Equinox von YourBucky ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel I - Wer an sich selbst glaubt... --------------------------------------------------- Kapitel 1 - Wer an sich selbst glaubt... Lang, lang ist's her... ja, ich weiß, seit Equinox zum ersten Mal bei animexx hochgeladen war, sind mittlerweile mehrere Jahre vergangen... seitdem ist es komplett überarbeitet und korrigiert worden, und glaubt mir, dass war viel Arbeit, verflucht viel Arbeit, oder anders ausgedrückt: Ich wäre fast gestorben! O_O Aber ich habe tapfer durchgehalten und kann nun mit Stolz die endgültige Version von Kapitel I präsentieren!!! Ein denkwürdiger Moment, der mich irgendwie melancholisch stimmt... An alle, die Equinox schonmal gelesen haben: Bitte, lest es nochmal von Anfang an. Es hat sich so viel geändert und man muss diese neue Fassung kennen, um die Geschichte wirklich verstehen zu können. An alle "Neueunsteiger": Ich hoffe, dass Euch diese Fanfic gefällt und bitte lest weiter! *verbeug* Equinox ist für mich wie ein alter Freund, der mir sehr am Herzen liegt, und ich hoffe, dass es (auch im neuen Gewand...) vielen gefallen wird. Zuletzt möchte ich Tía, Yoko und natürlich meinem Fünkchen danken, ohne die ich das hier niemals durchgehalten hätte. Danke an alle aus dem Equinox-RPG und an alle, die mir Comments geschrieben und mich motiviert haben. Das hier ist nur für euch! Daisuki!!! ^.^ Er lief so schnell er konnte durch das kalte, feuchte Gras. Ein kurzer, aber heftiger Regenschauer hatte nur wenige Stunden zuvor scheinbar alles Alte in der Natur hinfort gespült. Noch lagen Reste von Nebel wie geisterhafte Fetzen über den weiten Feldern und gaben dem ausklingenden Tag eine unwirkliche Atmosphäre. Der Junge aber hatte keine Augen für seine Umgebung, er rannte mit starr ins Nichts gerichtetem Blick immer weiter geradeaus, bis ihn irgendwann ein hässliches Stechen in seiner Seite zum Anhalten zwang. Er schnappte nach Luft, die Augen krampfhaft auf den wie von tausend kämpfenden Ameisen überfluteten, hell und dunkel flirrenden Boden gerichtet, und wischte sich mit einer Hand hastig den Schweiß von der Stirn. Weiter, nur weiter, fuhr es ihm durch den Kopf. Er durfte nicht stehen bleiben, nicht jetzt, wo er es doch beinahe schon geschafft hatte! Er warf sich seinen langen braunen Zopf über die Schulter und rannte weiter. Jetzt kam es ganz allein auf seine Schnelligkeit an, denn schon hörte er hinter sich dumpfe Schritte durch das feuchte Grün der Wiese brechen. Langsam aber sicher kroch ein leises Gefühl von Panik mit kalten, klammen Fingern in ihm hoch. Auch wenn er seinen Verfolger nicht sehen konnte und es auch schlicht und einfach nicht wagte, sich nach ihm umzudrehen - es war ihm klar, wer dort hinter ihm war, und so zwang er sich dazu, sein Tempo sogar noch ein kleines bisschen mehr zu beschleunigen. In seiner Brust schien eine glühend heiße Axt zu toben. Das Atmen fiel ihm mit jedem Schritt schwerer, aber der Mut der Verzweiflung trieb ihn mit schmerzhaften Schlägen zum Weiterlaufen an. Wenn er jetzt so kurz vor dem rettenden Waldeingang aufgab, dann hatte er alles verloren, und dieser Gedanke ließ ihn die letzten Kräfte mobilisieren, die er eben noch irgendwo in seinem völlig erschöpften Körper finden konnte. Er spürte kaum mehr die nassen Grashalme unter seinen nackten Fußsohlen, nahm nichts mehr um sich herum wirklich bewusst wahr außer dem grünen Flirren der zum Greifen nahe und doch so unendlich weit entfernt scheinenden Bäume, die vergeblich ihre rettenden Schatten nach ihm ausstreckten. Jeder Atemzug von der feuchten, kühlen Luft schien ein langes, rostiges Messer Stück für Stück in seine Lunge hineinzutreiben. Dennoch verlangsamte er sein irrwitziges Tempo nicht etwa, obwohl er seine Beine kaum noch als solche wahrnehmen konnte. Er wusste, er würde jeden Moment zusammenzubrechen, wenn er nur stehen blieb, und so gelang es ihm auf irgendeine wundersame Weise tatsächlich, noch einmal an Geschwindigkeit zuzulegen. Das Gras, die Bäume, der Himmel, alles raste in einem konturlosen Farbenrausch an ihm vorbei, während der Waldrand näher und näher kam - ebenso wie sein Verfolger. Der Junge spannte seinen Körper, legte einen letzten halsbrecherischen Sprint ein, sah sich beinahe schon in das Dunkel des Waldes eintauchen... Und sah dann im nächsten Augenblick noch etwas ganz anderes auf sich zukommen, nämlich die feucht glänzenden, saftig grünen Halme der Wiese, durch die er eben noch so tapfer und athletisch gelaufen war. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und schien doch gleichsam zu einer unerträglichen Ewigkeit zu zerfließen, so wie ein Klumpen schmelzenden Wachses in der prallen Mittagssonne. Vielleicht war es ein Stein, vielleicht auch eine Wurzel, die aus dem Wald hinaus bis in die dunstige Ebene ragte. Er spürte eigentlich gar nicht wirklich, wie es ihm die Füße unter dem Körper wegriss, doch die Chance zu jedweder Reaktion blieb ihm ohnehin verwehrt. Das Nächste, was er wieder ganz bewusst wahrnahm, war der harte und überaus schmerzhafte Aufprall auf dem regennassen Erdboden. Das feuchte Gras schlug ihm wie tausend brennende Peitschenhiebe auf den Körper, während sich eine ganz und gar unverschämte Unzahl von winzigen Steinen geradewegs in seine Haut zu bohren beschloss. Doch für all diese körperlichen Leiden und Qualen, so unangenehm sie auch immer sein mochten, konnte der Junge kaum mehr Beachtung aufbringen, als es eben unvermeidbar war. Dies mochte höchstwahrscheinlich daran liegen, dass seine (ohnehin schon reichlich in Mitleidenschaft gezogene!) Wahrnehmungsfähigkeit sich momentan auf eine vollkommen andere Sache konzentrierte, und das war der flackernde Umriss jener dunklen Gestalt, die sich ihm nun frei von jeglicher Hast, ja fast schon boshaft ruhig und gemächlich näherte. Er wollte aufstehen, weiterlaufen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Der Waldrand schien so nah, so lächerlich nah, nur noch wenige Meter trennten ihn von seinem Ziel... Und dennoch hätte es genauso gut am anderen Ende des Planeten liegen können. Er konnte einfach nicht mehr! All die Kraft, die er für seinen letzten entscheidenden Lauf gesammelt hatte, war nun mit einem Schlag aus seinem Körper gewichen. Er schnappte mühsam nach Luft und versuchte verzweifelt, sich irgendwie noch einmal aufrappeln zu können, aber seine Füße fanden keinen Halt in dem feuchten Gras, rutschten hilflos zur Seite ab und ließen ihn zum zweiten Mal auf den kalten, steinig-matschigen Boden fallen. In diesem Augenblick begriff er, dass es vorbei war. Sein düsterer Verfolger kam unaufhaltsam näher und näher, war nun schon bis auf wenige Schritte an ihn herangetreten und es blieben dem Jungen bestenfalls noch Sekunden, bis er ihn auch tatsächlich erreicht haben würde. Wie durch einen Schleier hindurch nahm er wahr, wie der rennende Schatten auf ihn zukam, um das zu vollenden, was er die ganze Zeit über mit all seiner Kraft so verzweifelt hatte verhindern wollen. Er zog an ihm vorbei und schenkte ihm noch ein letztes, spöttisches Lächeln, bevor er locker und entspannt dem Waldrand entgegenlief und mit seinem Körper das gelbe Band durchtrennte, das zwischen den Bäumen gespannt war, dort, wo schon die anderen Kinder auf den blonden Jungen warteten, der da eben als Erster ins Ziel gekommen war. Erschöpft, aber sichtlich zufrieden nahm er ein kühles Getränk entgegen und kippte es in einem einzigen Zug herunter. Dann blickte er auf und sah erwartungsvoll grinsend in jene Richtung, wo der Gestürzte immer noch in der regendurchtränkten Wiese lag. Dieser verspürte jedoch nicht einmal mehr die geringste Lust, überhaupt jemals wieder aufstehen zu müssen, denn das Rennen war gelaufen und außer ein paar mitleidigen Blicken würde er heute wohl nur noch das Gelächter der anderen Kinder ernten. Sein Sturz musste furchtbar komisch ausgesehen haben! Er ballte die Hände zu Fäusten und warf einen trotzigen Blick in Richtung des grau verschleierten Himmel, der sich weit über ihm von Horizont zu Horizont aufspannte. Warum musste das Schicksal denn auch wieder einmal ausgerechnet ihn so unvorstellbar hart treffen? Sicher, ihr Wettlauf war faktisch noch nicht vorbei, aber ob er nun als Zweiter oder als Letzter ins Ziel kam, das machte jetzt auch keinen Unterschied mehr Er hatte verloren. "Shinya, hast du dir wehgetan? Soll ich dir vielleicht aufhelfen?" Die Stimme des blonden Jungen klang freundlich und ehrlich besorgt, aber Shinya kannte diesen Tonfall sogar weit besser, als ihm lieb war - der Blondschopf machte sich wieder einmal über ihn lustig. Sollte er doch! Er hatte es jedenfalls ganz bestimmt nicht nötig, sich auch noch von ihm auf die Beine ziehen zu lassen, nein, wenigstens diesen einen Triumph würde er nicht bekommen! Stattdessen holte er noch einmal tief Luft und kämpfte sich dann zwar etwas unbeholfen, aber doch immerhin aus eigener Kraft wieder zurück auf die Füße. Ein kurzer prüfender Blick nach unten verschaffte Shinya einen ersten