Equinox von YourBucky ================================================================================ Kapitel 7: Kapitel VII - Anfang und Ende ---------------------------------------- Äonen ist es her, dass ich das letzte Kapitel hochgeladen habe, aber diesmal aus anderen Gründen als zuvor. Das Ding war schon extrem schnell fertig, wie viele der nachfolgenden Kapitel auch, aber ich wollte unbedingt an Weihnachten alle groß damit überraschen, dass ich mit dem Überarbeiten fertig bin und habe deshalb niemandem mehr verraten, wie weit ich jeweils war. ^___^ Allerdings ist es auch schon so lange her, dass ich das Kapitel überarbeitet habe, dass ich gar nicht mehr so genau weiß, was mir dabei durch den Kopf ging. Mit etlichen Stellen habe ich mich extrem schwergetan, aber ich finde, dass ich Manches ganz elegant gelöst habe. ^^ So oder so werde ich dieses Kapitel immer in liebevoller Erinnerung behalten als das Kapitel, bei dem ich selbst nicht mehr wusste, wie ich unsere lieben Estrella aus der Situation wieder heil herausbekommen sollte... Falls es irgendwer da draußen liest, wünsche ich diesem jemand viel Spaß hiermit. ^^ Shinya lag auf dem Rücken, alle Viere weit von sich gestreckt, und genoss die goldenen Strahlen der Mittagssonne, die seinen Körper in eine unsichtbare, seidig warme Decke hüllten. Der feine weiße Sand schmiegte sich sanft an seine erschöpften Gliedmaßen und bettete ihn wie die wunderbar weichste Matratze, auf der er jemals in seinem ganzen Leben geschlafen hatte. Ein leises Schnurren stahl sich über seine Lippen, aber im gleichen Augenblick wusste er auch, dass diese Zufriedenheit wohl doch eher oberflächlicher Natur war. Sicher, sein Körper lechzte nach der erdrückenden und reichlich ungewohnten Anstrengung der vergangenen Stunden nach einer ausgiebigen Ruhepause – immerhin hatten sie am unschuldig blauvioletten Morgen dieses Tages zum zweiten Mal die lange Überfahrt von der kleinen Prüfungsinsel nach Silvania angetreten und das Festland erst erreicht, als die Sonne schon beinahe senkrecht über ihnen gestanden war. Ihr einfaches hölzernes Boot hatte sich in einen grausamen Käfig verwandelt, der keinerlei Zuflucht vor der erdrückenden Gewalt des strahlenden Himmelskörpers bot. Im Gegenteil – sie waren gefangen gewesen auf einem wogenden Spiegel, der die Strahlen der Sonne glitzernd reflektierte und tausendfach auf die unliebsamen Eindringlinge zurückwarf. Wie froh war der Katzenjunge gewesen, als sie dann endlich das Festland erreicht hatten! Er wusste gar nicht mehr, wie sie in der schmalen, dafür aber äußert idyllischen und ruhigen Bucht angelegt hatten, wie sie das Boot irgendwo zwischen dem hohen Schilfgras versteckt hatten und dann kurzerhand in das verlockend warme Sandbett gefallen waren. Er wusste nur, dass er im ersten Augenblick wirklich wunschlos glücklich gewesen war. Er hatte einen weichen Platz zum Schlafen, er hatte eine gewichtlose Decke, die mit einem Mal alles andere als erdrückend und schweißtreibend heiß war, sondern einfach nur noch wohlig warm – und mehr brauchte er nicht. Dann war jedoch nach und nach die totale Ermüdung von ihm abgefallen und hatte einer Schwindel erregend tiefen Verwirrung Platz gemacht. Die Ereignisse des vergangenen Tages liefen als vollkommen chaotische, unzusammenhängende Bilderflut ein ums andere Mal in seinen Gedanken ab, überschlugen und verdrehten sich, nur um dann wieder beängstigend klar zu werden, so klar, dass der Halbdämon seine Augen schließen und sich wenigstens symbolisch davon abwenden musste. Er brauchte lange, um sein inneres Durcheinander in einzelne Bestandteile zu zerlegen und zumindest ein bisschen wieder in Ordnung zu bringen, und während sein Körper reglos und zufrieden die Sonne und den Sand genoss, fühlte er sich innerlich wie zerschlagen. Vor wenigen Stunden hatte er zum ersten Mal in seinem Leben Magie gespürt. Der letzte betäubend warme Nachhall dieses Gefühles schmerzte ihn noch jetzt, obgleich er nur mehr als die vage Ahnung eines wohligen Schauers über seine Haut jagte. Es war verrückt! Er fürchtete sich vor seiner Macht – allerdings weniger vor ihren angeblich ja so unsagbar katastrophalen Auswirkungen. Vielmehr erschien ihm die Magie wie eine wundervoll berauschende Droge, die schon nach dem ersten Kontakt mit sanfter, aber unerbittlicher Gewalt voll und ganz von ihm Besitz ergriffen hatte. Natürlich durfte er sie nicht mehr verwenden. Aber konnte er das denn überhaupt? Auch wenn er den Gedanken noch nicht ganz begriff, so quälte ihn doch umso mehr die diffuse Ahnung, dass auch in dem gläsernen Labyrinth nicht er selbst seine Magie kontrolliert hatte, und diese vage Hilflosigkeit erschreckte ihn beinahe am meisten. Irgendwo, ganz tief in einem bislang noch weitestgehend unerforschten Teil von ihm lauerte jedoch noch ein ganz anderes Gefühl, eine kalte Panik, die das letzte bisschen Erinnerung an den vernichtenden Zauber mit aller Kraft festhalten wollte, die tobte und schrie und beinahe den Verstand verlor, weil sie das überwältigende Gefühl von absoluter Macht schon nahezu wieder vergessen hatte. Shinya spürte, wie ihm trotz der Wärme, die ihn von allen Seiten her einhüllte, ein beklemmend kalter Schauer über den Rücken lief. Für einen Moment hatte er das überaus unangenehme Gefühl, von innen heraus zerrissen zu werden und musste sich beherrschen, nicht laut aufzuschreien. Seine Finger krallten sich in den Sand, der mit einem erschrockenen Knirschen zwischen seinen Fingern entfloh und ihn statt eines festen Halts nur den Stoff seiner Handschuhe unter den Nägeln spüren ließ. Der Katzenjunge biss sich mit einem seiner spitzen Eckzähne auf die Unterlippe und zwang sich dazu, seinem wirren Gedankenfaden weiter zu folgen, während sich ein metallisch warmer Geschmack in seinem Mund ausbreitete. Blut… Wie automatisch blieb Shinya an dem nächsten kalten Drahtstückchen hängen, die das unterschwellige, stete Gefühl von leiser Angst in das versponnene Netz in seinem Kopf gebohrt hatte. Im Gegensatz zu einigen seiner Gefährten hielt sich seine Freude über die Belohnung ihrer Prüfung nämlich mehr als nur in Grenzen. Es war ja nicht so, dass er den Gebrauch von Waffen generell ablehnte, und überhaupt, wenn seine Reise auch nur annähernd so gefährlich weiterging, wie sie mit dem beinahe tödlichen Abenteuer im gläsernen Labyrinth begonnen hatte, dann würde vor allem er ganz dringend ein Mittel zur Verteidigung benötigen, immerhin konnte er ja nicht einfach auf irgendeine Magie ausweichen. Auch den zugegebenermaßen höchst ungewohnten Gebrauch der Zweililienlanze fürchtete er nicht – aus irgendeinem Grund war er sich sogar sicher, den Umgang mit dem federleichten schwarzen Stahl recht schnell zu erlernen. Es war etwas ganz anderes, das ihn beunruhigte. Immerhin hatte höchstwahrscheinlich nicht nur seine eigene Gruppe den Test an ihrer inneren Stärke, der Macht des Geistes oder woran auch immer bestanden. Was, wenn Phil und sein Gefolge nun dieselbe Belohnung erhalten hatten? Obwohl er im Grunde genommen nicht daran zweifelte, ängstigte ihn nicht etwa die Gewissheit, nun noch auf eine weitere Art und Weise von seinem alten Rivalen getötet werden zu können. Vielmehr wurde ihm nun zum ersten Mal das wirkliche Ziel ihrer abenteuerlichen, aufregenden Reise bewusst. Wenn die Estrella ihre Waffen nicht nur bekommen hatten, um ab und zu einem Monster oder irgendeiner anderen Alptraumgestalt das Lebenslicht auszulöschen – und davon ging der Katzenjunge aus – dann konnte das nur bedeuten, dass sie irgendwann nicht mehr mit Magie, sondern mit blankem Stahl gegeneinander kämpfen und sich vielleicht sogar töten mussten. Und diese letzte Erkenntnis war es, die Shinya mehr als jeder andere Gedanke quälte, weil er nicht wusste, ob er diesen Schritt tatsächlich fertig bringen konnte und wollte. Bevor der endlose Strudel aus Grübeleien den Halbdämon tiefer in seinen gierigen Schlund hinabreißen konnte, setzte er sich auf und streckte gähnend seine von der Wärme angenehm betäubten Gliedmaßen. Er rieb sich den Schleier der Müdigkeit aus den Augen und nutze die zurückgewonnene Klarheit, um endlich seine Umgebung zu begutachten, der er bislang noch reichlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Beinahe direkt neben ihm lag Hoshi in dem Bett aus weißem Sand, den Kopf auf ihren Armen platziert, die dunklen Augen geschlossen. Misty hatte es sich mit weit von sich gestreckten Armen und Beinen neben der Lichtmagierin gemütlich gemacht, während Rayo etwas weiter entfernt im Halbschatten ruhte. Einzig Noctans bleiche Gestalt saß deutlich abseits vom Rest der Gruppe auf einem Felsen und starrte hinaus auf die glitzernde Wasseroberfläche. Der Katzenjunge ließ einen tiefen Seufzer der Resignation über seine Lippen entweichen. Langsam aber sicher zweifelte er ernsthaft daran, dass er sich mit dem Weißhaarigen jemals wirklich anfreunden würde. Auch jetzt schien es, als stünde eine unsichtbare aber dennoch unüberwindbare Mauer zwischen dem jungen Krieger und dem Rest der kleinen Gruppe. Obwohl Noctan nicht viel älter sein konnte als Shinya selbst, lag ein derart kalter Ausdruck in seinen violetten Augen, dass es den Halbdämon selbst bei den sommerlichen Temperaturen an diesem durch und durch freundlichen, warmen, nahezu paradiesischen Fleckchen Erde erschaudern ließ, wenn er in Noctans schönes Gesicht blickte. Konnte dieser Mensch überhaupt lächeln? Shinya seufzte erneut, dann zuckte er mit den Schultern und wandte seinen Blick eilig wieder dem türkisblauen Wasserspiegel zu, der mit sanften Wellen dunkle Muster in den schneefarbenen Sand zeichnete. Es hatte keinen Zweck, sich über das Verhalten oder den Blick des jungen Weißhaarigen aufzuregen. Auch wenn er es ab und an ganz gerne vergaß – was ihn und seine Gefährten verband, das waren nicht Freundschaft und Sympathie, sondern schlicht und ergreifend ein gemeinsames Ziel, das es um jeden Preis zu verfolgen galt. Und auch wenn Shinya sich im Geiste hundertmal Will oder Tierra an seine Seite wünschte, es änderte doch nichts an einer einzigen entscheidenden Tatsache: Noctan war und blieb ein Estrella und allein das zählte. Die Sonne war tief vom Himmel hinab gesunken, als die seltsame kleine Gruppe ihrer idyllischen Ruhestätte den Rücken zukehrte. Auf den seichten Wellen des Meeres lag ein roter Schleier glühenden Lichtes. Ein kühler Wind zog auf und einzig in den silbrigen Körnern des Sandteppichs war ein zarter Hauch von der Wärme des Tages zurückgeblieben. „Sagt mal, wohin wollen wir jetzt eigentlich gehen?“ Hoshi sprach als Erste aus, was eigentlich schon die ganze Zeit über in Shinyas Kopf vor sich gegangen war. Die Augen des Katzenjungen ruhten wie hypnotisiert auf dem roten Ball der untergehenden Sonne, die langsam im Ozean versank und dort in leuchtend blutige Schlieren zerfloss. „Wir sollten auf jeden Fall erst mal ne Stadt suchen“, murmelte er und betrachtete seine Freundin aus den Augenwinkeln, konnte auf ihrem Gesicht jedoch nicht sonderlich viel und schon gar nichts wirklich Aufschlussreiches lesen. „In Städten und auch in Dörfern gibt es Weise, und vielleicht kann uns ja irgendeiner von denen mehr über dieses… Lluvia erzählen, ob’s das gibt, was es da gibt, wie wir da hinkommen und so weiter. Und wenn wir ganz viel Glück haben… Hoshi, sagtest du nicht, es gäb noch Überlebende? Wenn wir einen von denen auftreiben könnten… das wär’s doch!“ „Na, dass wir gleich sooo viel Glück haben, ist zwar eher unwahrscheinlich… aber da wir ja wieder mal nicht wissen, wo’s denn eigentlich lang geht, ist die Idee mit dem Weisen auf jeden Fall nicht schlecht…“ Das dunkelhaarige Mädchen ließ seinen Blick über die im Sonnenuntergang entflammte Natur schweifen. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck nachdenklicher Konzentration, doch als sie ihre braunen Augen endlich wieder dem Katzenjungen zuwandte, da hatte sich ein Lächeln auf ihre Lippen gestohlen. „Ich glaube, diesmal meint’s das Schicksal sogar wirklich gut mit uns. Ich kenne diese Gegend. Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir hier ganz in der Nähe von Midras, und das wäre ja nun wirklich die ideale Anlaufstelle für unser Problem!“ „Midras?“ Rayos Miene erhellte sich. „Welch überaus glücklicher Zufall! Ich hörte, dass Reisende aus allen Teilen des Landes in diese Stadt pilgern, um dort bei einem der unzähligen Wahrsager, Schicksalsdeuter und Magier Rat und Hilfe zu ersuchen. Dass es uns ausgerechnet in diese Gegend verschlagen hat, erleichtert unsere Aufgabe natürlich ungemein, oder?“ Shinya zuckte mit den Schultern. „Um ehrlich zu sein – ich hab noch nie im Leben was von der Stadt gehört. Aber wenn’s da wirklich so von Gelehrten und Orakeln wimmelt, wie ihr sagt, dann gibt’s ja wohl keinen besseren Ort für uns, was, Leute?“ „Dann also Midras!“ Hoshi warf sich ihr dunkelbraunes Haar über die Schulter. „Wenn mich nicht alles täuscht, dann müssten wir auch schon ganz in der Nähe sein!“ Das Lachen des Mädchens heftete sich leicht wie eine silbrige Feder an den frischen Seewind und wurde weit in das von Sonne überflutete Land hineingetragen. Etliche Stunden später jedoch, als der Tanz des Windes verebbt und der Sonnenuntergang erloschen war, hatten die schweigenden Ebenen nicht nur Hoshis zuversichtliches Gelächter, sondern auch jedes andere Geräusch schon längst vergessen und in einem endlosen Teppich aus langen, bläulich grünen Grashalmen verschluckt, dessen glatte, schimmernde Oberfläche im klaren silbernen Mondlicht beinahe so weich und warm aussah wie die herrlich behagliche Decke eines riesigen, noch unberührten Bettes. Die Aussicht auf eine derartige Schlafgelegenheit schien sich allerdings mit jedem quälenden Schritt, der die jungen Estrella in das schlummernde Land hineinführte, weiter von ihnen zu entfernen, nur um irgendwann am Horizont zu verblassen wie die letzte Erinnerung an die Fülle aus Gold und Rubinen, die mit dem sterbenden Sonnenuntergang bedrückend schnell wieder verschwunden war. Der schmale Pfad aus verhärtetem Sand und hier und dort überaus tückisch platzierten Stolpersteinen wand sich wie eine betrunkene Schlange durch das leblose Meer aus kniehohen Halmen, ohne jedoch auch nur die Ahnung eines nahenden Ziels in Aussicht zu stellen. „Mistys Füße tun sooo schlimm weh!