Equinox von YourBucky ================================================================================ Kapitel 3: Kapitel III - Folge deinem Herzen! --------------------------------------------- Und wieder ein Equinox-Kapitel fertig, trotz des Abiturs und dem Abitur zum Trotz! ^_^ Es ist wieder mal viel, viel, viel hinzugekommen (man beachte den Wachstumsprozess... früher war dat Ding mal fünf Seiten lang...) und ich muss sagen, dass ich mit dem Ergebnis streckenweise sehr zufrieden bin. Streckenweise auch nicht, aber alles andere wäre auch unnormal... ^^; Ja, was soll ich sagen? Ich wäre über ein paar Commis sehr glücklich und ich könnte ein bisschen Motivation gerade gut gebrachen. In erster Linie hoff ich aber, dass das hier überhaupt irgendjemand liest. Und wünsche demjenigen viel Spaß dabei. Danke! ^^ Es war ein Tag, wie ihn selbst der herrlichste Hochsommer nicht schöner hätte hervorbringen können. Der Himmel trug ein leuchtend azurblaues Kleid, nur hier und dort verziert von luftigem Wolkenschleier, später jedoch nicht einmal mehr das. Doch obwohl die Sonne nach Leibeskräften auf die grüne Erde hinabstrahlte, war es keineswegs zu heiß, was vor allem an einem steten, angenehm erfrischenden Lüftchen lag, das ausgelassen über die Ebenen tobte. Und trotzdem war Shinya nicht uneingeschränkt glücklich, zumindest nicht so sehr, wie er es angesichts der ausnehmend guten Laune von Mutter Natur eigentlich hätte sein können. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen lag das nicht an körperlichen Gebrechen gleich welcher Art, sondern vielmehr an der Stille, die ihn auf seinem sonnigen Weg begleitete. Eine Stille, die unter jeden anderen Umständen wohl einfach nur beruhigend, harmonisch und entspannend auf sein tendenziell eher nervöses Gemüt eingewirkt hätte und die ja auch keineswegs vollkommen war. Über seinem Kopf kreisten Schwärme von Vögeln umher und erfüllten die warme Luft mit ihrem heiteren Gesang. In den Feldern, durch die sich ihr schmaler, windungsreicher Sandweg zog, arbeiteten zahlreiche Bauern, was natürlich auch nicht unbedingt leise vonstatten ging. Und selbst wenn diese einmal nicht zur Stelle waren und eine Wiese tatsächlich vollkommen verlassen in der Mittagssonne schlummerte, dann blieb doch immer noch das Rauschen des Windes, der die langen, schlanken Grashalme kitzelte. Nur Hoshi schwieg. Sie schwieg schon, seit die beiden jungen Estrella das Heimatdorf des Mädchens in den frühen Morgenstunden hinter sich gelassen hatten. Hoshi hatte sich nicht ein einziges Mal umgedreht, als sie sogar noch ein kleines bisschen schneller als Shinya über die seichten Hügel vor den südlichen Toren Tranquilas geschritten war, die Lippen fest aufeinandergepresst, die Lider gesenkt, ebenso den Kopf. Am höchsten Punkt der grünen Erhebungen (insofern man bei ihrer doch eher bescheidenen Größe überhaupt von irgendeinem wirklich hohen Punkt sprechen konnte), hatte sie dann doch noch einmal kurz zurückgeblickt, scheinbar, um nach Shinya zu sehen, doch der Katzenjunge bemerkte rasch, dass ihre Augen nicht wirklich seine Gestalt fixierten. Seitdem lag im Mienenspiel und in jeder einzelnen Bewegung der Lichtmagierin eine gewisse wehmütige Bedrücktheit, die nicht einmal der Wind hinfort tragen konnte, der sanft und übermütig mit den langen Strähnen ihres dunkelbraunen Haares spielte. Alles in allem war dies ein Gemütszustand, den Shinya bei dem Mädchen zuvor noch nicht einmal ansatzweise kennen gelernt hatte und auf den er nun umso weniger zu reagieren wusste. Er war so oder so nicht geübt darin, einen Menschen aufzuheitern oder gar zu trösten, und so beschloss er notgedrungen, sich erst einmal Hoshis Schweigen anzuschließen und auf dessen baldiges Ende zu hoffen. Eine Woche war seit seinem nächtlichen Aufeinandertreffen mit Phil bereits ins Land gezogen, und dank der rührenden Pflege der jungen Lichtmagierin und natürlich der Dorfältesten waren Shinyas Wunden doch weitaus schneller verheilt, als er das zunächst angenommen hatte. Er hatte auf Keikos strikte Anweisung hin sogar noch einen ganzen Tag länger das Bett gehütet, als er das aus seinem eigenen Ermessen heraus für nötig befunden hatte, und wenn er jetzt an das Gesicht der alten Frau dachte, als sie ihm und Hoshi endlich doch die Zustimmung zu ihrem gemeinsamen Aufbruch gegeben hatte, da war er sich sogar beinahe sicher, dass sie ihm diese zusätzliche Ruhezeit aus vollkommen anderen Gründen als der Sorge um seine Gesundheit verordnet hatte. Im Gegensatz zu der sich immer weiter trübenden Laune der Dorfältesten hatte Hoshi jedoch zu Anfang vielmehr in einer Art nervösen Hochgefühls geschwebt, hatte Frage um Frage gestellt (von denen Shinya nicht einmal annähernd die Hälfte wirklich hatte beantworten können) und den an und für sich fast schon lächerlich kleinen Lederbeutel, in dem sie ihre sieben Sachen verwahrte, ungefähr fünfzehnmal ein- und wieder ausgepackt. Sie war in einer scheinbaren Endlosschleife von einer Ecke des Raumes in die andere und wieder zurück gelaufen, hatte ungefähr alle zehn bis fünfzehn Minuten versichert, dass sie in der kommenden Nacht garantiert kein Auge zumachen würde, und hatte sich auch beim Abendessen mit deutlich gemindertem Appetit über Keikos wieder einmal ungemein köstliche Suppe hergemacht. Entgegen Shinyas Erwartungen hatte sich dieser elektrisierende Gefühlstaumel aus Euphorie, Vorfreude, ein bisschen Angst und ganz viel Abenteuerlust jedoch bereits am nächsten Morgen beinahe vollständig im Sande verlaufen und war dann spätestens seit ihrem Aufbruch aus Tranquila vollends versiegt. Was nun übrig geblieben war, das war nicht viel mehr als eine ausgedörrte Steppe von gedankenverlorener Niedergeschlagenheit, die sich Hoshi zwar nicht explizit anmerken ließ, die aber doch ganz unweigerlich auch auf Shinyas eigenes Gefühlsleben übergriff und die bis dahin vorherrschende heitere Reiselust auf unschöne Weise trübte. Der Katzenjunge stieß einen tonlosen Seufzer hervor und ließ seinen Blick über das spätsommerlich freundliche Panorama der weiten, sanfthügeligen Landschaft schweifen. Er war erschöpft, aber er scheute sich, nach einer weiteren Pause zu fragen, schon allein deshalb, weil ihn der Gedanke an den mühevollen Einstieg in eine noch so belanglose Konversation merklich mit Unbehagen erfüllte. Zu gerne hätte er irgendetwas unheimlich Intelligentes, Mitfühlendes uns behutsam Erheiterndes von sich gegeben, mit dem er dem Mädchen helfen und es endlich auf andere Gedanken bringen konnte, aber ihm wollte und wollte einfach nichts einfallen. Wie denn auch? Er konnte doch überhaupt nicht wissen, wie sie sich gerade eben fühlen musste. Wie ein Mensch sich fühlte, der seine Heimat verließ. Shinya ballte seine Hände zu Fäusten und biss die Zähne zusammen. Er wusste, dass sein Körper immer noch geschwächt war, dass sich das unvermeidliche Innehalten und Ausruhen nicht mehr allzu lange würde hinauszögern lassen, aber er war froh um jede Sekunde, in der er diesem notwendigen Übel doch noch einmal entgehen konnte. Er hatte nämlich wirklich allen Grund, zu fürchten, nichts als die falschesten aller falschen Worte zu finden und somit alles nur noch schlimmer zu machen, als es ja ohnehin schon war. Mehr und mehr begriff der Katzenjunge, dass es nicht nur Besorgnis, Mitgefühl und Hilflosigkeit waren, die trotz aller Sonne, Federwolken und lauen Lüftchen auf sein Gemüt drückten. Vielmehr war es so, dass er Hoshi trotz aller Wehmut, allem Schmerz und allem Kummer, die momentan ganz unzweifelhaft in der Brust des Mädchens herrschen mussten, uneingeschränkt und aus tiefstem Herzen beneidete. Trotz der gelungen hochsommerlichen Verkleidung des Tages hatte der verhältnismäßig frühe Einbruch der Dämmerung doch ganz unzweifelhaft darauf hingewiesen, welche Jahreszeit tatsächlich vor der Türe stand und mit wachsender Ungeduld um Einlass bat. Die noch junge Nacht war allerdings mindestens genauso schön wie der zurückliegende Tag, nahezu sternenklar, lediglich bevölkert von einigen durchaus kleidsamen Wolkenfetzen, die in bizarren, lockeren Kolonien über den tiefblauen Himmel zogen. Doch wieder einmal sollte es Shinya nicht vergönnt sein, die ruhige, verschlafene Schönheit der Natur uneingeschränkt zu genießen, denn sein Körper erinnerte ihn auf äußerst rabiate Weise daran, dass er ja eigentlich gerade erst von mehr als nur einer schweren Verletzung genesen und somit doch noch nicht unbedingt reisefertig war. In seinem Kopf hatte es sich ein mal dumpf pochender, dann wieder aggressiv stechender Schmerz wohnlich eingerichtet, und seine Brust nutzte die Gunst jedes einzelnen Atemzuges, um ihm wieder und wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, dass die obere Front seines Körpers seit neuestem von einer langgezogenen Narbe geziert wurde. Es kostete ihn zunehmend mehr Überwindung, nicht doch noch einmal um eine Ruhepause zu bitten, aber Shinya wusste, dass dieser Wunsch sich bei aller augenscheinlichen Bescheidenheit doch als so gut wie unerfüllbar gestaltete. Die betörende Heiterkeit des Wetters täuschte nur allzu leicht darüber hinweg, dass es zur momentanen Jahreszeit doch immer wieder auch zu plötzlichen Gewittern kommen konnte, und solch eine unliebsame nächtliche Überraschung wollte er weder Hoshi noch sich selbst zumuten. So setzte er tapfer einen Fuß vor den anderen, kämpfte sich Meter um Meter vorwärts, den Blick starr auf den nachtblauen Horizont gerichtet. Als er dann endlich einen hell erleuchteten Kreis inmitten des Flickenteppichs von Feldern, Wiesen und Weiden ausmachen konnte, da fiel dem Katzenjungen ein Felsmassiv von der Größe der weit im Norden gelegenen Silberberge vom Herzen (mindestens!). Es gelang ihm sogar, seinen Schritt noch ein klein wenig mehr zu beschleunigen, denn schon allein der Gedanke an ein warmes, wundervoll weiches und nach frischen Laken duftendes Bett spendete ihm neue Kraft - eine Kraft, die ihn so sehr beflügelte, dass er seinen Kopf in Richtung Hoshi zu drehen wagte, ihr ein Lächeln schenkte und dann mit erstaunlich ungezwungener Stimme das lange verloren geglaubte Wort ergriff. "Kennst du das Dorf?" Die Dunkelhaarige antwortete mit einem schwachen Nicken. "Das ist Avârta", sagte sie leise, während ihre dunklen Augen starr auf den immer näher kommenden Reihen der kleinen Häuser mit den hell erleuchteten Fensterchen ruhten. "Dort gibt es einmal im Jahr einen großen Viehmarkt und manchmal bin ich bei einem der Bauern mitgefahren, weil ich mir immer so gerne die Tiere angesehen habe. Das Gasthaus am Marktplatz ist wirklich schön und überhaut nicht teuer... selbst für unsere Verhältnisse!" "Willst du mir damit etwa unterstellen, dass ich irgendwie arm bin oder so?", knurrte Shinya und bleckte seine spitzen Eckzähne, was tatsächlich so etwas Ähnliches wie ein schwaches Lächeln auf Hoshis Gesicht zauberte. "Ach was", entgegnete sie mit einem etwas müde wirkenden Augenzwinkern, "du doch nicht. Du bist nur viel zu bescheiden, um hier in meiner Gegenwart mit deinem unermesslichen Reichtum zu protzen oder gar auf eine Übernachtung in einer dieser vollkommen überteuerten Luxusherbergen zu bestehen, habe ich Recht?" "Absolut!" Der Katzenjunge reckte sein Kinn so weit es ging in die Höhe und blickte auf betont herablassend arrogante Weise auf das dunkelhaarige Mädchen hinab. "Ich kann die Leute dort nich haben, mit ihrem ganzen Getue und wie sie sich dann immer sooo abartig toll vorkommen... das is echt widerlich." "Ja, total!", stimmte Hoshi in exakt demselben Tonfall zu, der jeder noch so verzogenen Prinzessin ohne weiteres Konkurrenz gemacht hätte. "Meine Güte, wir nehmen uns doch auch nicht so unheimlich wichtig, nur weil wir reich und gebildet und mächtig sind!" "Kein Stück", lachte Shinya, und spätestens als Hoshi in dieses Lachen einstimmte, war es keineswegs mehr eine unechte, aufgesetzte Geste, zu der er sich aus bloßer Zweckmäßigkeit hätte zwingen müssen. Er war erleichtert - und dankbar, dankbar, dass die Lichtmagier doch wenigstens ein kleines Stück ihrer guten Laune wiedergefunden hatte. Zudem kamen die Häuser Avârtas unentwegt näher, was allein ja schon mehr als nur Grund zur Freude war, verhieß es doch eine baldige Chance auf Ruhe, Erholung und insbesondere auf Schlaf. Tatsächlich kostete es die beiden erschöpften Estrella kaum mehr eine Viertelstunde, bis sie endlich die ersten Häuser des Dorfes erreicht hatten und in eine der schmaleren Gassen eintauchen konnten. Und obwohl Shinya doch an und für sich viel zu müde war, um seiner Umgebung noch wirklich Aufmerksamkeit zu schenken, so reichte der nächtliche Marsch zwischen Häuserwänden und Tavernentüren doch zumindest noch aus, um einen ersten, wenn auch noch reichlich oberflächlichen Eindruck von Avârta zu gewinnen. Insgesamt war hier alles ein bisschen weniger niedlich als in Tranquila - die Straßen breiter, das Kopfsteinpflaster gleichmäßiger, die Häuser exakter und größer gebaut. Die Gaststuben und Geschäfte (von denen Letztere freilich schon längst geschlossen hatten) waren deutlich geräumiger, sicherlich auch besser sortiert, teilweise sogar richtiggehend edel und stilvoll, dafür fehlte ihnen jener heimelige Charme, der im deutlich kleineren Nachbardorf allgegenwärtig gewesen war. Ein Dorf, wie man sich ein Dorf eben vorstellte, ganz ohne jeden Zweifel hübsch und idyllisch, aber dabei doch einfach... realer, ja, gewöhnlicher als das fast schon unwirklich märchenhafte Bilderbuchörtchen namens Tranquila. Durch den flackernden Lichtkreis einer Straßenlaterne hindurch traten Shinya und Hoshi auf das große Oval des Marktplatzes hinaus. Eine hohe Front von besonders kunstvoll ausgearbeiteten Fachwerkhäusern lag ihnen unmittelbar gegenüber, von denen Shinya das schönste und prächtigste mit relativ geringer Geistesanstrengung als Rathaus ausmachte. Rechts neben der Tür zierte eine vielfarbige Wandmalerei das weiße Mauerwerk. Sie zeigte einen Herren und eine Dame, beide in edle, kostbare Gewänder gehüllt, die sich vor einem dämmrigen Saal von erstaunlicher Tiefenwirkung die Hände reichten. Zwei Erker ragten aus der von