Eindruck von der überaus reichhaltigen Vielfalt an Schürfwunden, die seinen gesamten Körper wie ein rotes Netz auf einem Grund aus heller Haut und bräunlich grünem Schlamm überzogen. Besonders sein rechtes Knie hatte es schlimm erwischt. Aus einer ganz offensichtlich recht tiefen, heftig pulsierenden Wunde sickerte Blut über sein geschundenes Bein hinab und dabei brannte sie, als ob man ihm einen wieder und wieder explodierenden Feuerwerkskörper in seine Haut gerammt hätte. Shinya biss die Zähne zusammen, aber dennoch drang ein leises Wimmern über seine bleichen Lippen, während er mühsam humpelnd die letzten Meter bis zum Ziel zurücklegte. Seine Kleidung war unangenehm nass und kalt, sein einstmals geflochtenes langes Haar hatte sich nun größtenteils gelöst und klebte ihm in wirren, von Schweiß und Dreck durchtränkten Strähnen im Gesicht. Ein leises, entferntes Keuchen kündigte an, dass sich nun endlich auch die anderen Kinder näherten, die ebenfalls an dem Rennen teilgenommen hatten. An ihrer Spitze lief ein Junge, dessen Gesicht ebenso rot war wie seine völlig verstrubbelten Haare, dahinter ein sommersprossiges Mädchen mit einem blonden Pferdeschwanz. "Deine Wunde versorgen wir später, jetzt trink erst mal was!" Shinya drehte sich um und ergriff hastig den Becher, den ihm Sylvie, ihres Zeichens jüngste Betreuerin seines Kinderheimes, so überaus verlockend darbot. Besagtes Heim - ein altes, schon vor sehr langer Zeit verlassenes Herrenhaus - schmiegte sich still und abgelegen an den Rand von Arvesta, des größten Waldes auf dem grünen Kontinent Silvania. Nur sehr selten verirrten sich Reisende in die stets leicht schwermütig verträumte, regnerische Gegend, die eingebettet zwischen dichten Wäldern und den ersten sanften Hügeln der Sinya-Höhen lag. Hier im Grenzgebiet zwischen den von großen Städten, weiten Ebenen und einsamen Küstenstreifen bestimmten silvanischen Flatlands und den bergigen Wäldern der Midlands, in deren verzauberte Einsamkeit sich die naturverbundenen Elbenvölker vor der stetig wachsenden Zivilisation zurückgezogen hatten, schien die Natur das ganze Jahr über in zartem, melancholischem Schlummer zu liegen. Und mitten in dieser Ruhe hatte eine Gruppe junger Idealisten, unter ihnen auch eine Frau namens Sylvie, jenes alte Herrenhaus mitsamt einer weitaus weniger ruhigen Horde elternloser Kinder bezogen. Eines dieser Kinder war Shinya, der es nun genoss, wie das kühle Wasser ihm den Hals hinabrann, und einige Sekunden lang die funkelnd grünen Augen schloss, um seinen rasenden Herzschlag wieder zur Ruhe zu bringen. Als er es schließlich wieder fertig brachte, seine Lider langsam und bedächtig zu heben, da blickte er geradewegs in ein ihm nur allzu gut bekanntes Gesicht - das Gesicht eines Jungens mit strubbeligen blonden Haaren, der wie immer ein spöttisches Leuchten in den Augen und ein breites Grinsen auf den Lippen trug. "Na, willst du mir gar nicht zum Sieg gratulieren?" "Verzieh dich, Phil!" Shinyas Antwort klang sogar noch weit unfreundlicher, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte, waren sein alter Freund Phil und dessen weithin bekannte, stets so umwerfend komische Sprüche! Augenblicklich spürte er den strafenden Blick von Sylvie in seinem Nacken, aber das war ihm momentan so vollkommen egal, wie überhaupt nur irgendetwas es hätte sein können. Phil erwiderte die finstere Kälte in den Augen des Jungen mit einem hilflos verwirrten Blinzeln. "Was ist denn? Ich habe fair gewonnen, jetzt akzeptiere das bitte auch!" In sehr viel leiserem Tonfall, gerade so, dass nur Shinya ihn hören konnte, fügte er hinzu: "Is ja nicht meine Schuld, wenn du unbedingt über deine Füße fallen musst... sah aber echt gut, Shinya." "Halt den Mund!" Shinya unterdrückte nur mit einiger Mühe den Impuls, seine Faust kurzerhand in Phils selbstzufriedenem Grinsen zu versenken. Er konnte und er wollte sich nicht mehr länger beherrschen. "Ich akzeptiere gar nichts, okay? Vor allem nicht dein dummes Gelaber!" "Shinya!" Sylvie kam mit jener unheilvollen Miene, die stets ankündigte, wenn eines der Kinder sie um ihre ansonsten wahrhaft engelsgleiche Geduld gebracht hatte, auf die beiden Jungen zugestapft und stemmte sich die Hände in die Hüften. "Was soll denn das jetzt schon wieder? Wir haben doch ausgemacht, dass es bei unserem Sommer-Abschieds-Fest dieses Jahr mal keinen Streit gibt, schon vergessen? Und was ist jetzt? Du bist doch kein Kind mehr, Shinya! Kannst du dich denn nicht wenigstens einmal wie ein ganz normaler Junge benehmen?" Shinya verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich von der sichtlich entnervten Betreuerin ab. Nein, er konnte und er wollte sich nicht wie ein normaler Junge benehmen - was nicht zuletzt daran liegen mochte, dass er auch überhaupt kein normaler Junge war. Wenn Shinya in seinem achtzehnjährigen Leben eines gelernt hatte, dann war es, dass normale Jungen ganz im Gegensatz zu ihm keine braunen Katzenohren auf dem Kopf und auch keinen Katzenschwanz hatten, die beide nicht so recht zu seinem ansonsten eindeutig menschlichen Aussehen passen wollten. Keiner wusste, woher der kleine Halbdämon gekommen war, als ihn eine Gruppe von Gardisten halbtot und eingesperrt im Keller eines verlassenen Hauses inmitten der Großstadt Haída gefunden und in das nahe gelegene kleine Kinderheim am Rande der Wälder gebracht hatte. Doch auch wenn man sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt hatte, dass der Junge mit dem langen braunen Zopf, den grünen Katzenaugen und den kleinen spitzen Eckzähnchen eben immer etwas anders war als die anderen Kinder - er war und er blieb ganz sicher alles andere als normal. Davon einmal abgesehen war er in diesem Augenblick ganz einfach nur wütend und enttäuscht und vor allem hatte er genug von Super-Phil, den doch sowieso alle liebten, der alles konnte und der immer nur brav und nett, kurzum: der eben einfach von Kopf bis Fuß perfekt war. "Auf eure großartige Siegesfeier kann ich gerne verzichten!", knurrte er Sylvie entgegen. "Du hast Recht, ich bin kein Kind mehr, und ich habe andere Sorgen, als am Lagerfeuer zu hocken und irgendwelche Liedchen zu singen! Außerdem bin ich jetzt müde, also gute Nacht, bis morgen und viel Spaß noch!" Ohne die Antwort der jungen Betreuerin abzuwarten oder noch länger in die teils lachenden, teils reichlich entnervten Gesichter der umstehenden Kinder zu blicken, fuhr Shinya mehr oder weniger elegant herum und lief dann halb humpelnd, halb rennend den matschigen Waldweg entlang, bis er endlich das große, alte Steingebäude seines Heimes vor sich auftauchen sah. Ein feuchter, schwerer Regenduft lag zwischen den zarten Farnen und den dunklen Stämmen, an denen sich gelblich weiße Pilzkolonien in den fantastischsten Formationen empor rankten. Die schwermütige Schönheit der Natur berührte ihn im Moment jedoch herzlich wenig - dafür war er allerdings auch viel zu sehr damit beschäftigt, die Schmerzen in seinem Knie zu ignorieren, die sich nicht so recht zwischen Brennen, Stechen und Pochen entscheiden konnten und deshalb all diese Hochgefühle auf eine äußerst quälende Art und Weise miteinander kombinierten und abwechselten. Er musste die Zähne fest zusammenbeißen, um nicht doch einfach wieder kehrt zu machen und Sylvie um ein bisschen Wundtinktur anzubetteln, kam dann aber endlich doch verschwitzt und wiederum völlig außer Atem auf dem großen Platz vor dem Heim an. Shinya schleppte sich zu der ebenholzfarbenen Eingangstüre hin und fand sie wie erwartet unverschlossen vor. Die abgeschiedene Lage des alten Hauses machte jegliche Sicherheitsvorkehrungen überflüssig - und außerdem wusste der Halbdämon nur allzu gut, dass es hinter der prunkvollen, wenn auch etwas heruntergekommenen Fassade des ehemals so herrschaftlichen Hauses nicht mehr viel zu holen gab. So stieß er die Türe kurzerhand auf und stolperte in den Flur, in dem die Schuhe der Kinder ordentlich nebeneinander aufgereiht unter ihren etwas schäbigen, dafür aber umso wärmeren Jacken standen, die Sylvie für den nahenden Herbst sicherheitshalber schon mal vom Dachboden des Heimes hervorgeholt hatte. In einer Ecke ruhte ein alter hölzerner Schlitten mit schwarzen, schmiedeeisernen Kufen und wartete stumm und sehnsüchtig auf den ersten Schnee. Der von regennassen Füßen glatt gewordene Fliesenboden war gefährlich rutschig und so ging Shinya zwar gerade noch so eilig, wie sein verletztes, etwas steif gewordenes Knie das eben zuließ, aber dennoch mit der nötigen Vorsicht auf die schmucklose Türe zu, die ins Innere des Hauses führte. Im Laufe der langen Jahre, in denen das Herrenhaus leer gestanden hatte, war das ursprüngliche Portal dem zerstörerischen Treiben von Wind und Regen zum Opfer gefallen, und so hatte Sylvie es durch ein billiges, dafür aber äußerst widerstandsfähiges dunkles Holz ersetzt, das die Kälte so weit wie möglich fernhielt, in dem altmodischen Prunk des sonstigen Umfelds aber reichlich fehl am Platz wirkte. Den Katzenjungen kümmerte aber auch das im