“, jammerte das kleine blauhaarige Mädchen in die Stille der Nacht hinein. „Rayo… nein… ich meine, ich hätte gegen eine kurze Rast auch durchaus nichts einzuwenden, oder was meint ihr?“ Der junge Adlige fiel in einen demonstrativ schwerfälligen, leicht humpelnden Gang und zauberte einen gequälten Ausdruck auf sein im fahlen Licht des Mondes ganz besonders bleiches Gesicht. „Welch grandiose Idee!“ Noctan ließ seinen Blick entnervt zum sternenklaren Nachthimmel streifen. „Wozu sollten wir denn überhaupt noch jemals wieder weitergehen? Sagt jemand, dass wir Midras noch heute erreichen müssen? Sagt jemand, dass wir Midras überhaupt irgendwann einmal erreichen müssen? Hey, warum bauen wir uns nicht gleich hier auf dem Feld ein Haus und geben uns einem geruhsamen Dasein als Bauern hin?“ „Ja klar, Noctan, man kann’s aber auch übertreiben!“ Shinya fixierte den Weißhaarigen mit einem zornigen Funkeln in den grünen Augen. „Aber natürlich! Ich übertreibe ja immer, wenn ich lediglich das ausspreche, was doch eigentlich alle hier denken. Tu dir keinen Zwang an und lass deine Wut ruhig an mir aus, auch wenn es ganz bestimmt nicht meine Idee war, in diese wundersame Stadt der unendlichen Weisheit und Scharlatanerie zu pilgern.“ „Nein, es war wirklich nicht deine Idee. Natürlich war es nicht deine Idee! Du hast nämlich nie irgendwelche Ideen oder Vorschläge, du kannst dich immer nur beschweren. Darin bist du aber wirklich unübertroffen!“ Durch die braunen Ohren des Katzendämons lief ein wütendes Zucken. „Bitte – jetzt streitet euch doch nicht auch noch! Dadurch kommen wir ganz bestimmt nicht schneller voran.“ Hoshi trat mit beschwichtigender Miene und einem ebensolchen Tonfall in der Stimme zwischen die beiden finster dreinblickenden Jungen. „Die blöde Idee kam von mir, schon vergessen? Aber bei unserem Aufbruch hatte niemand etwas dagegen einzuwenden und überhaupt, wir kommen bestimmt bald an!“ „Irre ich mich, oder sagtest du das vor etwa anderthalb Stunden schon einmal?“, meldete sich Rayo in halb schüchternem, halb tadelndem Tonfall zu Wort. „Ach, so genau weiß ich das doch auch nicht mehr!“ Langsam schwand die besänftigende Ruhe aus den Worten der Dunkelhaarigen. „Als ich das letzte Mal in Midras war, da war ich noch ein kleines Kind, wie soll ich mich da bitte noch an jede Abzweigung und Wegbiegung erinnern? Überhaupt, wenn man noch klein ist kommt einem alles viel größer und weiter vor, aber trotzdem, es nützt niemandem etwas, wenn ihr euch deswegen gegenseitig Vorwürfe macht!“ „Verzeiht vielmals, Lady Streitschlichterin, aber gestattet Ihr mir trotzdem die unterwürfigste Anmerkung, dass unsere Art zu reisen vollkommen plan- und sinnlos ist?“ In Noctans violette Augen trat ein eisiges Blitzen, das sie nur noch ein wenig kälter und gefühlloser wirken ließ. „Es gab tatsächlich eine Zeit, da glaubte ich daran, dass wir von Hoshiyama aufbrechen und auch wieder dorthin zurückkehren würden. Aber was geschah dann? Wir strandeten irgendwo am Ende der Welt, beziehungsweise von Silvania, und nur dank einer erbärmlich vagen Erinnerung aus glücklichen Kindertagen ist dies plötzlich alles ganz fabelhaft und ein Wink des Schicksal, der Götter oder von wem auch immer. Aber vielleicht ist es ja vermessen, zu sagen, dass ich mir das doch etwas anders vorgestellt habe, als ich mein Schwert auf dieser fröhlichen kleinen Insel zurückließ.“ „Ein Schwert? Was bitte für ein… ach, stimmt, du hattest ja mal eins. Ich vergaß.“ Shinya zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. „Jetzt verzeih du mir mal, aber ich sehe das Problem nicht. Wir haben doch sowieso bessere Waffen! Dann segle halt um aller Götter Willen irgendwann später nach Hoshiyama zurück und hol dir dein Schwert, jetzt wirst du’s erst mal eh nicht brauchen, warum also die Aufregung? Wir wollen wissen, wie wir zu dieser Stadt kommen, und das erfahren wir höchstwahrscheinlich in Midras. Also ist’s ja wohl gut, dass wir hier gelandet sind und nicht bei einer grad sowieso vollkommen überflüssigen Waffe, aber dafür meilenweit von jedem Weisen oder Magier entfernt. Soweit alles verständlich?“ „Gestatte mir eine kleine, aber entscheidende Verbesserung – wir haben diese Waffen nicht. Wir tragen sie scheinbar auf irgendeine mystische Art und Weise mit uns herum und dürfen im Ernstfall darauf hoffen, dass sich unsere edlen stählernen Verbündeten dazu herablassen, ihren armseligen Trägern zu Hilfe zu eilen. Entschuldige, aber wenn ich mich überhaupt auf irgendetwas verlasse, dann auf Metall, das ich sehen und fühlen kann.“ „Noctan, weißt du eigentlich was mich jetzt am wenigsten von allen Dingen auf diesem ganzen verdammten Planeten interessiert?“ Shinya hatte seine mühsam aufrecht erhaltene Fassung längst aufgegeben, vielmehr schrie er fast schon aus bloßem Trotz gegen die erdrückende Stille der Nacht und gegen die unerträgliche Kälte auf dem Gesicht des Weißhaarigen an. „Genau, dein Schwert. Aber hey, eigentlich ist es doch völlig egal, ob es um dieses verfluchte Ding oder sonst was geht, Hauptsache, du findest irgendwie einen Grund, dich zu beschweren! Es gibt ja anscheinend sonst nix, was dich glücklich macht!“ „Natürlich! Ich beschwere mich. Es ist doch immer dasselbe! Irgendetwas läuft nicht ganz nach einem deiner schlecht bis nicht durchdachten Pläne, und schon…“ „Könnt ihr vielleicht endlich mal mit eurem blöden, absolut überflüssigen Gestreite aufhören?!“ Als Hoshi diesmal zwischen die beiden jungen Estrella trat, lag nicht einmal mehr eine Spur von Sanftmut in ihren Augen oder ihrer Stimme oder in sonst einer noch so winzigen Faser ihres zornig bebenden Körpers. „Wir können ja nicht ankommen, wenn ihr hier noch bis in alle Ewigkeit eure kindischen Meinungsverschiedenheiten austragen müsst! Aber gut – das ist nun wirklich nicht meine Sache und auch nicht mein Problem. Bitte, viel Spaß noch, aber ich gehe jetzt nach Midras!“ Mit einem letzten wütenden Schnauben fuhr die Lichtmagierin auf dem Absatz herum und stapfte den staubigen Pfad in den stillen schwarzen Ozean hinein. „Hoshi, jetzt warte doch!“ rief Shinya dem Mädchen hinterher, aber sie reagierte nicht. Mit einem tiefen Seufzer sah der Katzenjunge die zierliche Gestalt seiner Freundin mit der Dunkelheit verschmelzen. Er schüttelte ergeben den Kopf, den Blick auf den steinigen Sand zu seinen Füßen gerechnet, bevor er wieder aufsah und sich nicht ohne eine gehörige Portion Widerwillens Noctan zuwandte. „Also gut. Es ist spät, ich bin genervt und es… es tut mir leid. Wir fahren wieder nach Hoshiyama, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt, in Ordnung?“ Der weißhaarige Krieger schien nicht zu bemerken, wie sehr sich Shinya zu seinen Worten zwingen musste, oder vielleicht interessierte ihn auch ganz einfach nicht. Er machte sich jedenfalls nicht einmal die Mühe, zu antworten, sondern nickte nur kurz, fast schon beiläufig, bevor er mit unbewegter Miene und verschränkten Armen dem dunkelhaarigen Mädchen folgte. Shinya rang sich mühsam ein überaus schiefes Grinsen ab, als er zu Rayo und Misty trat, die es sich während des kleinen Streits seelenruhig und sichtlich desinteressiert im weichen Gras am Wegesrand bequem gemacht hatten. „Also dann… gehen wir? Wird Zeit, dass wir ankommen. Oder denkt ihr nicht, dass es in einem Hotelzimmer sogar noch ein bisschen gemütlicher wäre als hier?“ Der Katzenjunge wusste nicht, wie er in dieser Situation doch zumindest noch etwas hinbekam, das einem fröhlichen Zwinkern entfernt ähnelte. Er wusste auch nicht, warum er sich mit derartiger Verbissenheit dazu quälte. Er fühlte sich unbeschreiblich müde und kraftlos, als er dem jungen Adligen und dem kleinen Mädchen den Rücken zudrehte und mit gesenktem Blick in das silberne Meer aus Nacht und Wiesen eintauchte. „Schaut mal! Schaut mal! Misty sieht Liiiiiiichter!!!“ Die kleine Blauhaarige kreischte vergnügt und vollführte einen erstaunlich lebendig wirkenden Tanz über die staubig schwarzbraune Erde zu ihren Füßen. „Tatsächlich!“ Auf Rayos Gesicht breitete sich ein Ausdruck tiefster Erleichterung aus. Er lächelte. „Das bedeutet, wir haben es endlich geschafft. Das schönste Ereignis dieser grauenvollen Nacht, meint ihr nicht?“ „Schon klar…“, murmelte Shinya, ohne der Freude des Blondschopfes wirklich Beachtung zu schenken. Er blickt starr auf die hell erleuchtete Mauer aus kleinen, geduckten Häuschen, die mit ihren schmiedeeisernen Laternen und den schmalen, verwinkelten Gässchen einen warmen Willkommensgruß in Richtung der nächtlich Reisenden sandten. Auch wenn er zweifellos nicht weniger erschöpft war als Rayo und sich ebenso wie dieser nach einem weichen Bett und einer warmen Decke sehnte, blieb das erwartete und ersehnte Gefühl von Freude über die späte Ankunft vollständig aus. Es war ernüchternd. Wieder einmal hatte er es geschafft, dass Hoshi wütend auf ihn war – und er wusste nicht einmal, ob er dieser Wut nun mit Reue oder ebensolchem Zorn begegnen sollte. Was erwartete sie eigentlich von ihm? Sie sah doch selbst, dass Noctan dieses zielsichere Talent besaß, ihm quasi ohne Unterlass auf seinen Nerven herumzutrampeln, und überhaupt schien er von solch unbedeutsamen Kleinigkeiten wie Freundlichkeit oder Rücksichtname gegenüber anderen Menschen (beziehungsweise Halbdämonen) noch niemals im Leben etwas gehört zu haben. Und wieder war da diese Frage, die er sich so oft schon vergeblich gestellt hatte und die er sich am liebsten niemals mehr gestellt hätte, weil sie doch so unbeschreiblich sinnlos und so überflüssig war, dass es fast schon schmerzte. Dieses hartnäckige und beinahe unerträgliche Warum ich?, das er einfach nicht loswerden konnte und doch so gerne loswerden wollte. Warum musste er sich mit diesem gefühlskalten, streitsüchtigen Menschen herumschlagen, warum er, warum nicht Phil? Aber natürlich war es wieder einmal vollkommen nutzlos, seinem alten unliebsamen Bekannten die Pest oder besser gesagt Noctan an den Hals zu wünschen, denn jetzt war der Weißhaarige nun mal da und er konnte es auch nicht mehr ändern. Noch während sich seine Wut langsam aber sicher in tiefe Resignation wandelte, kam Shinya zu einer Erkenntnis der ganz anderen Art, die mit all seinen trüben und trägen Gedanken übrigens nicht das Geringste zu tun hatte: Midras war um einiges größer, als es die niedlichen kleinen Häuser und das Labyrinth aus Kopfstein, von Efeu umrankten Mauern und engen Gassen zunächst einmal hatten erahnen lassen. Es dauerte lange, bis die jungen Estrella in dem verzweigten Straßengewirr endlich eine kleine Herberge gefunden hatten. „Sagt mal, Leute…“ Der Halbdämon blickte verstohlen in die Runde, wobei er Hoshis Gesicht möglichst unauffällig überging. „Haben wir überhaupt noch Geld?“ „Gratuliere – das fällt dir aber wirklich genau im richtigen Augenblick ein“, murmelte Noctan und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine der weißen Außenwände des Nachbarhauses. „ Aber gut – der Schwarzmarkt in der Stadt schließt niemals seine Pforten und zur Not müssen wir eben irgendwas verkaufen. Shinya… hast du da nicht diese alberne Kugel bei dir…?“ „Noctan!“, fuhr Hoshi den Weißhaarigen an, noch bevor Shinya zu einer Antwort ansetzen konnte. Durch ihre Lippen lief ein leises aber ungemein zorniges Beben. „Ihr müsst euch wirklich nicht aufregen!“ Zur Abwechslung war es diesmal Rayo, der sich beschwichtigend in das Gespräch einmischte. „Ich dürfte noch genügend Geld bei mir haben, um… eine derartige… Unterkunft zu bezahlen.“ Der Blondschopf kramte in einer der Taschen seiner dunkelblauen Uniform herum und zauberte schließlich einen kleinen, leise klimpernden Lederbeutel daraus hervor. „Was habe ich gesagt? Damit dürfte unserer Nachtruhe wohl nichts mehr im Wege stehen, oder?“ Shinya nickte kurz, ohne den jungen Adligen dabei anzusehen, dann stieß er die Türe auf und trat in die Gaststube ein, die im schummrigen Licht der Lampen noch viel kleiner wirkte, als das steinerne Haus von außen ohnehin schon vermuten ließ. Er fühlte sich wie in Trance, als er sich an den beinahe leeren Tischen vorbei zur Theke hindurchschlängelte und dort fünf Betten bezahlte. Er ging und sprach und zahlte sogar, ohne wirklich davon Notiz zu nehmen. Vor seinen Augen hing ein weißlich grauer Schleier und Geräusche gab es sowieso schon lange nicht mehr. Irgendwie musste er sich danach wohl die Treppe hinauf in den Gemeinschaftsschlafraum und in sein Bett gequält haben, jedenfalls nahm er irgendwann noch ganz am Rande eine wunderbar süße Wärme war, die seinen Körper von allen Seiten her umfing. Dann schlief er ein ohne zu bemerken, dass er in den vergangenen Minuten überhaupt noch wach gewesen war. In dieser Nacht war Shinyas Schlaf so tief und so ruhig, dass er nicht einmal mehr träumte. Vielleicht lag es daran, dass er nach langer Zeit endlich wieder in einem echten Bett mit einer echten Matratze und einer echten Decke und vor allem einem unbeschreiblich luftig weichen Kissen schlafen durfte, und zwar nicht unter freiem Himmel, sondern zwischen vier sicheren, massiven Wänden. Da war nichts, was plötzlich über ihn hereinbrechen, ihn verschlingen, zerfetzen oder einfach nur ausrauben konnte, sondern einfach nur frisch gewaschener Stoff und ein bisschen staubige Nachtluft, und kein Grillenzirpen oder Windheulen durchbrach die Stille der Nacht. Umso mehr erschreckte es Shinya, als sich plötzlich doch eine Stimme in sein Bewusstsein stahl und ihn mit leisen, undeutlichen Worten zu erreichen versuchte, was ihr allerdings zunächst einmal nicht gelang. Es war, als ob die süßen Töne aus weiter Ferne wie durch einen dichten Nebelschleier hindurch zu ihm vordringen würden, und obwohl er nichts verstand, wusste er dennoch bald, dass da jemand seinen Namen rief. Als er endlich auch begriff, dass es Hoshis Stimme war, die so gedämpft und verzerrt durch seinen Kopf hallte, bemerkte er zum ersten Mal, dass er nicht mehr schlief und schon gar nicht mehr träumte. Er lag eingekuschelt und von dicken Stoffbahnen behütet im Bett ihrer Herberge, und der simple, alles andere als übernatürliche Grund dafür, dass er die Worte seiner Freundin nicht gleich hatte verstehen können, war der, dass er sich ein Kissen über den Kopf gezogen hatte. „Shinya? Shinya, jetzt wach schon auf!