schwarzen Holzbalken gezierten Fassade empor und rahmten ein großes Uhrwerk ein, das im Licht der Sonne wohl golden geschimmert hätte, nun jedoch vergleichsweise stumpf und einförmig im bläulichen Schwarz des Mondschattens schlummerte. Die von langen Spitzen gezierten Türmchen des ländlichen Prunkhauses zeichneten sich dafür nur umso schärfer konturiert vor dem samtenen Tuch des Nachthimmels ab, pechfarben und ohne jegliche Tiefe, schwarzes Tonpapier auf edel fließendem Stoff. Nur zwei Häuser weiter ragte aus dem träumerischen Schweigen des nächtlichen Dorfes ein Refugium von Licht und Geräuschen hervor, ein Fachwerkhaus mit rötlicher Balkenzierde, aus dessen hell erleuchteten Fenstern warmes Gelb in die Dunkelheit hinausflackerte. Mit der Helligkeit kam auch ein lebendiger Teppich von Musik, Gelächter, Stimmengewirr und Gläserklirren, der auf Shinya merkwürdigerweise nicht einmal abstoßend, sondern vielmehr einladend heimelig wirkte. Er war nun wirklich kein Freund großer Festlichkeiten und Menschenansammlungen, allein die Vorstellung von hemmungslosen Trinkgelagen und grölenden Bauersleuten ließ ihm eine ganze Armada von kalten Schauern über den Rücken laufen, aber die Präsenz einer Gaststube verhieß neben solch unangenehmen Ausuferungen menschlicher Fröhlichkeit doch in erster Linie auch Wärme, Sitz- und Schlafgelegenheiten. Allesamt Dinge, nach denen sich Shinya nun schon seit mehreren Stunden sehnte, und auch der Gedanke an menschliche Gesellschaft erschien ihm nach der unbestreitbar wundervollen Weite, Einsamkeit und Freiheit der silvanischen Ebenen doch als eine durchaus akzeptable Abwechslung. Der Katzenjunge öffnete vorsichtig die schwere, dunkle Holztüre, über der ein helleres Schild ihre zukünftige Raststätte als Gasthaus "Zum Winterfalken" auswies, und spähte vorsichtig in das Innere des herrschaftlichen Fachwerkbaus. Die Wirtsstube war nicht einmal sonderlich groß, dafür aber umso voller und lauter. Zwischen den großen, dunkelbraunen Bauernmöbeln herrschte auch um die sicherlich schon recht fortgeschrittene Stunde noch ein überaus reges Treiben. Im flackernden Kerzenlicht prallten große, randvolle Maßkrüge aneinander und die Luft war getrübt vom Rauch der Pfeifen und vom Dampf der Suppen und Braten. Die niedrige Decke wurde gestützt von breiten, viereckigen Holzpfeilern und -balken, zwischen denen sich eine überraschend bunte Vielzahl von Menschen tummelte. Eine Gruppe von Reisenden, die offenbar zusammengehörten, scharte sich um eine besonders große Holztafel und plauderte lautstark in irgendeiner Sprache, die Shinya nicht kannte und die in seinen Ohren auch reichlich unmelodisch klang. In einer Ecke weiter hinten saßen durchaus finster anmutende Gestalten, die Kleider, Haare und Bärte verfilzt, am Tisch nebenan vier gedrungene Bauern mittleren Alters, wobei es sich auf dem Schoß des gedrungensten und (zumindest nach Meinung des Katzenjungens) auch schmierigsten Exemplars eine junge, blond gelockte Frau bequem gemacht hatte, die Träger ihres ohnehin schon reichlich tief dekolletierten Kleides über die Schultern hinabgerutscht, die Frisur halb gelöst. Am letzten Tisch hatten es sich vier Männer und zwei Frauen bequem gemacht, deren äußerliches Gesamtbild ganz unzweifelhaft auf eine bessere Herkunft hinwiesen, angefangen beim Stoff ihrer Kleidung und dem Glanz ihres Haares bis hin zu ihrer gesamten Mimik und Gestik. Alles an ihnen hob sich so überdeutlich von der ausgelassenen bis ordinären Feierlust ihrer außerdem anwesenden Mitmenschen ab, dass es Shinya beinahe schon wieder unwirklich erschien und er sich im Nachhinein auch mehr als nur einmal noch fragen sollte, ob die Anwesenheit dieser Ladys und Edelmänner nicht vielleicht doch bereits der wirren Welt seiner Träume entsprungen war. So oder so waren sämtliche Plätze im Raum bereits besetzt, lediglich an der Theke selbst waren noch genau drei der langbeinigen, lehnenlosen Holzstühle frei, auf die sich Hoshi nun zielstrebig zubewegte. Die Dunkelhaarige nahm zur Rechten einer jungen Frau Platz, die sich von den Unterhaltungen der übrigens Gäste bislang noch fernhielt und mit einem versunkenen Lächeln auf den Lippen an einem Glas Rotwein nippte. Im warmen Dämmerlicht der Wirtsstube nahm Shinya zunächst einmal an, dass ihr langes Haar von brauner oder schwarzer Farbe sein musste, doch bei näherem Hinsehen erkannte er ganz eindeutig einen eigentümlichen Schimmer von Violett, der auf den glatten, von einem schwarzen Band zusammengehaltenen Strähnen lag. Die Fremde lächelte, als sie ihrer neuen Sitznachbarn gewahr wurde, und musterte die beiden jungen Estrella neugierig mit ihren grün funkelnden Katzenaugen. Sie trug ein weißes, bauchfreies Oberteil, das nicht zuletzt aufgrund seiner langen, weiten Ärmel an die traditionellen Kimonos der silvanischen Priesterinnen erinnerte, dazu eine hellbraune Hose aus grobem Stoff, die mindestens eine Nummer zu groß geraten schien und nur von einem breiten violetten Band auf Höhe ihrer Hüften gehalten wurde. Diese Hose steckte zudem in schweren, erdfarbenen Lederstiefeln und ihre Hände in schwarzen, fingerlosen Handschuhen, was insgesamt einen reichlich verwegenen Kontrast innerhalb ihrer Kleidung kreierte, ihr aber auch ganz unbestreitbar gut zu Gesicht stand. Ihr Körper war recht schlank, für eine Frau aber ungewöhnlich kräftig, durchtrainiert, ohne dabei auch nur im Geringsten massig und plump, sondern im Gegenteil einfach nur kampferprobt zu wirken. "Hallo, ihr beiden!", grüßte sie mit einem einladenden Nicken und hob kurz ihre Hand. "So spät noch unterwegs? Und das ganz allein, an einem Ort wie diesem?" "Warum denn nicht?", entgegnete Shinya schulterzuckend, ohne recht zu wissen, was er auch sonst hätte antworten sollen. Er war alles andere als ein guter Lügner, die besten, schlagfertigsten und passendsten Antworten auf überraschende bis unangenehme Fragen oder auch auf plumpe Beleidigungen fielen ihm meist genau zwanzig Minuten später ein (natürlich erst dann, wenn die Konversation längst beendet und die Schlacht erfolglos geschlagen worden war) und sein momentaner Zustand verbat ihm ohnehin jegliche Form von Kreativität. So warf der Katzenjunge stattdessen einen hilfesuchenden Blick in Richtung Hoshi, dich sich auch prompt dieses ihr einzigartige Lächeln auf die Lippen zauberte und dann ihrerseits zum rettenden Erklärungsversuch ansetzte: "Ach, wir haben uns wohl ein bisschen mit der Zeit verschätzt, es war heute so schön auf den Feldern und da kann man schon mal ins Trödeln kommen..." "Ja, das kenne ich!", lachte die violetthaarige Frau und schenkte dem Mädchen ein verschwörerisches Blinzeln. "Aber wisst ihr, was ich mich ganz besonders frage? Was führt euch denn überhaupt so mutterseelenallein in ein Dorf wie dieses? Ich meine... Avârta hat ja doch so einen gewissen Ruf, wie man sagt..." "Was für einen Ruf?", entgegnete Shinya und brachte mit viel Mühe noch die unvorstellbare Kraftanstrengung fertig, seine Stirn in Falten zu legen. Hoshi wich seinen Blicken aus und winkte eilig ab, während sie mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen verkündete: "Also nein, es... es ist so, wir sind nämlich auf der Suche nach einem... einem Bekannten von uns!" Shinya zog seine Augenbrauen noch ein kleines bisschen weiter nach oben und stieß einen tiefen, lautlosen Seufzer aus. Zumindest war er jetzt um eine einzige Erkenntnis reicher geworden: Seine Freundin schien die hohe Kunst des Lügens doch nicht unbedingt besser zu beherrschen, als er es tat, und der Halbdämon war sich nicht ganz sicher, ob ihn diese Erkenntnis nun freuen oder verzweifeln lassen sollte. Die katzenäugige Fremde schien diesen ja auch leider recht offenkundigen Mangel an Begabung nämlich ebenso rasch bemerkt zu haben wie er selbst, denn in die Wärme ihres Blickes legte sich ein leiser, zweifelnder Spott. "Donnerwetter, ihr seid ja richtig geheimnisvoll!", lachte sie und strich sich mit den Fingern durch ihren schnurgerade abgeschnittenen Pony. "Da kann ich bei meiner eigenen Person leider gar nicht mithalten. Und um gleich mal mit meiner höchstpersönlichen Entzauberung zu beginnen: Ich heiße Tierra Anciano, und ich persönlich bin sehr wohl aufgrund dieser... wie soll ich sagen... doch ein klein wenig zwielichtig scheinenden Gerüchte hierher gekommen, die man sich eben so über diese Stadt erzählt. Ich suche nämlich eigentlich Menschen... oder von mir aus auch Elben, die es im Kampf mit mir aufnehmen können, aber ich finde leider keinen rechten Gegner. Dabei habe ich schon eine wirklich lange Reise hinter mir, ich stamme aus den Silberbergen und... ach, das wird euch alles überhaupt nicht interessieren! Entschuldigt..." "Nein, natürlich interessiert es uns", protestierte Hoshi mit einem sanften Lächeln auf ihren Lippen und einem Blitzen in ihren dunklen Augen, das Shinya unmissverständlich klar machte, wie ernst es ihr mit diesen Worten tatsächlich war. Auch er hatte ja schon an ihrem ersten und ganz nebenbei auch noch wunderschönen gemeinsamen Abend am eigenen Leib erfahren dürfen, wie begierig das Mädchen nach jeglicher Art von Erzählungen war, ganz gleich ob nun aufregend-exotisch, amüsant oder einfach nur vollkommen alltäglich, und wäre er nicht so unendlich müde gewesen, er hätte noch Stunden in dieser Runde verbringen können - weniger, um die Geschichten selbst zu hören, sondern einfach nur, weil er sich an der Begeisterung auf Hoshis Gesicht einfach nicht satt sehen konnte. "Na, dann bin ich ja beruhigt!" Tierra lachte und warf sich mit einer schwungvollen Bewegung ihren dunklen Pferdeschwanz über die Schulter auf den Rücken. "Aber sagt, kennt ihr vielleicht zufällig jemanden, mit dem es sich zu kämpfen lohnt? Es ist nicht einfach, seine eigenen Fähigkeiten zu verbessern, wenn man niemanden hat, der einem darin überlegen ist!" "Ach, mir würde da schon jemand einfallen...", antwortete Shinya und verzog seine Lippen, wobei er sich nicht so ganz sicher war, ob es nun ein Grinsen oder ein Zähneblecken sein sollte. "Vorausgesetzt, dass du's mit ein klein wenig Todesmagie aufnehmen kannst..." "So, Todesmagie also?" Durch die grünen Augen der jungen Frau lief ein Funkeln, während sie mit der freien Hand eine betont abfällige Bewegung vollführte. "So etwas glaube ich erst, wenn ich es sehe. Ich habe schon viele Magier und mindestens ebenso viele Krieger getroffen, und beide haben ein eigentlich grundverschiedenes, aber gerade deshalb schon wieder so ähnliches Problem: Die mit der schönsten, richtig interessanten Magie, die packen es kaum, ein Schwert auch nur anzuheben. Und diejenigen, die eine stählerne Klinge noch im Tiefschlaf herumwirbeln können, die bringen es dafür nicht fertig, mehr als einen mickrigen Feuerball zu erschaffen... meistens nicht einmal das. Auf die eine oder die andere Weise bin ich also immer unterfordert und das... das frustriert. Also sagt schon, von wem sprecht ihr?" "Er heißt Phil... Phil Maxim Amarillo, und der Name sagt ja eigentlich schon alles." Shinya verzog sein Gesicht, so abfällig und angewidert, wie er es eben noch irgendwie zustande bringen konnte. "Aber hey, wenn du ihn triffst - was ich dir bei allen Göttern nicht wünschen möchte! - erzähl im bloß nicht, von wem du den kleinen Tipp hier hast, ja?" "Sieh an, sieh an, ihr werdet ja immer geheimnisvoller..." "Schon möglich", murmelte Shinya, doch kaum hatte er ausgesprochen, da verzog sich sein Gesicht auch schon in einem vehementen Gähnanfall, der zusammen mit einer neuerlichen Flutwelle von Müdigkeit und Erschöpfung über seinen Körper hereinbrach. Mit einem Mal war es dem Katzenjungen, als ob er jede einzelne beschwerliche Minute und Sekunde des zurückliegenden Tages tonnenschwer auf seinen Schultern lasten fühlte, und er sah sich außer Stande, diesem erdrückenden Gewicht noch länger Kontra zu bieten. "Na, müde?", erkundigte sich Tierra auch prompt, und der Katzenjunge hob seine Schultern und grummelte leise. "Ich glaub, ich werd mich dann... langsam mal hinlegen..." "Hinlegen? Ja, wo denn?" Hoshi schüttelte den Kopf und sah Shinya mit großen Augen an. "Also ich könnte jetzt noch nicht schlafen... wir müssen uns doch noch etwas zu Essen kaufen, und ein Zimmer haben wir auch noch nicht reserviert!" "Dann mach doch mal...", nuschelte Shinya in seine Arme hinein, die er auf dem Tresen verschränkt und zur leidlich bequemen Stütze für seinen unerträglich schwer gewordenen Kopf umfunktioniert hatte. "Ich ess dann halt morgen früh was." "Na schön... ist deine Entscheidung." Sie stand auf und ging zu dem Wirt hin, anstatt ihn einfach zu sich zu rufen. Shinya sah, wie sich die Lippen der beiden abwechselnd bewegten (wenn auch ein wenig verschwommen, wie durch das von einem leicht trüben Film überzogene Glas eines alten Fensters hindurch), aber er konnte keinerlei Worte mehr verstehen... oder besser gesagt, es waren viel zuviele Worte, die da von allen Seiten auf seine trägen Ohren einprasselten, Worte verschiedenster Stimmlagen und Sprachen und Lautstärke, ein Brei von unstimmigen Geräuschen, aus dem sich unmöglich noch einzelne Zutaten herauspicken ließen, und irgendwann gab er es einfach auf und senkte seine Lider. Leider war es ihm nicht vergönnt, allzu lange in dieser wundervoll nebligen Finsternis zu verharren, eingebettet in tausend verschiedene Klänge, die sich in der Trübheit seiner Gedanken zu einem plötzlich gar nicht einmal mehr so abstoßenden Gesamten vermischten und ihn wie ein planlos gewobener Tonvorhang von der hektischen Außenwelt abschirmten. Schon nach wenigen Minuten (höchstens fünf) fühlte er einen unsanften Ellbogenstoß in seiner Seite und zwang sich mit einiger Mühe dazu, langsam und lethargisch seinen Kopf anzuheben. "Hm?", machte er und blinzelte fragend in Hoshis Gesicht, das merkwürdig unscharf in seinem allgemein nicht unbedingt durch klare Konturen geprägten Blickfeld erschienen war. "Ich hab zwei Betten im Gemeinschaftsraum genommen, war das Billigste so", verkündete sie und wedelte mit einem kleinen, schmucklosen Silberschlüsselchen nur wenige Zentimeter vor Shinyas Nase umher. "Wenn du unbedingt