Augenblick reichlich wenig. Er war froh, den Eingangsflur hinter sich lassen zu können und trat durch die kahle Türe in den Gemeinschaftsraum des Heimes. Der dunkelrote Teppich dort empfing ihn mit wunderbarer Weichheit und trocknete schnell seine feuchten, nackten Füße. Shinya hatte es plötzlich nicht mehr ganz so eilig, an dem langen und wie immer äußerst chaotischen Spieltisch vorbeizuhumpeln, der wie fast alle Möbel hier aus dunklem Holz bestand. Das überall herumliegende Spielzeug und die allgemein vorherrschende Unordnung brachten dennoch eine freundliche, warme Atmosphäre in das an und für sich recht düstere Gemäuer. Der Halbdämon vollführte einen ungelenken Slalom durch den großen, aber dafür auch äußerst vollen Raum, bis er schließlich am Fuß der hölzernen Treppe ankam, die in das erste Obergeschoss und somit auch zu ihren Schlafräumen führte, und machte sich dann an den Aufstieg. Dieser war im Übrigen sogar keineswegs so schlimm, wie Shinya das zuerst einmal befürchtet hatte. Sondern viel, viel schlimmer. Jede einzelne Stufe brachte ungeahnte Qualen mit sich, und jedes Mal, wenn er dachte, den schlimmsten Punkt nun endlich überschritten zu haben, überzeugte ihn gleich darauf ein neuerlicher Schwerthieb mitten ins Bein vom äußerst unangenehmen Gegenteil. Der Schmerz in seinem Knie schien nicht wirklich besser zu werden, im Gegenteil: Nun begannen auch noch die kleineren Wunden zu brennen und zu jucken. Am liebsten hätte sich der Katzenjunge kurzerhand die Haut vom Körper gerissen, aber da das natürlich nicht möglich war, quälte er sich eben weiter die Treppe hinauf, bis er endlich in jenem langen Flur angekommen war, in dem sich eine schwarze Türe an die nächste reihte und so im grauen Halbdunkel hart konturierte Löcher in die vergilbte, von blassgrünen Ornamenten verzierte Tapete schnitt. Shinya seufzte. Das Schicksal meinte es wohl wieder einmal ganz besonders schlecht mit ihm, aber das war er ja nicht anders gewohnt. Leise grummelnd tastete er sich an der kühlen glatten Fläche der Wand entlang, bis er endlich das vorletzte Zimmer auf der linken Seite des Ganges erreichte, das er zusammen mit ein paar anderen Jungen bewohnte. Es kostete ihn reichlich Überwindung, doch noch einmal in den nebenan gelegenen Waschraum zu gehen, wo er sich hastig den gröbsten Schmutz, das langsam verklebende Blut und den Schweiß vom Körper wusch, bevor er sich tapfer zurück zu seinem Schlafraum quälte und dort endlich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung auf sein mehr oder minder weiches Bett fallen ließ. Er blieb einige Sekunden lang regungslos und mit geschlossenen Augen liegen und lauschte auf seine langsam wieder ruhiger werdenden Atemzüge. Dann stand er auf, zog seine immer noch feuchten Kleidungsstücke aus und schlüpfte, nachdem er die ungemütlich kalten Stoffballen wenig liebevoll in eine Ecke des kleinen Zimmers geschmissen hatte, in eine kurze schwarze Hose. Weitaus vorsichtiger ließ er sich nun zum zweiten Mal auf seiner Matratze nieder, streckte sich und zog sich dann die Decke über den Kopf. Was für ein Tag! Wenn Shinya es nun genauer bedachte, dann war er eigentlich überhaupt nicht müde. Außerdem lastete der raue Stoff viel zu schwer auf seinen zahllosen Wunden und ließ nur ein trübsinniges, dumpfes Licht zu dem Katzenjungen hindurchsickern, also schob er die Bettdecke kurzerhand wieder beiseite und starrte stattdessen an die bleiche Wand des niedrigen Raumes. Ganz unweigerlich (und obwohl er das eigentlich überhaupt nicht wollte) schweiften seine Gedanken zu den anderen Kindern ab, die jetzt und in diesem Augenblick draußen am Waldesrand saßen, Brot und Fleisch über dem Lagerfeuer grillten, fröhliche Lieder sangen und eben einfach ihre liebe Freude am Leben hatten. Shinya wackelte lustlos mit seinen braunen Katzenohren, die vom Regen leicht struppig geworden waren. Er hätte ohne Weiteres ebenfalls bei ihnen sein können, aber stattdessen lag er nun einsam und allein in der Leere seines Zimmers und langweilte sich. Mit einer wütenden, ruckartigen Bewegung richtete er sich auf und griff nach seinem Kissen. "Gratulation! Du hast es mal wieder geschafft, Shinya!", schrie er dem an und für sich doch vollkommen unschuldigen Stoff entgegen und boxte so stark er nur konnte in das formlose Weiß. Dann packte er es, vergrub sein Gesicht darin und ließ sich nach hinten auf die Matratze fallen. "Du bist ja so unglaublich blöd...", murmelte in die ausgedünnte Daunenschicht hinein. Dann drehte er sich zur Seite, wickelte sich doch wieder in die wenigstens recht angenehm warme Decke ein und schloss die Augen. Er wollte unbedingt schlafen, wenn die anderen wieder von ihrem Fest zurückkamen, also lag er einfach nur regungslos da, zählte seine Atemzüge und versuchte krampfhaft, seine Gedanken wieder zur Ruhe zu bringen. Was ihm natürlich nicht gelang. Die Zeit schien mit jeder endlosen Sekunde sogar noch ein bisschen langsamer zu verstreichen, aber irgendwann, viele, viele Atemzüge später, übermannte ihn dann doch die erschöpfte Müdigkeit und er schlief endlich ein. Als Shinya wieder erwachte, war es bereits tiefe Nacht. Er konnte nicht sagen, was genau ihn denn eigentlich aufgeweckt hatte, aber von einer Sekunde zur nächsten war er hellwach. Er rollte sich auf die andere Seite und versuchte einige Minuten lang vergeblich, wieder einzuschlafen oder auch nur ein kleines bisschen müde zu werden, als er plötzlich bemerkte, wie durstig er war. Sein Hals brannte und kratzte, als ob er stundenlang gegen den Wind geschrien hätte, und seine Zunge lag trocken wie ein verdorrtes Stück Holz in seinem Mund. War er deshalb aus seinem traumlosen Schlaf erwacht? Er wusste es nicht, aber dafür war er sich umso sicherer, dass er nicht wieder würde schlafen können, ohne etwas getrunken zu haben. Der Katzenjunge verdrehte die Augen, dann stand er so leise wie möglich auf, um die anderen im Zimmer auch ja nicht zu wecken. Das Letzte, was er jetzt noch verkraften konnte, war eine Standpauke seiner Mitbewohner, dass er sie zu solch später Stunde aus ihrem wohlverdienten Schlummer riss! Auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem schlich er an den beiden Hochbetten vorbei auf die schwarze Türe zu. Dabei fiel sein Blick mehr beiläufig auf eine der Matratzen - was er dort jedoch sah, erstaunte ihn umso mehr. Das Bett war leer. Shinya blieb stehen und vergewisserte sich mit zunehmender Verwirrung, dass auch die übrigen Nachtlager vollkommen unberührt im fahlen Halbdunkel des Zimmers lagen. Aber wie war das möglich? Er konnte sich kaum vorstellen, weil die anderen Kinder zu solch später Stunde noch nicht von ihrer Feier zurückgekehrt waren. Oder hatte er vielleicht gar nicht so lange geschlafen, wie er im ersten Moment gedacht hatte? Allerdings war es draußen wirklich stockdunkel und die Sonne ging auch in den endenden Sommermonaten noch verhältnismäßig spät unter. Konnte das Fest wirklich bis mitten in der Nacht angedauert haben? Mit einem seltsamen und alles andere als beruhigenden Gefühl in der Bauchgegend öffnete der Halbdämon die Türe seines verlassenen Zimmerchen und trat hinaus in die vollkommene Dunkelheit des Flures. Dort blieb er stehen und sah sich einige Augenblicke lang leicht verloren nach allen Seiten um. Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte zwar nicht genau sagen, was ihn denn nun eigentlich so plötzlich gestört und seinen Körper ganz unterbewusst zum Anhalten gezwungen hatte, aber dieses unbekannte, vage Gefühl war dennoch stark genug, um ihm wie ein lähmendes Gift jede noch so kleine Bewegung mit Nachdruck zu untersagen. Als Shinya dann endlich begriff, was ihn derart irritierte, obgleich seine Augen es zunächst nur beiläufig registriert hatten, lief ihm ein eisig kalter Schauer wie gefrierende Regentropfen langsam über den Rücken hinab. Allmählich begann ihm diese merkwürdige Nacht mit all ihren Vorkommnissen und Absonderlichkeiten sogar ganz verflucht unheimlich zu werden! Er warf einen neuerlichen Blick über die Schulter hinweg, und immer noch zeigte sich ihm das stumme Bildnis seines Zimmers, wie es vom kalten Schein des Mondes in ein unwirklich silbernes Licht getaucht wurde. Und genau hier lag der Fehler. Die Nacht war zwar finster, aber eben doch nicht stockdunkel, denn der Mond war beinahe kreisrund und nun, da sich die Regenwolken verzogen hatten, auch dementsprechend hell. In den Flur hinaus verirrte sich jedoch kein einziger seiner Strahlen. Es schien vielmehr so, als ob irgendjemand mit chirurgischer Präzision das silbrige Mondlicht Finsternis in den langen Gang ausgeschüttet hätte. "Jetzt mach dich mal nicht verrückt, Shinya! Das wär verflucht noch mal sehr, sehr lächerlich, wenn ein Halbdämon Angst vor der Dunkelheit hätte, okay?" Shinya war es mit einem Mal vollkommen egal, wer von seinen Mitbewohnern ihm für sein doch nicht unbedingt im Flüsterton gehaltenes Selbstgespräch den Hals umdrehen würde - beinahe wünschte er sich sogar, dass eine der pechschwarzen Türen sich