“ Der Katzenjunge linste vorsichtig unter dem weißen Stoff hervor und verzog das Gesicht, als sich ein Schwall blendenden Lichtes in seine Augen ergoss. „Shinya! Es ist schon nach Mittag und wir haben zu tun, also steh endlich auf! Ich weiß, dass du wach bist.“ Die Dunkelhaarige holte tief Luft, dann beraubte sie Shinya mit einer energischen Bewegung seines kuschelig weichen Schutzschildes. „Morgen, Hoshi…“, grummelte der Halbdämon verschlafen, bevor er sich lustlos aufrappelte und seine müden, leicht brennenden Augen rieb. Er gähnte und streckte sich bewusst ausgiebig und wandte sich dann zögerlich dem dunkelhaarigen Mädchen zu. „Sag mal… du bist doch wohl nich immer noch böse wegen… wegen gestern?“ „Seh ich etwa so aus, als ob ich’s nicht wär?“ Die Lichtmagierin strich sich eine ihrer langen dunklen Haarsträhnen aus der Stirn und sah mit einem mehr als offenkundigen Vorwurf in den tiefbraunen Augen zu Shinya hinab. „Ich habe noch nie in meinem Leben etwas Kindischeres gesehen als euch beide und eure ewigen Streitereien!“ „Ja! Ja, ich hab’s kapiert, aber Noctan…“ „Nein! Nicht Noctan! Ich mag ihn doch auch nicht, aber lege ich mich deshalb ständig mit ihm an? Genau das ist es, was mich aufregt und genau das scheinst du aus irgendeinem Grund nicht einzusehen! Aber bitte…“ Hoshi wollte sich abwenden, aber Shinya ließ seine Hand mit einer sogar erstaunlich schnellen Bewegung nach vorne schnellen (wie gut, dass Reflexe keinen wachen, ausgeruhten Geist voraussetzten) und schloss seine Finger fest um ihren Unterarm. „Na schön, dann eben nicht Noctan! Ich weiß, ich… hätt manche Dinge vielleicht auch nicht sagen sollen… wenigstens nicht so… und ich versteh auch, warum du jetzt wütend bist, aber… das wollt ich echt nicht. Ich bin nicht du! Ich kann nich einfach immer meine Klappe halten, wenn der mich aufregt! Aber ich… ich… ach, verdammt, es tut mir ja leid!“ „Bist du jetzt fertig?“ In Hoshis Stimme lag immer noch jener entnervte Unterton, der bereits in der vergangenen Nacht die übliche Sanftheit daraus vertrieben hatte. Shinya schluckte und fühlte sich mit einem Mal wie ein geprügeltes Kind. Er wollte irgendetwas sagen, aber ihm fehlten wieder einmal die Worte und so ließ er nicht nur den Blick sinken, sondern auch seine eben noch so entschlossen zupackende Hand, der binnen weniger Sekunden jegliche Willenskraft verloren gegangen war. „Stehst du dann endlich auf?“, seufzte die Dunkelhaarige und ergriff nun ihrerseits Shinyas Handgelenk, um ihn ruckartig auf die Beine zu ziehen. „Hey, jetzt mach aber mal langsam!“, keuchte der Katzenjunge und musste dann erst einmal mit seinem Gleichgewicht kämpfen, als sein schlaftrunkener Kreislauf mit einem heftigen Flirren vor seinen Augen zu einer überaus unangenehmen Art des Protestes ansetzte. „Schon klar, du bist grad nich so gut auf mich zu sprechen und alles, aber ich… ich bin grad erst aufgewacht! Ich meine… hallo, ich penn doch noch halb! Machen die anderen da unten irgendwie Stress, oder warum musst du mich jetzt so rumscheuchen?“ „Damit ich dich endlich bestrafen kann, du Idiot!“, fuhr Hoshi den jungen Estrella an. Sie hatte die Arme in die Seiten gestemmt und die Augenbrauen drohend zusammengezogen, doch ihre dunklen Augen blitzten und bei jedem ihrer Worte lief ein leises Zucken durch ihre Mundwinkel. Dann plötzlich lachte sie und warf sich Shinya um den Hals. „Fantastisch! Grandios! Ich liebe diese Stadt!“ Noctan rollte sichtlich entnervt mit seinen tiefvioletten Augen. „Aber könnte mir vielleicht bitte mal einer verraten, wo denn nun all die tollen Magier und Seher und was weiß ich nicht alles hinverschwunden sind? Warum sind wir nicht einfach gleich in einen der Läden am Marktplatz gegangen?“ „Dahin, wo Zeichen und Wunder über der Türe stand, oder doch lieber in das Orakel der blühenden Weisheit?“ Shinya seufzte dem stahlblauen Himmelstuch entgegen. „Jetzt denk mal scharf nach, warum nicht…“ „Tja, nur dummerweise scheint es in diesem ganzen verfluchten Nest hier überhaupt nichts anderes als Möchtegernmagier und Pseudopropheten zu geben, die mit Goldstücken in ihren angeblich blinden Augen durch die Welt laufen!“ Der junge Estrella strich sich mit einer ungeduldigen Bewegung durch sein schneeweißes Haar. „Was machen wir eigentlich noch hier?“ „Wartet mal, ich glaube, ich habe gerade etwas gesehen!“, verkündete Rayo plötzlich und deutete mit einem erwartungsvoll aufgeregten Leuchten in den dunkelblauen Augen auf ein Haus am Ende der schmalen, leicht gewundenen Gasse, die sich wie so viele andere vom zentralen Platz der mehr oder minder magischen Stadt Midras abspaltete. Eine schwere, ebenholzfarbene Türe nahm einen großen Teil der weißen Front ein, die sich eigentlich gar nicht sonderlich von denen der umstehenden Häuschen abhob. Auffällig waren lediglich die kleinen Fenster, die von innen mit tiefvioletten Vorhängen verhängt waren, über die sich in feinen Goldstickereien magische Schutzsymbole und Runen zogen. „Ich weiß was du meinst“, nickte Hoshi. „Das Ding hat was. Am besten, wir schauen es uns einfach mal aus der Nähe an!“ Tatsächlich musste Shinya direkt vor die niedrige Türe treten, die etwas unterhalb der Straße lag und über eine schmale Steintreppe erreicht werden konnte, um ein schmuckloses Schild aus hellem Holz zu bemerken, das am weißen Stein neben dem Eingang angebracht war und die Inhaberin als „Hanako, Seherin und Kartenleserin“ auswies. „Unaufdringlich!“, stellte der Katzenjunge anerkennend fest. „Mal was anderes. Sollen wir’s wagen?“ „Also, schaden kann es uns bestimmt nicht!“, lachte Hoshi und machte eine aufmunternde Kopfbewegung in Richtung des runden, golden lackierten Türgriffs. Shinya tauschte noch ein letztes bekräftigendes Nicken mit seiner Freundin aus, dann drehte er das seltsam warme Metall von einem leisen Klicken begleitet in der Fassung herum und trat ein. Er wurde begrüßt von violetten Rauchschwaden, die sich ihm augenblicklich entgegenschlängelten, ohne jedoch unangenehm in Hals oder Augen zu brennen. Derselbe transparente Nebelschleier erfüllte den gesamten Raum, der sich in überaus bescheidenen Ausmaßen vor ihm erstreckte. In den vier Ecken des Zimmerchens waren hohe silberne Kerzenständer platziert, deren träge flackernder Schein das trübe Dämmerlicht unterstütze, das sich seinen Weg durch den schweren Stoff der Vorhänge bahnte. Die Wände waren mit dunklem, leicht schimmerndem Holz verkleidet und von der ebenso finsteren Decke baumelten silbern funkelnde Anhänger und Ketten herab. Shinya war augenblicklich wie gefangen von der unwirklichen Atmosphäre des Zimmers und achtete erst im zweiten oder dritten Augenblick auf die Gestalt, die in unzählige Seidentücher gehüllt auf einem Kissen mit goldenen Borten genau in der Mitte der vier Kerzenständer saß. Es war eine alte Frau mit schneeweißer Haut, deren langes, kunstvoll aufgestecktes und mit Goldschmuck verziertes Haar silbergrau schimmerte. Eine schwarze Binde verdeckte ihre Augen. Sie blickte erst auf, als die Türe mit einem unpassend lauten Knall wieder ins Schloss gefallen war. „Willkommen, meine jungen Freunde. Tretet näher und sagt mir, wie kann ich euch helfen?“ Shinya erschauderte, als aus dem Mund der Alten eine vollkommen klare, glockenhelle Kinderstimme erklang, die gar nicht weniger zu ihrem äußerlichen Gesamtbild hätte passen können. Er war im ersten Moment sogar derart perplex, dass es ihm buchstäblich die Sprache verschlug – ein Fehler, den ein gewisses blauhaariges Mädchen offensichtlich als Einladung verstand, denn sie hüpfte vergnügt strahlend an dem Halbdämon vorbei und verbeugte sich unnötigerweise in Richtung der blinden Frau. „Aaaalso, das ist ganz einfach! Misty und ihre Freunde sind nämlich Es…“ „…eeeinige junge Magier auf der Suche nach, ähm… Wissen! Wissen… und Erfahrung.“ Shinya hielt dem kleinen Mädchen hastig eine Hand vor den Mund und bedachte das ebenso unschuldig wie verwirrt dreinblickende Wesen mit einem strafenden Blick. „Soso, Wissen?“ Das Lachen der Frau mutete noch ungleich kindlicher an als ihre Sprechstimme. „Und dann auch noch Erfahrung! Überaus lobenswert. Und es wird mir eine Ehre sein, euch diese Schätze vermitteln zu dürfen. Es ist wahrlich lange her, dass sich die letzten Estrella in meine bescheidenen Gemäuer verirrt haben.“ Shinyas Augen weiteten sich. „Ja, aber…“ „Woher ich es weiß?“ Ein mildes Lächeln breitete sich auf Hanakos Lippen aus, und einen Moment lang schien es, als würden die vier Kerzen von einem sachten Windstoß bewegt, obgleich die nebelschwere Luft unverändert drückend im Raum stand. „Ihr heiligen Krieger, Beschützer des Planeten, ich könnte niemals die Aura jener uralten Kraft vergessen, die euch wie ein strahlendes Licht umhüllt. Ich habe mich seit der ersten Begegnung mit dieser Aura danach gesehnt, sie nur noch ein einziges Mal spüren zu können, und das ist wahrlich lange her… nichts würde ich lieber tun, als euch auf eurem langen Weg behilflich zu sein.“ „Hmm…“ Hoshi musterte die Frau mit einem nachdenklichen Blick. „Ihr sagt, ihr hättet schon einmal Estrella getroffen…“ „Aber ja. Es gab schon viele Generationen vor euch, wusstet ihr das nicht? Erlischt ein Stern, wird irgendwo ein anderer aufleuchten und den Himmel an seiner Stelle erhellen. Es kommt jedoch nicht oft vor, dass sich alle Krieger zusammenfinden. Das Sternbild droht anscheinend zu zerfallen, und das ist wohl kein gutes Zeichen…“ Shinya runzelte die Stirn und sah mit ernster Miene auf die blinde Seherin hinab. „Mir wurde gesagt, dass der Planet untergehen wird und ich das Ganze verhindern soll, indem ich irgend so ein Gleichgewicht wieder herstelle und unsere Gegner besiege… oder so ähnlich…“ Das Lächeln auf Hanakos Gesicht erlosch, und spontan erfüllte den Katzenjungen die äußerst unangenehme Gewissheit, irgendetwas unvorstellbar Dummes gesagt zu haben. Er biss sich auf die Lippe und war reichlich erstaunt, als die folgenden Worte der Seherin weder herablassend noch tadelnd oder gar vorwurfsvoll, sondern vielmehr aufrichtig mitfühlend klangen. „Du bist noch jung, mein Kind der Nacht, ihr alle seid noch so jung… eure Gegner… ihr sprecht von dem Sonnenkrieger, nicht wahr?“ „Alias Phil, genau!“ Der Katzenjunge bleckte die Zähne. „Der hat da irgendwas von einer komischen Vereinigung gefaselt, Dies Ultima, glaub ich, mit der er irgendwie im Bunde stehen will… was is das eigentlich?“ „Dies Ultima…“ Der Halbdämon spürte plötzlich, wie ihn die Alte hinter dem schwarzen Band mit ihren blinden Augen fixierte, ja förmlich anstarrte, und obwohl das natürlich absurd war und ja eigentlich nur seiner Einbildungskraft entspringen konnte, schien die Temperatur in dem kleinen Raum schlagartig um etliche Grade zu fallen. „Diesen Namen habe ich schon lange nicht mehr gehört… vielleicht zu lange… ich habe seine Bedeutung vergessen. Dies Ultima, das bedeutet Letzter Tag. Mehr vermag ich euch nicht mehr zu sagen… verzeiht.“ Shinya war zutiefst erleichtert, als die Seherin ihren Blick senkte, und ließ dann seinerseits die Augen in Richtung Hoshi schweifen. Das Mädchen sah ihn ebenfalls an und nickte kurz, so als ob sie in seinen Gedanken gelesen hätte, doch auch der Katzenjunge verstand ihre wortlose Geste sofort und wunderte sich deshalb nicht mehr länger über diese scheinbare Gabe der Telepathie. Er wusste, dass sie dasselbe dachte wie er und dass sie sich ebenso wie er nicht jetzt und schon gar nicht vor dieser merkwürdigen Frau darüber austauschen wollte, und diese stumme Vereinbarung einer späteren Unterhaltung beruhigte ihn ungemein. „Is ja auch egal“, lenkte er hastig ein und hob beschwichtigend seine Hände, obwohl er doch eigentlich wusste oder zumindest hoffte, dass Hanako ihn überhaupt nicht sehen konnte. „Ich hab aber noch ne ganz andere Frage, also jetzt nicht direkt zu dem Thema. Wir wollen nämlich in diese komische alte Stadt, dieses… Lluvia… Ihr wisst schon, von wegen Fluch und Magier und so. Wir wissen nur dummerweise nicht, wie man dorthin kommt…“ Die Alte gab erneut ihr kindliches Lachen von sich. „Ihr wollt also tatsächlich die verfluchten Ruinen Lluvias aufsuchen?“ Sie verharrte einen Augenblick in atemloser Stille, dann schüttelte sie langsam ihren Kopf. „Versteht mich nicht falsch – ich bin sehend, aber gerade deswegen halte ich nicht viel von kindischem Aberglauben. Ich sehe euer Ziel vollkommen klar und der Weg, den ihr gewählt habt, ist vielleicht ungewöhnlich, aber deswegen nicht unbedingt schlecht. Ihr werdet in Lluvia sicherlich Antworten auf so manche eurer Fragen finden, aber wollt ihr wirklich den Preis dafür zahlen? Wisst ihr nicht, wie viele neue Fragen jede Antwort aufwerfen kann? Wollt ihr eure Hände wirklich mit dem Blut der unwissenden Sünder beflecken?“ „Meine Hände sind schon befleckt genug, vielen Dank, und wenn wir nicht nach Lluvia wollten, hätten wir wohl kaum danach gefragt.“ Noctans kalte Stimme schwankte zwischen Ungeduld und entnervter Wut. „Das ahnte ich bereits, Mondkrieger, es gibt also keinen Grund zur Aufregung“, entgegnete Hanako mit einem verzeihenden Lächeln auf den grauen Lippen. „So soll es also sein, ich verrate euch den Weg und der Rest liegt bei euch. Passt gut auf: Etwa zwei Wegstunden südlich von Midras werdet ihr eine Bucht finden. Von einer kahlen Anhöhe werfen drei Steine den Mondschatten auf den Strand hinab und er streckt sich sehnsüchtig zu den schwarzen Wellen hin. Doch nur wenn der Mond als voller Kreis am Himmel steht, vermag jener Schatten das schlafende Meer zu berühren. Dann wird ein Schiff kommen und den bleichen Fingern der Drillingssteine entgegensegeln. Wartet nun, geht ihm nicht entgegen, und es wird anlegen. Geht an Bord, aber bleibt unbedingt unter Deck und seht niemals aus einem der Bullaugen, niemals, hört ihr?