willst, dann können wir uns jetzt hinlegen!" "Wieso wir?", stieß Shinya begleitet von einem neuerlichen Gähnen hervor und griff mit leicht zittrigen Fingern nach dem fantasielos gestalteten Stück Metall. "Wenn du nicht müde bist, dann bleib halt noch da und lass dir ein paar Geschichten erzählen. Ich werd schon nich auf halbem Weg zusammenbrechen, und wenn doch, was soll's? Schlaf ist Schlaf und zur Not tut's auch ein Herbergsflur!" "Ach, du Idiot!" Hoshi schüttelte lächelnd den Kopf, während der Katzenjunge sich auf überaus umständliche Weise von seinem leicht wackligen Sitzplatz herunter- und wieder auf die Beine quälte. "Nun mach schon, dass du ins Bett kommst, bevor du wirklich noch im Stehen einschläfst! Und träum was Schönes, ja?" "Ich tu mein Bestes!" Shinya hob noch ein letztes Mal kraftlos die Hand, um Hoshi und Tierra so etwas Ähnliches wie ein Winken zu schenken, dann drehte er sich bedächtig herum und schlurfte die Treppe zu ihren Schlafräumen hinauf. Er konnte sich selber nicht so recht erklären, warum er mittlerweile gar so müde war, aber es fiel ihm mit jeder Sekunde schwerer und schwerer, sich überhaupt noch auf den Beinen zu halten. Er war heilfroh, die Türe ihres gemeinschaftlichen Schlafraumes unverschlossen vorzufinden (immerhin war die korrekte Verwendung eines Schlüssels doch ein sehr bedeutsamer Akt, der höchste Konzentration und Fingerfertigkeit erforderte!), und so zögerte er nicht mehr lange, diese aufzustoßen und einzutreten. Noch während er dies tat, fiel ihm siedend heiß wieder ein, dass er sich doch vielleicht auch um so etwas wie eine vorsichtige, geräuscharme Art der Fortbewegung bemühen sollte, immerhin war dies ja ein Gruppenzimmer und er wusste nicht, wie viele Menschen dort möglicherweise schon schlafen würden. Sicherlich waren nicht alle Reisenden so freundlich, aufgeschlossen und redegewandt wie diese junge Frau namens Tierra, und aus irgendeinem Grund zog es der Katzenjunge doch bei all seiner Müdigkeit immer noch vor, aus eigenen Kräften in ein möglicherweise nicht ganz so bequemes Gaststättenbett zu wanken, statt von der pfannengroßen Faust eines unsanft aus dem Schlaf gerissenen Fußsoldaten auf eine eher unfreiwillige Reise ins Reich der Träume beziehungsweise in die nächstgelegene Ecke geschickt zu werden. Tatsächlich brannte aber noch Licht in dem gar nicht einmal so großen Zimmer, das zu Shinyas Überraschung dank seiner Dachschräge, dem Kerzenschein und den einladend geräumigen Betten sogar ganz unwahrscheinlich gemütlich aussah. Es schien bislang nur ein einziger Schlafplatz besetzt zu sein, das Bett in der linken hinteren Ecke des Raumes. Ein junger Mann saß mit verschränkten Beinen auf dem voluminösen Weiß der Bettdecke, und obwohl Shinyas Augen immer noch in einem Zustand bleierner Müdigkeit verharrten, ließen sie es sich doch nicht nehmen, die unbekannte Gestalt einer näheren Musterung zu unterziehen. Kaum war dieser Plan erst einmal gefasst und in die Tat umgesetzt worden, hatte der Katzenjunge auch schon seine liebe Mühe, den Fremden nicht einfach noch weitere fünf bis zehn Minuten lang anzustarren. Er wollte es nicht tun und er erschrak beinahe schon ein klein wenig über sich selbst, denn er kannte dieses schamlose Glotzen nur zu gut, weit besser als ihm lieb war. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn sich Blicke in spitze Pfeile und klebrige Wurfgeschosse verwandelten und er verabscheute es aus tiefstem Herzen. Doch nun fiel selbst ihm die Beherrschung schwer, denn dieser Fremde war nun einmal alles andere als eine unauffällige Gestalt, und wenn selbst Shinya zu diesem Schluss kam, ja, dann wollte es schon was heißen! Er musste noch sehr jung sein, kaum älter als der Katzenjunge selbst, doch sein Haar war so weiß wie Schnee. Es fiel ihm in langen Strähnen vor das Gesicht und war im Nacken zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden. Faszinierenderweise passte sich diese ohnehin schon reichlich ungewöhnlich Farbe (oder besser gesagt, Nicht-Farbe) auch noch bis auf wenige feine Nuancen an die bleiche Haut des Fremden an, die zwar eben wie gesagt sehr hell, dabei aber keinesfalls zu blass oder kränklich wirkte. Wie um diesen Gegensatz gekonnt noch weiter zu betonen und in Szene zu setzen beschränkte sich die Kleidung des Weißhaarigen auf ein Spektrum zwischen Dunkelgrau und Schwarz. Selbst die Stiefel, die neben dem Bett standen, glänzten in der Farbe der Nacht. Er hielt seinen Kopf leicht gesenkt, doch trotzdem konnte Shinya unzweifelhaft erkennen, was für ein auffallend schönes Gesicht sich hinter den vereinzelten weißen Haarsträhnen verbergen musste, sehr ernst und irgendwie... kühl, aber eben doch ganz unbestreitbar schön und außergewöhnlich ebenmäßig. In seinen Händen hielt er ein langes, verhältnismäßig zierliches Zweihandschwert und war dabei derart in die sorgfältige Politur von dessen leicht gebogener Klinge vertieft, dass er Shinyas Eintreten scheinbar noch gar nicht bemerkt hatte. "Ähm... hi!", murmelte der Halbdämon in reichlich müdem, aber doch noch unüberhörbar freundlichem Tonfall, während er sich auf der erstaunlich weichen Matratze des Bettes niederließ, das unmittelbar neben dem des weißhaarigen Fremden stand. Dieser reagierte zunächst einmal überhaupt nicht auf den zugegebenermaßen nicht sonderlich poetischen, aber doch immerhin aufrichtig bemühten Kontaktversuch des Katzenjungens, dann hob er kurz seinen Kopf und bedachte Shinya mit einem finsteren Blick aus zwei eisig kalten Augen von der Farbe dunklen Violetts. Der Halbdämon spürte, wie ihm ein frostiger Schauer den Rücken hinablief, und er hatte es sogar noch ein kleines bisschen eiliger, seine Stiefel abzustreifen und dann genüsslich seufzend unter das himmlisch warme und weiche Weiß seiner Bettdecke zu verkriechen. Was kümmerte es ihn denn eigentlich, dass nun einmal nicht alle Gestalten, die seinen bislang doch noch verhältnismäßig kurzen Weg kreuzten, so nett und freundlich und zuvorkommend sein konnten wie die bisherigen? Die Matratze war gemütlich, ganz unendlich gemütlich, außerdem duftete sie leicht und angenehm nach frisch gewaschener Wäsche, und noch ehe er jeglichen weiteren Gedanken in gleich welche Richtung verschwenden konnte, fielen ihm auch schon die Augen zu und er selbst in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als Shinya endlich wieder erwachte, da fiel sein Blick zunächst einmal auf gelblich weiße Bahnen weicher Helligkeit, ganz offensichtlich Sonnenlicht, und zudem noch das Licht einer Sonne, die schon recht hoch am Himmel stand und deren Strahlen sich in all ihrer Kraft und Heiterkeit ohne größere Mühe an dem zarten Stoff der Vorhänge vorbeistahlen. Der Katzenjunge ahnte, dass er lange, sogar überaus lange geschlafen haben musste, aber er fühlte sich so wunderbar ausgeruht und erholt, dass ihn diese vermeintliche Zeitverschwendung nicht auch nur im Geringsten erschüttern konnte. Er wusste nicht, wie viele tausend um tausend Schritte noch vor ihm lagen, aber er fühlte sich nun endlich wieder gestärkt für seinen Marsch ins Ungewisse, und diese neu gewonnene Kraft rechtfertigte jede (obendrein sowieso recht belanglose) Verzögerung ihres nahenden Aufbruchs. Ein kurzer, bedächtiger Rundumblick verriet ihm, dass die übrigen Betten mittlerweile leer und verlassen im möglicherweise bereits mittäglichen Sonnenschein lagen. Offensichtlich war Hoshi nicht nur nach ihm ins Bett gegangen, sondern auch vor ihm wieder aufgestanden, und hätte seine Bettdecke nicht so unendlich weich und kuschelig auf seinem Körper gelastet, wäre diese Erkenntnis wohl tatsächlich der erste Schritt zu solch unangenehmen Gefühlen wie Verlegenheit oder gar Scham gewesen. So aber kümmerte ihn auch die Aussicht, in den Augen des Mädchens nun auf immer und ewig als Langschläfer abgestempelt worden zu sein (was ja im Übrigen auch der Wahrheit entsprach), sogar ganz herzlich wenig. Warum denn auch? Er fühlte sich großartig dabei! Getreu dieser neu entdeckten Gemächlichkeit hatte es Shinya auch noch nicht einmal ein winzig kleines bisschen eilig, als er sich schließlich doch aus den himmlisch luftigen Federn bequemte, in seine Stiefel schlüpfte und dann eifrig gähnend hinab in die Gaststube trottete. Dort war im krassen Gegensatz zum Vorabend nicht mehr sonderlich viel los und auch das Licht war dämmrig verschlafen, denn die Fenster waren nur klein und lagen verhältnismäßig tief in der Wand. Der Katzenjunge störte sich jedoch nicht im Mindesten daran, sondern genoss im Gegenteil die etwas finstere Atmosphäre, die das schwarze Holz der Stützbalken und Möbel in dem geduckten Raum verbreitete, erschien es ihm doch als das perfekte Umfeld zu einer gnädigen Verlängerung seines halbwachen Zustandes. Er genehmigte sich ein ausgiebiges Frühstück, das glücklicherweise im Übernachtungspreis mit inbegriffen war, verzieh dem gut gelaunten Wirt sogar wortlos die mehr als nur angedeutete Trockenheit von Brot und Brötchen und selbst die Tatsache, dass der Orangensaft wohl doch ein ganz klein wenig mit Wasser gestreckt worden war, ach, eigentlich war das alles auch überhaupt kein bisschen schlimm und es schmeckte trotzdem wunderbar. Als er dann aus dem Gasthof hinaus auf den Marktplatz trat, da war nicht nur der Himmel vollkommen und ungetrübt blau, im hellen Licht der Sonne gelang es ihm sogar binnen weniger Augenblicke und ohne größere Mühe, Hoshis Gestalt im regen Treiben der Händler und Reisenden auszumachen. "Hey, Hoshi!", rief er über das Stimmengewirr und Viehblöken hinweg, während er sich seinen Weg zu der Dunkelhaarigen hin bahnte, die neben der violetthaarigen Frau vom Vorabend auf dem Rand des Marktbrunnens saß und ihm lachend entgegenwinkte. "Na, gut geschlafen?", begrüßte sie ihn und tauschte ein verschwörerisches Grinsen mit Tierra aus, das Shinya jedoch kurzerhand zu übersehen beschloss. "Aber sicher doch!", entgegnete er und warf sich seinen Zopf über die Schulter. "Geschlafen und gegessen, alles fertig und zu jeder neuen Schandtat bereit." "Was?!", keuchte das Mädchen und machte große Augen. "Schon? Meine Güte, da bist du aber früh dran!" "Ja, nicht?" Shinya zauberte eine perfekt naiv-unbekümmerte Miene auf sein Gesicht. "Ich bin ja auch total stolz auf mich, genauso wie ihr auf euch, nehm ich zumindest an, weil ihr doch heute so wie's aussieht auch schon mindestens genauso viel und genauso knochenhart gearbeitet habt wie ich, hab ich recht?" "Ich würd mir am liebsten selbst einen Orden verleihen!" Hoshi kicherte. "Ach Shinya, weißt du eigentlich, wie bescheuert du manchmal sein kannst? Ich finde das toll! Aber jetzt mal ganz im Ernst, was sollen wir machen? Weiterziehen, hier bleiben, und wenn hier bleiben, was dann?" "Hm... gute Frage..." "Finde ich auch!" Die Dunkelhaarige seufzte leise und schüttelte den Kopf. "Ach Gott, ich habe mir so viele Gedanken über das gemacht, was uns irgendwann mal bevorstehen wird, dass ich ganz vergessen habe, zu überlegen, wo wir eigentlich anfangen sollen..." "Ja, so geht's mir irgendwie auch...", grinste Shinya, ganz und gar unfähig, sich tatsächlich einer schwermütig nachdenklichen Stimmung hinzugeben. Am liebsten hätte er die Arme weit ausgebreitet, sich etliche Male im Kreis gedreht und dabei laut gesungen, aber da ihm das aus irgendeinem Grund für die ruhmreiche Erfüllung ihrer ungemein bedeutsamen Aufgabe nicht unbedingt essentiell wichtig zu sein schien, beließ er es stattdessen bei einem zufriedenen Seufzen und stemmte sich die Arme in die Seiten. "Jetzt müsst man sich halt hier mal irgendwie auskennen, nich?" "Hm... auskennen ist gut!" Hoshi runzelte die Stirn. "Viel mehr als den Weg hin zum Markt, vorbei an günstigem Essen und annehmbaren Schlafplätzen kenn ich leider auch nicht... und selbst wenn, es ist schon wieder einige Jahre her, dass ich das letzte Mal hier war." "Was sucht ihr denn?", mischte sich Tierra mit einem höflich fragenden Blick in das Gespräch der beiden jungen Estrella ein. "Ich möchte zwar nicht unbedingt behaupten, dass ich mich hier als Stadtführerin verdient machen könnte, aber immerhin bin ich nun schon seit drei Tagen hier in Tranquila, habe einiges gesehen und zuvor sogar noch ungleich mehr gehört, also wenn ihr einen einfach zu erfüllenden Wunsch hegt, nur zu, nur zu, fragt mich danach!" "Also..." Hoshi legte einen Finger an die Lippen und wandte nachdenklich ihren Blick gen Himmel, der ihr unveränderterweise in stahlblauer Perfektion entgegenstrahlte. "Wenn wir hier irgendwo etwas über alte Legenden und Sagen erfahren könnten, dann wäre das vielleicht gar nicht so verkehrt." "Über Legenden und Sagen? Hm... nicht weit von hier soll anscheinend eine alte Frau leben, die vor allem über Göttersagen und diesen ganzen Kram ziemlich gut bescheid wissen soll..." Tierra grinste, dann jedoch stahl sich ein reichlich verlegener Ausdruck auf ihr Gesicht, bei dem sich Shinya aber doch nicht vollkommen sicher sein konnte, ob er denn nun tatsächlich ernst gemeint war oder nicht. "Huch... klang das jetzt etwa blasphemisch?" Hoshi lächelte und sah dabei wieder einmal ganz unbeschreiblich bezaubernd aus. Das Sonnenlicht verlieh ihrem dunklen Haar einen schweren goldenen Schimmer und ließ ihre Augen sogar noch ein klein wenig mehr strahlen, als sie das von sich aus ohnehin schon taten. "Eigentlich sind Göttersagen ja nicht ganz das, wonach wir suchen", sagte sie, was - zumindest Shinyas Meinung nach - momentan aber sowieso vollkommen unbedeutsam war. "Oder vielleicht doch... ich weiß nicht... es ist so ein bisschen ein spezielles Thema, das uns interessiert. Ich weiß nicht, ob die Frau uns da weiterhelfen kann... das Problem ist wohl, dass ich auch nicht genau weiß, welche Fragen ich nun stellen müsste..." "Ihr sucht also mehr so eine Art allumfassende Wissensquelle auf dem Gebiet mythologischen Stoffes, richtig?" Shinya nickte, ohne wirklich zugehört zu haben. "Na dann... wie wäre es denn, wenn ihr euch einfach noch ein bisschen an mich dranhängt und mit mir in die große Bibliothek kommt? Ich meine... ich war noch nie dort, zumindest nicht höchstpersönlich, aber ich suche schon