öffnen und ein verschlafenes Gesicht zum Vorschein kommen würde, um ihn missmutig, aber doch wenigstens lebendig an die späte Uhrzeit zu erinnern. Er sprach laut, mit möglichst fester, beinahe ein wenig trotziger Stimme, wie um sich selbst Mut zu machen - und wünschte sich bereits in der nächsten Sekunde, dass er genau das nicht getan hätte. Seine Stimme hinterließ ein dumpfes Echo in der Finsternis des Korridors, beinahe wie in einer feuchten, unterirdischen Felshöhle - oder zumindest so, wie sich Shinya das Echo einer feuchten, unterirdischen Felshöhle eben vorstellte, da er noch niemals zuvor in seinem Leben auch tatsächlich eine betreten hatte. Seinen Worten folgte ein unangenehmer Nachhall, der jedoch nicht etwa einfach wieder verklang, sondern ein um andere Mal von den Wänden abprallte, der mit jeder Sekunde lauter und lauter wurde, bis er schließlich wie ein Sturm von spitzen, schmerzhaft kalten Hagelkörnern von allen Seiten auf den Katzenjungen einprasselte. "Shinya hat Angst! Shinya hat Angst!" Er schluckte. War das wirklich seine eigene Stimme, die ihm da so unangenehm schrill und misstönend in den Ohren wiederhallte? Mit dem steten Anwachsen der Lautstärke schienen sich auch zunehmend kreischend verzerrte Tonlagen in das geisterhafte Orchester zu mischen, hier und dort begleitet von einem schrillen, auf grausige Art und Weise kindlichen Kichern, das Shinya jedoch hastig in das Reich seiner Einbildung abtat, da er zwar sehr wohl gesprochen, aber in gar keinem Fall gekichert hatte! "Nein! Ich... ich... hört auf, ja? Das ist ein Alptraum, richtig? Ich liege in meinem Bett, ich schlafe, und das ist alles nur ein dummer, kindischer Alptraum..." Der Katzenjunge merkte, wie seine Worte ihm zunehmend in einen Tonfall der Panik entglitten. Ein Gefühl von kalter, beklemmender Angst legte sich wie ein raues, dickes Tau um seine Kehle und raubte ihm beinahe die Kraft zum Atmen. Vergeblich versuchte er, zu der klaren, ruhigen Besonnenheit eines rationalen Gedankenganges zurückzufinden. Wenn dies alles nur ein Alptraum war - und daran bestand doch eigentlich gar kein Zweifel, denn normalerweise entwickelten einfache Gänge ja wohl kein derart stimmgewaltiges Eigenleben -, dann hatte er im Grunde genommen auch keinerlei Anlass dazu, sich zu fürchten. Was konnte ihm denn schon geschehen, außer dass er schweißgebadet aufwachen und in dieser Nacht wohl keinen weiteren Schlaf mehr finden würde? An und für sich überhaupt nichts. Und trotzdem... aus irgendeinem Grund wusste der Katzenjunge, dass er sich mit diesen krampfhaft vernünftigen Worten doch eigentlich nur selbst belog. Dies war kein Traum. Er war wach, er nahm alles vollkommen bewusst, vollkommen deutlich wahr und diese Sicherheit erschreckte ihn fast am meisten. Trotz der lähmenden Angst war er unfähig, seinen Blick von der dichten Dunkelheit abzuwenden, die sich vor ihm erstreckte und die nun in Bewegung zu geraten schien. Shinya hatte nie gewusst oder auch nur geahnt, dass sich so etwas wie Dunkelheit tatsächlich bewegen konnte, doch den ebenso grotesken wie erschreckenden Vorgang in dem nächtlichen Korridor hätte er mit keinen anderen Worten treffender beschreiben können. Die triefende Finsternis wurde zu etwas Körperlichem, Greifbarem, und noch im gleichen Augenblick hielt sie ihn fest und nahm ihn unerbittlich gefangen. Der Halbdämon stieß einen tonlosen Schrei aus, wollte herumfahren, in die silbrig helle Zufluchtsstätte seines Zimmers zurücktaumeln, aber die Schatten hielten ihn fest wie klebriger Sirup. "Shinya! Nein! Hör auf!", hallte das vielstimmige Geschrei und Gekicher durch den wabernden, grauenvoll lebendigen Gang. "Hör auf, Shinya!" Der Katzenjunge keuchte. Er wagte es kaum mehr, zu atmen, aus Angst, etwas von der träge tanzenden Dunkelheit könnte in seinen Mund fahren, von seinem Körper Besitz ergreifen und ihn selbst zu einem Teil des hysterischen Orchesters machen. Er schlug sich beide Hände vor das Gesicht und stürzte blindlings in den dichten Brei aus Schatten hinein, rannte und rannte mit all seiner Kraft, kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung gegen den zähen Widerstand der Schattenmasse an, doch die missgestalteten Proportionen des Ganges schienen sich mit jedem Schritt weiter in die Länge zu ziehen. In eine Länge, der so etwas wie ein Ende möglicherweise gar nicht bekannt war. Die Erkenntnis bohrte sich wie die Klinge eines langen, rostigen Messers genüsslich langsam in Shinyas Brust und ließ ihn beinahe in der Bewegung zusammenbrechen. Sein Körper war ohnehin noch geschwächt genug und er konnte selber nicht sagen, woher er überhaupt noch die Kondition zu solch einem kopflosen Lauf genommen hatte. Und langsam begriff er auch, dass diese vollkommen überstürzte Reaktion ein ganz gewaltiger Fehler gewesen war. Er hatte sich der lebendigen Dunkelheit ja quasi ausgeliefert, war ihr mit offenen Armen entgegen- statt vor ihr davongelaufen - und hatte nicht eine einzige Sekunde lang darüber nachgedacht, dass sie ihn nun möglicherweise überhaupt nicht wieder gehen lassen würde. Wer sagte ihm denn, dass die Architektonik dieses erschreckend real, aber eben doch nur beinahe normal wirkenden und gerade deshalb so absurden Ortes überhaupt irgendwelchen logischen Gesetzmäßigkeiten folgen musste? Wahrscheinlich konnte das niemand, genauso wenig, wie ihm jemand das Gegenteil hätte bestätigen können, aber allein der bloße Gedanke, noch bis in alle Ewigkeiten durch dieses dichte Schattenmeer laufen zu müssen, war weit mehr, als der Katzenjunge jetzt noch ertragen konnte. Shinya entspannte seinen Körper, ließ beide Arme lose an seinen Seiten hinabbaumeln und senkte den Kopf, um sich vornüber in die gierige Finsternis fallen zu lassen und seiner sinnlosen Flucht, aber auch der erdrückenden Angst ein rasches Ende zu setzen. Er wusste nicht, ob ihn im finsteren Reigen der Geisterstimmen nicht möglicherweise noch ungleich schlimmere Qualen erwarteten, ob das rasche Ende in Wahrheit nicht doch eher lang und vor allem überaus grausam sein würde, aber auch diese Zweifel gaben ihm nicht mehr die Kraft dazu, um noch weiter vor etwas davonzulaufen, dem er doch höchstwahrscheinlich sowieso nicht entkommen konnte. Und da sah er plötzlich am Ende des Korridors eine Türe auftauchen. Eine Türe an der seitlichen Außenwand des Herrenhauses. An der seitlichen Außenwand des Herrenhauses im ersten Stock, um genau zu sein. An einem Ort, an dem es ja nun wirklich alles, nur ganz gewiss keine Türe geben durfte, denn welchen Sinn machte schon eine Türe, die geradewegs ins Nichts (beziehungsweise in den freien Fall) führte? Der Katzenjunge schüttelte den Kopf und hätte bereits im nächsten Augenblick schon beinahe wieder darüber lachen können, dass er sich an einem Ort wie diesem überhaupt noch derartige Gedanken machte. Durften Schatten kreischen, tanzen, kichern? Durften Treppen verschwinden? Durfte Mondlicht zerschnitten werden? In diesem makabren Reigen der Absurditäten zählten nicht länger die Maßstäbe und Entscheidungsgründe des gesunden Menschenverstandes, sondern einzig und allein die Hoffnung darauf, überhaupt irgendwie wieder aus dieser unerträglichen Dunkelheit zu entkommen, weit weg von sämtlichen Geisterstimmen, die ihn verfolgten und mit jedem Schritt lauter und hysterischer wurden! Wen kümmerte es denn da bitteschön noch, ob seine Rettung nun eigentlich existieren durfte oder nicht? Der Halbdämon holte tief Luft, drehte mit zittrigen Fingern den angelaufenen Messinggriff in seiner Fassung herum und stieß dann mit einem Ruck die dunkle Türe nach außen auf. Er konnte nicht sehen, was sich hinter ihrem schwarzen Rahmen befand, da die Schatten hartnäckig seinen Blick verdunkelten. Es fiel ihm mit jedem Schritt schwerer, sich zu bewegen, denn die grauenhaft klebrige Finsternis heftete sich an seinen Körper und versuchte mit aller Macht, ihn zurückzuhalten. Wollte sie ihn etwa daran hindern, durch dieses schwarze Portal zu treten? Aber wieso? Lag dahinter tatsächlich seine Rettung, oder möglicherweise etwas noch ungleich Schlimmeres, Grausameres, das diese grässliche Flucht nur noch weiter in die Länge ziehen würde? Einen Moment lang zögerte Shinya und suchte verzweifelt nach dem rechten Mut, um den Weg in die Ungewissheit zu beschreiten. Seine Bewegungen verlangsamten sich, und er spürte, wie der Sirup lebendiger Schatten sich ekelhaft warm und klebrig um seine Gliedmaßen schlang und ihn so Stück für Stück gefangen nahm. "Shinya, nein! Hör auf!" Der Katzenjunge horchte auf. Mischte sich da nicht ein ängstlicher, ja fast schon panischer Unterton in die schrille Hysterie der kreischenden Dunkelheit? War diese Furcht etwa der Grund, warum sie mit jeder Sekunde ihre schleimigen Finger gieriger nach ihm ausstreckte? Und da wusste er mit einem Mal, dass er das Richtige tat. Doch mit der rettenden Erkenntnis kroch auch eine schmerzende, bedrückende Angst in ihm hoch. Was, wenn es zu spät war? Wenn er nur wenige Augenblicke zu lange gewartet und so seine letzte