“ Shinya nickte wie automatisch, und plötzlich fiel ihm auf, wie benommen er sich fühlte. Er wusste nicht, ob es an dem violetten Nebel lag, den er nun schon seit mehreren Minuten einatmete, aber ihm war, als ob die Worte der Seherin nicht von außen an seine Ohren dringen, sondern vielmehr direkt in seinem Kopf wiederhallen würden. Schrecklicherweise war ihm diese Erkenntnis nicht einmal mehr unheimlich. Jeder seiner Sinne war wie betäubt, und auch seine Gedanken gehorchten ihm nicht mehr, sondern klammerten sich ganz an die glasklare Stimme der alten Frau. „Wenn der Mond über der Bucht verblasst ist, dann wird die schwarze Barke an der Küste Lluvias anlegen. Verlasst euer Gefährt sofort und blickt erst zurück, wenn ihr alle wieder Land unter den Füßen spürt, nicht früher. Folgt meinen Anweisungen und ihr werdet sicher ankommen und auch wieder zurückkehren. Aber… was auch immer passieren mag, seid vorsichtig, bleibt in jedem Fall zusammen und verlasst euch auf euer Gefühl, nicht auf eure Augen und Ohren…“ Die silberhaarige Frau musste sich mittlerweile mit beiden Armen abstützen, dennoch bebte ihr Körper bei jedem Wort, das sie mühsam aber unvermindert eindringlich über ihre Lippen brachte. Erschöpfung schien ihre Glieder wie eine rasend schnell voranschreitende Seuche zu befallen und ihr Atem ging schwer. Shinya war sogar außerordentlich froh, dass er ihre Gestalt nicht mehr deutlich erkennen konnte. „Brecht in zwei Tagen auf, wenn die erste Vollmondnacht gekommen ist, und kehrt bei Vollmond zurück… und denkt stets an meine Worte, hört ihr? Viel… viel Glück, junge Krieger… und… und nun geht… geht!“ Mittlerweile war es Shinya unmöglich geworden, die sich immer weiter ausbreitende Kälte als ein bloßes Produkt seiner Fantasie abzutun, denn sein Körper hatte zu zittern begonnen und sein Atem kristallisierte zu weißen Wolken, kaum dass er seinen Mund verlassen hatte. Auch der violette Rauch schien in der eisigen Luft zu gefrieren, während die Flammen der silbernen Kerzenleuchter wie in Todesangst pulsierten und flackerten. Der Katzenjunge wich zurück, bis er das Holz der dunklen Türe hart und kühl in seinem Rücken fühlte, öffnete sie mit zitternden Fingern und machte einen Satz ins Freie hinaus. Seine Gefährten folgten ihm beinahe ebenso schnell, doch Shinya achtete gar nicht mehr auf sie, sondern rannte taumelnd weiter und blieb erst stehen, als er aus den Schatten der Gasse hinaus auf den belebten, sonnenbeschienenen Marktplatz gestolpert war. Er stützte seine Arme auf die Knie und sog keuchend die warme, lebendige Luft in seine schmerzenden Lungen ein. „Die… die war irgendwie ganz schön… unheimlich.“ Hoshi lächelte unbeholfen und vergewisserte sich mit einem raschen Rundumblick davon, wieder in die gewohnt normale und angenehm unmagische Umgebung zurückgekehrt zu sein. „Na, das kannst du laut sagen…“, murmelte Shinya und rieb sich die kalten Handflächen aneinander. „Aber immerhin… immerhin kennen wir ja jetzt den Weg, oder?“, bemühte sich Rayo um aufmunternde Worte, um den letzten dunklen Schleier zu vertreiben, der zwischen ihnen und dem sonnenbeschienen Alltagstreiben der Magierstadt schwebte. „Vorausgesetzt natürlich, wir glauben an Geisterschiffe.“ „Falls du eine Alternative dazu weißt, kannst du dich ja gerne konstruktiv an unseren weiteren Plänen beteiligen, Noctan“, entgegnete Shinya betont ruhig und strich sich durch sein braunes Haar. „Aber Lluvia hin oder her – was ich im Moment viel wichtiger finde…“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause und sah seine Gefährten ernst an. „Phil hat da anscheinend einen Pakt mit irgendeiner Macht geschlossen, von der er keine Ahnung hat. Ich meine… Letzter Tag… vielleicht bin ich ja nur voreingenommen, aber für mich hört sich das gar nicht nett und freundlich an…“ „Du meinst, dass er eine Art… Pakt mit dem Bösen geschlossen hat, oder?“ Rayo sah Shinya mit großen Augen an. „Irgendwie… kann ich’s nicht glauben…“ Hoshi legte nachdenklich eine Hand an ihr Kinn. „Weißt du, im ersten Moment hab ich ja genau das Gleiche gedacht, aber wenn ich jetzt so drüber nachdenke… meinst du wirklich, dieses Gerede von einer perfekten Welt, das war alles nur gelogen? Aber warum?“ „Ich sag’s ja nicht gern, aber – eigentlich trau ich’s Phil eben auch nicht zu. Er ist vielleicht ein selbstgerechtes Großmaul mit nem verflucht schlechten Humor, aber… irgendwie ist er kein bisschen der Typ dafür, so im Hintergrund Intrigen und böse Pläne zu spinnen. Dafür ist er viel zu…“ Der Katzenjunge verzog das Gesicht. „…viel zu gut. Oder zumindest fühlt er sich so. Ich denk eher, dass Phil wirklich an diese ganze Paradiesgeschichte glaubt. Der ist so blöd und meint, dass er für eine gute Sache kämpft, obwohl diese komischen Dies Ultima-Typen wahrscheinlich genau das Gegenteil von dem wollen, was sie ihm erzählt haben…“ „Du meinst, sie nutzen ihn die ganze Zeit nur aus?“ Die Lichtmagierin stieß geräuschvoll die Luft zwischen ihren Zähnen hervor. „Das würde natürlich mehr Sinn ergeben. Auch wenn ich eine Sache immer noch nicht ganz verstehe: Wenn diese Magier doch so wahnsinnig mächtig sind… wofür brauchen sie dann ausgerechnet Phil? Warum geben sie ihm solche Zauber, die sie selbst wahrscheinlich noch hundertmal besser können? Das begreif ich nicht.“ „Ist das denn wirklich so schwer?“ Noctan zuckte mit den Schultern. „Diese ganze Vereinigung kann noch so mächtig sein – eine Sache hat Phil ihnen immer noch voraus.“ „Und das wäre?“ Shinya sah den Weißhaarigen zweifelnd an. „Er ist ein Estrella.“ „Ein… natürlich!“ Hoshi schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Sie brauchen ihn, weil er ein Estrella ist! Folglich muss Phil als Estrella irgendetwas tun können, was selbst diese Übermagier nicht hinbekommen, also pumpen sie ihn mit Magie voll und reden ihm irgendwelche schönen Geschichten von einem perfekten Leben ein…“ „…damit er uns davon abhält, den Planeten zu retten!“, brachte Shinya den Satz mit einem aufgeregten Flackern in den smaragdgrünen Augen zu Ende. „Das ist aber gemein!“, rief Misty und verzog das Gesicht. Der Halbdämon verstand nicht ganz, weshalb, aber er konnte nicht über die wütende Grimasse des kleinen Mädchens lachen. Er nickte nur schwach und sah dann zu Boden. „Leute… ich mag Phil zwar nicht, aber das geht wirklich zu weit! Wir müssen ihn irgendwie warnen!“ „Erst einmal müssen wir nach Lluvia. Wir können auf keinen Fall mehr bis zum nächsten Vollmond warten! Außerdem… wer weiß, vielleicht treffen wir ihn dort ja sogar?“ Hoshi musste grinsen. „Bislang sind wir ihm jedenfalls schon weit öfter über den Weg gelaufen, als mir lieb war. Rein zufällig, versteht sich.“ „Wir haben ja auch rein zufällig ein ähnliches Ziel… irgendwie…“ Shinya kratzte sich hinter einem seiner Katzenohren. „So oder so – wir haben noch zwei Tage Zeit bis zum Vollmond. Was machen wir?“ „Ich hätte da schon so eine Idee…“ Die Dunkelhaarige warf sich den Kopf in den Nacken und blickte lächelnd zu dem weiten blauen Himmelszelt hinauf. „Noch ist Sommer und wir können im Augenblick ja sowieso nichts mehr Sinnvolles machen. Also… was spricht dagegen, dass wir uns hier einfach noch ein bisschen amüsieren?“ Shinya stolperte lachend aus der Türe des kleinen Casinos hinaus, das sich verstohlen in eine der dunkleren Gassen von Midras drängte, trotz seiner verborgenen Lage jedoch immer noch überaus gut besucht war. „Wie der Typ geschaut hat, als Misty ihm das Gold in die Hand gedrückt hat… das war so gut!“ Der Katzenjunge prustete erneut los und musste sich die Tränen aus den Augen wischen, um seine finstere Umgebung wieder klar erkennen zu können. „Aber wie! Also, ich verstehe gar nicht, wieso der uns rausgeworfen hat, ihr etwa?“, kicherte Hoshi. „Hm… war es eventuell, weil ihr die anderen Gäste belästigt und den ganzen Betrieb aufgehalten habt? Nein, bestimmt nicht.“ „Noctan!“ Das Mädchen bedachte den Weißhaarigen mit einem strafenden Blick. „Wie kannst du in so einer Situation noch so kalt bleiben?“ Sie schüttelte den Kopf und seufzte tief. „Das war doch wirklich witzig! Jetzt lach doch auch mal!“ „Ha, ha, ha!“ Noctan verdrehte die Augen. „Ihr versteht es wirklich, eure Aufgabe ernst zu nehmen.“ „Meine Güte! Ernst, ernst, man kann es auch übertreiben mit all dem Ernst! Du…“ „Haben sie etwas Geld für mich, bitte?“ Hoshi wurde von einem dünnen Stimmchen unterbrochen, und als Shinya sich herumdrehte, sah er, dass sich ihnen ein kleines Mädchen genähert hatte, das in ihrem abgetragenen Röckchen und dem ausgebeulten, löchrigen Mantel noch dünner und zerbrechlicher wirkte, als es ohnehin schon war. Ihre Haut war bleich, das dunkelblonde Haar strähnig und ihre glanzlos grauen Augen viel zu groß für das schmale Gesichtchen. Der Katzenjunge schluckte schwer. Es war offensichtlich, dass die Kleine vollkommen arm und höchstwahrscheinlich heimatlos war, und er las in ihrem Blick jene ihm allzu vertraute Angst vor dem nahenden Herbst und den langen Wintermonaten. Er wollte gerade ein paar Kupferstücke aus seinem Beutel hervorkramen, als ihm Rayo zuvorkam. „Nein, wir haben nichts! Warum müsst ihr Bettler einen eigentlich andauernd belästigen?“ Auf das Gesicht des jungen Adligen trat ein derart wütender Ausdruck, dass die kleine Blonde leicht zusammenzuckte und erschrocken einen Schritt zurückwich. „Rayo! Wie… wie kannst du so etwas sagen?“ Hoshi starrte den blonden Jungen sichtlich entgeistert an. „Hey, soll ich jetzt eifersüchtig werden? Normalerweise sind Blicke dieser Art doch für mich reserviert…“ Noctan lächelte kühl, während Rayo unbeirrt und in reichlich trotzigem Tonfall fortfuhr: „Wie ich so etwas sagen kann? Ich werde nun einmal nicht gerne von derartigen… Kreaturen angebettelt!“ Der Blondschopf verschränkte die Arme vor der Brust und hob sein Kinn ein Stückchen weit an. „Ich kenne dieses Spielchen doch! Man muss nur einen Augenblick Mitleid haben und mit diesen doch so furchtbar armen Straßenkindern sprechen, und schon schleicht sich von hinten irgendein Dieb an und stiehlt einem das Gold aus der Tasche. Wer sagt mir, wofür sie das Geld wirklich brauchen, und… und ob sie überhaupt wirklich so arm sind, wie sie tun? Wie auch immer, das alles ist ganz gewiss nicht meine Sorge, und ich sehe auch nicht ein, warum ich mich mit derartigen Dingen befassen sollte.“ „Rayo!!“ Shinyas Stimme und auch seine Fäuste zitterten vor Wut. „Was soll das? Bist du jetzt komplett durchgeknallt oder wie?“ „Wie redest du eigentlich mit mir?“ Der junge Adlige warf sich sein langes blondes Haar über die Schulter. „Ich… ich habe mich während der Reise noch kein einziges Mal beschwert! Meinst du, es macht mir Spaß, in derart heruntergekommenen Herbergen oder sogar unter freiem Himmel zu schlafen? Ich bin nun einmal… andere Gesellschaft und ganz gewiss auch andere Bewirtung gewohnt, aber habe ich je etwas dazu gesagt? Nun muss ich mir doch wohl nicht auch vorschreiben lassen, was ich zu sagen und zu denken habe, oder?“ „Oder? Oder? Oder? Habe ich eigentlich jemals gesagt, wie sehr mir dein ewiges oder auf die Nerven geht?“ In Noctans Augen trat ein derart zorniges Funkeln, dass selbst Shinya für einen Moment seine Aufregung vergaß und wie mechanisch einen Schritt vor dem Weißhaarigen zurückwich. „Was soll das heißen, mein ewiges oder?“ In Rayos Stimme trat ein leises Beben, während er mit jedem Wort lauter und aufgebrachter sprach. „Meine Güte! Wenn ich dieser Plage nichts geben möchte, weil ich es langsam mehr als satt habe, andauernd von so etwas belästigt werden, dann ist das mein gutes Recht, und wenn ich jetzt aus dieser schrecklichen Gegend weggehen und etwas essen will, dann muss ich ja wohl nicht extra um die Erlaubnis unseres ach so mächtigen Anführers betteln, oder?! Und wenn…“ Weiter kam der Blondschopf nicht, denn noch bevor er seinen Satz zu Ende bringen konnte, holte Noctan mit einer blitzartigen Bewegung aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Rayo schnappte nach Luft, riss seine tiefblauen Augen weit auf und legte langsam, wie benommen eine seiner Hände auf den großen roten Fleck, der sich deutlich von der blassen Haut seines Gesichtes abzeichnete. „Du hast keine Ahnung, wovon du redest!“ Noctans Worte klangen erstaunlich ruhig, aber gerade diese düstere Kälte ließ sie nur noch ungleich bedrohlicher wirken. „Ich will dies, ich will das, oder? Wie kannst du dir in deiner kindischen Arroganz nur einbilden, anderen Menschen Befehle erteilen zu können? Du möchtest nicht um Erlaubnis betteln? Welch Tragik! Du scheinst gar nicht zu merken, was dieses verfluchte oder, nicht wahr, meint ihr nicht die ganze Zeit über aus jedem deiner Sätze macht! Es ist so erbärmlich…“ „Du… du… was bildest du dir eigentlich ein?“ Rayo starrte den jungen Weißhaarigen fassungslos an, während sich seine zitternden Hände ruckartig zu Fäusten ballten. „Du bist der Letzte, der mir etwas zu befehlen hat!“ „Gewiss doch! Aber bei dir ist es natürlich etwas ganz Anderes. Wir fahren auf diese Insel, wir nehmen jenes Boot, aber ich bin leider zu fein zum Rudern, oh Gott, und jetzt belästigt mich auch noch diese niedere Kreatur, ach wie grauenvoll ist doch mein Leben!“ Noctan stieß ein kaltes, gehässiges Lächeln aus, das Shinya unweigerlich einen Schauder über den Rücken jagte. „Weißt du, was ich dir schon lange sagen wollte? Dein wundervoller Adelstitel, den du zufällig trägst, macht alles andere als einen besseren Menschen aus dir und ich habe eigentlich schon seit unserer ersten Begegnung genug davon, ständig mit ansehen zu müssen, dass du dich offensichtlich für genau das hältst. Du tust mir leid, Rayo, du tust mir wirklich leid. Trotzdem muss ich mir das nicht länger antun – da ist mir die Gesellschaft unserer schäbigen Herberge doch ungleich lieber. Kommt… lassen wir dem reichen Kindchen seine Launen…“ Mit einem letzten eisigen Lächeln in Richtung des Blondschopfes drehte er sich um und ging langsam die finstere Gasse hinab. Die Erste, die ihm folgte, war überraschenderweise Misty. „Noctan… Noctan ist zwar auch nicht nett, aber er hat Recht! Du darfst nicht so gemein zu dem armen Mädchen sein!“, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger und in vorwurfsvollem Tonfall, bevor sie eilig wieder die Verfolgung der weißhaarigen Gestalt aufnahm, die mittlerweile hinter einer der vielen Windungen des gepflasterten Weges verschwunden war. Shinya sah ihre kleine Gestalt in den Schatten verschwinden und ging ihr nach, ohne sich noch einmal zu Rayo umzudrehen. Die Worte des jungen Adligen hatten ihn verletzt – und gleichzeitig ärgerte er sich darüber, ihm genau das nicht persönlich ins Gesicht gesagt zu haben. Nun, da Noctan die Gelegenheit ergriffen und den richtigen Moment genutzt hatte, wusste er nicht, was es noch zu sagen gab, und so schwieg er lieber und machte sich ebenfalls auf den Weg zum Hotel zurück. Hoshi war die Letzte, die im grauen Zwielicht zwischen den Hausmauern stehen blieb. „Das mit dem Mädchen ging wirklich zu weit. Du kannst dir auch nicht alles erlauben, und ich glaube, es schadet dir nicht, mal darüber nachzudenken. Es tut mir leid, aber ich hatte wirklich vergessen, wie unglaublich dumm du doch sein kannst!