lange nach einem gewissen Buch, in dem eine fast vergessene Kampftechnik beschrieben wird, und man sagte mir, wenn ich es überhaupt irgendwo finden könne, dann hier! Klingt doch schon mal gar nicht so übel, oder?" "Hm... nö...", antwortete Shinya auf wenig geistreich - nur um im nächsten Augenblick buchstäblich zu erstarren, als er auf brutalst möglichem Wege aus der träumerisch-glücklichen Leichtigkeit des Seins gerissen wurde. Das Grinsen auf seinen Lippen gefror, seine Augen weiteten sich, und einen Moment lang war er sich nicht mehr so ganz sicher, ob sein Herz nun stehen bleiben oder doch lieber rasend schnell pulsieren wollte. Dabei war ja eigentlich zunächst einmal gar nichts weiter geschehen, als dass seine Hand, die er immer noch in die Seite gestützt hatte, um gute zehn Zentimeter nach unten verrutscht war, sodass sie sich nun knapp unterhalb seiner Hüfte befand. Genauer gesagt - exakt über jener Hosentasche, in der er seit Jahr und Tag seine Glückskugel aufzubewahren pflegte. Normalerweise jedenfalls. Momentan allerdings war besagte Tasche nicht viel mehr als ein leeres, schlaffes Stück Stoff, deren einziger Inhalt vielleicht bestenfalls noch etliche Staub- oder Sandkörnchen sein konnten, vielleicht auch ein klein wenig Erde oder der eine oder andere Fussel, aber gewiss kein nahezu faustgroßer Gegenstand von gläserner Schwere. Binnen weniger Sekundenbruchteile rasten tausend Bilder und Gedanken durch Shinyas Kopf. Er sah sich an Hoshis Seite durch die weite Hügellandschaft ziehen, einen strahlenden Sommerhimmel über und den hellen Sand des schmalen Wegleins unter sich, eingerahmt von wogenden Gräsern und golden leuchtenden Ähren. Er sah sich ebenso müde wie beeindruckt durch die Straßen Avârtas trotten, die Füße bei jedem einzelnen Schritt empört aufschreiend, aber die Augen weit geöffnet und wie gebannt auf dem dörflichen Prunk seiner Umgebung ruhend. Dann sah er sich im überfüllten Chaos der Gaststube, zahllose Fremde um sich herum, manche mehr, etliche weniger Vertrauen erweckend. Und schließlich sah er sich in einem Zustand vollendeter Erschöpfung in die verheißungsvoll weichen Federn seiner Decke fallen, unfähig, noch an irgendetwas Anderes zu denken als an Schlaf, Schlaf und nochmals Schlaf, süßen, alles vergessen machenden Schlaf... Was er dummerweise nicht sah, war auch nur eine einzige Szene, in der er seine Glückskugel mit Sicherheit noch besessen hatte. Dafür aber mindestens hundert verschiedene Augenblicke, in denen er sie ohne weiteres hätte verlieren können, oder in denen sie ihm - schlimmer noch! - ganz einfach in einem unbeobachteten Moment aus der Tasche hätte stibitzt werden können. Und selbst, wenn dem nicht so war - auch eine zufällig zu Boden gestürzte Kugel konnte sogar mit recht großer Wahrscheinlichkeit gefunden und dann von irgendeinem Fremden aufgelesen werden, und sollte Shinya sie gar auf dem endlosen Weg zwischen Tranquila und Avârta verloren haben, dann würde sich ein Wiederfinden wahrlich als Ding der Unmöglichkeit gestalten. Natürlich gab es da trotz jener altbekannten Macht mit Namen Pech, die sich in Shinyas Nähe seit jeher sogar ausgesprochen wohl zu fühlen schien, immer noch den einen möglichen Fall, dass ihm seine Glückskugel ganz einfach nur in der vergangenen Nacht oder auch erst am späten Morgen, der doch eigentlich viel eher schon ein Mittag gewesen war, auf denkbar unspektakuläre Weise auf ihrem Zimmer aus der Tasche gerollt war. Aber selbst dann war immer noch höchste Eile geboten, denn immerhin hatte da ja auch noch dieser ganz unbestreitbar faszinierende, dabei aber auch beängstigend kühle und finstere Fremde auf besagtem Zimmer Quartier bezogen, und wer sagte Shinya denn, dass er bei dem Anblick von Shinyas größtem Schatz auch tatsächlich seine Finger bei sich behalten konnte? "Shinya, was ist denn los?", erkundigte sich Hoshi mit halb besorgter, halb zweifelnder Miene, da ihr Shinyas entgeisterte Erstarrung selbstverständlich wieder einmal nicht entgangen war. Eigentlich war sich der Katzenjunge sowieso nicht mehr so ganz sicher, ob Hoshis wachen Augen überhaupt irgendetwas wirklich entgehen konnte, aber dennoch bemühte er sich um ein aufgesetztes, entschuldigendes Lächeln und winkte eilig ab. "Ähm - nix Besonderes, Hoshi, keine Sorge, ich... ich hab nur was auf unsrem Zimmer vergessen. Geht einfach schon mal vor, ja? Ich komm dann nach, sobald ich's wiedergefunden habe!" "Ja, aber... was denn? Shinya?!" "Das siehst du ja dann!", rief der Katzenjunge, während er auf dem Absatz kehrt machte und auf den dunklen Eingang des großen, im strahlenden Sonnenlicht sogar noch ein klein wenig stolzer und prachtvoller aussehenden Fachwerkhauses zueilte. "Wartet nich auf mich, fangt einfach schon mal an zu lesen!" Shinya konnte und wollte keine Antwort mehr abwarten - dazu hatte er es schließlich auch viel zu eilig, und so registrierte er die Worte, die Hoshi (oder war es am Ende doch Tierra gewesen?) ihm nachrief, auch bestenfalls noch am Rande, ohne sich jedoch in irgendeiner Weise um gleich welchen Sinn und Zweck dieser merkwürdig aufgeregt klingenden Tonfolge zu kümmern. "Warte, Shinya", hallte es hinter ihm über den Platz, "du weißt doch überhaupt nicht, wie man zur Bibliothek kommt!" Aber zu dem Zeitpunkt, als diese Worte ausgesprochen worden waren, da hatte Shinya bereits die Türe zur Gaststube aufgestoßen und war mit großen Schritten und keuchendem Atem ins Innere des "Zum Winterfalken" gestürzt. Shinya war auf die Knie gefallen. Buchstäblich im Staub gekrochen. Hatte im Vierfüßlergang jeden kleinsten Winkel der Gaststube akribisch untersucht und auskundschaftet. Unter jede Eckbank, jeden Tisch, jeden Stuhl hatte er sich gezwängt, hatte sich sogar schweren Herzens dazu durchgerungen, den Wirt und eine Bedienung auf die verlorene Kugel anzusprechen, doch im Endeffekt hatten ihm all diese Mühen nicht mehr eingebracht als die teils amüsierten, teils überaus irritierten und höhnischen Blicke der übrig gebliebenen Gäste. Im Grunde genommen war dies ein Ergebnis, das Shinya auch gar nicht weiter verwunderte. Er war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass, wenn er seine Kugel tatsächlich gerade an diesem Ort und noch dazu am vergangenen Abend verloren haben sollte, die Wahrscheinlichkeit, dass niemand den durchaus wertvoll anmutenden kleinen Gegenstand hatte mitgehen lassen, wahrlich gegen Null strebte. Trotzdem hatte er es mit einem Mal gar nicht mehr so eilig, die Stufen zu seinem Zimmer emporzusteigen, weil er schlicht und einfach viel zu sehr fürchtete, was er dort möglicherweise vorfinden - oder besser gesagt, nicht vorfinden könnte. Ein furchtbares Gefühl vollkommener Hilflosigkeit brach über ihn herein. Was sollte er denn nur tun, wenn sich ihm das Gruppenzimmer tatsächlich vollkommen leer und blank, ohne jede Spur seiner geliebten kleinen Kugel präsentieren würde? Weitersuchen? Aber wo? Er wusste nicht, wo er beginnen und welcher Spur er noch folgen konnte, denn das Land war weit und auch Avârta selber schon groß genug, um sein Unterfangen zur sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen werden zu lassen. Das zweite Problem bestand darin, Hoshi sein Anliegen begreiflich machen zu können - ein Anliegen, das jedem anderen außer ihm selbst verständlicherweise als vollkommen absurd erscheinen musste. Da hatte man ihm, ausgerechnet ihm, den wahrlich sagenhaften Auftrag erteilt, loszuziehen und den Planeten zu retten. Auf seinen Schultern ruhte das Leben jedes einzelnen Menschen, jedes Tieres, jeder nur erdenklichen Kreatur, die sich auf Youmas weiter, bunter Oberfläche tummelte. Und was machte er? Setzte kurzerhand als Unterfangen höchster Priorität die Suche nach seiner Glückskugel fest, war bereit, Dorf und Felder auf den Kopf zu stellen, wertvolle Zeit und Energie für eine an und für sich ja vollkommen aussichtslose Suche zu verschwenden. Im besten Fall würde Hoshi ihn für dumm und abergläubisch, höchstwahrscheinlich aber für vollkommen wahnsinnig und verrückt erklären - von Tierra ganz zu schweigen! - und was Shinya beinahe schon am meisten schmerzte, war, dass er nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte, wie er dem Mädchen die Schwere dieses Verlustes hätte begreiflich machen können. Es ging doch hier nicht einfach nur um den materiellen oder auch den ideellen Wert eines ganz besonders hübschen Gegenstandes, nicht einmal um die besondere, zarte Nostalgie, die mit dem all den Kindheitserinnerungen einher ging, welche jener Kugel in höchstem Maße, ja in einem wahrhaft einzigartigen Überfluss anhafteten. All diese Dinge waren schmerzlich, aber sie waren und blieben eben doch nur in seinem Kopf, entsprungen aus Sentimentalität und ein bisschen Melancholie. Viel schlimmer noch als dieses emotionale Leiden war allerdings sein körperliches Empfinden, das er nicht einfach so vergessen oder verdrängen konnte. Shinya fühlte sich, als ob man ihm einen Teil des Körpers auf brutalste Weise herausgerissen hatte, als ob da irgendetwas fehlte, etwas unglaublich Wichtiges, und diese unendlich grausame Verstümmelung raubte ihm fast den Atem. Er wusste, dass er diese Kugel nicht einfach nur vermissen würde, sondern dass er sie brauchte, so sehr wie Essen, Trinken und die Luft zum Atmen, aber natürlich waren dies Empfindungen, die keiner außer ihm würde verstehen können. Ohne anzuklopfen riss Shinya endlich die Türe zu ihrem Zimmer auf, stürzte auf sein Bett zu - und fühlte noch im nächsten Augenblick einen Hitzerausch durch seinen ganzen Körper wallen. Er schluckte schwer, und selbst diese so simple Tätigkeit erschien ihm störend und unnatürlich laut, ebenso wie der rasche Takt seiner Atemzüge und der dröhnende Puls seines Herzens. Der Katzenjunge hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, sich auf tagelange Suchmärsche durch Staub und sengende Hitze eingestellt, immer Hoshis vorwurfsvollen, verständnislosen Blick wie ein Messer im Rücken stecken, und nun... Nun stand er da zwischen Tür und Angel, zwischen den staubig dumpfen Schatten des Korridors und dem hellen, luftigen Weiß des Zimmers und ihm schien sämtliches Blut in die Wangen zu schießen, als er seine heißgeliebte, zutiefst vermisste Kugel gut sichtbar und unschuldig funkelnd mitten auf den präsentiertellerweißen Laken seiner Schlafstätte schlummern sah. Er schnappte nach Luft - und wäre am allerliebsten augenblicklich in dem warmen Braun des Holzbodens versunken, als er bemerkte, dass er nicht alleine war. Als ob die demütigende Scham, die er sich selbst gegenüber empfand, an sich nicht schon schlimm genug gewesen wäre, kam nun auch noch ein überaus unangenehmes Gefühl des Ertapptseins hinzu, was alles in allem seinem überstürzten Auftritt zu einem Grad der Peinlichkeit verhalf, den er unter anderen Umständen niemals hätte erreichen können. Aus irgendeinem Grund hielt sich Shinyas Stolz und Begeisterung über diese Meisterleistung aber doch stark in Grenzen, und so kostete es ihn unvorstellbar große Überwindung, einen kurzen, prüfenden Blick in Richtung jenes jungen Weißhaarigen zu werfen, dem er bereits am Vorabend an gleicher Stelle begegnet war. Ein Blick, der trotz seiner Flüchtigkeit allerdings voll und ganz dazu ausreichte, um jegliche Hitze, ja sogar jeden noch so kleinen Funken Wärme aus Shinyas Körper zu vertreiben und seine Gesichtsfarbe von einem intensiven Rot in ein blässliches Weiß zu verwandeln. Dabei ging der merkwürdige Fremde ja eigentlich gar keiner sonderlich spektakulären und auch in keinem Fall irgendwie außergewöhnlichen Beschäftigung nach. Genau genommen machte er eigentlich überhaupt nichts anderes, als auf seinem Bett zu liegen und in einem schweren, offensichtlich schon überaus alten Buch zu lesen. Wahrscheinlich wäre ihm der Anblick überhaupt nicht im Gedächtnis hängen geblieben, hätten seine Augen nicht auch zufällig den in schwarzbraunes Leder gehüllten, von einem Netz feiner, heller Risse überzogenen Einband des Buches gestreift. Während Shinyas Körper schlagartig erstarrte, wurde das Rasen seines Herzens wie auf einer Hetzjagd zu immer halsbrecherischeren Geschwindigkeiten angetrieben, als er die kunstvoll verschnörkelten Buchstaben sah, die in mattem Silber auf die Buchvorderseite geprägt worden waren: "Die Legende der Estrella" Shinya schluckte. Er wusste natürlich, dass es sich hierbei eigentlich nur um einen unfassbar glücklichen Zufall handeln konnte, aber wenn er länger darüber nachdachte, dann schienen doch plötzlich alle Ereignisse dieses seltsamen Morgens auf eine ganz und gar abstruse Art und Weise Sinn zu ergeben. Einen Sinn, der ihm unweigerlich ein Lächeln auf die Lippen zauberte, denn obwohl er es kaum glauben konnte und auch kaum zu hoffen wagte, so schien es ihm doch fast ein winzig kleines bisschen so, als ob er zur Sekunde das willige Opfer einer Verkettung überaus glücklicher Umstände geworden zu sein schien. Noch niemals zuvor war ihm seine Glückskugel einfach so aus der Tasche gefallen, und das, obwohl er ja nun wirklich nicht von sich behaupten konnte, Vorsicht und Ordnung mit Löffeln gefressen zu haben! Irgendetwas hatte ihn... gerufen, ihn wie an einem hauchdünnen Silberfaden genau in diesem Augenblick in dieses Zimmer geleitet, und jetzt saß da dieser Fremde mit genau diesem Buch und, ja, wenn Shinya es nicht eigentlich viel, viel besser gewusst hätte, so hätte er schwören können, dass dies alles hier Schicksal sein musste. "Ähm... ja... hallo", begrüßte der Katzenjunge den Fremden so lässig und dabei doch einnehmend freundlich, wie er das nur irgendwie zustande brachte. "Ich glaub, wir... haben uns gestern schon mal gesehen, gestern Abend... Nacht, und..." Shinya stockte, als ihn ein kurzer, dafür aber ganz außerordentlich entnervter Blick aus zwei kalten violetten Augen traf - kaum mehr als zwei oder drei Sekunden lang, was aber offenbar schon mehr als genügend Zeit bot, um dem Halbdämon einen Dolch oder auch einen Eiszapfen mitten in das Gesicht zu rammen. Er schluckte. Holte tief Luft. Scharrte nervös mit der Spitze seines Stiefels über den hölzernen Boden. Und nahm dann