Urlaub und andere Grausamkeiten von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: ----------- URLAUB UND ANDERE GRAUSAMKEITEN - 6 Ich drückte den Klingelknopf. Jetzt war es entschieden. Es gab kein Zurück. Keine zwei Augenblicke später wurde die Tür geöffnet. Von Lucas persönlich. In mir zog sich alles zusammen, diese Gefühle waren der echte Wahnsinn, einfach unbeschreiblich!! Es war, als würde ich ihn nach etlichen Jahren, ach was, Jahrzehnten endlich wiedersehen!! Am liebsten wäre ich im um den Hals gefallen, aber das wäre dann ja doch zu auffällig gewesen und ich glaube, ich hätte es mir dann doch nicht getraut. "Hi. Sorry, das ich hier so einfach reinplatze, aber bei meinem Fahrrad ist im Hinterreifen die Luft raus und da ich gerade in der Nähe war da-" "Wunderbar! Aber komm erst mal rein!" Schon wurde ich in die Wohnung gezogen. Die Techno-Musik, von der ich vorhin glaubte, sie mir nur eingebildet zu haben wurde wieder aufgedreht. Der Raum war riesig, erinnerte mich eher an ein Atelier. "Komm setzt dich." Lucas schob mich in eine Sitzecke des Raumes und fegte dann Fotos und Krümel von der Tischplatte. Von hier aus hatte ich einen viel besseren Blick über die Szene. "Toby macht gerade ein paar Werbefotos", brüllte Lucas zu mir herüber, anders hätte ich ihn bei dieser Lautstärke wohl auch gar nicht verstanden. Toby musste dann wohl das Hinterteil ohne Kopf, aber dafür mit Kamera sein. Eine Menge weißes Papier in langen Bahnen war vor ihm aufgehängt und bildete den Hintergrund für seine Fotos. Ein Mädchen mit sehr heller Haut und pechschwarzer Afrofrisur posierte, ihr Make-up war zu dick und übertrieben aufgetragen. Sie posierte ziemlich affektiert, fand ich, aber ich hatte da wohl auch keine Ahnung davon. Sie schob mal die linke, mal die rechte Schulter nach vorne, in einer Linie zum Kinn; den grellrot geschminkten Mund hatte sie leicht geöffnet und die Augen unter den Wimpern hatten einen dahinschmelzenden Ausdruck wie auf den Fotos von hundert Jahre alten Hollywoodstars. Ich war wirklich nicht der Meinung, dass dies die modernste Art der Fotografie darstellte, aber sicher war ich mir nun doch nicht. Lucas ging gerade zu Toby und brüllte diesem etwas ins Ohr, worauf der die Anlage leise drehte und sich dem Mädchen zuwandte. Lucas wandte sich wieder mir zu und sagte: "Ich bin erfreut, dich hier zu sehen. Hätte nicht gedacht, das du so unkompliziert bist." Ganz klar wusste ich zwar nicht, was er damit meinte, aber ich sagte trotzdem: "Ich auch nicht." Er lachte und warf seinen Pony wieder in dieser bestimmten Art zurück, die es mir irgendwie angetan hat. "Kommt nicht oft vor, dass sich jemand so junges und unschuldiges in diese Räuberhöhle herauftraut. Er strahlte mich an und ich fühlte, wie meine Wangen rot wurden. In der Ecke nahm das Model gerade eine neue Pose ein und Lucas folgte meinem Blick. "Das ist Amelia. Sie kommt aus den Staaten und ist Tobys neuester Star. Sieht aus wie ein Engel, nicht wahr? Aber du solltest mal ihre Stimme hören." "Wieso? Singt sie auch?", fragte ich leichthin und war nun wirklich nicht der Ansicht, dass sie wie ein Engel aussah. Waren Engel nicht für gewöhnlich mit blondem Rauschehaar versehen? Na ja, ich bin nicht sehr bibelfest, hatte davon keine Ahnung, aber im Moment war mir außer Lucas eh alles egal. "Nicht deswegen", sagte Lucas und fuhr mit den Fingerspitzen über meine Hand, die auf der Tischplatte ruhte. Und hinterließ ein Gefühl zwischen Gänsehaut und Brandwunde. "Sie raucht verdammt viel. Mindestens zwei Schachteln am Tag! Daher hat sie ne Stimme wie ein Reibeisen." "Und ihr wohnt hier alle zusammen?" "Toby und ich wohnen hier. Und der Stefan, aber der hat Semesterferien und ist seine Eltern besuchen. Amelia ist zwar ganz nett, aber zum Glück wohnt sie nicht bei uns, nur ab und zu übernachtet sie mal hier.", erzählte Lucas, sah mir dabei unverwandt in die Augen. Er machte mich