“ Dann endlich wandte auch sie sich ab und ließ den blonden Jungen allein und ziemlich verloren in dem kleinen, finsteren Gässchen stehen. Rayo verharrte lange an genau diesem Ort und auch genau so, wie ihn die vier jungen Estrella zurückgelassen hatten. Sein Blick war starr auf das harte, von einer dünnen Staubschicht überzogene Pflaster zu seinen Füßen gerichtet. Er fühlte sich wie betäubt, und als er sich dann endlich aus seiner Starre löste und ohne ein Ziel vor Augen durch die verwinkelten Straßen und Sträßchen von Midras schlenderte, waren diese Bewegungen rein mechanisch, beinahe so, als ob sein Körper wie eine lebendige Marionette an unsichtbaren Fäden zwischen Menschen und Häuschen hindurchgezogen würde. Die Stunden des Tages liefen ebenso wie seine Umgebung als nebliger Film an ihm vorbei, ohne wirklich bis zu ihm durchzudringen. Erst als die untergehende Sonne die unebene Straße in ein rotgoldenes Licht tauchte, erwachte er wieder aus seiner Trance – und noch in derselben Sekunde brachen all die wirren Gedanken, die beinahe unbemerkt und selbstständig ein Netz in seinem Inneren gesponnen hatten, mit überwältigender Klarheit über ihn herein. Alles, worüber er seit dem weit zurückliegenden Mittag nachgedacht hatte, breitete sich nun wie eine allwissende, lange verschlossen gehaltene Schriftrolle vor ihm aus. Er schlenderte zu dem halbrunden Springbrunnen hin, der inmitten des Marktplatzes sein rötlich glitzerndes Wasser dem brennenden Himmel entgegenschickte, und ließ sich auf dem leicht feuchten Marmorrand nieder. Die dunkelblauen Augen des jungen Adligen streiften etliche Minuten lang wie versunken seine Umgebung und betrachteten jedes Detail mit einer Genauigkeit und Wärme, die ihn selbst ein wenig überraschte. Er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte, und je länger er darüber nachdachte, desto leichter fiel es ihm, das einzusehen. Die anfängliche Barriere aus trotzigem Stolz war schon vor Stunden gefallen und hatte einer merkwürdig endgültigen Leere Platz gemacht. Die Worte der alten Seherin Hanako drängten sich wieder in seine Erinnerung zurück. Wisst ihr nicht, wie viele neue Fragen jede Antwort aufwerfen kann? Genau diese Erfahrung war es, die ihn während der verschwommenen Nachmittagstunden die ganze Zeit über verfolgt hatte. Jede neue Erkenntnis hatte ihn tiefer in einen Abgrund hineingeführt, den er niemals hatte betreten wollen, wohl besser auch niemals betreten hätte – nun jedoch nicht mehr verlassen konnte. Und jeder Schritt brachte eine neue, quälende Frage mit sich. Wann hatte es eigentlich angefangen, dass er anderen Menschen stets nur im Weg gestanden war? Wann hatte er aufgehört, das zu bemerken? Vielleicht war es ein glücklicher Zufall, dass er seit seiner Flucht noch nicht einer einzigen Palastwache, nicht einem Soldaten Hoshiyamas begegnet war. Gleichzeitig war er sich beinahe sicher und hatte sich zunächst sogar davor gefürchtet, dass sie ihn binnen weniger Tage finden konnten und mussten, wenn sie es nur wirklich wollten. Rechneten seine Eltern so sehr damit, dass er von sich aus wieder zurückkehren würde? Wahrscheinlich hatten sie noch nicht einmal bemerkt, dass er überhaupt davongelaufen war! Rayo stieß einen leisen Seufzer aus und warf einen letzten, langen Blick auf die kleine Gruppe spielender Vögelchen, die übermütig auf dem rotgrauen Pflaster des Marktplatzes herumtollten und empört zwitschernd um die letzten Brotkrümel zankten, die von den längst abgebauten Ständen des Morgens zurückgeblieben waren. Dann drückte er sich mit einer energischen Bewegung von dem kalten Brunnenrand ab und steuerte auf eine der schmaleren Gässchen zu. Was sollte er jetzt nur tun? Er hatte Angst davor, seinen Freunden überhaupt wieder unter die Augen zu treten, davor, dass sie ihm nicht mehr ins Gesicht sehen und sich die zahllosen Entschuldigungen anhören wollten, die er sich im Laufe des Tages zurechtgelegt hatte. Aber wie konnte er denn auch erwarten, dass sie ihn verstehen würden? Es gab Dinge, die sie nicht wussten und besser auch nicht wissen sollten, aber selbst wenn er ihnen alles hätte erklären können… was hätte es denn jetzt noch für einen Unterschied gemacht? Genau genommen machte doch alles sowieso keinen Unterschied mehr. Wieder trugen Rayos Füße ihn wie von selbst zu ihrer kleinen Unterkunft, durch die immer noch nicht sonderlich gut besuchte Gaststube hindurch, die Steintreppe hinauf in den ersten Stock und bis zu der schmucklosen Türe ihres schmucklosen Zimmers. Er hob seine Hand, langsam, zögernd – und zog sie dann hastig wieder zurück. Aus irgendeinem Grund wagte er es nicht, anzuklopfen, Noctan und den anderen sein unvermeidliches Eintreten auch anzukündigen. So oder so fürchtete er ihre Reaktion, aber lieber wollte er sie wenigstens im ersten Augenblick noch überraschen, als gleich von abweisenden Gesichtern empfangen zu werden. Mit klopfendem Herzen schloss er seine kalten Finger um den ebenso kalten Türgriff, nahm all seinen Mut zusammen und trat ein. Der Raum war leer. Die acht Betten lagen wie unbenutzt im rötlichen Halbdunkel des Gruppenzimmers, so als ob niemals ein Mensch den eigentlich viel zu kleinen Raum benutzt hätte. Einzig auf seinem eigenen Kissen lag ein dunkles Lederbeutelchen, das sich wie ein schwarzes Loch von dem hellen Stoffbezug abzeichnete. Und obwohl Rayo augenblicklich begriff, was das verlassene Zimmerchen zu bedeuten hatte, vergingen etliche grausame Minuten, bis er auch wirklich glauben konnte, was seine starren Augen ihm weismachen wollten. Sie hatten nicht auf ihn gewartet. Seine Freunde waren ohne ihn weitergezogen – und höchstwahrscheinlich waren sie sogar froh und erleichtern, ihn nun endlich los zu sein. Was ihn übrigens auch nicht weiter verwunderte. Sie waren nicht die Ersten und gewiss nicht die Letzten, die so dachten, und überhaupt konnten sie nicht allzu weit gekommen sein und er würde sie auch gewiss noch einholen können. Genau genommen hatte er sogar die Wahl, wen er von jetzt an wieder belästigen wollte – seine Eltern oder seine Mitstreiter, was wohl mehr oder minder aufs Gleiche herauskommen und wohl auf beiden Seiten mit exakt demselben Maß an Freude und Erleichterung begrüßt werden würde, nämlich mit überhaupt keiner. Rayo schüttelte heftig seinen Kopf und warf sich auf das Bett. Dann packte er das weiche Leder des Geldbeutels und schmiss ihn mit aller Kraft gegen die Wand, wo die Gold- und Silbermünzen mit einem erschrockenen Klirren abprallten und zu Boden fielen. Warum dachte er denn ausgerechnet jetzt an seine Eltern? Warum dachte er überhaupt noch an sie? Manchmal fiel es ihm schwer, sich an das Gesicht seiner eigenen Mutter zu erinnern, und er konnte ohne größere Schwierigkeiten an seinen Fingern abzählen, wie oft er sie in seinem Leben überhaupt schon gesehen hatte. Aber wofür brauchte er denn auch ihr falsches Lächeln, ihre immer gleichen Ausreden, dass es doch alles nur zu seinem Besten wäre, die einzig richtige Vorbereitung auf all die großen Aufgaben, die dem kleinen Rayo noch bevorstehen würden… Noch lachhafter war doch eigentlich nur, dass er jetzt im grauen Licht der Abenddämmerung einsam und allein auf dem unbequemen Bett eines ärmlichen Rasthauses lag und seine Gedanken ausgerechnet an die Menschen verschwendete, die es wohl von allen Personen auf dem ganzen Planeten am wenigsten verdient hatten! War es nicht noch ungleich schlimmer, dass ihn nun auch noch seine Freunde im Stich gelassen hatten – sofern er sie überhaupt jemals als solche hatte bezeichnen können? Natürlich war ihm klar, dass er in dieser ganzen Geschichte nicht einfach nur ein armes Opfer war, oh nein, sogar ganz im Gegenteil. Genau genommen konnte er auch nicht einmal mehr wütend sein. Nicht auf seine Gefährten, die sich ohne ein Wort zu sagen, ohne jegliche Nachricht so einfach aus dem Staub gemacht hatten, nicht auf seine Eltern… nicht einmal mehr auf sich selbst. Gleichzeitig begriff Rayo auch, dass er jetzt nicht einfach wieder aufstehen und den Wirt oder sonst irgendwelche Menschen in der Stadt nach seinen Freunden fragen würde, um sich reumütig und verzweifelt an die Fersen der Vorangezogenen zu heften. Er wusste immer noch nicht, wann genau es denn nun eigentlich begonnen hatte, dass er anderen Menschen zur Last gefallen war. Er wusste lediglich, dass es jetzt und an diesem Abend enden würde. „Das war wirklich gemein! Wir hätten nicht einfach so gehen dürfen…“ Hoshi senkte schuldbewusst ihren Blick, während sie die weiße Steintreppe zu dem Zimmer ihrer Herberge hinaufstiegen. „Ach komm, der wird sich doch wohl denken können, dass wir nicht einfach ohne ihn abhauen!“ Shinya winkte ab. „Ich kann ja wohl nix dafür, wenn er da irgendwo vor sich hinschmollt, und ich hab schon gar keine Lust, währenddessen hier zu hocken und zu verhungern.“ „Ja, aber… ich weiß nicht…“ „Hoshi – wir haben wirklich lange auf ihn gewartet. Keine Ahnung, wie’s dir ging, aber ich musste echt was essen! Und außerdem…“ Die Lippen des Katzenjungen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. „Wahrscheinlich hockt er grad auf seinem Bettchen und schmollt vor sich hin, und auf den Anblick kann ich echt gut verzichten!“ „Wahrscheinlich hast du Recht“, seufzte die Lichtmagierin und gestattete sich endlich wieder ein Lächeln, während sie nach vorne trat und die Türe zu ihrem Gruppenzimmer öffnete. Im nächsten Moment wurde die übliche verschlafene Ruhe ihrer kleinen Herberge brutal von einem gellenden Schrei zerrissen. Shinya sah, wie Hoshi sich beide Hände vor den Mund schlug und konnte schon an dem kleinen für ihn sichtbaren Teil ihrer Wange erkennen, dass schlagartig jegliche Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. Ihr Körper bebte, aber sonst bewegte sie sich keinen einzigen Zentimeter mehr nach vorne oder hinten. „Hoshi? Hoshi was ist denn…“ Shinya trat hinter seine Freundin, um einen besorgten Blick über ihre Schulter zu werfen – und bereute es noch in derselben Sekunde, in der ihn jene durchaus verständliche Neugierde überwältigt hatte. Der Anblick des dämmrigen Raumes erfüllte ihn nämlich etliche eisige Sekunden lang mit der grauenvollen Gewissheit, dass sein Herz ganz einfach aufgehört haben musste, zu schlagen. Da war Rayo und er lag auf seinem Bett, die Augen geschlossen und den Kopf irgendwie merkwürdig zur Seite weggekippt, und groteskerweise hätte Shinya schwören können, dass auf seinen bleichen Lippen tatsächlich ein Lächeln lag. Seine rechte Hand hing leblos von der Matratze hinab, und über die blasse Haut seiner Finger rann in dünnen Fäden tiefrotes Blut, das sich schließlich in einer kreisrunden Pfütze auf dem hellen Boden sammelte. „Oh bei den Göttern, Rayo… Rayo!!“ Mit einem entsetzten Keuchen stürzte der Halbdämon zu dem Jungen hin, packte ihn bei den Schultern und schüttelte seinen Körper, obwohl er im Grunde genommen wusste, dass er damit nichts mehr erreichen konnte und auch nichts mehr erreichen würde. Aber seine Gedanken schlugen wilde Purzelbäume und er war beinahe froh, als Noctan ihn am Oberarm packte und mit einem brutalen Ruck von dem jungen Adligen wegriss. „Idiot!“, stieß der Weißhaarige leise hervor, und Shinya war sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, an wen diese (in jedem Fall aber gerechtfertigte!) Beleidigung nun eigentlich gerichtet sein sollte. „Wir dürfen jetzt bloß nicht in Panik geraten, das nützt uns nämlich rein gar nichts. Wir sollten lieber… ah, genau…“ Mit einer raschen und sicheren Bewegung, die den Katzenjungen aus irgendeinem Grund ganz fürchterlich erschreckte, griff Noctan nach seinem Kissen und schnitt den weißen Stoff in breite Streifen, während Misty lautstark in Tränen ausbrach. „Rayo, nein… nicht sterben!“ Die Stimme des Mädchens wurde beinahe von heftigem Schluchzen erstickt. „Es tut Misty leid, hörst du! Misty… Misty war gemein! Nicht… nicht einschlafen, bitte nicht einschlafen!“ „Niemand stirbt hier, verstanden? Und jetzt sei um Gottes Willen endlich still!“ Erst als Noctan endlich begann, die Stoffstreifen fest um die tiefen, heftig blutenden Schnitte zu wickeln, die sich quer über Rayos Handgelenke zogen, bemerkte Shinya überhaupt, wie heftig die Hände des Weißhaarigen tatsächlich zitterten. „Ich… ich kann jetzt versuchen, die Blutung zu stoppen!“ Hoshi kniete sich neben den blonden Jungen, den Blick auf die improvisierten Verbände oder auch mitten durch sie hindurch gerichtet, das konnte der Halbdämon nicht mehr so genau erkennen. Sie legte ihre Hände um die notdürftig versorgten Wunden und schloss die Augen. Shinya sah auf ihrem totenbleichen Gesicht, wie sie um Konzentration rang, doch nur ein sehr schwaches Leuchten legte sich um ihre bebenden Finger. „Es… es tut mir leid. Ich schaffe einfach nicht mehr…“ Als sie ihren Kopf dem Boden zuwandte, lag ein unendlich müder Ausdruck in ihren dunklen Augen. „Jetzt können wir nur noch warten… dass er… bis er aufwacht.“ Nach allem, was Shinya in den vergangenen Wochen erlebt hatte, war er sich doch niemals ganz im Klaren darüber gewesen, wie unendlich langsam die Zeit eigentlich vergehen konnte. Schweigend, fast wie versteinert saßen die vier jungen Estrella an Rayos Bett, während sich draußen auf dem Marktplatz das Zwielicht der Abenddämmerung ausbreitete. Der Katzenjunge hielt Hoshi im Arm, die wiederum hatte die dann und wann leise vor sich hinschluchzende Misty bei der Hand genommen. Noctan saß auf einem anderen Bett und starrte mit ausdrucksloser Miene auf die reglos daliegende Gestalt des jungen Adligen. „Lebt er… überhaupt noch?“, fragte Hoshi irgendwann mit tonloser Stimme. „Solltest nicht ausgerechnet du mit deinen großartigen Heilkräften für genau das sorgen?