all seinen Mut zusammen, um ein weiteres Mal die Stimme zu erheben. So leicht würde er sich nicht geschlagen geben! "Es... ist nämlich so, dass ich mich grad zufällig... total für diese Estrella interessiere und... ähm, da du ja so einen dicken Wälzer über die liest, na ja, wär ja möglich, dass du dich irgendwie mit dem Thema auskennst... oder so..." Obwohl sich Shinya für die Unbeholfenheit seiner Worte am liebsten pausenlos selbst geohrfeigt hätte, zwang er sich doch ein Lächeln auf die Lippen und wischte möglichst unauffällig seine feuchten Handinnenflächen an dem rauen Stoff seiner Hose ab. Er wusste selbst, dass er im Umgang mit Fremden nicht unbedingt geübt war, und es fiel ihm alles andere als leicht, von sich aus eine Konversation mit einem Menschen zu beginnen, den er erst genau zweimal in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte. Aber... da war noch etwas anderes, etwas, das viel tiefer ging und sich deshalb auch umso schwerer auf Shinyas Brust legte, das seine Mimik fürchterlich steif wirken ließ und seine Zunge nachhaltig lähmte. Und dies war die simple, in seiner Situation aber nicht unbedingt sonderlich tröstliche Tatsache, dass ihm sein Gegenüber sogar ganz verflucht unheimlich war. Nicht einfach nur suspekt und von Natur aus Misstrauen erregend, wie eigentlich so gut wie jeder Mensch, dem Shinya zum ersten Mal begegnete, sondern wirklich und wahrhaftig beängstigend, und aus irgendeinem Grund schien dem Katzenjungen die Sache mit dem Dolch in seinem Gesicht ja eigentlich gar nicht mal so weit hergeholt worden zu sein. "Ja", entgegnete der Weißhaarige in einem Tonfall, der ohne weiteres mit der überragenden Wärme seines Blickes mithalten konnte, "möglich wäre es. Es gibt enorm viele Dinge, die möglich wären. Dass du dich verziehst, mich in Ruhe lässt und wieder mit deiner kleinen Freundin spielen gehst, beispielsweise." "Mit meiner... bitte was war das gerade?", entfuhr es Shinya. Es war wirklich unglaublich - war er gerade eben noch von einer überwältigenden wie Ehrfurcht gebannt gewesen, fast so, als ob seinen sterblichen und somit für alles Übernatürliche von Natur aus halbblinden Augen nur ein kurzer, aber überaus elektrisierender Blick auf die Geheimnisse des Universums gewährt worden wäre (oder zumindest so etwas Ähnliches), hatten ihn die ebenso kühl wie beiläufig dahingesagten Worte des Weißhaarigen nun mit umso ernüchternderer Gewalt wieder auf den freudlosen Boden der Tatsachen zurückgeholt. Ein altbekanntes Gefühl von Wut schlich sich ganz heimlich, still und leise in die Adern des Katzenjungen zurück, wo es überaus gefährlich zu rumoren begann. Shinya presste seine Lippen fest aufeinander und versuchte, den aufflammenden Ärger krampfhaft wieder herunterzuschlucken, aber es wollte ihm nicht gelingen. Alles, was er gerade noch tun konnte, war, wenigstens so weit an sich zu halten, um dem Fremden nicht postwendend eine tödliche Salve unflätigster und obszönster Beleidigungen in sein schönes Gesicht zu feuern! "Das", erklärte der Weißhaarige in ungerührtem Tonfall, obwohl irgendetwas in seinen kalten violetten Augen Shinya auf ganz unmissverständliche Weise mitteilte, dass er von seiner mühsam unterdrückten Aufregung sehr wohl hatte Notiz genommen, "war eine vergleichsweise höflich formulierte Aufforderung, mich in Ruhe zu lassen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du weißt, was das bedeutet, aber ich bin beschäftigt, und ich verspüre offen gesagt nur äußerst bedingte Lust dazu, hier groß über ein Thema zu referieren, von dem du ja sowieso nichts verstehen wirst. Um ehrlich zu sein, überrascht es mich ohnehin, dass du imstande dazu bist, den Titel dieses Buches zu lesen... oder, besser gesagt, überhaupt zu lesen." Shinya riss seine grünen Augen weit auf und schnappte nach Luft. Was um alles in der Welt glaubte dieser arrogante Widerling denn eigentlich, wer er war? Der Weißhaarige konnte kaum sehr viel älter sein als er selbst, und die bloße Tatsache, dass er einen auf altehrwürdig getrimmten Wälzer auf den Knien trug und vielleicht auch ein klein wenig finsterer drein blicken konnte als herkömmliche Menschen (Shinya eingeschlossen), berechtigte ihn noch lange nicht dazu, den Katzenjungen wie ein zurückgebliebenes Kleinkind zu behandeln! Ganz abgesehen davon, dass Shinya gewiss kein Kind mehr war, hatte er ja wohl jetzt schon mehr Einblick in die Materie der Estrella gewinnen können als die überwältigende Mehrheit sämtlicher großartiger Geschichtsschreiber - zusammengenommen, versteht sich. "Jetzt hör mal gut zu", knurrte der Halbdämon und durchbohrte sein ganz ungemein unsympathisches Gegenüber mit einem glühenden Blick. "Du hast bestimmt keine Ahnung davon, dass du nich einfach nur irgendeine Legende liest, ja? Rein zufällig bin ich ein Estrella, also tu doch nich so, als ob ich zu blöd wär, um so ein dummes Buch zu lesen!" "Du bist also... ein Estrella?" Der Weißhaarige blickte erneut auf und musterte Shinya langsam und ausgiebig vom etwas unordentlichen Scheitel bis hin zu den schwarzbraunen Stiefelspitzen. Dann stahl sich ein einziger Laut über seine Lippen, der wohl so etwas Ähnliches wie ein falsches, abgehacktes Lachen darstellen sollte, und der Mund des Fremden verzog sich zu einem unvorstellbar abfälligen Lächeln, bei dessen Anblick selbst Phil vor Neid erblasst wäre. "Aber gewiss doch. Verzeih, dass ich nicht eher darauf gekommen bin." "Woher willst du wissen, dass es nicht so ist?!" Der junge Fremde konterte mit einem Blick, der eigentlich jedes weitere Wort überflüssig gemacht hätte und in Shinya, obgleich er sich eindeutig im Recht fühlte, doch den unangenehmen Zweifel weckte, ob er nicht vielleicht doch gerade eben die dümmste Frage aller Zeiten gestellt hatte. Leider beließ es der Weißhaarige aber nicht bei diesem stummen Vorwurf, sondern fügte in unveränderter Kälte hinzu: "Ich weiß nicht, wie du auf solch eine ganz und gar absurde Idee gekommen bist, aber ich revidiere meine Aussage von gerade eben: Offensichtlich kannst du lesen, sehr gut sogar und leider ein bisschen zuviel. Falls du aber nur eine einzige Legende über die Estrella vom Anfang bis zum Ende durchgelesen hast, dann müsstest du rein theoretisch wissen, dass es hier nicht darum geht, den Helden zu spielen und irgendeine Prinzessin aus den Fängen eines blutrünstigen Drachens zu befreien! Oder, um es einmal ein kleines bisschen polemischer auszudrücken: Wir Estrella sind Krieger und keine... aufgeplusterten Schmusekätzchen, verstehst du das?" "Mo-moment mal! Was soll das heißen - wir?" "Wir ist der Plural von ich", entgegnete der Weißhaarige mit Grabesmiene, aber Shinya schenkte seinen Worten eigentlich schon gar keine wirkliche Beachtung mehr. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, gleichzeitig entsetzt dreinzublicken und seine Fäuste im Zaum zu halten, da sich seine inneren Turbulenzen nicht so recht zwischen Zorn und Entgeisterung entscheiden konnten. "Du bist ein Estrella?", keuchte Shinya, und ein hilflos erschüttertes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. "Nee, oder?! Also... du... danke, aber dich kann Phil haben!" Der Katzenjunge hätte am liebsten laut geschrien, und der einzige Grund, warum er genau das nicht tat, war wohl weniger ein gesundes Schamgefühl als vielmehr eine gewisse resignierte Müdigkeit, die von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Ja, verdammt, er hatte mittlerweile auch schon mitbekommen, dass das liebe Schicksal ihn aus irgendeinem Grund nicht sonderlich gut leiden konnte, aber musste es ihm diese Tatsache deshalb wirklich in jeder freien Minute so genüsslich unter die Nase reiben? Selbst inmitten all seiner zornigen Aufgewühltheit begriff Shinya doch immer noch, dass es wirklich ein unverschämt glücklicher Zufall war, dass von allen Menschen Silvanias ausgerechnet ein Estrella in seinem vorübergehenden Zimmer nächtigte, aber... Aber warum musste ebendieser Estrella ausgerechnet solch ein überheblicher, durch und durch unsympathischer Vollidiot sein, der aus irgendeinem Grund ganz unverschämt gut in Phils kleines Horrorkabinett gepasst hätte? Warum konnte da auf der Matratze vor ihm nicht einfach Will sitzen, während sich der Blondschopf und der Weißhaarige an einem gemütlich prasselnden Lagerfeuer gegenübersaßen und sich an verächtlichem Lächeln zu übertrumpfen versuchten? Es war doch einfach alles nicht fair! "Bist du jetzt endlich fertig mit deinen heldenhaften Wahnvorstellungen?", fragte der Fremde kühl und unterstrich seine Worte mit einem ungemein entnervten Augenrollen. "Falls du nämlich Wurzeln geschlagen haben solltest, musst du mir das einfach nur sagen - wofür hat man denn ein Schwert dabei...?" "Ist ja gut, ich hab schon verstanden!", schnaubte Shinya und warf sich seinen langen Zopf über die Schulter. "Weißt du was? Geh doch allein den Planeten retten, für jemanden wie dich wär sich wahrscheinlich selbst Phil noch zu schade! Ich hab jedenfalls Besseres zu tun..." Ohne den Weißhaarigen noch eines einzigen weiteren Blickes zu würdigen, wandte sich Shinya betont gelassen der Türe zu, um dann hoch erhobenen Hauptes aus dem Zimmer zu stapfen. Es war frustrierend. Eben noch hatte die Sonne gut gelaunt von einem wolkenlosen Himmel auf ihn herabgestrahlt und ihn mit einer selten gekannten Energie erfüllt, und jetzt... jetzt war der Himmel an sich zwar immer noch strahlend blau, ein durchweg perfekter Sommerhimmel, aber unmittelbar über Shinyas Kopf war leider ein blitzendes und donnerndes Miniaturgewitter aufgezogen. Er hasste es, wenn man ihn nicht ernst nahm. Auf ihn herabblickte. Oh ja, er hatte dieses Gefühl schon etwas zu oft ertragen müssen, um ihm jetzt noch nüchtern distanziert gegenüberstehen zu können, und außerdem... war da noch etwas. Etwas, das auf seine Weise sogar noch viel, viel schlimmer war, da es sich nicht gegen irgendeinen wandelnden Eisberg richtete, sondern... nach innen. Tief nach innen. Überaus tief. Shinya war wütend, und das zu recht. Er wusste, dass er sich nicht alles gefallen lassen konnte und musste. Er wusste, dass der Weißhaarige ein derart unsympathischer Zeitgenosse war, dass schon der bloße Gedanke an ihn die Zähne des Katzenjungen auf überaus nachhaltige Weise zum Knirschen brachte. Er wusste, dass er sich mit einem derartigen Gefährten lediglich eine gewaltige Menge Ärger eingefangen hätte, dauerhafte Zwietracht, die ihm wahrscheinlich auch keinen großen Vorteil gegenüber Phil eingebracht hätte, eher im Gegenteil. Und er wusste, dass er soeben die Chance, seine Aufgabe zu erfüllen und einen Estrella auf seine Seite zu ziehen, nur auf Grund seines kindischen Stolzes zu Boden geworfen und mit Füßen getreten hatte. Das Bewusstsein dieses Versagens rann wie Gift durch seinen Körper und erlaubte ihm nicht einmal mehr, sich uneingeschränkt aufzuregen. Er wusste, dass er im Grunde genommen umdrehen und wenigstens einmal in seinem Leben so etwas wie Hartnäckigkeit beweisen musste, aber leider Gottes war das weitaus leichter gesagt als getan. Shinya blickte zwei Alternativen ins Auge, von denen eine schlimmer war als die andere, und dieser bösartige Konflikt nahm ihn etliche Momente lang derart gefangen, dass der Katzenjunge zunächst einmal gar keine Notiz von der Gestalt nahm, die über den Platz und geradewegs auf ihn zugerannt kam. Erst, als er am Arm gepackt und auf wenig sanfte Weise an selbigem Körperteil geschüttelt wurde, fiel der Bann von ihm ab und Shinya hob alarmiert und verwirrt seinen Blick. Vor ihm stand Hoshi, keuchend, ungewohnt bleich und mit einem an Panik grenzenden Ausdruck in den großen dunklen Augen, der ihm ganz und gar nicht gefallen wollte. "Shinya... Shinya sag mal, schläfst du?!", japste sie, sichtlich und hörbar außer Atem. "Du musst kommen, verdammt noch mal, schnell! Phil, er... er ist hier!" Es war wirklich unglaublich - obwohl Shinya in den vergangenen Minuten weit mehr als nur einen Gedanken in Richtung seines unliebsamen Ex-Zimmernachbarn verschwendet hatte, schafften es Hoshis Worte dennoch, ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen hinwegzuziehen. Im ersten Moment war er schlichtweg froh, eine Hauswand im Rücken zu haben, an der er sich sicherheitshalber erst einmal abstützen konnte, und obwohl er nicht wirklich sagen konnte, warum genau das so war, so begann er doch von einer Sekunde auf die nächste zu frieren, als ob binnen eines einzigen Wimpernschlages der Winter über das Land gekommen wäre. "Phil?!", keuchte er, ohne auch nur noch einen einzigen Gedanken an die unliebsame Begegnung auf seinem Zimmer zu verschwenden. "Bei den Göttern, hat er... ich meine... er hat dich doch nicht gesehn, oder? Der... der wird mich... uns umbringen!" Hoshi sah zu Boden. "Nein, hat er nicht", entgegnete die Dunkelhaarige, und trotz ihrer fortwährenden Atemlosigkeit konnte Shinya deutlich einen gewissen Unterton von Ungeduld in ihrer Stimme lesen. "Aber das ist leider nicht unser einziges Problem. Tierra..." "Was ist mit Tierra?!", hakte Shinya augenblicklich nach, als er sah, dass Hoshi sich in einer entsetzten Sprachlosigkeit zu verlieren drohte. "Sie kämpft mit ihm." "Nein!" Die Finger des Katzenjungen pressten sich fest gegen die raue Oberfläche der steinernen Hauswand. Hatte ihn noch wenige Momente zuvor die unschöne Erkenntnis gequält, einen großen Fehler gemacht zu haben, so war selbige nun von der noch viel unschöneren Erkenntnis abgelöst worden, einen verflucht großen Fehler gemacht zu haben. Einen Fehler, der Tierra möglicherweise das Leben kosten würde. "Ach verdammt, was weiß ich denn, dass diese Idiotin sich gleich bei der nächstbesten Gelegenheit auf den stürzen muss?!", rief er mehr seinem eigenen Gewissen als seiner bisherigen Gesprächspartnerin entgegen, wobei er die erstaunten bis kritischen Blicke der vorbeischlendernden Passanten gekonnt ignorierte. "Sie hat doch gar keine Chance gegen ihn! Ich mein ja nur, er ist ein Estrella und er... er... er hat Todeskräfte!!" Spontan blickten besagte Passanten noch ein kleines bisschen verwirrter drein, manche lachten, aber Shinya hatte im Moment weiß