Chance endgültig verspielt hatte? Shinya wusste, dass es so oder so sinnlos war, sich darüber seinen Kopf zu zerbrechen. Stattdessen sammelte er all die Kraft, die er angesichts des plötzlichen Lichtes am Ende eines schier endlosen Tunnels noch irgendwie mobilisieren konnte. Dann drückte er sich aus der klebrigen Schattenmasse ab und warf sich in die Dunkelheit hinter der Türe. Der Aufprall auf dem Boden kam weit schneller als erwartet und auch nicht einmal annähernd so hart und vernichtend, wie es angesichts der Höhe eines zweiten Stockwerks wohl eigentlich zu befürchten gewesen wäre - trotzdem immer noch hart genug. Einige Sekunden lang lag der Halbdämon benommen da, die Augen krampfhaft geschlossen und all seine Sinne gleichermaßen betäubt. Das misstönende Konzert der unheimlichen Stimmen hallte ihm immer noch in den Ohren nach, obwohl er sich nahezu vollkommen sicher war, dass es eigentlich aufgehört hatte. Stattdessen hörte er jetzt ein seltsames Knistern und Knacken, ähnlich dem lauten Prasseln eines frisch entzündeten Kaminfeuers. Wie auf ein geistiges Kommando hin drang im gleichen Moment, als Shinya diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, eine Hitzewelle zu ihm vor, die sich wie ein erdrückender Schleier über die kühle Nachtluft legte. Der Katzenjunge hob immer noch reichlich orientierungslos seinen Kopf, dann öffnete er vorsichtig die Augen und blinzelte geradewegs in einen unglaublich hellen, unglaublich großen Fleck, der ihn nur umso mehr blendete und schmerzte, da seine Wahrnehmung immer noch an die bleierne Dunkelheit des Ganges gewöhnt war. Im ersten Moment war es ihm unmöglich, überhaupt irgendwelche erkennbaren Konturen auszumachen, doch Shinya rieb sich tapfer seine Augen, bis sich das verschwommene Bild endlich geklärt hatte. Noch in der nächsten Sekunde bereute er es zutiefst. Er lag inmitten des steinernen Hofes, der sich vor der großen schwarzen Silhouette des Herrenhauses zum Wald hin erstreckte. Der Nachthimmel war grau - allerdings nicht etwa von Regenwolken, die zurückgekehrt waren, um das Land erneut mit ihrer kalten klaren Fracht zu reinigen. Vielmehr war die Nacht durchtränkt von Rauch, welcher von einem gigantischen Scheiterhaufen aufstieg, der inmitten des ovalrunden Platzes aufgetürmt war. Hinter den flackernd roten Wällen des tobenden Flammenringes waren die Kinder und Betreuer des Heims wie Holzscheite zum Anfachen eines Lagerfeuers aufgestapelt worden. Hier und dort türmten sich zwischen ihren brennenden Leibern einige verkohlte Spielsachen, augenlose Puppen und Teddybären und das graue Skelett des alten Holzschlittens. Der Gestank von verkohltem Fleisch mischte sich in den beißenden Qualm des Feuers und ließ den Katzenjungen hustend und würgend einige Meter weit zurücktaumeln, bis er die erschreckend kalte Mauer des Kinderheimes in seinem Rücken spürte. Doch obwohl die haushohen Flammen so heiß loderten, dass alles, was ihnen zu nahe kommen würde, wie eine Motte im flackernden Schein einer Kerzenflamme verglühen musste, waren die Menschen in der Mitte des Ringes zwar ganz offensichtlich tot, aber nicht etwa verbrannt. Ihre Gesichter waren auch durch den Rauch hindurch noch deutlich erkennbar, die Augen weit und starr aufgerissen. Es mussten erst einige grauenvolle Schockminuten vorüberziehen, bis Shinya begriff, dass ihre scheinbar ausdruckslosen Blicke keinem anderen als ihm höchstpersönlich galten, und nun erkannte er auch den stummen, dafür aber umso gewaltigeren und kaum mehr zu ertragenden Vorwurf, den sie unmittelbar in seine Richtung sandten. Der Halbdämon wusste nicht, was in dieser Nacht geschehen war, aber dafür war er sich umso mehr darüber im Klaren, dass er es hätte verhindern können. In seine vollkommene innere Verwirrung mischte sich die lähmende Gewissheit, dass der Tod all jener Menschen, die quasi sein ganzes Leben lang an seiner Seite gewesen waren, einzig und allein seine Schuld war. "Shinya... du bist also hier..." In all der sengenden Hitze war es dem Katzenjungen, als ob ein eiskalter Blitz mitten in seinen Körper einschlagen würde, noch Sekundenbruchteile bevor er die leisen Worte der Stimme vernahm, die so plötzlich und so unvermutet an sein Ohr drangen - und anhand seiner gegenwärtigen Situation auch unglaublich fehl am Platze wirkten. Seine Augen wanderten gehetzt über das Bildnis der bloßen, sinnlosen Zerstörung, das sich flackernd und brennend vor ihm auftürmte, aber er sah niemanden, der zu ihm hätte sprechen können. Zumindest niemanden, der noch am Leben gewesen wäre, und alles andere wollte er sich in diesem Augenblick lieber gar nicht vorstellen. "Wer... wer bist du?", schrie er und bekam unweigerlich einen weiteren Hustenanfall, als der dichte, harte Rauch in seine Lungen eindrang. Er schnappte keuchend nach Luft und hielt sich eine Hand vor den Mund, bevor er mit rauer Stimme weitersprach. "Was zum Henker ist hier eigentlich passiert? Wer hat das getan?!" "Hab keine Angst." Die Stimme klang unwahrscheinlich ruhig und sanft, und obwohl sie tatsächlich vollkommen leise sprach, übertönte sie dennoch mühelos das Brüllen der Flammen. Der Katzenjunge war sich sicher, dass der Besitzer ebendieser Stimme lächeln musste, und dieser Gedanke machte ihn wütend. "Shinya, sag... hast du dich nie gefragt, wer du eigentlich bist? Woher du kommst? Wieso du so anders bist als all die Anderen?" Trotz der ganz und gar nicht komischen Szenerie konnte Shinya sich ein hysterisches Lachen nicht mehr verkneifen, das ihm unangenehm heiser und schrill in den Ohren tönte. Es war absurd - sein ganzes Leben lang hatte er sich Tag für Tag und so manche Nacht über genau diese Fragen den Kopf zerbrochen. Wie konnte sich ein Kind, das aus unerfindlichen Gründen eben einfach anders aussah als seine normalen Mitmenschen, das bei jedem Blick in den Spiegel unwillkürlich daran erinnert wurde, vollkommen allein auf der ganzen weiten Welt zu sein, auch nicht über derartige Dinge den Kopf zerbrechen, auf die ihm doch niemals jemand eine Antwort geben konnte? Shinya war noch jung, aber seit er denken konnte, hätte er ohne zu zögern dafür getötet, auch nur ein einziges Wesen seiner Art zu finden, oder vielleicht sogar etwas, das die Menschen stets mit jenem großartigen Wort namens Heimat betitelten. Aber warum fragte ihn diese höchst seltsame... Stimme das ausgerechnet jetzt? In dieser durch und durch sinnlosen und grausamen Nacht, angesichts des widerwärtig stinkenden Scheiterhaufens, auf dem zur Sekunde sämtliche Menschen verbrannten, die er doch zumindest ein ganz kleines Stück weit in sein Herz geschlossen hatte? Und warum klang ihr Tonfall dabei so ruhig, so zart und so freundlich, als würde sie einem Kind eine Gutenachtgeschichte erzählen, in der solche Worte wie Tod und Vernichtung überhaupt nicht existierten? "Verdammt, ich kapier das alles nicht!" Wieder musste Shinya schreien, um gegen das Brüllen und Tosen der Flammen anzukommen. "Alle... alle hier sind tot, ja? Und dann kommst du her und redest über mich? Was soll das eigentlich? Sag mir, was mit ihnen geschehn ist! Warst du das?!" Der Katzenjunge fühlte eine Woge hilfloser Verzweiflung in sich aufsteigen, die ihm Tränen in die Augen trieb. Er ballte seine zitternden Hände zu Fäusten und sah sich mit lauernden Bewegungen nach dem unsichtbaren Feind um, auf den er sich stürzen konnte, um ihn für jeden einzelnen Toten auf dem überdimensionalen Scheiterhaufen in tausend Stücke zu zerreißen. "Ich wusste es. Du bist noch nicht bereit, deiner Bestimmung nachzukommen... aber die Zeit drängt... ich habe keine Wahl." Shinya spürte, wie ihm eine einzelne Träne über die Wange hinabrollte und er wischte sich hastig mit seinem mittlerweile reichlich verrußten Handrücken über das Gesicht. Schön, er hatte das Heim nicht immer gemocht und seine Bewohner so manches Mal verflucht, aber trotz allem war und blieb es der Ort, an dem er aufgewachsen war. Jetzt hatte sich das zwar etwas düstere, aber doch immer verträumt und märchenhaft warme alte Haus in ein grauenhaftes Horror-Szenario verwandelt und alles Leben war von den gierigen Flammen ausgelöscht und verbrannt worden. Und dann kam irgendeine... seltsame Stimme daher und redete wirres Zeug von seiner Bestimmung! Der Katzenjunge spürte, wie die verzweifelte Wut in seinem Inneren zu einer Welle eiskalten Hasses wurde, die mit vernichtender Gewalt über seinen Körper hereinbrach und jedes andere Gefühl schlichtweg hinwegspülte. Er deutete auf den Scheiterhaufen und schrie, so laut er nur konnte: "Was auch immer das hier soll, sie können nichts dafür, ja? Es ist meine Schuld, dass sie tot sind, das hab ich auch kapiert! Aber jetzt sag mir wenigstens, was ich tun soll, anstatt hier irgendwelche Rätsel von dir zu geben, okay?" Der Katzenjunge meinte, ein leises, bitteres Lachen zu vernehmen, bevor die Stimme schließlich in unverändert sanftem, nun allerdings leicht traurigem Tonfall antwortete: "Ziehe los, noch in dieser Nacht. Ich wünschte, ich müsste es dir jetzt noch nicht sagen, Shinya, aber Equinox naht und bald schon wird es zu spät sein. Du trägst das Schicksal dieses Planeten auf deinen Schultern, mein junger Halbdämon, und ich wünschte, ich könnte dir auch nur ein kleines bisschen von dieser Last abnehmen. Du bist der einzige, der Youma jetzt noch retten kann, also verlasse diesen Ort und suche die übrigen Estrella. Noch könnt ihr die Apokalypse verhindern, aber die Zeit eilt euch davon, mit jeder Sekunde, in der wir uns hier unterhalten..." Shinya runzelte die Stirn und wackelte mit seinen Katzenohren. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich nach dieser Erklärung nur noch ungleich verwirrter als zuvor. "Wer - wir? Ich sehe hier niemanden außer mir! Ich meine... was soll das denn überhaupt sein, diese Es... Es-na-was-weiß-ich-eben, und dann, was ist Equinox? Und wieso Weltuntergang? Ich meine, das macht doch alles irgendwie überhaupt keinen Sinn, und vor allem... " Er holte noch einmal tief Luft, bevor er den Satz zu Ende brachte. "Und was um alles in der Welt hat das bitteschön mit mir zu tun?!" Es verstrichen einige Sekunden, bis eine leise, nachdenkliche Antwort auf die Worte des Katzenjungen folgte. "Du weißt anscheinend wirklich gar nichts... also hör zu: Die Legende der Estrella erzählt von den magischen Kriegern, die seit jeher diesen Planeten im Gleichgewicht halten. Jeder von ihnen trägt die Macht eines Elementes in sich... und deines ist die Dunkelheit. Aber für sich allein sind diese Kräfte bedeutungslos. Nur wenn alle zehn Sterne gemeinsam erstrahlen, wird das uralte Sternbild wieder erwachen und den Nachthimmel in sein erlösendes Licht tauchen. Verstehst du? Du musst die anderen Estrella finden, dann findest du auch dich und deine Heimat, Shinya." "Grandios!", schnaubte der Katzenjunge und warf sich sein braunes Haar über die Schulter. "Kannst du mir dann eventuell auch mal verraten, wo ich diese... diese Anderen suchen soll? Ich versteh ja nicht mal die Hälfte von dem, was du da erzählst! Oder meinst du etwa, ich hab nach jetzt auch nur den Hauch einer Ahnung, was ich eigentlich tun soll?!" "Du wirst es beizeiten verstehen, Shinya. Suche die Weltenwaage Equilibra und bringe sie wieder in das ewige Gleichgewicht von Hell und Dunkel, das die Menschen durch ihre blinde Jagd nach allem, was ihnen fremdartig, vielleicht auch böse erscheint, zerstört haben. Nur wenn Tag und Nacht in völligem Einklang miteinander stehen, dann liegt es in der Macht der Estrella, die Ungleichheit der Waagschalen Equilibras zu beseitigen. Doch diese Chance ist nun schon viel zu oft verstrichen. Die Menschen haben Equinox, die Tag- und Nachtgleiche, längst vergessen. Sie wissen nicht, dass am dreiundzwanzigsten Tag des Sturmmonats die Sonne das letzte Mal am Horizont versinken wird." Mit jedem Wort der körperlosen Stimme breitete sich ein feuchter Nebel der Verwirrung tiefer und tiefer in Shinyas Gedanken aus. Er musste sich zunehmend anstrengen, den leisen, aber immer eindringlicher gesprochenen Sätzen überhaupt noch folgen zu können. Nun, da sein erster blinder Hass einer merkwürdig kalten Leere gewichen war, dauerte es umso länger, bis der Katzenjunge die richtigen Worte fand, um seinem inneren Chaos Ausdruck zu verleihen. "Aber... wenn diese anderen Estrella so wahnsinnig mächtig sind, warum... warum stellen die denn dann nicht einfach das Gleichgewicht wieder her? Ich trage kein... Element und schon gar keine Macht in mir, ja? Ich glaube nicht mehr an solche Legenden, und selbst wenn... wenn dieser Planet untergeht, dann bin ich ganz bestimmt der Letzte, der das verhindern kann! Was willst du eigentlich von mir?" Eine weitere Pause folgte, länger und auf seltsame Weise bedrückender als zuvor. "Es ist alles nicht so einfach, wie du es dir vielleicht vorstellst. Aber wie kann ich von dir verlangen, dass du es jetzt verstehen sollst? Du bist verwirrt. Ich weiß, meine Worte werden dir nicht helfen, aber höre mir gut zu: Shinya, du bist der Auserwählte, von dem all die alten Legenden - an die du freilich nicht glaubst - berichten, jener, der Licht und Schatten in sich vereint. Es ist deine Aufgabe, die Estrella zusammenzuführen und das Sternbild zu erwecken. Die Entscheidung liegt ganz allein bei dir, ob du den Pfad, der dir vorherbestimmt ist, beschreiten willst. Aber du weißt nun, wohin er dich führen wird. Und es war doch immer dein größter Wunsch gewesen, deine Heimat zu finden, nicht wahr, Shinya? Hast du das etwa wirklich schon vergessen?" "Ich..." Der Katzenjunge war immer noch vollkommen durcheinander, doch obwohl es ihm nicht gelingen wollte, den einen Faden zu finden, der ihn durch das Labyrinth seiner verworrenen Gedanken führen konnte, begriff er doch eines mit nahezu beängstigender Klarheit: So lächerlich die Geschichte von dem Schicksal und dem Untergang des Planeten und von ihm, Shinya, als allmächtigem Messias auch klingen mochte - dies war möglicherweise auch eine Chance, seine einzige und letzte Chance, hinter das Geheimnis seiner Herkunft zu blicken und vielleicht endlich Antwort auf all die Fragen zu finden, die er beinahe schon als sinn- und aussichtslos akzeptiert hatte. Er bemühte sich um einen gefestigten Tonfall, als er endlich doch die Kraft zum Weitersprechen fand: "Ich habe überhaupt nichts vergessen. Aber... ja, ich verstehe das nicht, und ja, ich bin verwirrt und überhaupt... wer... wer bist du eigentlich? Und wieso..." "Verschwenden wir unsere Zeit nicht mit unwichtigen Fragen!", unterbrach ihn die Stimme. "Sie ist kostbarer, als du dir vorstellen kannst, aber das wirst du schon sehr bald selber merken. Geh nun. Ich fürchte... nein, ich weiß, dass du noch nicht bereit dazu bist, diesem schweren Pfad zu folgen. Ich wünschte wirklich, uns bliebe mehr Zeit. Aber ich kann dir jetzt nicht mehr helfen. Von nun an liegt es an dir, die Entscheidungen zu treffen, ich kann dir lediglich einen letzten Rat geben. Ich hoffe, du wirst ihn eines Tages verstehen. Nur wer an sich selbst glaubt, kann auch die Hoffnungen anderer erfüllen, ist es nicht so? Du musst aufbrechen, Shinya, so schnell und so bald wie möglich. Dein Weg ist lang..." Shinya hielt seinen Blick starr auf den stinkenden Teppich aus verglühenden Funken und klumpiger Menschenasche gerichtet, der den steinernen Boden zu seinen Füßen bedeckte. Wie in Trance hatte er den letzten Worten der körperlosen Stimme gelauscht, und es vergingen einige Augenblicke - vielleicht Sekunden, vielleicht Minuten oder gar Stunden - bis der Halbdämon begriff, dass der sanft plätschernde Wortfluss versiegt war. Irritiert blickte er auf und sah sich nach allen Seiten suchend nach seinem unsichtbaren Gesprächspartner um. Es war seltsam - obwohl Shinya sein Gegenüber niemals mit den Augen hatte wahrnehmen können, so hatte er doch stets die Gegenwart eines anderen Lebewesens gefühlt. Nun jedoch war er allein "Hey, jetzt... jetzt warte doch mal!" Die mühsam erkämpfte Selbstsicherheit in der Stimme des Katzenjungens entglitt ihm angesichts der plötzlichen und unerwarteten Einsamkeit augenblicklich wieder. Ein kaltes Zittern lief durch seinen Körper. "Geh... geh nicht weg! Bitte, ich... ich weiß doch gar nicht, was ich jetzt tun soll!" Obwohl Shinya im Grunde genommen längst begriffen hatte, dass er vergeblich auf eine Antwort wartete, wich die letzte, hartnäckig verzweifelte Hoffnung doch nur äußerst langsam aus seiner Brust. Erst jetzt bemerkte er, wie stickig die Luft vom Qualm der brennenden Körper geworden war. Die Hitze der immer höher gen Nachthimmel lechzenden Flammen brannte in seinen Augen und drückte bei jedem seiner Atemzüge schwer wie ein Stein auf seine Lungen. Er keuchte. Die starren Blicke der Toten fixierten ihn noch immer mit unerbittlicher Grausamkeit. Selbst als Shinya die schmerzenden Augen schloss, folgte ihm der stumme Vorwurf auf ihren bleichen Gesichtern wie ein höhnisches Abziehbild der Wirklichkeit bis in die tränende Dunkelheit. Der Halbdämon wandte sich ruckartig von dem grauenhaften Todesbild ab. Und erkannte erst eine Sekunde später, dass er dies wohl lieber nicht hätte tun sollen. Die plötzliche Bewegung verwandelte das Schwarz vor Shinyas Augen in ein zerschmelzendes Flimmern, und im gleichen Moment verlor er die Kontrolle über seinen Körper. Der Boden unter seinen Füßen schien zu schwanken und überschlug sich dann, nur um sich letztlich ganz in Nichts aufzulösen. Vergeblich suchten die Finger des Halbdämons nach einem Halt in den rötlich schwarzen Rauchschwaden des brennenden Massengrabes. Ein leiser, keuchender Schrei kam über seine Lippen, während er ein letztes Mal versuchte, sich mit seinen kraftlosen Händen abzufangen - und dann auf dem glühend heißen Boden aufschlug. "Verdammt noch mal, was soll das?", stieß Shinya, begleitet von einem leisen Schmerzenslaut, hervor. "Du kannst doch jetzt nicht einfach abhauen! Du hast mir noch nicht geantwortet, ja? Du..." Der Katzenjunge wollte sich aufrichten, doch seine Arme knickten ihm augenblicklich wieder ein, als ob jegliches Gefühl aus ihnen