“, fuhr Noctan das Mädchen in einem derart scharfen Tonfall an, dass Shinya ihren Körper wie unter einem Schlag zusammenzucken spürte. „Mann, Noctan… das hier is doch nich Hoshis Schuld, also lass es gefälligst nich an ihr aus!“ Shinya zog seine Freundin noch ein bisschen enger an sich und zwang sich dazu, Noctan strafend in die merkwürdig flackernden Augen zu sehen. „Nicht streiten!“ Misty schüttelte heftig ihren Kopf. Wieder lief ein Beben durch ihre Unterlippe, und Shinya beeilte sich, beschwichtigend in ihre Richtung zu nicken. „Ich weiß. Wir… wir sollten wirklich nicht streiten… nicht ausgerechnet jetzt…“ „Dann hört um Gottes Willen endlich auf, andauernd vom Sterben zu reden!“ „Aber wir machen uns doch auch nur Sorgen, Noctan.“ Hoshi senkte ihren Blick. „Ich wünschte, wir könnten noch irgendetwas tun…“ „Misty will aber nicht, dass Rayo stirbt!“ Wieder erzitterte der Körper der Kleinen von unterdrücktem Schluchzen und einige dicke Tränen kullerten über ihre fleckig roten Wangen. „Jetzt fang doch nicht schon wieder damit an!“ „Und du hör auf, Misty anzuschreien!“, entgegnete Shinya in nicht unbedingt viel leiserem und ruhigerem Tonfall. „Sie kann ja wohl am wenigsten dafür!“ „Ach? Was soll denn das nun wieder heißen?“ Noctan erhob sich mit einem Ruck und trat mit einem durchaus bedrohlichen Glühen in den Augen auf den Katzenjungen zu. Trotzdem oder gerade deswegen verspürte dieser keinerlei Angst mehr vor dem Weißhaarigen, als er nämlich begriff, dass er Noctan noch niemals so kurz davor erlebt hatte, vollkommen seine Fassung zu verlieren. „Lasst mich raten, ihr meint wieder einmal, dass…“ „Wo… wo bin ich?“ Der Weißhaarige verstummte schlagartig, als sich eine leise, kraftlose Stimme in das langsam aber sicher eskalierende Wortgefecht der wartenden Estrella mischte. Und auch Shinya wandte sich beinahe augenblicklich von dem jungen Krieger ab und stattdessen dem rot befleckten Bett zu, auf dem Rayos blasse Gestalt unter einer dicken weißen Decke ruhte. „Rayo?!“ Der blonde Junge hob seinen Kopf ein Stück weit an und blinzelte müde und sichtlich verwirrt in seine ungefähre Richtung. „Du… du bist wach! Endlich!“ Shinya spürte, wie sich Hoshis Brust in einem tiefen, erleichterten Atemzug hob und wieder senkte. „Du bist…“ „Du bist ein verdammter Feigling, weißt du das eigentlich? Solch eine unbeschreiblich… absurde Idee hätte ich wohl nicht einmal mehr dir zugetraut, und das möchte schon etwas heißen!“ Noctans Stimme hatte wohl herablassend und vorwurfsvoll klingen sollen, und auf eine gewisse Weise tat sie das sogar, aber irgendwo dahinter lag noch etwas anderes, das Shinya nicht so richtig einordnen konnte und wollte. Ob Rayo dieses Etwas nun bemerkte, wusste er nicht, jedenfalls zuckte der junge Adlige lediglich kurz zusammen und rappelte sich dann reichlich unbeholfen auf. „Ich… es tut mir so leid“, murmelte er, ohne dabei aufzublicken. „Ich wollte doch nicht… ich dachte… ich… wollte euch einfach nicht mehr länger… zur Last fallen…“ „Eine wahrhaft grandiose Idee. Das nenne ich konsequent!“ Der weißhaarige Junge schüttelte den Kopf und warf sich sein langes, lose zusammengebundenes Haar über die Schulter. „Aber du musst längs schneiden, Rayo, nicht quer… der übliche Anfängerfehler.“ „Noctan!“ Hoshis Stimme glich einem entsetzten Keuchen. „Das… das finde ich wirklich nicht lustig!“ „Lustig? Nein, so war es eigentlich auch nicht gemeint.“ Noctan fand tatsächlich langsam wieder zu seinem üblichen kalten Tonfall zurück, während seine violetten Augen weiterhin rastlos durch das Halbdunkel ihres kleinen Zimmers streiften. „Ich versuche lediglich, die Beweggründe unseres ach so ehrenhaft adligen Meisters des Feuers zu begreifen, die ihn zu dieser durch und durch widersinnigen, wenn auch zugegebenermaßen reichlich unerwarteten Tat getrieben haben.“ „Das… das müsstest du doch am Besten wissen, oder?“, antwortete der junge Adelige leise und nach wie vor mit gesenktem Blick. „Ach ja? Müsste ich das?“ Noctan senkte lauernd seinen Kopf. „Aber natürlich. Ich verstehe. Du teilst also auch die allgemeine Ansicht, dass das alles hier wieder einmal meine Schuld ist?“ „Noctan!“, zischte Hoshi den Weißhaarigen an. „Kannst du nicht ein einziges Mal in deinem Leben an etwas anderes denken als an dich?!“ „So… so habe ich das doch nicht gemeint!“ Rayo hob beschwichtigend die Hände, aber der Weißhaarige schien auf einlenkende Diplomatie offensichtlich keine große Lust zu verspüren und durchbohrte den Blondschopf lediglich mit einem ganz besonders kalten Blick. „Ach nein? Und woher dieser plötzliche Sinneswandel? Nur zu, sprich aus, was du… was alle hier denken! Es ist doch immer meine Schuld, egal was passiert, oder? Dieser ganze verdammte Planet könnte im Meer versinken und auseinander brechen und ich bin mir sicher, irgendwo stünde eine Hoshi mit diesen großen vorwurfsvollen Augen und wer wär dann im Endeffekt Schuld an dem ganzen Unglück? Genau. Aber von mir aus – ich hatte es natürlich darauf angelegt, dich umzubringen, Rayo, dass du es nicht schon längst gemerkt hast! Ich…“ Er stockte. Die Brust des jungen Weißhaarigen hob und senkte sich rasch, während sich irgendetwas in seinem Blick auf eine seltsame Art und Weise veränderte, die Shinya vielleicht sogar noch mehr als alles Zurückliegende verwirrte. „Verzeiht, dass ich wieder einmal die ganze Zeit über nur an mich gedacht habe, während ihr unfassbar ehrbaren Geschöpfe damit beschäftigt wart, euch Sorgen zu machen!“ Mit einer ruckartigen Bewegung wandte Noctan den Kopf ab und stapfte aus dem grauen Halbdunkel des schmucklosen Herbergszimmers. Wäre Shinya nicht sowieso schon mehrere Minuten lang sprachlos gewesen, so hätte es ihm spätestens jetzt endgültig die Sprache verschlagen, und er sah sich zu nichts anderem mehr imstande, als starr auf die zitternde Türe zu blicken, die soeben mit einem lauten Knall hinter dem Weißhaarigen ins Schloss gefallen war. „Noctan…“ „Hey, Rayo, mach dir wegen ihm mal keine Gedanken. Sag lieber, wie fühlst du dich?“ Rayo beantwortete Hoshis Frage mit einem kraftlosen Schulterzucken. „Ich… bin müde…“ Er schloss die Augen und ließ sich zurück in die zerwühlte Masse seines Kissens sinken. „Was müsst ihr jetzt nur von mir denken…“ „Hör auf!“ Shinya nahm all seinen Mut zusammen und löste sich vorsichtig und nicht ohne einen kurzen Moment des Bedauerns von Hoshi, um stattdessen auf der Bettkante neben dem jungen Adligen Platz zu nehmen. Er hasste Situation wie diese, und vielleicht lag es nur an dem lähmenden Schrecken, der immer noch von jeder Faser seines Körper Besitz ergriffen hatte, dass er es jetzt tatsächlich fertig brachte, eine Hand auf Rayos Schulter zu platzieren und auf mehr oder minder aufmunternde Weise seine Lippen zu verziehen. „Wir waren ja auch irgendwie blöd, vorhin… ich meine… das war doch nur ein dummer Streit und das passiert halt mal und… lass so was in Zukunft einfach bleiben, ja?“ „Ich habe schon verstanden.“ Der junge Adelige rang sich ein vorsichtiges Lächeln ab und nickte langsam, die dunkelblauen Augen halb geschlossen. „Es… lag auch nicht nur an euch… denkt… einfach nicht mehr darüber nach. Es ist in Ordnung, ich… es lag nicht an euch. Belassen wir es dabei.“ „Ist… ist gut…“ Hoshi nickte, obwohl Shinya in ihren dunklen Augen einen deutlichen Widerwillen lesen konnte. Die Reaktion des Mädchens überraschte ihn, und erst wenige stumme Sekunden später begriff er, dass Hoshi nicht einfach nur wieder einmal besonders diplomatisch sein wollte, sondern dass in dieser Situation selbst ihr die richtigen Worte fehlten. „Aber… sagt mal… vielleicht sollten wir ja doch mal sehen, was… was Noctan macht… ich meine, er… er…“ „Er war merkwürdig“, stellte Shinya an Stelle der Lichtmagierin fest. „Ja, das fand ich auch.“ „Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich ja sagen, er… er macht sich… Vorwürfe. Und eigentlich… eigentlich… weiß ich’s auch gar nicht besser.“ Die Dunkelhaarige nahm einen tiefen Atemzug von der staubigen Zimmerluft. „Ich finde, wir sollten ihn suchen gehen.“ „Ich weiß nicht…“ Shinyas Finger zeichneten zusammenhangslose Wellenlinien auf den glatten Stoff der Bettdecke. „Meinst du nicht, er will jetzt lieber allein sein? Sonst wär er ja wohl nicht gegangen!“ „Ach, da wäre ich mir gar nicht mal so sicher…“ Hoshi legte ihren Kopf ein bisschen schräg, was ihr Lächeln auf wundersame Weise sogar noch ein wenig sanfter erscheinen ließ. „Rayo, du musst dich jetzt aber auf jeden Fall ausruhen. Schau nicht so besorgt… wir machen das schon. Immerhin wollen wir Noctan ja nicht gleich wieder an seinen hübschen Haaren zurück aufs Zimmer zerren. Wir muntern ihn nur ein wenig auf, so ganz dezent und unaufdringlich, und dann verschwinden wir wieder.“ Sie lachte. „Das ist doch halb so wild – wir müssen eben nur ein bisschen einfühlsam sein!“ Angespanntes Schweigen lag über dem milchig warmen Licht der weißen Kerzen, die mit einfachen Messinghaltern an der Wand des Treppenhauses befestigt waren. Shinya ging voran, obwohl er nicht zum ersten Mal seit Beginn seiner Reise von dem unangenehmen Gefühl erfüllt war, den richtigen Weg von ihnen allen am wenigsten zu erahnen. Er strich sich durch sein braunes Haar und trat dann durch die niedrige Türe aus dem Duftgemisch der Gaststube in die drückend schwere Abendwärme der schmalen Gassen Midras’ hinaus. „Wo sollen wir jetzt eigentlich hingehen?“, seufzte der Katzenjunge und warf einen kurzen Blick über die Schulter zu Hoshi und Misty zurück, während seine Füße wie von selbst den Weg zum großen Marktplatz hin einschlugen. „Ach, am besten schauen wir uns erst mal hier in der Gegend um, bevor wir uns darüber große Sorgen machen!“, entgegnete Hoshi mit einem Schulterzucken. „Ganz so genau wollte ich es dann doch nicht wissen…“ Shinyas Laune sank mit jedem Schritt, der ihn durch das blaugraue Halbdunkel und schließlich auf den immer noch erstaunlich belebten Platz hinausführte. Seine Finger waren in ein nervöses Spiel vertieft. „Das bringt doch alles nichts! Bestimmt verkriecht er sich irgendwo im hinterletzten Winkel dieser verflucht überfüllten Stadt und bei unserem Glück sind wir dann Morgen noch am Suchen, oder noch besser, wir latschen hier solange rum, bis die vierte Vollmondnacht vorbei ist und dann sitzen wir noch einen ganzen Monat in…“ „Schaut mal, da vorne ist er!“, lachte Hoshi vollkommen ehrlich und fröhlich, was Shinya unbegreiflich war, und deutete mit einem vergnügten Blitzen in den dunklen Augen auf eine Gestalt, die sich etwa zwei oder drei Meter vom Platz entfernt in einer ganz besonders dunklen Gasse niedergelassen hatte und so beinahe mit dem bleichen Schattennetz verschwamm. Sie hatte die Beine an den Körper gezogen und den Kopf auf den Knien platziert, und aus irgendeinem Grund weckte dieser Anblick im Inneren des Katzenjungen schlagartig das beinahe unwiderstehliche Bedürfnis, auf dem Absatz kehrt zu machen und davonzulaufen, irgendwohin und zwar möglichst weit weg. Shinya seufzte ergeben und folgte nur äußerst zögerlich dem braunhaarigen Mädchen, das mittlerweile in ungetrübter Zielstrebigkeit an ihm vorbeigezogen war. „Noctan?“ Hoshis Stimme war ebenso sanft wie das Lächeln auf ihren Lippen. „Wir… wollen gar nicht lange stören, aber wir haben nach dir gesucht, weil…“ „Noctan, sag mal, heulst du?“, fiel Misty der Dunkelhaarigen lautstark krähend ins Wort und schloss mit enthusiastisch blitzenden Augen eilig zu ihr auf. Shinya las in Hoshis Gesicht überdeutlich den nur wohl mühsam unterdrückten Impuls, das kleine Mädchen mit einem gezielten Tritt postwendend wieder zurück auf ihr Hotelzimmer zu befördern, und plötzlich konnte auch er sich ein sogar überaus breites Grinsen nicht mehr verkneifen. Schon weitaus entspannter als noch vor wenigen Augenblicken trat er an die Seite seiner Freundin, die sich mittlerweile neben Noctan auf dem staubig grauen Kopfsteinpflaster niedergelassen hatte. „Was ich vorhin gesagt habe, tut mir leid“, erklärte sie versöhnlichem, fast schon ein wenig beschämtem Tonfall. „Die Situation war einfach total angespannt, weil wir uns alle Sorgen gemacht haben, und… ich hab wohl irgendwie die Nerven verloren.“ „Würdet ihr mich dann eventuell auch wieder in Ruhe lassen?“, grummelte Noctan zwischen seinen verschränkten Armen hervor und rutschte demonstrativ ein paar Zentimeter zur Seite. „Keine Angst – wir hauen gleich wieder ab!“ Hoshi lächelte. „Ich wollte dir nur noch sagen, dass keiner von uns dir irgendwelche Vorwürfe macht. Keine Ahnung, ob’s dich interessiert, aber du solltest das trotzdem wissen.“ „Na, grandios…“ „Find ich nämlich auch! So, und das war dann auch schon alles und wir sind sofort wieder weg. Du wirst es dir ja denken können, aber wir warten dann einfach im Herbergszimmer auf dich. Wir müssen morgen sowieso nicht früh aufstehen, also lass dir ruhig Zeit.“ Sie erhob sich mit einer lautlosen Bewegung. „Dann also spätestens bis morgen, Noctan!“ Mit zufriedener Miene schlenderte das Mädchen an Shinya vorbei, der ihr mit großen Augen und offenem Mund hinterher blickte. „Mann, Hoshi, du hast ja echt mal Talent für so was!“, stellte der Katzenjunge schließlich fest, nachdem er einen angemessenen Sicherheitsabstand zu dem Weißhaarigen eingenommen hatte, und stieß ein perplexes Lachen aus. „Er hat dir ja doch nicht den Kopf abgerissen. Nicht einmal einen Arm!“ Der Katzenjunge zwinkerte Hoshi grinsend zu. „Weißt du was? Du solltest Erzieherin werden! Oder Mutter.“ Die Dunkelhaarige errötete leicht und wandte sich hastig wieder an Misty. „Ähm, übrigens: Wenn du das nächste Mal unsensibel sein möchtest, solltest du vielleicht noch ein klein wenig lauter schreien. Ich glaube, die fahrenden Händler bei den Pferdetränken dort hinten haben dich noch nicht verstanden.“ Wie nicht anders zu erwarten sprachen Mistys weit aufgerissene Augen Bände davon, dass sie wieder einmal überhaupt nichts verstand, und obwohl Shinya das noch vor wenigen Minuten auf gar keinen Fall für möglich gehalten hätte, erheiterte ihn dieser Anblick doch ungemein. „Hat Misty etwas Falsches gesagt? Ist Hoshi jetzt böse mit ihr?