Gott andere Sorgen, als ob ihm irgendwelche wildfremden Personen nun so etwas wie einen intakten Verstand zubilligten oder eben nicht. Ohne langes Zögern ergriff er Hoshis Handgelenk und nahm schon einmal vorsorglich eine startbereit angespannte Körperhaltung ein. "Sie braucht unsre Hilfe, Hoshi!", rief er in weitaus lauterem Tonfall, als es angesichts der nicht gerade großen Distanz zu seiner Freundin eigentlich von Nöten gewesen wäre. "Schnell, sag, wo sind sie?!" Irgendetwas in Hoshis Augen verriet Shinya, dass sie sehr wohl begriffen hatte, dass er eigentlich nicht von unsrer, sondern vielmehr von deiner Hilfe gesprochen hatte, aber ihre ungetrübte Einfühlsamkeit schien ihr jegliche Bemerkung in diese Richtung zu verbieten. Was angesichts ihrer momentanen Situation allerdings so oder so reichlich überflüssig gewesen wäre, selbst für einen Menschen, der nicht über Hoshis Feinfühligkeit verfügte. "Draußen, auf der Wiese vor der Stadt... wir sollten uns lieber beeilen, Shinya, bevor... bevor es wirklich noch zu spät ist." Shinya nickte nur, und dann rannte er los, ohne noch ein einziges weiteres Wort zu verlieren. Trotz ihrer sicherlich noch längst nicht überwundenen Erschöpfung mühte sich Hoshi, doch zumindest so weit an Tempo vorzulegen, dass sie ihn durch das Labyrinth von Gässchen und staubig trüben bis spiegelblank glänzenden Schaufensterscheiben führen konnte, vorbei an den zahllosen Läden, Gaststuben und Menschen, die wohl in jeder anderen Situation die Szenerie mit einem packenden Hauch von Leben und ländlicher Pracht erfüllt hätten. Für derartige Banalitäten hatte Shinya jedoch momentan weiß Gott keine Augen mehr. Im Grunde genommen achtete er überhaupt nicht mehr auf den Weg und fühlte sich irgendwann wie ein lebloses Fähnlein im Winde, das sich von Hoshi blind und gehorsam durch die Straßen und Gassen Avârtas ziehen ließ. Er wusste selber nicht genau, was er sich von dieser - zugegebenermaßen nicht unbedingt strategisch ausgefeilten - Rettungsaktion versprach, dafür aber leider nur umso genauer, wieso er sich so bereitwillig in eine Gefahr zu stürzen wagte, an der er ganz persönlich und ohne Hoshis Hilfe ja sowieso nichts würde ändern können. Es war nicht wirklich Tierra, für die er kämpfen und die er im besten Fall auch retten wollte. Es war niemand anderes als sein ureigenes Gewissen. Shinya war froh, als Hoshi ihn endlich auf das offene Feld hinauszog und das durch keinerlei Schatten mehr getrübte Sonnenlicht die unangenehmen Gedanken aus seinem Kopf verscheuchte. Einen Moment lang war er geblendet, doch erst als das Flackern und Flimmern, das Blitzen und Glühen zumindest weitestgehend aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war, da hatte er erstmals auch die Chance zu begreifen, dass es nicht der ungerührt strahlende Himmelskörper war, der ihm mit seiner gleißenden Helligkeit die Tränen in die Augen getrieben hatte. "Bei den Göttern..." Hoshis atemlos dahingeflüsterte Worte beschrieben Shinyas spontane emotionale Reaktion auf den Anblick, der sich ihm vor einer Kulisse von endlosem Blau und dem warmen Farbenspiel der Felder und Hügel bot, derart genau und treffend, dass es ihm schlagartig jeden weiteren Laut von den Lippen wischte. Es war schlicht und einfach alles gesagt worden, was man in dieser Situation hätte sagen können, und darüber hinaus war Shinya sowieso vollkommen sprachlos. Knapp zwanzig Meter vor seinen Augen tobte ein Kampf, wie er ihn sich selbst mit all seiner Fantasie und angesichts der lebendigsten Schilderungen (von denen die meisten der alten Legenden ja eigentlich nur so strotzten, sodass sie stets gekonnt auf dem überaus schmalen Grat zwischen Hochspannung und Pathetik wandelten) niemals in solch einer Form hatte erdenken können. Da waren nicht mehr einfach nur zwei Menschen, die sich gegenüber standen und mittels mehr oder minder starker bis heimtückischer Attacken versuchten, den jeweiligen Gegner möglichst rasch und effektvoll in die Knie zu zwingen. Was Shinya sah, war eine Schlacht, wie sie Heere von Tausenden und Abertausenden Soldaten nicht erbitterter und... ja, spektakulärer hätten ausfechten können. Inmitten von Weizen, Gras und Mittagssonne tobte ein Chaos aus Licht und Funken und Schwindel erregender Schnelligkeit, Bewegung in einer Form, wie Shinya sie noch niemals zuvor wahrgenommen hatte. Manchmal bereitete es ihm größte Schwierigkeiten, überhaupt noch bestimmen zu können, wer von den beiden Kontrahenten nun Freund (Tierra) oder Feind (Phil) war, allerdings machte das nun auch keinen wirklichen Unterschied mehr. Ein Eingreifen gleich welcher Form war nämlich schlicht und ergreifend unmöglich - oder, anders ausgedrückt, ein Himmelfahrtskommando der halsbrecherischsten Sorte. Hatte Shinya sich bis jetzt doch tatsächlich bereits das Privileg herausgenommen, Phils neu gewonnener Magie das Prädikat besonders tödlich zu verleihen, so musste er nun erkennen, dass er bis zu diesem Augenblick nichts, aber auch gar nichts über das wahre Ausmaß von dessen Fähigkeiten auch nur im Entferntesten geahnt hatte. Jene überaus schmerzliche Begegnung auf den nächtlichen Feldern hätte ihn ohne jeden Zweifel um ein Haar das Leben gekostet, war aber doch nur ein überaus schaler Vorgeschmack auf das gewesen, was er jetzt sah. Wie aus dem Nichts erschuf der blonde Junge gleißende Kugeln von wahrhaft gigantischen Ausmaßen, neben deren blendender Helligkeit selbst das wolkenlose Blau des Himmels verblasste. Phil war schon immer ein überaus sportlicher Mensch gewesen, doch nun bewegte er sich derart schnell, dass Shinya ihm kaum mehr mit den Blicken folgen konnte. Mal war er hier, mal dort, aber doch stets umgeben von einem Tanz aus Funken und Sonnen, deren reines, unendlich warmes (oder, wie sich Shinya in Gedanken verbesserte, wohl eher unendlich heißes) Gelb selbst den vollkommensten Hochsommertag zu einem ganz verflucht schlechten Witz hinabdegradiert hätte, und diese geballte Macht von Licht und Hitze schleuderte er unentwegt und ohne jedes Zögern seiner Kontrahentin entgegen. Wobei ihm ebendiese Kontrahentin nun wahrlich in Nichts nachstand und sich auch keineswegs nur mit dem Mut der Verzweiflung gegen einen übermächtigen Angriff zu verteidigen versuchte. Sie bewegte sich mit der Eleganz und Geschmeidigkeit einer Katze und wirkte gar nicht so recht, als ob sie tatsächlich kämpfen würde, sondern schien vielmehr fantastisch bunte, prächtig leuchtende Bilder auf die makellose Leinwand des Spätsommerhimmels zu malen. Mit fließenden Bewegungen brachte sie scharfkantige Felsteile hervor, nur um sie dann mit unbarmherziger Wucht auf ihr äußerst wehrhaftes Gegenüber zu jagen. Beinahe noch im selben Augenblick beschwor sie schimmernde Kugeln violetten Lichtes, in deren Mitte gleißende Blitze zuckten, die mit den feurigen Sonnenscheiben zusammenprallten und als prachtvollen Feuerwerke zu Boden schwebten. Shinya spürte, wie Hoshi vorsichtig seine Hand ergriff. "Meine Güte, ist das schön...", murmelte sie in einem derart ergriffenen, feierlichen Tonfall, dass er den Katzenjungen selbst in seinem lähmenden Zustand überwältigender Faszination immer noch entzückte. "So kämpft doch kein normaler Magier!" "Was... meinst du damit?", fragte Shinya, obwohl ihn der Anblick des atemberaubenden Kampfes nach wie vor gefangen nahm und jedes einzelne Wort wie bleiern auf seiner Zunge zu lasten schien. "Der Blitz soll mich treffen, wenn sie kein Estrella ist!" "Sag das mal lieber nicht zu laut...", entgegnete der Halbdämon mit einem misstrauischen Seitenblick auf die zuckenden und flackernden Geschosse, die Tierra ihrem Gegner pausenlos entgegenjagte. "Schau sie dir doch an... Phil hätte Tierra schon längst fertig gemacht, glaub mir. Sie muss ein Estrella sein!" "Hm... möglich", nickte Shinya und hob gleichzeitig die Schultern, als er begriff, dass ihm ganz eindeutig das Fachwissen fehlte, um sich auf eine derartige Diskussion mit Hoshi einzulassen. Und noch während er resigniert den Kopf sinken ließ, wurde der bisherige Kampflärm von einem Schrei zerfetzt und die Ebenen von einem heftigen Beben geschüttelt. Als der Katzenjunge hastig wieder aufblickte, um den Grund der beunruhigend starken Erschütterung in Erfahrung zu bringen, da lief ihm ein eisig kalter Schauer den Rücken herab, der sich durchaus mit dem Zittern des Erdbodens messen konnte. Inmitten eines Wirbels von sterbendem Licht, von gelben, weißen, violetten und tiefschwarzen Funken, war die Erdmagierin zu Boden gestürzt. Ihr schlanker Körper war in einer seltsam verdrehten, unnatürlichen Haltung zum Liegen gekommen, und auch die große Distanz, die er zu der Gestalt des Blondschopfes einnahm, gaben allzu deutliche, aber nicht unbedingt beruhigende Hinweise darauf, dass sie wohl eine ganz beachtliche Strecke im Flug zurückgelegt hatte. "Tierra!" Hoshis entsetzter Aufschrei zerriss die drückende Stille, die sich nach dem abrupten Ende des Sturmes über das Feld gelegt hatte. Shinya machte einen Satz nach vorne und streckte seinen Arm, so schnell und so weit er nur konnte, doch seine Reaktion kam aller Geistesgegenwart zum Trotze knapp, aber dennoch zu spät. Vielleicht war ihr Schicksal aber auch schon in der Sekunde des nicht unbedingt unauffällig dezenten Ausrufes der Dunkelhaarigen besiegelt gewesen, und ihr Lauf in Richtung der reglosen Erdmagierin diente bestenfalls noch dazu, den rostigen Dolch weitere ein, zwei Zentimeter tiefer in ihr geschundenes Fleisch zu rammen. Phil hatte nämlich ruckartig seinen Blick von Tierra abgewandt - und sah nun geradewegs in ihre Richtung. "Hoshi!", rief Shinya dem Mädchen überflüssigerweise hinterher und nahm dann schicksalsergeben die Verfolgung auf. Die Dunkelhaarige hatte sich währenddessen bereits in den intensiv grünen, wenn auch hier und dort ein klein wenig angekohlten Halmen der Wiese niedergelassen und kniete nun an Tierras Seite. "Na, das nenne ich aber eine Überraschung...", keuchte Phil, wobei seine Worte derart von Anstrengung verzerrt und durchtränkt waren, dass der unvermeidliche Spott darin kaum mehr wirklich ins Gewicht fallen konnte. Dennoch ließ das triumphierende Lächeln auf seinen Lippen spontan eine Welle von Abscheu über Shinyas Körper hereinbrechen, die von den darauf folgenden Worten nicht unbedingt abgeschwächt wurde: "Das Kätzchen und die Kleine aus dem Dorf... so schnell sieht man sich wieder." "Ich habe einen Namen!" Die Lichtmagierin schenkte dem blonden Jungen ein derart böses Funkeln, dass selbst Shinya einen Augenblick lang davor erschreckte. Bevor es ihn mit einem eigentlich vollkommen situationsfremden Gefühl höhnischer Schadenfreude erfüllte. "Mich wundert ja gar nicht, dass du dir den nicht merken konntest, aber du hast Shinya verletzt, du hast Tierra verletzt und das wirst du noch bereuen!" "Nein... nein, es ist... schon gut..." Tierras Stimme klang leise und auch ein wenig brüchig, als sie in den aufkommenden Streit einfiel, zu dessen treibender Kraft sich absurderweise ausgerechnet Hoshi auserkoren hatte. "Ich bin... in Ordnung. Ich... ich habe nur einen Moment lang nicht aufgepasst und... und dann..." Sie atmete tief durch und kämpfte sich unter Hoshis besorgten Blicken kopfschüttelnd wieder in eine aufrechte Haltung. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust, während sie das Gesicht in den Händen vergrub, sich mit den Fingern durch das tiefviolette Haar strich und ihren Kopf in den Nacken sinken ließ, sodass ihr Gesicht nun dem immer noch ungetrübt stahlblauen Tuch des Himmels zugewandt war. Und dann, von einer Sekunde zur nächsten, brach sie in ein lautes, übermütiges Lachen aus. Shinya war im ersten Moment derart perplex, dass er es nicht einmal mehr fertig bringen konnte, Hoshis entgeisterten Blick zu erwidern - der wiederum Tierras Aufmerksamkeit nicht entgangen zu sein schien, denn die junge Frau wechselte schlagartig von ihrem schallenden Lachen zu einem amüsiertes Kichern. "Nun kuckt doch nicht so!", winkte sie mit ihrer rechten Hand in Shinyas und Hoshis Richtung ab, während sie sich mit der linken zwei glitzernde Lachtränen aus ihren Katzenaugen wischte. "Es ist alles bestens, glaubt mir, besser als bestens sogar. Meine Güte, ich hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr so viel Spaß auf einmal! Das... das war ein großartiger Kampf!" "Das Kompliment kann ich nur zurückgeben", grinste Phil, der mittlerweile zu der kleinen Gruppe herangetreten war und der etwas mitgenommen aussehenden Kriegerin seine Hand entgegenstreckte, um ihr auf die Beine zu helfen. Zu Shinyas größtem Entsetzen war sich Tierra für diese - zumindest in seinen Augen - ganz unvorstellbar erniedrigende Hilfeleistung nicht einmal mehr zu schade, sondern ließ sich von dem Blondschopf bereitwillig in die Höhe ziehen, wo sie sich erst einmal streckte, dehnte und dann schwungvoll ihren langen Pferdeschwanz über die Schulter warf. "Junge, ich muss dir danken, wirklich!", strahlte sie Shinya entgegen, ganz offensichtlich vollkommen unbeeindruckt von sämtlichen Kratzern, Schrammen und Abschürfungen, die ihr katzenhaft schmales Gesicht verunstalteten. "Mit einem Estrella zu kämpfen, war wirklich das Beste, was ich seit einer sehr, sehr langen Zeit ausprobiert habe!" "Glaubst du mir jetzt, Tierra?", meldete sich Phil aufs Neue zu Wort und zauberte sich ein Lächeln auf seine Lippen, das Shinya aus irgendeinem Grund an jene meist recht skurrilen Gestalten erinnerte, die mit einem Bauchladen bewaffnet durch Städte und Dörfer von Tür zu Tür zogen, um harmlosen Bauern, Handwerkern und Hausfrauen den wertlosesten Plunder und Krimskrams als unverzichtbare Lebensnotwendigkeiten anzupreisen, die in jeden noch so kargen Haushalt einen Hauch von Luxus und Adel zauberten. "Ich habe dir doch gesagt, du bist eine von uns. Ein Estrella. Und ich sag dir auch, das hier grad eben war noch gar nichts im Vergleich zu dem Spaß, den du erst noch haben wirst, wenn du mit mir kommst!" "Mit dir kommen?" Tierra zog zweifelnd ihre Augenbrauen nach oben. "Aber du kennst mich doch überhaupt nicht!" "Na, das lässt sich ändern! Je größer die Gruppe, desto