gewichen wäre. "Komm zurück!" Die heiße Luft brannte in Shinyas Hals, als ob der dicke Qualm von tausend glühenden Metallsplittern durchtränkt wäre. Sein verzweifeltes Rufen ging in einem erstickten Husten unter, das ihm beinahe den Atem raubte, dennoch verstummte er nicht, bis ihm schließlich schwarz vor den Augen wurde. "Komm zurück, verdammt noch mal! Hörst du nicht? Komm sofort zurück!!!" Mit einem Schrei fuhr Shinya hoch. Um ihn herum war milchige Dunkelheit, angenehme, wenn auch etwas schwere Wärme - und Stille. Das einzige Geräusch, dass er nach einigen Sekunden erstarrten Schreckens wahrnehmen konnte, waren ruhige, gleichmäßige Atemzüge, die wie ein zarter Nebel die klare nächtliche Luft durchsetzten. Doch erst, als Shinya langsam und immer noch reichlich verstört den Kopf hob und sich umzusehen wagte, da begriff er, dass er aufrecht und keuchend in seinem eigenen Bett saß, die Decke fest an seinen Körper gepresst. Er hatte geträumt. All die verwirrenden Schrecken nach seinem vermeintlichen ersten Erwachen waren nicht mehr als ein grausiger Alptraum gewesen, wenn auch einer von der ganz besonders realistischen Sorte. Der Korridor der lebendigen Schatten, der gigantische Scheiterhaufen und nicht zuletzt die mehr als rätselhaften Worte jener körperlosen Stimme - all das war nicht mehr gewesen als ein äußerst erschreckender Auswuchs seiner eindeutig übersteigerten Phantasie, die sich wahrscheinlich nur für die durch und durch selbstverschuldeten Ärgernisse des Tages hatte rächen wollen. Shinya schüttelte noch einmal heftig den Kopf und rieb sich dann die unangenehm brennenden Augen, um die unheimlichen Traumbilder endgültig aus seinen Gedanken zu vertreiben. Obwohl er sich immer noch so erschöpft fühlte, als ob er während seines Schlummers fröhlich weiter durch den verregneten Wald gelaufen wäre, zweifelte der Katzenjunge ernsthaft daran, dass er in dieser Nacht noch einmal Schlaf finden würde. Seine Kleidung und auch der raue Stoff der Decke waren vollkommen durchnässt von kaltem Schweiß und zu allem Überfluss schien er dem tobenden Feuer doch etwas zu nahe gekommen zu sein, denn es hatte etliche kleine Brandwunden auf seiner Haut hinterlassen, die sich mit schmerzender Boshaftigkeit zu den ohnehin schon zahlreichen Verletzungen gesellten, die er sich bei seinem peinlichen Unfall im Wald zugezogen hatte, und die... Brandwunden? Mit einem Mal war es Shinya, als ob die bläulich silberne Umgebung des Zimmerchens vor seinen Augen verschwimmen und ihn in einen schwarzen, eiskalten Abgrund hinabreißen würde. Hastig suchte er Halt an der kühlen Wand neben sich und merkte noch im selben Moment, als seine Finger den Stein berührten, dass seine Hände wieder zu zittern begonnen hatten. Wie um alles in der Welt hatte er sich bei einem Sturz auf matschigen Waldboden Brandwunden zugezogen? Das war doch schlicht und einfach nicht möglich! Shinya schloss die Augen und zählte langsam bis zehn, bevor er erneut den Blick auf seine Haut richtete. Doch auch jetzt bestand kein Zweifel - die kleinen roten Stellen waren nicht etwa Kratzer oder Schürfwunden, sondern winzige Verbrennungen, wie sie eben nur jemand trug, der sich in eine allzu ungesunde Nähe zu dem glühenden Funkenregen eines sehr großen Feuers gewagt hatte. Der Herzschlag des Katzenjungen schien wie der finstere, immer lauter werdende Puls einer riesenhaften Pauke durch das schlafende Zimmer zu dröhnen. Ein eiserner Ring hatte sich um seinen Hals gelegt und nahm ihm beinahe die Kraft zum Atmen, während sich die Gedanken in seinem Kopf ein ums andere Mal überschlugen. Er musste immer noch in seinem grausamen Alptraum gefangen sein, eine andere Möglichkeit gab es überhaupt nicht! Wiederum hatte der Schlaf ihn mit einem vermeintlichen Aufwachen genarrt, doch nun, da er um diese tückische List wusste, fiel ihm endlich auch die einfachste, aber dennoch unfehlbare Methode ein, dies seinem schlafumnebelten Verstand auch endgültig zu beweisen. Denn so real dieser überaus hartnäckige Traum auch wirken mochte, es war eben doch nur ein Traum - und im Traum verspürte man trotz allem keinen Schmerz. Mit einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen hob Shinya einen seiner Finger an und rammte ihn sich dann mit voller Wucht in eine der größeren Brandwunden. Im nächsten Moment hätte er beinahe laut aufgeschrien. Was ihn davon abhielt war allerdings weniger seine Selbstbeherrschung als vielmehr jene erste lähmende Druckwelle, die von der glühenden Explosion im Inneren seines Armes aus durch den gesamten Rest seines Körpers gejagt wurde. Von wegen kein Schmerz! Ihm war, als ob sich eine glühende, stumpfe Klinge langsam in sein Fleisch gebohrt hätte, um dort nun Walzer tanzen zu üben und eine Drehung nach der anderen zu vollführen. Der Katzenjunge fluchte leise und biss sich dann rasch auf die Lippe, um das gequälte Wimmern zu unterdrücken, das ihm auf der Zunge brannte. Eines konnte er spätestens jetzt mit vollkommener Sicherheit sagen: Er war wach. Etliche beruhigende Atemzüge später kroch Shinya vorsichtig und immer noch mit heftig klopfendem Herzen aus seinem Bett. Auch wenn er es nicht gerne tat - er musste nachsehen, ob sich auch die übrigen Teile seines Alptraumes einen Weg in die Wirklichkeit gegraben hatten. So weit der Schmerz in seinem Knie das eben zuließ, schlich er auf Zehenspitzen zu den beiden Stockbetten hin, die im weichen Halbdunkel der Nacht wie unförmige Käfige aussahen. Trotz der gleichmäßigen Atemgeräusche, die ihn schon zuvor aus seinem unruhigen Schlaf geleitet hatten, fiel Shinya doch wahrlich ein ganzes Gebirge vom Herzen, als er seine Zimmerkameraden ganz offensichtlich wohlbehalten und arglos träumend in ihren Betten liegen sah. Schon etwas ruhiger, aber ebenso leise wie zuvor schlich der Katzenjunge zum Fenster zurück und blickte hinab auf den Hof des Heimes. Das steinerne Oval schlummerte friedlich wie eh und je als graue Insel zwischen dem weiten schwarzgrünen Meer der Wälder. Der Nachthimmel war klar. Kein dichter schwarzer Rauch vernebelte die Sicht auf den silbernen Kreis des Mondes, keine brüllenden Flammen störten die Stille der schlafenden Natur. Shinya atmete auf. Eigentlich schien alles vollkommen normal, so ruhig, so einsam und so schön wie eigentlich jede Nacht am Fuße der Sinya-Höhen. Und trotzdem blieb ein unbefriedigendes Gefühl in dem jungen Halbdämon zurück, das auch der ebenso gewohnte wie geliebte Anblick nicht vollständig vertreiben konnte. Es war die quälende Gewissheit, dass irgendetwas anders und falsch war, und doch konnte er diese sichere Veränderung beim besten Willen nicht benennen oder einordnen. Irgendwann gab Shinya die erfolglose Suche in der nächtlichen Landschaft wieder auf, und beinahe augenblicklich drängten sich die Worte der mysteriösen Stimme aus seinem Traum in das wirre Netz seiner Gedanken zurück. All diese Geschichten von legendären Kriegern, von dem drohenden Weltuntergang und von allerlei seltsamen, fremdartigen Worten hatten auch jetzt, da er aus seinem Traum erwacht war, eine tiefe Verwirrung in dem Katzenjungen hinterlassen. Aber noch weniger als die ungewisse Bedeutung jener Prophezeiung konnte Shinya begreifen, warum er sie trotz aller Absurdität nicht einfach wieder vergessen oder wenigstens darüber lachen konnte. Das Schicksal der Welt - in seinen Händen? Das war doch unmöglich! "Ziehe los, noch in dieser Nacht..." Shinya wusste später nicht mehr, wie lange er noch regungslos am Fenster gestanden und in die Nacht hinausgestarrt hatte. Doch je länger er über die erschreckenden Traumbilder, aber vor allem auch über die ebenso sanfte wie eindringliche Aufforderung der körperlosen Stimme nachdachte, desto mehr begann eine leise, zunächst noch sehr zaghafte Idee in seinem Kopf heranzuwachsen und dann nach und nach in den Mittelpunkt seiner Gedanken zu rücken. Was, wenn die Legende aus seinem Traum wahr sein sollte? Wenn der nahende Herbst den Tod des Planeten mit sich bringen würde, und nur er, Shinya, dieses Unglück noch verhindern konnte? Er, der geborene Außenseiter, auserwählt zur Rettung Youmas! Irgendetwas an dieser Vorstellung gefiel ihm sogar außerordentlich gut. Und überhaupt - was hatte er denn schon zu verlieren? Er war alt genug, den Ort seiner Kindheit hinter sich lassen zu können. Er brauchte ganz gewiss keine Betreuer und Aufpasser mehr, die ihm den lieben langen Tag erzählen wollten, was er zu tun und zu lassen hatte. Und einmal abgesehen davon, dass ihn ja ohnehin niemand wirklich vermissen würde, erschien insbesondere der Gedanke, den guten, alten Phil in seinem ganzen Leben niemals wieder sehen zu müssen, als durchaus verlockend. Vor allem aber erinnerte er sich an das Gefühl, das ihn während des Gesprächs mit seinem unsichtbaren Gegenüber ergriffen hatte. Er konnte es auch jetzt noch nicht wirklich verstehen, aber inmitten von all dem Chaos und der Unordnung, die momentan sein Inneres beherrschten, schlummerte doch immer noch jene selbstverständliche Gewissheit, dass die Stimme