“ Die Lichtmagierin musste lachen. „Keine Angst, Misty, das bin ich nicht. Aber von Noctan solltest du dich in nächster Zeit wohl lieber fernhalten…“ Natürlich war Misty nach diesen Wort nicht weniger ratlos als zuvor, folgte Shinya und Hoshi aber dennoch bereitwillig in ihre bescheidene kleine Unterkunft zurück. Der Katzenjunge war überrascht zu sehen, dass sich die Gaststube mittlerweile sogar einigermaßen gefüllt hatte, doch ausnahmsweise empfand er den Anblick der zahlreichen Menschen sogar als überaus beruhigend. Das Klirren von Humpen, vermischt mit vielstimmigem Gemurmel und ungeniert lautem Lachen durchdrang die stickig warme Luft, und plötzlich spürte Shinya, wie müde er eigentlich war. Die Aufregung der vergangenen Stunden war keineswegs spurlos an ihm vorübergegangen. Er war sogar beinahe noch erschöpfter als nach ihrem langen Marsch in der vergangenen Nacht, und trotz der Wärme kuschelte er sich nur allzu gerne unter die wohlige Schwere seiner schneeweißen Daunendecke. Rayo schlief bereits und Hoshi löschte das Licht, kaum dass er und Misty in ihren Betten lagen. Danach wurde es still. Keiner sprach mehr ein Wort und Shinya war sich sicher, bereits nach wenigen Sekunden in einen tiefen Schlaf zu fallen. Gute zweieinhalb Stunden später musste er sich dann schließlich eingestehen, dass es sich dabei wohl doch eher um einen Irrtum gehandelt hatte. Denn obwohl der Körper des Katzenjungen unendlich erschöpft war, viel zu erschöpft, um auch nur einen einzigen Finger zu rühren, war sein Geist doch hellwach und obendrein auch eifrigst mit zahlreichen überflüssigen Dingen beschäftigt. Beispielsweise, sich auf etwa fünfhundertsiebenunddreißig verschiedene Arten vorzustellen, was Shinya denn alles tun und sagen beziehungsweise nicht tun und nicht sagen können, um genau das zu vermeiden, was doch längst schon geschehen und folglich sowieso nicht mehr rückgängig zu machen war. Außerdem zeigte er ihm wieder und wieder dieselben Bilder, die er eigentlich nicht ein einziges Mal hatte sehen wollen, Bilder aus Rot und Weiß und noch mehr Rot, und der Katzenjunge hätte seine Gedanken wohl tatsächlich zu hassen begonnen, wären sie ihm nicht schließlich doch noch auf eine vollkommen unerwartete Weise von Nutzen gewesen. Immerhin machten sie ihn zum Zeugen eines kurzen und merkwürdigen Schauspiels, das zwar eigentlich vollkommen unspektakulär vonstatten ging, ihm aber trotzdem überaus gut im Gedächtnis haften bleiben sollte. Irgendwann hörte Shinya nämlich, wie sich die Türe öffnete, und da er ja wusste, um wen es sich bei dem nächtlichen Eindringling handeln musste, beließ er es bei einem unauffälligen, verstohlenen Blick in Richtung des niedrigen Eingangs. Er konnte Noctans Gesicht im silbrigen Spiel aus Mondschein und Schatten nicht genau erkennen, da er den Kopf leicht gesenkt hielt. Er bewegte sich vollkommen lautlos, und der Katzenjunge erkannte sofort, dass er im Schleichen sogar sehr geübt sein musste. Das nächtliche Blau zerfloss in einem ganz eigentümlichen Schimmer auf den langen Strähnen seines weißen Haares. Neben Hoshis Bett kam Noctan plötzlich zum Stehen und blickte auf eine Weise darauf hinab, die Shinya unmissverständlich klarmachte, dass auch die Dunkelhaarige noch wach sein musste. Er verharrte kurz und reglos in dieser Position, dann bewegten sich seine Lippen kaum merklich und formten ein einziges Wort, das der Halbdämon allerdings nicht verstehen konnte. Hoshi nickte, und im nächsten Moment setzte sich auch Noctan wieder in Bewegung und schlich auf seine eigene Schlafstätte zu. „Schlaft gut, Noctan“, flüsterte das Mädchen, dann drehte sie sich auf die andere Seite und Shinya sah, dass sie lächelte. Hastig schloss er die Augen, bevor Hoshi seine Blicke bemerken konnte, und stellte sich schlafend. Wieder war und blieb es still, und diesmal sollten kaum mehr fünfzehn Minuten vergehen, bis der Katzenjunge endlich eingeschlafen war. Der formlose Sonnenball verschmolz am Horizont langsam mit dem rotgoldenen Flickenteppich der weiten Ebene. Ein sanfter, kaum spürbarer Wind bewegte die flammenden Spitzen der Grashalme und wiegte sie in den Schlaf, bevor ein weiteres Mal die Nacht über das Land hereinbrechen würde. Shinya seufzte leise und zufrieden. Er liebte diese Sonnenuntergänge und es faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue, wie ruhig und verträumt die Natur doch wirken konnte. Diese Momente zwischen Tag und Nacht erinnerten ihn an den nahenden Herbst und doch gleichzeitig auch an den vergehenden Sommer, und beides zusammen war ganz unbeschreiblich wunderbar. Doch wie immer gingen diese verzauberten Augenblicke auch an diesem Abend viel zu schnell wieder vorbei, und ehe sich der Katzenjunge versah, war die Dämmerung über das Land gekrochen und das warme Glühen im fahlen Licht des Mondes verblasst. „Sagt mal, Leute…“, murmelte er, um sich von dem leise in ihm aufflackernden Anflug von Melancholie abzulenken, „glaubt ihr eigentlich, da kommt dann wirklich so ein Geisterschiff angefahren und nimmt uns mit?“ „Uns bleibt wohl keine andere Wahl, als es zu versuchen, oder?“ Rayo hob die Schultern. „Sonst hätten wir uns diesen Weg im Übrigen auch sparen können.“ „Also, ich fand diese Seherin doch ziemlich überzeugend“, lächelte Hoshi in altgewohnter Zuversicht. Shinya glaubte zwar eigentlich nicht einmal, dass es ihr damit wirklich ernst war, fühlte sich aber trotzdem irgendwie aufgemuntert. „Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hatte ich bei ihr das Gefühl, die Frau weiß, wovon sie spricht!“ „Selbstverständlich!“ Noctan legte seinen Kopf in den Nacken. „Wenn sich solch eine abgehalfterte Zauberin die Augen verbindet, mit ihrem reizenden Kinderstimmchen herumorakelt, dann irgendwie die Luft gefrieren lässt und überhaupt eine wundervoll dramatische Show abliefert, hey, die ist natürlich nicht verrückt – die hat Ahnung von ihrem Fach!“ „Halt! Wir wollen doch nicht gleich wieder mit Schwarzsehen anfangen!“ Hoshi hob lachend ihren Zeigefinger. „Wieso Schwarzsehen?“ Der junge Weißhaarige machte eine abwehrende Geste. „Ich sagte, die Frau hat Ahnung von ihrem Fach, und das meinte ich auch so. Vorausgesetzt, wir gehen davon aus, dass sie hauptberuflich damit beschäftigt ist, Heil suchenden Pilgern das Geld aus der Tasche zu ziehen.“ „Von uns hat sie jedenfalls keine Bezahlung verlangt“, beharrte das Mädchen, nicht ohne einen Anflug von Trotz in der Stimme. „Ich zumindest glaube ihr… und vor allem würde ich zu gerne wissen, was passiert, wenn man während der Fahrt dann doch mal aus dem Fester kuckt…“ „Erstens heißt das Bullauge und zweitens… was soll denn schon passieren? Kommt der große böse Wassergeist und frisst uns auf?“ Noctans Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. „Für mich klingt das alles stark nach einem Schauermärchen, mit dem man vielleicht kleinen Kindern Angst einjagen kann…“ Sein Blick wanderte zu Misty hin, die sich am Wegesrand hingekniet hatte, um einige Blümchen auszurupfen. „…aber nicht mir. Wenn ihr mich fragt… jedes alte Schloss braucht sein Gespenst, so wie jedes Meer sein Geisterschiff braucht. Das verleiht ihm eben einen gewissen… Status.“ „Hey, wir werden ja bald sehen, was passiert!“, grinste Shinya, obwohl ihm immer noch etwas wehmütig zumute war. „Und selbst wenn das alles nur ein schlechter Witz oder eine nette Gruselgeschichte ist, dann haben wir wenigstens einen hübschen Spaziergang hinter…“ „Daaaaaa! Da, da, da, da! Die Steine!! Und das Meer und die Bucht!“, fiel Misty dem Katzenjungen aufgeregt kreischend ins Wort und stürmte übermütig und ohne zu zögern den überaus steilen, felsigen Abhang hinunter, der sich zu ihrer Rechten aufgetan hatte. An dessen Ende verbarg sich eine jener kleinen Buchten, wie sie sich mit weißem Sand und hellen Felsen hundertfach und doch immer wieder einzigartig schön an die Küste der silvanischen Flatlands reihten. „Grüß die Totengöttin von mir, wenn du dir das Genick brichst!“, rief Noctan dem Mädchen kopfschüttelnd hinterher und verdrehte die Augen. Hoshi lächelte nur. „Na? Hab ich’s nicht gleich gesagt? Eine Bucht hätten wir schon mal gefunden!“ Shinya nickte versunken und ließ seinen Blick zu der mit kurzem, bräunlichem Gras bewachsenen Anhöhe hinüberwandern, die sich wie ein felsiger Finger dem schweren Nachthimmel entgegenstreckte. Drei beinahe gleich große Steinnadeln ragten aus dem kargen Flecken Land hervor, und obwohl der kreisrunde Mond dann und wann seine liebe Mühe hatte, den zerrissenen Wolkenschleier mit seinem bleichen Licht zu durchdringen, zeichneten sich die Drillingsschatten doch deutlich von dem schneefarbenen Sandbett ab. „Langsam entartet dies hier wirklich zu einer sehr, sehr schlechten Geistergeschichte!“ Noctan bedeckte einen Augenblick lang das Gesicht mit seinen Händen. „Aber mal abgesehen von der… absurden Geschmacklosigkeit dieser Situation… was tun wir jetzt?“ „Jetzt machen wir’s Misty nach und gehen alle brav zum Wasser hinunter und warten!“, strahlte Hoshi und nahm – weitaus vorsichtiger als ihre kleine Freundin – den sogar überaus rutschigen Abstieg in Angriff. Shinya seufzte leise und folgte der Lichtmagierin mit mäßiger Begeisterung. Der Weg in die Tiefe erforderte seine ganze Konzentration, denn obwohl der Katzenjunge alles andere als ungeschickt war, offenbarte der unbewachsene Abhang mit all seinen losen Steinen und bröckelnden Erdmassen eine derartige Vielzahl an Stolper- und Rutschfallen, dass Shinya seine liebe Mühe hatte, heil und auf beiden Füßen in der schmalen Bucht anzukommen. Er war heilfroh, als er endlich den weichen und vor allem herrlich ebenerdigen Sand unter seinen Füßen spürte – wandte seinen Blick dann aber beinahe sofort wieder zu den drei alles überragenden Steinsäulen hin, deren pechschwarze Ebenbilder langsam über den Strand zum Meer hin krochen. „Was sollen das überhaupt für Felsen sein?“, murmelte er und legte sich eine Hand ans Kinn. „Die sehn irgendwie auch nicht aus, als ob die zufällig da oben stehn würden…“ „Ich denke, das ist eine Art… Opferstätte“, entgegnete Noctan ungerührt. „Wahrscheinlich irgendein verbotener Kult, der sich von unseren dreizehn feinen Göttern abgewandt hatte. Ein idealer Platz für Rituale und Zeremonien. So etwas ist den einfachen Menschen doch prinzipiell schon mal suspekt – wahrscheinlich kommen aus diesen Tagen auch die ganzen Schauermärchen von wegen Totenschiff und so weiter…“ „Ist doch egal! Hier ist es jedenfalls… wunderschön…“ Hoshi seufzte verzückt und begutachtete ihre Umgebung mit leuchtenden Augen. Auch Shinya bemerkte nun zum ersten Mal wirklich, wie unglaublich idyllisch der gut verborgene Ort tatsächlich war. Auf dem weißen Sand hatte das Mondlicht silbernen Staub ausgebreitet, in den das Wasser mit sanften Wellen schimmernde Muster zeichnete. Die weißen Felsen, die den Zugang zur Bucht so unangenehm erschwert hatten, rahmten das kleine Stück Paradies nun wie hohe Schutzwälle ein und vermittelten unwillkürlich ein Gefühl von unendlich beruhigender Sicherheit. „Wenn wir aus Lluvia wieder da sind, dann will Misty hier uuuunbedingt baden gehen!“ lachte das Mädchen und ließ sich vergnügt jauchzend in den weichen Sand fallen. „Na, das nenn ich ein Angebot!“, erwiderte Shinya grinsend. „Hier komm ich jedenfalls gern mal wieder her, is ja immerhin schön ruhig und…“ „Es ist hier.“ In Rayos Stimme lag ein unterschwelliges Flackern, ein kalter Hauch von Angst, der Shinya augenblicklich verstummen und aufblicken ließ. Beinahe noch im selben Moment verblasste auch jegliches Gefühl von Geborgenheit und Idylle und wich einem unangenehm beklemmenden Nebel leisen Grauens. Und das, obwohl der Katzenjunge natürlich eigentlich damit gerechnet, ja sogar gehofft hatte, genau das zu sehen, was er jetzt sah, auf der anderen Seite aber irgendwie auch nicht, in jedem Fall fühlte er sich nun derart überrumpelt davon, dass es ihm schier den Atem raubte. Hinter der grauweißen Felsenwand schob sich langsam der pechschwarze Bug einer großen Barke hervor. Die wohl ehemals überaus prächtige Galionsfigur starrte nunmehr aus leeren, weit aufgerissenen Augen in die Nacht hinaus, entstellt und halb verwest wie die hölzerne Leiche einer bösartigen kleinen Meerjungfrau. Ein trüber, feuchtklebriger Nebel umhüllte die morschen Holzplanken, und dort, wo sie durch die Wasseroberfläche durchschnitten, breiteten sich schwarze Schlieren in den stummen Wellen aus. Shinya spürte, wie ihm ein eiskalter Schauder über den Rücken lief, fast so, als ob sich ein paar Tropfen des nächtlichen Meerwassers unter den Stoff seines Oberteiles gestohlen hätten. Erst jetzt, als der Schrecken über das plötzliche Auftauchen des finsteren Schiffes sich zumindest wieder ans Abklingen machte, fiel ihm überhaupt erst der eigentliche und wohl größte Fehler an der ganzen Sache auf: Der mächtige Bug schlug keine Wogen im nachtschwarzen Ozean. Präzise wie ein hölzernes Beil zertrennte die Barke die schlafenden Fluten, ohne Bewegung in den dunklen, weiten Wasserspiegel zu bringen. Der Halbdämon schluckte schwer. „Das… das ist doch…“, murmelte er und brach dann ab, weil ihm sowieso keine sinnvollen Worte mehr einfallen wollten. „Jetzt müssen wir also… warten bis es anlegt“, flüsterte Hoshi atemlos, während ihre Finger nach Shinyas Hand tasteten. Der Katzenjunge nahm den Halt bereitwillig an und brachte als Antwort nicht mehr als ein stummes Nicken zustande. Allerdings hüllte sich in diesem Moment selbst Noctan in Schweigen, die kalten Augen ein Stückchen größer als gewohnt, und das tröstete Shinya doch ungemein. Leider änderte die kollektive Sprachlosigkeit nicht unbedingt sonderlich viel daran, dass die folgenden Sekunden wie in Zeitlupe verstrichen, während sich das Geisterschiff mit grotesk majestätischer Bedächtigkeit der weißen Küste näherte. Es dauerte unbeschreiblich lange, bis die Barke endlich den verschlafenen Strand erreicht hatte, und Shinya ertappte sich einen Moment lang bei dem Gedanken, warum das große Schiff eigentlich nicht auf dem niedrigen Grund auflief. Doch natürlich musste sich ein Geisterschiff nicht an gleich welche Naturgesetze halten, und so ruhte das schwarze Holz nur wenige Zentimeter über dem silbrigen Sand und vergiftete das schimmernde Wasser, ohne jedoch selbst einen Schatten darauf zu werfen. Ein ganz anderer Schatten hatte dafür mittlerweile die kalten Fluten erreicht – die finsteren Abbilder der Drillingssteine, deren Konturen aber nicht am Rande der Wellen abbrachen, sondern sich dort vielmehr zu… festigen schienen. Im ersten Augenblick konnte Shinya diesen merkwürdigen Vorgang nur undeutlich erkennen, dann jedoch endlich begriff er, welch vergleichsweise simple Wahrheit eigentlich hinter den so rätselhaften Worten der Seherin gesteckt hatte. Der Mondschatten bildete einen Steg aus grauschwarzem Holz. Er führte direkt in das Innere des Schiffes, geradewegs auf ein mannshohes Loch zu, das wie eine Wunde blutenden Schattens in der Seite der Barke aufklaffte. Der Anblick ließ ein diffuses Gefühl von Übelkeit in ihm aufsteigen, aber Shinya unterdrückte diese tiefe Abscheu und trat einen Schritt auf die schmale Planke zu. „Ich… ich sag’s nicht gern, aber… wir haben wohl keine Wahl!