lustiger das Reisen, richtig? Also, wenn du dich traust und mitkommst, kann ich dir gleich noch Will vorstellen. Der ist zwar etwas seltsam, aber im Großen und Ganzen doch ein recht amüsanter Zeitgenosse, also..." "Moment mal!" Shinya schnitt dem Blondschopf mit einer herrischen Geste und einem noch viel herrischeren Tonfall das Wort ab und trat mit verschränkten Armen und blitzenden Augen zwischen ihn und Tierra. "Was soll das hier eigentlich werden, häh? Wir sind immerhin auch Estrella und wir haben sie zuerst gesehen!" Auf Tierras Gesicht stahl sich wiederum ein Hauch von Verwirrung. Sie blickte etliche Male von Shinya und Hoshi zu Phil und dann wieder zurück, bevor sie endlich zu einer Antwort ansetzte. "Jetzt noch mal ganz langsam, bitte", sagte sie in einem Tonfall, der mehr als deutlich zeigte, wie sehr sie ihre gegenwärtige Situation wohl auch in einem weniger erschöpften Zustand noch überfordert hätte. "Nur um sicher zu gehen, ob ich alles richtig verstanden habe... ich bin also ein Estrella. So wie überhaupt alle hier momentan Anwesenden. Gut. Sehr gut soweit. Und gehe ich auch recht in der Annahme, dass ihr so untereinander nicht unbedingt eine verschworene Gemeinschaft bildet?" Shinya nickte demonstrativ und warf einen finsteren Seitenblick in Richtung Phil, der zu seinem größten Missfallen just im selben Augenblick dieselbe Kopfbewegung vollführte. "Das is jetzt vielleicht alles n bisschen seltsam", meinte der Katzenjunge, der die Ratlosigkeit der jungen Frau sogar noch weit besser nachvollziehen konnte, als ihm eigentlich lieb war, "aber es is nun mal so, wir sind Estrella. Der Begriff an sich scheint dir ja was zu sagen, also red ich nich lang drum herum. Es is nur so, wenn du willst, dann kannst du auch genauso gut mit uns kommen!" "Ähm... entschuldigt die dumme Frage, aber... wo ist der Unterschied?" "Da ist sogar ein ziemlich großer Unterschied", sagte Hoshi in diesem unnachahmlichen Tonfall, den sie anscheinend immer an den Tag legte, wenn das Gespräch auf ein Thema kam, mit dem sie sich wirklich verflucht gut auskannte. Was übrigens gar nicht einmal so selten war. "Shinya und ich, wir wollen das Gleichgewicht des Planeten bewahren, so wie ist. So steht es in den Legenden und so muss es auch geschehen, sonst ist Youma dem Untergang geweiht!" "Gut gesagt, Mädchen", grinste Phil auf eine Weise, für dem Shinya ihm spontan einen kräftigen Schlag in die Magengegend hätte verpassen wollen. Oder ins Gesicht. Oder in eine andere Körpergegend, dorthin, wo es richtig wehgetan hätte. Aber natürlich tat er nichts von alldem, sondern verdrehte nur schon einmal vorsorglich die Augen, um dann Phils folgender Ausführung mit einem möglichst verächtlichen Gesichtsausdruck beizuwohnen. "Aber dieses dümmliche Nachplappern irgendwelcher pathetischen Sagen und Legenden bringt niemanden weiter. Wir werden dafür sorgen, dass es keine Schmerzen und kein Leid mehr auf diesem Planeten geben wird, und jetzt sag mir bitte, was ist falsch daran?" "Dass es ist nicht möglich ist", entgegnete die Dunkelhaarige ruhig. "Jedes Leben beruht auf dem Prinzip von Gegensätzen und ihrem Gleichgewicht. Es gibt keinen Schatten ohne Licht und kein Licht Schatten, so ist das nun mal" "So ist das nun mal, so ist das nun mal!" Phil stieß einen Laut irgendwo zwischen Lachen und Schnauben hervor. "Nett auswendig gelernt, wirklich, und wenn ich so zwischen siebzig und neunzig wäre, würd ich vermutlich Beifall klatschen und dran glauben. Bin ich aber nicht. Ich denke, die Zeit ist reif für eine kleine Revolution in der Weltordnung, nicht?" "Und ich denke, du hast ein Rad ab, Phil", knurrte Shinya und entgegnete den triumphierenden Blick des Blondschopfes mit einem finsteren Funkeln in den grünen Augen. "Soviel also zum Thema verschworene Gemeinschaft", seufzte Tierra und ließ ihren Blick nachdenklich zum Horizont schweifen. Hinter den Hügeln und Feldern kündete ein leiser Hauch von Rot, dass sich der Tag zumindest ganz, ganz langsam seinem Ende entgegenneigte. "Ich... weiß nicht, was ich jetzt sagen soll. Plötzlich heißt es da, ich sein ein... ein Estrella, und das klingt soweit ja auch gar nicht übel, aber... aber der Rest..." "Ja", murmelte Shinya und konnte sich ein Seufzen doch nicht mehr ganz verkneifen, "ich glaub, ich weiß, was du meinst. Das is nich unbedingt so ne ganz alltägliche Nachricht, dass man mal eben den ganzen Planeten zu retten hat..." "Wenn es denn nur das wäre!" Tierra senkte den Blick. "Es klingt vielleicht dumm... oder größenwahnsinnig, aber für mich ist das eigentlich sogar eine ziemlich gute Nachricht. Ich hab lang genug nach einer richtigen Herausforderung gesucht, und, bitte, die hab ich ja jetzt wohl auch gefunden. Die Frage ist also weniger, ob ich mit euch gehen soll, sondern... mit wem von euch ich gehen soll. Wie gesagt - ich kenne euch alle kaum, aber ihr scheint mir doch auf jeden Fall recht nett zu sein und ich könnte mir wahrlich schönere Dinge vorstellen, als einen von euch zum Feind zu haben." "Wird sich nur leider nich vermeiden lassen..." Der Katzenjunge sandte zum etwa hundertsten Mal an diesem Nachmittag einen bitterbösen Blick in Richtung seines alten Bekannten, der ihm gleichzeitig so unangenehm vertraut und dann doch wieder vollkommen fremd erschien. "Ich weiß... ich weiß... aber mir geht das momentan doch alles ein klein wenig zu schnell. Um ehrlich zu sein, ich habe keinerlei Ahnung, was ich jetzt tun soll." "Es sagt doch auch niemand, dass du dich sofort entscheiden musst", lächelte Hoshi und trat näher zu Tierra heran, um dann in deutlich leiserem Tonfall fortzufahren. "Ich weiß nicht, ob dir das jetzt wirklich weiterhelfen kann, aber... ich habe da mal einen Rat von jemandem bekommen, an den ich oft denken muss, wenn ich nicht mehr weiß, was ich tun soll: Folge einfach deinem Herzen! Das Wichtigste ist doch immer noch, dass man selbst mit seiner Wahl zufrieden ist. Alles andere würde man früher oder später sowieso nur bereuen!" Tierra sah das dunkelhaarige Mädchen lange an, und auch Shinya fiel beim besten Willen nichts mehr ein, was er den Worten seiner Freundin noch hätte hinzufügen können. Die selbstverständliche Leichtigkeit, mit der sie ihren Ratschlag erteilt hatte, verblüffte ihn beinahe ebenso sehr wie dessen eigentlicher Inhalt, und er konnte nichts mehr anderes tun als sich einzugestehen, dass keine glühende Lobesrede auf die eigene Ideologie einen tieferen Eindruck hätte hinterlassen können als diese an und für sich so simple Lebensweisheit, die doch eigentlich nur aus Keikos Mund stammen konnte. Und trotzdem hatte er gleichzeitig auch das Gefühl, als ob jene Worte nicht allein für die Erdmagierin bestimmt worden waren. Die Erinnerung an eine noch gar nicht einmal so sonderlich weit zurückliegende Nacht blitzte kurz in seinen Gedanken auf, und einmal mehr an diesem Tag konnte Shinya das merkwürdige Gefühl nicht loswerden, dass das, was gerade eben geschehen war, nicht nur rein zufällig so geschehen war, sondern... dass ihn da irgendjemand auf etwas hinweisen wollte, das ihm in aller Eile entgangen war und das er auch jetzt, nachdem sich die erste Aufregung über den plötzlichen Bruch mit seinem alten Leben zumindest ansatzweise gelegt hatte, immer noch hartnäckig übersah oder missdeutete. Wie hatte Hoshi doch gleich gesagt? Folge deinem Herzen... Nur wer an sich selbst glaubt, kann auch die Hoffnungen anderer erfüllen... Liefen nicht im Endeffekt beide Ratschläge auf exakt dasselbe hinaus? Shinya war sich beinahe sicher, irgendeinen tieferen Sinn hinter den so einfach scheinenden Worten zu erkennen, aber es gelang ihm nicht, ihn zu fassen. In seiner Brust erwachte das unwahrscheinlich frustrierende Gefühl, keine der Botschaften wirklich verstanden zu haben, und er hätte sich die Haare raufen könne, wäre das in seiner momentanen Situation - und vor allem vor dem anwesenden Publikum! - nicht einfach viel zu peinlich gewesen. Als Tierra endlich nickte, musste sich der Katzenjunge zu allem Überfluss auch noch eingestehen, dass die Erdmagierin weit weniger ratlos zu sein schien, als er es war. "Gut...", antworte sie mit einem verschwörerischen Augenzwinkern in Richtung des dunkelhaarigen Mädchens. "Ich nehm mir ein bisschen Zeit und ich werde keine einzige Sekunde lang über mein Problem nachdenken, sondern einfach mal ein bisschen lauschen, was mein Herz mir so alles zu sagen hat..." Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das ihrem Gespräch ein stummes, aber unübersehbares Ende setzte, und als Tierra sich schließlich umwandte und in Richtung des Dorfes zurückschlenderte, da hörte Shinya, wie sie leise vor sich hinsummte. Die Nacht war merkwürdigerweise hell und dunkel zugleich. Der Mond und ein Meer von Sternen leuchteten silbrig hell von einem pechschwarzen Himmel hinab, in dem nicht einmal mehr der leiseste Hauch von Blau zu erkennen war. Es war noch angenehm warm, aber dennoch war der Marktplatz von Avârta menschenleer - zumindest beinahe. Als Shinya nämlich an Hoshis Seite aus dem flackernden Kerzenschein der lärmenden Gaststube hinaus in die angenehme Stille der Nacht trat, da konnte er am anderen Ende des steinernen Rundes bereits drei Gestalten erkennen, die auf die beiden jungen Estrella warteten. Fast noch in den Schatten der gegenüberliegenden Häuserfront verborgen standen Will, dessen gesamte Erscheinung wieder einmal vortrefflich mit der vollkommenen Farblosigkeit der Nacht harmonierte, und ein gewisser, ewig unfrisiert aussehender Blondschopf, dessen Namen Shinya nicht einmal mehr denken wollte. Tierra stand etwas abseits von ihnen, mehr der Mitte des Platzes und somit auch Shinya und Hoshi zugewandt. Der Katzenjunge trat jedoch ganz bewusst nicht näher an sie heran, als Phil und Will es getan hatten. Er sparte sich auch jegliche Begrüßung, sondern verschränkte schlichtweg die Arme vor der Brust - und wartete. Tierra hielt das gespannte Schweigen etliche Momente lang aufrecht, ohne einen der Anwesenden direkt anzublicken. Das ruhige Lächeln auf ihrem Gesicht sprach Bände davon, dass ihre Entscheidung tatsächlich gefallen war, und Shinya war sich nicht so ganz sicher, ob ihr es einfach nur schwer fiel, diese Entscheidung auch wirklich auszusprechen und so den ersten Schritt auf einen Weg zu machen, von dem aus keine Umkehr mehr möglich war, oder ob es ihr einfach nur Spaß bereitete, die Spannung noch ein kleines bisschen weiter auf die Spitze zu treiben. "Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe", sagte sie schließlich, und das geheimnisvolle Lächeln auf ihren Lippen sprach doch ziemlich eindeutig für letztere Theorie, "obwohl mir das alles nun wirklich nicht leicht gefallen ist. Aber entschuldigt, ich sollte euch nicht länger auf die Folter spannen." Die junge Frau wandte den Kopf und schickte ein unglaublich warmes Lächeln in Richtung des Katzenjungen. Shinya fühlte, wie sein Herz ganz unweigerlich einen kleinen, freudigen Satz machte, und so erkannte er nicht sofort, dass dieser Ausdruck tiefer Sympathie eigentlich überhaupt nicht ihm, sondern der Lichtmagierin an seiner Seite gegolten hatte. "Was du gesagt hast, hat mir wirklich sehr geholfen. Ich habe nicht mehr darüber nachgedacht, auf welche Weise ich es wem recht machen und wen ich enttäuschen beziehungsweise mir zum Feind machen könnte. Blieb somit also nur noch die Frage, was ich denn eigentlich wirklich möchte, wonach ich gesucht habe, und das..." Sie atmete tief durch, und als sie nun aufs Neue zu sprechen begann, schien es deutlich schwerer zu fallen, die richtigen Worte zu finden. "...das ist ein Rivale, der mir ebenbürtig ist. Es tut mir leid, Hoshi... und Shinya... es wär sicher lustig geworden mit euch, aber irgendetwas sagt mir, dass dies die richtige Entscheidung ist. Macht's gut, ihr beiden..." Ein trauriger Ausdruck glitt durch ihre grünen Katzenaugen, als sie sich abwandte, um dem blonden Jungen und dem schwarzhaarigen Krieger entgegenzugehen. Shinya senkte den Blick, bevor er ihre Gestalten in den dunklen Gassen verschwinden sehen konnte. Ganz wie von selbst ballten sich seine Hände zu Fäusten, und im ersten Moment war er viel zu schockiert, um überhaupt enttäuscht oder gar wütend zu sein. "Das... das is doch nich möglich...", murmelte er und erschrak beinahe selbst darüber, wie fassungslos seine Stimme klang. "Ich meine, nach dem... nach dem, was du zu ihr gesagt hast... und überhaupt... ich war mir so sicher, dass sie..." Er beschrieb mit beiden Armen eine vollkommen nichtssagende Geste und blickte hilfesuchend in Richtung seiner Freundin. Der Halbdämon wusste nicht genau, welche Reaktion er sich von dem Mädchen erhoffte, aber als er in ihren Augen eine wehmütige Traurigkeit las, die er selber noch überhaupt nicht empfinden konnte, da fühlte er sich nur noch ungleich verlorener als zuvor. Insbesondere, da das sonstige Verhalten des Mädchens so gar nicht zu dem Ausdruck in ihrem Blick passen wollte. Ihre Finger waren nicht etwa fest aufeinandergepresst, sondern vielmehr in ein nervöses Spiel vertieft, und ihr Kopf war auch nicht gesenkt, sondern befand sich in einem Zustand steter Bewegung. "Irgendetwas stimmt hier nicht", flüsterte sie, ohne auch nur im Geringsten auf Shinyas Worte einzugehen. "Was meinst du?", fragte der Katzenjunge und fühlte nun seinerseits eine diffuse Nervosität in sich aufsteigen. Seine Augen streiften über die ruhige, schlafende Umgebung des Marktplatzes, jedoch ohne etwas Sehenswertes oder gar Alarmierendes zu entdecken. "Ich weiß nicht... ich hab schon die ganze Zeit das Gefühl, als ob uns jemand... nun ja, beobachten würde." Shinya wollte gerade die Schultern heben und zu einer Antwort ansetzen, als auf einen Schlag und ohne jede Vorwarnung mitten auf dem Platz die Hölle losbrach. Zunächst war es nur eine einzige, gar nicht einmal so riesenhafte Feuerkugel, die exakt an der Stelle des Marktbrunnens einschlug, an der die beiden jungen Estrella noch in den Mittagsstunden gemeinsam mit Tierra verweilt hatten. Der brennende Ball explodierte jedoch unter der Wucht seines eigenen Aufpralls, wurde in tausend Funken und flammende