ihn nicht belogen hatte und dass ihn der lange und steinige Pfad, der angeblich noch vor ihm liegen sollte, tatsächlich in Richtung Heimat führen würde. Und diese Aussicht allein rechtfertigte schon jede noch so absurde, noch so riskante Entscheidung. Hastig, aber dennoch leise genug, um seine Zimmergenossen auf gar keinen Fall aus ihrem Schlaf zu reißen, schlüpfte Shinya in die nächstbeste Kleidung, die er in der bläulichen Dunkelheit finden konnte und suchte dann rasch all jene Dinge zusammen, die er auf keinen Fall zurücklassen konnte und wollte. Er band sich einen leise klimpernden Lederbeutel an den Gürtel, in dem er im Laufe seiner Lebensjahre ein paar bescheidene Ersparnisse angesammelt hatte, dann zog er seine Glückskugel unter dem Kopfkissen hervor und ließ sie mit einer vorsichtigen, nahezu liebevollen Bewegung in seiner Hosentasche verschwinden. Langsam schlich der Katzenjunge auf die niedrige, schwarze Zimmertüre zu, legte eine Hand an die Klinke und holte dann ein letztes Mal tief Luft. Auch wenn er es nicht gerne zugab, so konnte er doch ein letztes Angstgefühl beim Gedanken an den schwarzen Gang nicht vollkommen unterdrücken. Aber als er sich dann schließlich doch dazu durchrang, die Türe zu öffnen und einen Blick hinter ihren hölzernen Rahmen zu werfen, da erstreckte sich vor ihm lediglich der altbekannte Flur mit seinen viereckigen Löchern in der blass gemusterten Tapete, dessen bleiches Halbdunkel wirklich alles andere als lebendig wirkte. Der Halbdämon stieß einen lautlosen erleichterten Seufzer aus und trat auf den verlassenen Korridor hinaus. Vorsichtig ließ er die hölzerne Türe wieder hinter sich ins Schloss gleiten und ging dann mit schnellen Schritten auf die Treppe zu. Die alten, dunklen Holzstufen gaben bei jeder noch so achtsamen Berührung unweigerlich ein leises, aber äußerst enervierendes Quietschen von sich, und so hatte Shinya es ganz besonders eilig, hinab in den finsteren Gemeinschaftsraum des Heimes zu steigen. In das Untergeschoss des alten Herrenhauses drang deutlich weniger Licht als in die Schlafräume darüber und der schräge Einfall der silbrigen Mondstrahlen verzerrte jeden Schatten in unförmige Längen. Das überall verstreute alte Spielzeug verschwamm mit dem dunkelroten Teppichboden zu einer gefährlichen Einheit, die den Katzenjungen zu einem unfreiwillig komisch wirkenden Slalomlauf über Fingerpuppen und Teddybären zwang. Obwohl der Halbdämon auch im Dunkeln noch recht gut sehen konnte, war er doch unheimlich erleichtert, als er endlich den formlosen Fleck der hässlichen Eingangstüre erreicht hatte, ohne irgendein Holzpferdchen quer durch den Raum getreten oder das Gleichgewicht verloren zu haben, nur um geräuschvoll in ein wundervoll weiches Bett aus Bauklötzen und Spielzeugschwertern zu stürzen. Shinya atmete auf und vergewisserte sich mit einem kurzen Blick über die Schulter, dass ihm auch wirklich niemand gefolgt war, doch bis auf etliche verfilzte Kuscheltiere und Spielzeugkutschen mit gebrochenen Rädern war der große, düstere Raum mehr oder weniger leer. In einer Ecke lag eine kleine Holzpuppe und starrte den Katzenjungen aus leeren runden Augen vorwurfsvoll an. Er schüttelte hastig den Kopf, dann stieß er die schwarze Türe auf, schlüpfte in sein Paar Stiefel, das im glitschigen Flur auf ihn wartete, und lief dann hinaus ins Freie. Der regnerisch graue Tag war einer schönen, warmen Spätsommernacht gewichen. Die zahllosen funkelnden Lichtpunkte am sternenklaren Himmel leuchteten sanft mit dem zunehmenden Mond um die Wette. Ein leichter, angenehm kühler Wind strich durch die schwarzen Wipfel der Bäume und trug ihr sanftes, wisperndes Lied in die blaue Dunkelheit hinaus. Der ruhige, fast schon unwirklich schöne Anblick zauberte ein Lächeln auf Shinyas Gesicht und erinnerte ihn einmal mehr daran, warum er die Nacht so sehr liebte. Wie im Traum schlenderte er über die harten, regelmäßigen Steinplatten des einsamen Platzes hinweg, begleitet vom Takt seiner eigenen Schritte, die sich zu einer lebhaften Melodie fügten. Je näher die schwarze Mauer des Waldrandes jedoch rückte, desto langsamer und unregelmäßiger wurde dieses Liedchen, bis es dann schließlich ganz verstummte. Zum ersten Mal, seit jenes euphorische Gefühl von ihm Besitz ergriffen hatte, das eben nur eine vollkommen widersinnige, aber gerade deswegen umso reizvollere Idee mit sich bringen konnte, schien die Fähigkeit des klaren, logischen Denkens wieder Einzug in Shinyas verwirrtes Bewusstsein zu halten. Was tat er da eigentlich? Er stahl sich mitten in der Nacht aus seinem warmen, gemütlichen Bett davon, packte sein armseliges Hab und Gut zusammen und brach dann auf, um die Welt zu retten, wie es ihm eine mysteriöse Stimme in einem Traum prophezeit hatte. Wie zum Henker hatte er auch nur eine einzige Sekunde lang ernsthaft daran glauben können, dass irgendetwas von all dem, was er gehört und gesehen hatte, auch tatsächlich wahr sein sollte? Die Antwort war denkbar einfach - entweder, er hatte die letzten Minuten noch im Halbschlaf verbracht und war deshalb nur vermindert zurechnungsfähig gewesen, oder er war gerade drauf und dran, den Verstand zu verlieren. Er, der ja nicht einmal dazu imstande war, einen einfach Wettlauf unter Heimkindern zu gewinnen, als Held irgendeiner großartigen Legende von magischen Kriegern, von erlösenden Sternbildern und irgendeinem vergessenen Tag, der den Weltuntergang einleiten sollte? All das war nicht nur absurd, sondern auch schlicht und ergreifend lächerlich. Er hatte ja kaum Geld bei sich, geschweige denn eine Waffe, mit der er sich hätte verteidigen können - und schon gar keine uralte Magie, um irgendein sagenumwobenes Gleichgewicht wiederherzustellen! Das Beste war wohl, wenn er schleunigst wieder umkehren und bei jedem Schritt zu allen dreizehn Göttern beten würde, dass ihn niemand bei dieser merkwürdigen Aktion beobachtete hatte! Shinya verzog seinen Mund zu einem bitteren Lächeln. Anscheinend war er sogar noch viel dümmer und naiver, als Phil und seine Freunde es ja immer schon geahnt hatten. Der Katzenjunge drehte sich mit einem verstohlenen Blick in Richtung der Schlafraumfenster um und trottete dann langsam wieder zu dem großen alten Gebäude zurück, aus dem er noch vor wenigen Minuten so blind vor Abenteuerlust und Größenwahn aufgebrochen war. Nur noch wenige Meter trennten ihn von der Tür, die ihn endgültig in sein normales Leben zurückbringen sollte. Auch wenn er im Augenblick alles andere als müde war, so wollte er sich doch einfach nur noch hinlegen, möglichst bald wieder einschlafen und am nächsten Morgen einfach alles wieder vergessen haben, was in dieser seltsamen Nacht passiert war - oder eben auch nicht. Und trotzdem wurde Shinya das dumpfe Gefühl nicht los, irgendetwas unglaublich Wichtiges vergessen zu haben. Er zögerte und verharrte mit geschlossenen Augen, die Finger fest um das kalte Metall des Türgriffes geschlossen. Dann jedoch schüttelte er energisch seinen Kopf. Das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte, war eine weitere seiner grandiosen Eingebungen, die ihn vielleicht endgültig zum Gespött des ganzen Heimes machen würde - vorausgesetzt, sein Kuss mit dem Waldboden hätte dazu noch nicht voll und ganz ausgereicht. Shinya hatte den Türknauf gerade bis zum Anschlag herumgedreht, als ihn die Erkenntnis wie ein Blitz durchzuckte. Schlagartig fiel ihm wieder ein, wonach er die ganze Zeit über so verzweifelt in Gedanken gesucht hatte, ausgerechnet in dem Moment, als er die Suche gerade aufgegeben hatte. Und obwohl es ihn schmerzte, seine sichere und verlockend einfache Entscheidung noch ein weiteres Mal umstürzen und zerschlagen zu müssen, so begriff er doch im gleichen Augenblick, als er bemerkte, das fehlende Puzzleteil die ganze Zeit über in der Hand gehalten zu haben, dass er es nicht einfach wieder von sich werfen und vergessen konnte. Zum ersten Mal meinte er zu verstehen, was ihm sein unsichtbarer Ratgeber mit auf den Weg hatte geben wollen, und dieses Verstehen war gleichsam auch der erste Schritt auf einen Pfad, den er nun nicht mehr verlassen konnte. "Nur wer an sich selbst glaubt, kann auch die Hoffnungen anderer erfüllen..." Wer an sich selbst glaubt... Shinya nahm einen tiefen Atemzug von der angenehm kühlen Nachtluft und wandte seinen Blick dem großen, altmodischen Gebäude zu, in dem er trotz allem die wohl schönsten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Er hatte beinahe schon vergessen, wie still und friedlich das Herrenhaus im silbernen Licht des Mondes schlummern und von längst vergangenen Tagen träumen konnte, sosehr hatte er sich im Laufe der Zeit an den unwirklich schönen Anblick und die melancholische Atmosphäre des alten Gemäuers gewöhnt. Er seufzte tief und hob langsam seine Hand, um dem schlafenden Heim noch ein letztes Mal zuzuwinken. Dann drehte er sich um und rannte den Weg hinab, der in den schwarzen Wald hineinführte. Ende des ersten Kapitels Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)