“ Der Halbdämon zwang eine entschlossene Festigkeit in seine Stimme, atmete so tief durch, dass die abkühlende Nachtluft beinahe schon in seinen Lungen schmerzte, und setzte dann rasch, bevor er einen weiteren Gedanken fassen konnte, seinen linken Fuß auf die etwas morsch wirkende Brücke. In den wenigen Sekundenbruchteilen bevor seine Stiefelsohle auf dem schattenfarbenen Holz auftraf, sah Shinya eine wirre Sequenz düsterer Bilder wie eine letzte prophezeiende Vision vor seinem inneren Auge ablaufen. Er sah, wie die Planke sich unter der Berührung auflöste, ebenso plötzlich, wie sie erschienen war. Genau genommen hätte es ihn nicht einmal mehr gewundert, wenn sich statt des mehr oder minder festen Holzbodens ein endloser Höllenschlund unter ihm aufgetan und ihn verschlungen hätte, um ihn in eine Welt aus Schmerz, aus Leid und ewiger Verdammnis hinabzureißen. Stattdessen ertönte aber lediglich ein erschrockenes Quietschen und die hölzernen Planken schwankten leicht unter der ungewohnten Belastung, ließen sich darüber hinaus jedoch bereitwillig beschreiten und überqueren. Shinya atmete auf, obgleich ein Gefühl von wahrer Erleichterung ausblieb, und trat dann eilig in das Innere des Schiffes. Zwar wusste er jetzt, dass ihr ungewöhnliches Gefährt zumindest so weit materieller Natur zu sein schien, um sein Gewicht zu tragen, dennoch wollte er die Geduld des morschen Holzsteges nicht überstrapazieren. Das Erste, was den Katzenjunge nach seinem übereilten Eintritt in der Barke erwartete, war ein Vorhang dichter, vollkommener Dunkelheit, die jedoch rasch zu einem langen, niedrigen Gang zerfloss, der sich nach beiden Seiten hin erstreckte. An dem Ende zu Shinyas Linken und an der ihm gegenüberliegenden Wand führten etliche Türen ein wenig ansehnliches Dasein, während am anderen Ende eine Wendeltreppe nach oben führte. An Deck? Oder lediglich auf einen weiteren, vielleicht sogar noch bedrückenderen Korridor? Shinya wollte es eigentlich gar nicht wissen, fast genauso wenig, wie er hinter die rostigen Metalltüren blicken wollte, die zwischen all dem schwarzen Holz doch reichlich deplaziert wirkten. Noctan war der Letzte, der über die knarrenden Planken in das geisterhafte Schiffsinnere trat. Er hatte kaum die schwarz blutende Öffnung in der Seitenwand durchschritten, als sich diese auch schon wieder verschloss – oder besser gesagt, einfach verschwand. Von einer Sekunde auf die andere war das zerfetzte Holzgerippe wieder zu einem nahtlosen Ganzen verschmolzen, und obwohl nicht einmal die Ahnung eines Bebens durch ihr finsteres Gefährt lief, wusste Shinya, dass ihre Reise nun begonnen hatte. Der Katzenjunge ließ sich an einer der schwarzen Wände herabsinken, zog die Knie an den Körper und starrte auf die verästelte Musterung des hölzernen Bodens. Ein türkisblaues, nebliges Licht erfüllte den Gang, durchzogen von silbrigen Fäden des Mondlichts, das sich verstohlen durch die kreisrunden Glasaugen des Schiffes in sein Inneres schlich. „Jetzt heißt’s dann wohl warten, Leute“, seufzte er und zeichnete mit einem Finger unsichtbare Muster auf die nachtfarbenen Planken. „Wer möchte… und wer sich das zutraut, kann von mir aus gerne schlafen. Ich weck ihn dann, wenn wir angelegt haben.“ Ein kurzer Blick an die kahle, dunkle Decke, die auch von seiner sitzenden Position aus noch beunruhigend nahe wirkte, gab Shinya augenblicklich die Gewissheit, dass er in dieser Nacht gewiss kein Auge zumachen würde. Schuld daran war nicht einmal unbedingt nur die Tatsache, dass er gerade eben in einem Geisterschiff saß und mit etwas Glück nicht einfach seinem Tod und Verderben, sondern – viel besser noch – einer verfluchten alten Mörderstadt entgegenfuhr. Der Katzenjunge mochte nun einmal keine Schiffe, und noch viel weniger mochte er enge, schmale Gänge wie jenen, in dem er genau in diesem Augenblick sitzen und warten musste. Aber was sollte er denn auch tun? Dies war vielleicht nicht der richtige, dafür aber leider doch der einzige Weg. Und vor allem gab es schon lange kein Zurück mehr. Das Warten zwischen schwarzem Holz, blauem Nebel und silbern beschlagenen Bullaugen entwickelte sich zu einer ungeahnten Qual. Immer noch drang von draußen nur blasses Mondlicht herein, obwohl mittlerweile zweifellos schon mehrere Stunden vergangen waren und der Tag somit ja eigentlich längst wieder angebrochen sein musste. Aber die Morgendämmerung ließ anscheinend nur allzu gerne auf sich warten und die Reise des Schiffes dauerte an. „Irgendwie ist es hier…“ Rayo blickte sich in seiner düsteren Umgebung um und rang nach den richtigen Worten. „… langweilig.“ „Hey, macht es doch einfach wie Misty – die schläft…“ Hoshi musterte die kleine Blauhaarige lächelnd. „Ich habe es ja immer geahnt: Sie ist tapferer als wir alle zusammen.“ „Schlafen? Hier? Bestimmt nicht!“ Shinya verzog das Gesicht. „Aber Rayo hat Recht – es ist einfach tödlich! Ich meine… erst dachte ich: Wow, genau so hast du dir ein Geisterschiff immer vorgestellt. Ich hab da als Kind nämlich mal so ne Geschichte darüber gehört und… na ja… ich dachte immer, so ein Geisterschiff ist total unheimlich und böse und gefährlich und… und… ihr wisst was ich meine.“ „Oh ja!“ Der junge Adlige stieß einen tiefen Seufzer aus. „Offen gesagt, ich habe mir auch mehr von diesem verfluchten Gefährt versprochen. Aber wir sitzen nur hier und es geschieht überhaupt nichts – genauso gut könnten wir uns noch am Strand befinden! Dabei sollten wir doch eigentlich froh darüber sein, oder?“ „Warum eigentlich nur eigentlich?“ Noctan verdrehte die Augen. „Euch scheint es da ja offensichtlich anders zu gehen, aber ich für meinen Teil lege nur äußerst begrenzten Wert auf ein unterhaltsames kleines Geistertheater, wie es Hochwohlgeboren sich vielleicht erhofft hat. Mir würde es nämlich eigentlich schon voll und ganz ausreichen, wenn dieses Schiff seinen zweifelhaften Zweck erfüllen würde – uns nach Lluvia zu bringen, beispielsweise.“ „Ja, aber dann könnte es sich bitte auch mal damit beeilen!“ In Hoshis Blick lag ein Ausdruck wehmütiger Enttäuschung. „Irgendwie hatte ich ja auch Angst, als das Schiff da so eindrucksvoll angefahren kam, aber jetzt… nennt es ruhig kindisch, aber ich hab mir so eine verfluchte Barke irgendwie… romantischer ausgemalt. Aber jetzt… man kann ja nicht einmal aus dem Fenster kucken!“ „Ich bezweifle, dass der Anblick von Wasser, Wasser und nochmals Wasser überall und in allen Richtungen langfristig zu unserer Unterhaltung beitragen würde!“ Noctan stieß ein kurzes, abfälliges Lachen aus. „Außerdem… schön und gut, dieses Schiff mag es geben, aus welchen Gründen auch immer, das bestreite ich ja auch gar nicht. Aber ihr fürchtet euch doch wohl hoffentlich nicht allen Ernstes vor diesen ach so schaurigen Warnungen einer hysterischen alten Frau?“ „Was heißt hier fürchten? Ich sehe nur, dass wir mit einem Schiff reisen, das vor wenigen Stunden deiner Meinung nach auch noch ins Reich der Gruselmärchen gehört hat!“ Hoshi strich sich langsam eine ihrer langen dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Und außerdem… wenn du nicht an diese… schaurigen Warnungen glaubst, wieso schaust du denn dann nicht selber raus? Verrat mir das doch bitte mal!“ Der Weißhaarige machte eine abfällige Handbewegung in Richtung der jungen Lichtmagierin. „Weil… ich meine, ihr seid ja so versessen darauf, dass diese lachhaften Prophezeiungen wahr sind, und… natürlich würde ich aus dem Fenster sehen! Das ist doch lächerlich! Ich habe lediglich keine Lust dazu, wieder einmal als Sündenbock der Nation dazustehen, falls dann zufällig doch irgendetwas schief läuft.“ „Siehst du?“ Hoshi grinste. „Jetzt sagst du selber, dass etwas schief laufen wird, wenn du rauskuckst!“ „Das habe ich nicht gesagt!“ entgegnete Noctan unwirsch. „Aber ich sehe es schon kommen – dieses Schiff fährt in die falsche Richtung, Lluvia ist nur eine… eine hässliche, heruntergekommene Ansammlung von alten, verfallenen Ruinen… Shinya stößt sich beim Aussteigen das Schienbein an… und wie heißt es dann? – Hättest du nur nicht aus dem Fenster gesehen, Noctan! – Wir werden überfallen? – Das Fenster! – Der Planet geht unter? – Das Fenster!“ Er atmete geräuschvoll aus. „Wie soll ich sagen? Es gibt Dinge, auf die ich verzichten kann, und dies gehört ganz definitiv dazu. Ansonsten… nennt mir einen anderen Grund, nicht auf die weite, langweilige See hinauszublicken… außer vielleicht, dass sie weit und… langweilig ist.“ „Gute Ausrede!“ Shinya bleckte die Zähne. „Als ob dich das kümmern würde, was wir dir eventuell in hundert Jahren irgendwann mal vorhalten könnten! Wenn du uns unbedingt beweisen willst, dass du dich traust, da rauszuschaun, dann mach’s halt einfach! Ich hab jetzt wirklich keinen Bock auf ne Diskussion, so von wegen was wäre, wenn…“ „Also schön, warum eigentlich nicht?“ Der junge Weißhaarige erhob sich mit einem Ruck. „Oder denkt ihr etwa wirklich, ich habe Angst davor? Das ist ja direkt schon wieder amüsant…“ Mit einem gewohnt kalten Lächeln auf den Lippen trat er auf eines der von einem Ring aus rostigem Stahl eingefassten Bullaugen zu und fixierte mit seinen violetten Augen das silbrig glänzende, staubige Rund. „Ich… ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist…“ Rayos Stimme zitterte leicht. „Ach nein? Und wieso? Es passiert doch gar nichts!“ Noctan stieß ein wenig humorvolles, dafür sogar ungemein überlegenes Lachen hervor. „Was sagt ihr jetzt? Ist das Schiff oder gleich der ganze Planet untergegangen? Wurden wir von bösen Geistern gefressen? Wurden wi…“ Der Weißhaarige stockte. Sein Blick ruhte immer noch auf dem von einem feinen Netz aus Spinnweben überzogenen Stück Glas, doch irgendetwas in seinen Augen hatte sich… verändert, und obwohl die Veränderung nur minimal und eigentlich kaum zu bestimmen war, versetzte sie Shinya doch schlagartig in einen Zustand höchster Alarmbereitschaft und in seiner Kehle breitete sich eine unangenehme Trockenheit aus. „Noctan?“ Hoshi stieß Noctan in die Seite, doch dieser zeigte keinerlei Reaktion. Das Lächeln auf den Lippen der Lichtmagierin wurde ein wenig unsicher. „Hey, Noctan! Jetzt hör schon auf damit!“ „Noctan, das is echt nicht komisch!“ Shinya betrachtete den jungen Estrella, der wie in der Bewegung erstarrt im bleichen Kegel des Mondlichtes stand, mit stetig wachsender Beunruhigung. Natürlich traute er es Noctan voll und ganz zu, einfach nur irgendein boshaftes, wenig komisches Spielchen mit ihnen zu treiben. Er hätte auch zu gerne daran geglaubt, dass es so und nicht anders war, aber ein unendlich beklemmendes Gefühl in seiner Brust war da gänzlich anderer Meinung. Dann löste sich die Starre von Noctans Körper und, begleitet von einem leisen Zucken, schien endlich das Leben in seine Adern zurückzukehren. Langsam wandte er seinen Kopf von der Scheibe ab, hob dann wie mechanisch seine seltsam verkrampften Hände und verbarg das Gesicht darin. Wiederum verharrte er etliche Sekunden lang in dieser Position, und nur ab und an verriet ein Zittern seines Rückens, dass Noctan nicht einfach im kalten Schein des Mondes eingefroren war. Dann hob er mit einem Ruck den Kopf und starrte Shinya geradewegs in das Gesicht – so weit sich das überhaupt noch bestimmen ließ, denn die ehemals violetten Augen waren nunmehr grauweiß und wie von einem milchigen Film überzogen. Umso intensiver stach das pulsierende Rot der schwellenden Äderchen daraus hervor, die sich als grauenvoll lebendiges Netz durch die farblos trübe Masse zogen. Die Lippen des Weißhaarigen waren zu einem bebenden Grinsen verzerrt. Irgendetwas musste sich in Shinyas Hals festgesetzt und diesen gänzlich verschlossen haben, jedenfalls konnte nicht einmal mehr der Hauch eines staubigen Lüftchens in seine Lungen vordringen und ein hilfloses Keuchen entwich aus seinem Mund. Bewegen konnte er sich übrigens auch nicht mehr, nicht einmal seine Augen, und so blieb ihm nicht viel Anderes übrig als hilflos mit anzusehen, wie Noctans schneeweiße Finger heftig zu zucken begannen und wie er seine bebenden Lider mit scheinbar unermesslicher Anstrengung wieder über seine leeren Augen quälte. „Tu-tut doch… irgend… irgendetwas…“ Dann riss er die pochend weißen Höhlen nur umso weiter wieder auf, taumelte wie unter einem heftigen Schlag nach hinten und gab ein hysterisches, schrilles Lachen von sich. Seine Haut wirkte mittlerweile beinahe schon durchsichtig, wie von totenfarbenem Wachs überzogen, und irgendwo in seinen Augen platzte eine der heftig pulsierenden Adern auf und ergoss einen Schwall blutig roter Tränen über die bläulich schimmernden Wangen. „Noctan!“ Hoshi stieß einen seltsam tonlosen Schrei aus und sprang auf, der wankenden Gestalt entgegen. Die reagierte blitzschnell – und vollführte eine abgehackte Handbewegung in Richtung des Mädchens, begleitet von einem erneuten Lachen, das Shinya eine widerwärtig kalte Gänsehaut über den ganzen Körper jagte. Hoshi wich einen Schritt zurück. Aus ihrem Gesicht war jegliche Farbe entschwunden und ihre Finger zitterten. Über den Handrücken der Lichtmagierin zog sich ein tiefer Schnitt, aus dem langsam und behäbig ein dicker roter Faden hervorsickerte. „Ihr… werdet sterben…“, kicherte Noctan, bevor er sich ungelenk umwandte und schwankend wie ein Betrunkener auf die pechschwarze Wendeltreppe zustürzte, die sich in die bläulich nebligen Schatten des Schiffskorridors duckte. „Ihr… ihr werdet alle sterben!!“ Ende des siebten Kapitels Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)