er zur Seite. Er prallte zuerst gegen die Wand und schlug dann auf dem Boden auf, wo er keuchend liegen blieb. "Mamoru?" Kioku sah ein, dass es sich hierbei keinesfalls um einen Scherz oder einen Trick handelte. "Mamoru!" Sie stürzte zu ihm und ergriff ihn an der Schulter. "Junge! Sag mir doch, was los ist! Komm schon, Kurzer, rede mit mir!" Er krümmte sich auf dem Boden und zog die Beine an. Was nicht einfach war, denn er hatte zwischen der Wand und dem Tisch nicht wirklich viel Platz. Er schnappte einige Male keuchend nach Luft, biss die Zähne zusammen - und dann war es schnell überstanden. Mit einem langgezogenen Seufzer entspannte er wieder seine verkrampften Muskeln. Er wollte aufstehen, aber seine Tante wusste es mit sanfter Gewalt zu verhindern. Sie platzierte vorsichtig seinen Kopf auf ihrem Schoß und streichelte ihm durch das Haar. "Ist schon in Ordnung", beruhigte er sie. "Es ist vorbei." Er stützte sich am Boden ab und brachte sich in eine hockende Position. "Was war es?", fragte Kioku verstört. "Ich weiß nicht", nuschelte er. "War nicht wichtig." "Nicht wichtig?" Kioku fuhr fast aus der Haut. "Nicht wichtig?? Sagtest Du gerade, es war nicht wichtig??? Willst Du mich verkohlen? Teufel noch mal, Du sagst mir jetzt sofort, was das gerade eben war!" Er stand vom Boden auf und setzte sich wieder auf den Stuhl. Er sah gar nicht glücklich aus. "Ich weiß es ja auch nicht so recht", gestand er. "Es hat vor gar nicht so langer Zeit angefangen. Mir tut einfach immer mal wieder der Bauch weh. Meistens ist es aber nicht so schlimm." "Ach", machte Kioku, "und wann wolltest Du mir das sagen?" "Was hättest Du schon tun können?", fragte Mamoru trotzig. "Ganz einfach", erklärte seine Tante. "Genau das, was ich jetzt tun werde. Ich bringe Dich zum Arzt." Der unglückliche Ausdruck in Mamorus Gesicht wurde noch deutlicher. "Muss das sein?" Er hasste Ärzte, er hasste Praxen, er hasste alles, was ihn an die gottverdammte Zeit erinnerte, die er als Kind im Krankenhaus zugebracht hatte. Lange genug hatte er den Chemikaliengestank eingeatmet; diesen intensiven Geruch von Medizin und Desinfektion. Das Haus, das Leben retten sollte, wirkte selbst einfach nur versteinert, monoton, tot, steril, lebensfeindlich. "Natürlich muss das sein!", rief Kioku aus. Dann wurde ihre Stimme leiser und ruhiger, und bekam einen zaghaften Klang. "Kleiner, ich weiß sehr genau, dass Du das absolut nicht magst. Aber versteh doch, ich mache mir nur Sorgen um Dich. Du bist doch mein kleiner Süßer. Ich will nicht, dass es Dir schlecht geht. Das hättest Du mir wirklich früher sagen sollen." Sie nahm ihn sachte in die Arme und er ließ es geduldig geschehen. Sie flüsterte jetzt nur noch: "Ich hab Dich doch lieb." Er nickte. "Gut, dann gehen wir eben." Es hatte einige Stunden in Anspruch genommen. Nun, wo Mamoru wieder zu Hause war und ungläubig auf das Päckchen mit seinen Tabletten starrte, musste er erst mal gründlich über seinen Arztbesuch nachdenken, bevor er alles im gesamten Umfang realisieren konnte. Der Doktor hatte hier und da etwas untersucht, immer wieder Fragen gestellt, mal da, mal dort gedrückt und sich alles von Mamoru haarklein beschreiben lassen; jedes einzelne Gefühl, jede kleine Besonderheit, jedes noch so unbedeutende Vorkommnis in naher Vergangenheit. Und schlussendlich kam dann endlich die Aufklärung: "Das ist absolut normal für Jungs in diesem Alter. So in etwa mit fünfzehn oder sechzehn Jahren fangen die jungen Kerle an, wie die Pilze in die Höhe zu schießen. Dabei wächst der Knochen so schnell, dass die Muskeln und die Organe kaum hinterherkommen. Bis zu einem gewissen Grad sind die Muskelstränge natürlich noch dehnbar, aber wenn sie mal besonders beansprucht werden, beispielsweise bei einer plötzlichen Bewegung, dann werden sie so sehr angespannt, dass es wehtut. Das geht aber wieder vorbei und ist zwar unangenehm, aber absolut ungefährlich. Solange man es nicht übertreibt. Bei solchen Wachstumsschüben kann es schon mal vorkommen, dass man ein Gefühl der Übelkeit verspürt, dass einem schwindlig wird, dass man - wie in diesem Fall - Schmerzen hat und dass man einen wahnsinnigen Appetit bekommt. Da gibt's nur eins: Augen zu und durch. Ich empfehle: viel schlafen, viel trinken, regelmäßig, genug und ausgewogen essen, leichte sportliche Aktivitäten, viele Pausen zwischendurch und was das Wichtigste ist: auf die Signale des Körpers hören! Ich werde schwache, schmerzhemmende Tabletten verschreiben, die bei Bedarf eingenommen werden können. Machen Sie sich also keine Sorgen, und wundern Sie sich nicht, wenn Mamoru nun in kürzester Zeit um einige Zentimeter in die Höhe schießt." Kioku hatte daraufhin nur mit den Augen gerollt und gemurmelt: "Was denn, der wird noch größer?" Und auf dem Heimweg hielt sie ihm noch eine ellenlange Gardinenpredigt darüber, dass Mamoru in Zukunft sofort sagen soll, wenn etwas los ist, und dass sie den männlichen Stolz nicht verstehen könne, nach dem man alles unter den Teppich kehren solle und bloß nicht jammern dürfe. Ihr werter Neffe allerdings hatte seine Ohren schon nach fünf Minuten auf Durchzug geschaltet. Nun saß er also wieder in seinem Zimmer, schüttelte den Kopf, holte eine Tablette aus der Packung, schüttete sich etwas Wasser in ein Glas und schluckte seine Medizin. Danach holte er die kleine Spieluhr unter seinem Hemd hervor, betrachtete sie einen Moment und meinte: "Na gut, also schön. Es hatte doch nichts mit der Erde zu tun, und Du bist absolut unschuldig. Es tut mir Leid, dass ich Dich zu Unrecht verdächtigt habe." Wie von Geisterhand öffnete sich der Deckel der Spieluhr und ihre wunderschöne, sanfte Melodie erklang. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)