Fetzen zerrissen, die gleißend und brüllend durch die Nacht stoben und eine atemberaubende Hitzewelle mit sich brachten, die Shinya ins Taumeln brachte. Ein zweiter Flammenstrahl traf das Dach ihrer Herberge mit derart zerstörerischer Gewalt, dass die Dachschindeln in tausend Stücke zerbarsten und als glühende Geschosse auf dem Stein des Marktplatzes und den Fassaden der umliegenden Hauser zerbarsten. Binnen weniger Sekunden hatte sich die nächtliche Idylle in ein flammendes Inferno verwandelt, das Shinya zumindest im ersten Augenblick jede Orientierung raubte. "Was ist das?", hörte er Hoshis ängstlich bebende Stimme über das Tosen des Feuers hinwegrufen, ohne wirklich einordnen zu können, aus welcher Richtung sie denn nun an sein Ohr drang. "Ich weiß es nicht, verdammt!" Auch Shinya musste schreien, um überhaupt seine eigenen Worte zu verstehen. "Aber wir sollten schleunigst schaun, dass wir hier wegkommen!" Verzweifelt versuchte er, mit seinen tränenden Augen zumindest irgendeinen menschlich wirkenden Schatten inmitten des rasenden Flackerns von Gelb und Weiß und grellem Rot auszumachen, aber noch bevor er auch nur den Hauch einer Chance bekam, seinen Blick an die allgegenwärtige Reizüberflutung aus grellstem Licht und beißendem Rauch zu gewöhnen, da stürzte auch schon ein weiterer Feuerball aus dem bleigrauen Himmel zu ihm herab. Oder genauer gesagt, auf ihn herab. Der Katzenjunge konnte sich im letzten Moment mit einem Sprung zur Seite wenigstens noch davor retten, sofort von der gierigen Glut erschlagen zu werden, doch zu seinem Entsetzen begann der steinerne Boden um ihn herum augenblicklich zu brennen, ganz so, als ob er doch eigentlich viel eher aus Holz oder Stroh bestehen würde. "Shinya! Shinya, wo bist du?!" In Hoshis Stimme lag eine Panik, die sich zunehmend auch in seinem eigenen Körper ausbreitete, die sein Blut vergiftete und ihm das Herz bis zum Halse schlagen ließ. Überall um ihn herum waren Flammen, grässliche, geifernde Flammen, die ihm jede Möglichkeit zur Flucht verwehrten und ihn schon mit ihrem sengenden Atem fast um den Verstand brachten. Funken brannten sich in seine Haut, brannten nicht minder schmerzhaft als die Luft in seinen Lungen, und als Shinya erneut zu Schreien begann, da versagte ihm beinahe augenblicklich die Stimme. "Hoshi?! Hoshi, Hilfe! Hilfe!!" Allmählich, schoss es ihm mit einer erschreckenden Klarheit durch den Kopf, während all seine anderen Sinne vom Qualm und von der Hitze auf äußerst qualvolle Weise gedämpft und erstickt wurden, schien es ja zu einem Hobby von ihm zu werden, sich selbst in lebensgefährliche Situationen zu bringen. Nur leider waren diese mordlüsternen Flammen sogar noch ein klein wenig heimtückischer und gefährlicher, wenn auch nicht annähernd so unsympathisch wie sein guter, alter Freund Phil, der ihn vor den Toren des nächtlichen Tranquilas unauffällig aus Weg hatte räumen wollen. Shinyas Körper wurde von einem schmerzhaften Husten geschüttelt, und einige Sekunden lang wurde mit dem Atem, der keinen Platz mehr in seinen Lungen zu finden schien, auch jeder Gedanke aus seinem Kopf getrieben. Das Zucken und Flackern der Flammen verschwamm zu einem blendend hellen Farbenrausch, und im nächsten Moment fand sich der Katzenjunge auf dem unangenehm heiß gewordenen Boden wieder. Er stemmte sich mit beiden Händen gegen die rötlich glimmenden Pflastersteine, doch seine Arme und Beine fanden keinerlei Kraft mehr, sein Körpergewicht noch länger tragen zu können. Er wusste nicht mehr, ob die Flammenwand sich ihm tatsächlich (und noch dazu mit einer beunruhigend hohen Geschwindigkeit) näherte, denn vor seinen Augen wütete nur mehr ein undurchsichtiges Chaos aus Helligkeit, in dem sich keinerlei Distanzen mehr abschätzen ließen. Wenigstens bis zu jenem Augenblick, in das Feuer ihn endlich erreicht hatte. Das Unglück brach derart schnell und vehement über ihn herein, dass ihm eigentlich überhaupt keine Zeit mehr blieb, es zu begreifen, bevor die mit ihm einhergehenden Schmerzen ihm ohnehin den Verstand raubten. Die Flammen leckten nach seinem Fuß, und binnen weniger Sekunden brannte sein ganzer Körper lichterloh. Seine gesamte Kleidung wurde blitzschnell von einem flackernd heißen Teppich überzogen, der jeden Millimeter seiner Haut auf grausamste Weise zu versengen schien. Shinya wälzte sich schreiend auf dem Boden herum, doch das glühende Pflaster schien das Feuer auf seinem Körper nur noch weiter zu nähren, anstatt die unerträgliche Hitze in irgendeiner Form zu lindern. Das lange Haar des Halbdämons und sein hilflos umherpeitschender Katzenschwanz brannten wie Zunder und mit jedem Schrei konnte nur noch mehr und mehr Rauch in seine Lungen vordringen, um ihm ein widerlich schmerzhaftes Husten über die verglühenden Lippen zu treiben. "Shinya?! Shinya, sag doch was!! Shinya?!" Hoshis Schreie schienen aus einer unendlich weiten Ferne an sein Ohr zu dringen. Seine Bewegungen wurden zunehmend kraftloser, bis sie schließlich ganz erlahmten, doch sein Bewusstsein wollte und wollte einfach nicht schwinden. Jede Faser seines Körpers schrie nach Ruhe, nach Erlösung von den ewigen, tobenden Schmerzen, während sich die gleißenden Zähne des Feuers immer tiefer und tiefer in sein Fleisch schlugen. "Hoshi..." Der Katzenjunge fand keinerlei Kraft mehr dazu, nur noch einen einzigen weiteren Ruf hervorzubringen. Die Umgebung verblasste vor seinen Augen, verschwamm in einer allgegenwärtigen, blendend reinen Helligkeit, die selbst das hysterische Zucken der Flammen verschlang und ertränkte. Nun endlich begannen auch seine übrigen Sinne vollständig zu erlahmen und versetzten ihn ganz und gar in einen wundervollen Zustand betäubter Schwerelosigkeit. Shinya zweifelte keinen Augenblick daran, dass das infernalische Brüllen der Flammen mit unveränderter Stimmgewalt durch die brandgeschwärzte Nacht tobte, aber seine Ohren waren unfähig, es noch länger bewusst wahrzunehmen. Eine gnädige, lindernde Taubheit ergoss sich über seinen Körper, wandelte die vernichtend heißen Schmerzen in eine angenehme Wärme, aber vielleicht, schoss es Shinya durch den Kopf, war ja auch einfach nur überhaupt keine Haut mehr da, die noch hätte schmerzen können. Der nahende Tod hatte ein Einsehen mit ihm, führte ihn sanft aus dem Leben in die Arme der Totengöttin hinüber und verschloss seine Sinne vor den letzten Peitschenhieben der grausamen Realität. Ein müdes, dankbares Lächeln legte sich auf die Lippen des Katzenjungen. Währenddessen verblasste auch das grelle Leuchten um ihn herum, zerfiel in Hunderte, Tausende winziger Leuchtfunken, die in silbrig funkelnden Streifen zu Boden fielen, wo sie dann schließlich ganz verglühten. Auch das wundervoll taube Kribbeln war aus Shinyas Gliedmaßen gewichen und hatte jeden Hauch von Schmerz oder quälender Hitze mit sich genommen. Aber erst, als der Katzenjunge den Kopf hob und Hoshis Gestalt nur einige Meter von sich entfernt auf dem nächtlichen Marktplatz stehen sah, da begriff er, dass weder die gnädige Betäubung seiner Wahrnehmung noch seine wundersame Heilung Einbildung oder gar die schmeichelnden Boten eines nahenden Todes gewesen waren. Shinya fühlte, wie sein eigener Atem seine Lippen streifte, wie die kleinen Pflastersteine unangenehm hart gegen seinen Rücken pressten und wie sein Herz ihm aufgeregt von innen gegen die Brust schlug, kurzum - er lebte, eindeutig und ohne jeden Zweifel. Dann sah er, dass Hoshi nicht alleine war. Vor dem Mädchen stand eine Gestalt, deren Anblick selbst jetzt, in seinem durch und durch verwirrten Geisteszustand, noch ein leises Echo des Widerwillens in ihm wachrief. Besagte Gestalt war im silbergrauen Zwielicht der Nacht nur noch ungleich bleicher wie eh und je und ihr langes, schneeweißes Haar wurde sacht von irgendeinem Wind bewegt, den Shinya nicht fühlen konnte. Die Handflächen des Fremden, die von schwarzem Leder bedeckt waren, lagen auf denen des Mädchens und sie beide waren umhüllt von einem silbrig weißen Schein. Shinya erkannte diesen Schein sofort wieder - es war das unendlich sanfte Leuchten, das Hoshis Körper bereits in jener Nacht umhüllt hatte, in der das Mädchen ihm zum ersten Mal das Leben gerettet hatte. Damals glücklicherweise noch allein und ohne die Hilfe jenes ebenso finsteren wie unfreundlichen Weißhaarigen, der ihm bereits wenige Stunden zuvor auf überaus kunstvolle Art und Weise den Tag verdorben hatte. Und dem er jetzt ganz ohne jeden Zweifel zu verdanken hatte, dass seine Lungen gierig nach der klaren Nachtluft schnappen und sein Herz wie wildgeworden rasen und pochen konnte. Mit zittrigen Fingern wischte sich Shinya über das Gesicht - und hielt dann irritiert in seiner Bewegung inne. Der fingerlose Handschuh an seiner Rechten strahlte ihm unschuldig weiß und vollkommen unversehrt entgegen, und auch der tiefgrüne Stoff seines Ärmels war nicht mehr und nicht weniger dreckig, als man es nach einer hysterischen Wälzorgie auf dem staubigen Stein eines viel benutzten Marktplatzes von ihm erwarten konnte. Eine rasche Musterung seiner übrigen Kleidung verriet Shinya, dass auch diese nicht einmal die leiseste Spur von Ruß oder Asche aufwies, keinen noch so kleinen Brandfleck oder sonst irgendetwas, das auf einen allzu nahen Kontakt mit dem heißen Element hingewiesen hätte. Wohl brannte seine Haut, fühlte sich hier und dort noch unangenehm gespannt an, doch ihre leichte Rötung wirkte mehr wie das letzte Überbleibsel eines ganz besonders fiesen, aber beinahe schon ausgeheilten Sonnenbrandes. Die Fassaden der umstehenden Häuser hatten das tödliche Flammeninferno sogar noch glücklicher überstanden als er selbst, waren ebenso strahlend und prachtvoll wie eh und je und besaßen keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den tristen, halb zerschmetterten, halb verkohlten und ausgebrannten Ruinen, die dem alptraumhaften Szenario der vergangenen Minuten einen grauenhaft morbiden Rahmen geboten hatten. Langsam rappelte Shinya sich auf und ging unsicheren Schrittes seiner Freundin entgegen. Das dunkelhaarige Mädchen wandte den Kopf in seine Richtung, als sie seine Schritte auf dem trockenen Pflaster näher kommen hörte, und in ihren dunklen Augen konnte Shinya einen Ausdruck von Verwirrung lesen, den er nur allzu gut nachvollziehen konnte. "Was... war das eben...?", flüsterte sie. "Hm", entgegnete der Fremde an Shinyas Stelle, begleitet von einem ungerührten Schulterzucken. "Es sah aus wie eine Illusion. Es fühlte sich an wie eine Illusion. Es roch sogar wie eine Illusion. Also, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ja beinahe zu behaupten wagen: möglicherweise... eine Illusion?" "Ach, eine Illusion also, ja?", grummelte Shinya und zog den unversehrten Stoff über der weniger unversehrten Haut seines Armes zurück. "War aber mal verdammt schmerzhaft für ne Illusion!" "Es könnte natürlich auch einfach nur ein peinlich missglückter Weltuntergang gewesen sein, aber das wage ich zu bezweifeln." "Apropos Weltuntergang..." Hoshi warf einen fragenden Blick in Richtung des Weißhaarigen. "Du... bist doch auch ein Estrella, oder? Ich hab das gespürt. Unsere Kräfte... sind sich nicht ganz unähnlich..." "Stimmt... du hast so etwas an dir... ein Nachtlicht, Sterne, was auch immer. Keine Lichtmagie im ganz klassischen Sinne. Dass sie meiner Magie geähnelt hat, könnte unter Umständen daran liegen, dass ich der Estrella des Mondes bin. Und, um dieses obligatorische Vorstellungsspielchen komplett zu machen: Mein Name ist Noctan, Noctan Lunar." "Ich weiß nich, ob's dich interessiert, aber ich heiße Shinya", stellte sich der Katzenjunge nicht ohne einen Anflug von Widerwillen vor. "Ich fürchte... das hier is dann wohl die Stelle, an der ich mich bedanken sollte, richtig?" Noctan zuckte mit den Schultern. "Tu, was du nicht lassen kannst. Ich bin allerdings primär gar nicht hierher gekommen, um mich als großen Helden feiern zu lassen, obwohl das natürlich eure Sache ist. Mir persönlich würde es hingegen schon vollkommen reichen, meine bescheidene Wenigkeit in eure erlauchte Gemeinschaft einreihen zu dürfen..." "Jetzt mal im Ernst?" Shinya zog eine Augenbraue hoch und betrachtete den Weißhaarigen mit unverhohlenem Misstrauen. Irgendetwas an dessen plötzlichem Sinneswandel wollte ihm beim besten Willen nicht behagen oder gar zufrieden stimmen, aber gleichzeitig fehlte ihm der Mut, dem Angebot des Fremden mit allzu kritischer Ablehnung entgegenzutreten. Er wusste selbst, dass Phils Gefolgschaft seiner eigenen seit Neuestem zahlenmäßig überlegen war, und auch wenn dieser Vorteil sich nur auf einen einzigen Mann (beziehungsweise auf eine einzige Frau) beschränkte, so konnte er doch jeder Unterstützung eigentlich nur dankbar entgegenblicken. Der Katzenjunge zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und hoffte inständig, dass ihm die schicksalsergebene Resignation nicht allzu deutlich auf der Stirn und in den Augen abzulesen war. Derart gewappnet wandte er sich wieder seinem potentiellen neuen Mitstreiter zu, dessen weißes Haar im Mondlicht silbern schimmerte, was ihn sogar noch ein klein wenig schöner aussehen ließ, als das ohnehin schon der Fall war. Was aber trotz allem nicht das ungute Gefühl betäubte, das der Anblick des Fremden nach wie vor in dem Halbdämon weckte. Aus irgendeinem Grund war sich Shinya sogar ganz verflucht sicher, dass er die Entscheidung dieser nächtlichen Minuten noch in nicht allzu ferner Zukunft würde bereuen müssen. "Also gut", grinste er trotz allem, und vollführte eine vielsagende Kopfbewegung in Richtung des wundersam intakten Gasthofes, in dessen Obergeschoss immer noch sein herrlich weiches, warmes, luftiges Bett auf ihn wartete. "Lass uns..." Shinya stockte, als er mit einem Mal ein Gefühl überwältigenden Entsetzens in seiner Brust aufsteigen fühlte. Er riss seine grünen Augen weit auf und konnte gerade noch alle Kraft zusammen nehmen, um tief Luft zu holen und ein weiteres Mal zu schreien, so laut und so durchdringend er nur irgendwie konnte: "Noctan, pass auf, hinter dir!" Ende des dritten Kapitels Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)