nervös. Ob er es wusste? Konnte man es mir ansehen? Und was, wenn das für ihn einfach nur ein Scherz ist? Um mich abzulenken sah ich mich noch einmal gründlich um. "Ist echt toll hier. Vor allem so groß, da könnte meinereiner richtig neidisch werden!" "Willst du auch hier einziehen?" Mein Herz setzte aus. Ich schwöre, mindestens zwei Herzschläge lang konnte es sich nicht entscheiden zwischen ganz aufhören oder galoppieren. Es entschied sich für letzteres, pumpte fleißig Adrenalin durch meine Blutbahnen. Meinte er das ernst? "Siehst du das dort oben? Über dem Kniestock?" fragte er und ich folgte seinem Blick zu einer kleinen Leiter, die bis unter den Dachstuhl und zu einer Art dämmrigen Höhle führte. "Dort gibt es noch ein Gästebett." Sein Grinsen sprach Bände. Er hatte es also nicht ernst gemeint. "Sieht gemütlich aus, wenn auch etwas dunkel", erwiderte ich ganz cool. Yeah, ich hatte die Situation voll im Griff! Ich bin der Größte!! ... Vollidiot, dass ich dachte er meint das ernst. "Wenn du willst, bauen wir dir eine Lampe ein", flachste Lucas jetzt und das ärgerte mich. Jetzt kam wieder dieser Nonsensequatsch, auf den ich heute echt kein Bock hatte. Da wusste man nie, woran man war. Er schien zu spüren, das ich nicht wirklich amüsiert war, denn er wurde wieder ernst. "Zu dritt ist es wirklich praktisch. Alleine kannst du dir so etwas heutzutage doch gar nicht leisten." Eine Weile beobachteten wir Toby und Amelia bei der Arbeit. Dann spürte ich, wie Lucas mich intensiv betrachtete und mir wurde heiß und kalt zugleich. 'Verflixt, wenn mein Herz weiter so rast, krieg ich doch noch nen Herzkasper. Ob er wohl den lauten Herzschlag hören kann? Quatsch, Mandy, jetzt spinnst du echt!' "Du siehst einzigartig gut aus", bemerkte er. "Findest du?" Shit! Was blöderes fiel mir natürlich nicht ein?! Gott, was dachte er jetzt bloß von mir? Aber was sollte man schon sagen, wenn man so etwas zu hören bekommt? Ich werde schließlich nicht täglich von Komplimenten überschüttet. Bevor ich noch etwas hinzufügen konnte kamen leider auch schon Toby und Amelia zu uns. "Hi", sagte Amelia und ihre Stimme klang wirklich wie ein Reibeisen. "Das ist Mandy", stellte Lucas mich vor. "Ah, aus Italien", grinste Toby und nickte mir zu. "Warum hast du dieses hübsche Mädchen denn nicht schon früher hergebracht? Man, mit ihr als Model könnte man supertolle Aufnahmen machen! Auch wenn sie Obenrum ein bisschen flach ist, aber das kann man ja optisch ein wenig ändern. Und sie sieht auch richtig zutraulich aus. Hätte ich nicht gedacht, am Telefon klang sie eher wie eine verärgerte Raubkatze." Toby schien voll in Fahrt zu sein und ich war puterrot im Gesicht. "Äh, Toby, Mandy ist der kleine Bruder von meinem Kumpel Peter. Ich hab dir doch schon mal von ihm erzählt, oder?" Lucas konnte sich ein Grinsen auch nicht ganz verkneifen. "Oh." Pause. Dann: "Willst du mich verarschen? Das ist nie im Leben ein Kerl! Kein Kerl kann so niedlich sein! Schau dir doch mal dieses Gesicht an! Und die Figur, kein bisschen männlich!" Na toll. Ich wusste, wie ich aussah, da brauchte er mich nicht auch noch beschreiben. Ich wollte ihn schon unterbrechen, als er mit einem gespielt Unschuldigem Grinsen auf mich zu kam. "Aber ich kenne da eine ganz einfache Art, schnell und schmerzlos, um das zu überprüfen." Ehe ich reagieren konnte hatte er mich am Handgelenk gepackt und vom Stuhl hochgezogen. Völlig verdattert bemerkte ich, dass er sich gerade an den Knöpfen meines Hemdes zu schaffen machte, als Lucas ihn auch schon grob weg stieß. Scheiße, der wollte mir echt an die Wäsche!! Gott, wo bin ich hier nur gelandet? Wie hielt Lucas das hier nur aus? Entgeistert starrte ich auf Toby, der immer noch dämlich grinste. "Alter Perversling!", schimpfte Lucas, schien das aber nicht sonderlich ernst zu meinen. Na toll, dem gefiel es wohl, wenn sich jemand dermaßen an mich ranschmeißt?! "Vergraule mir Mandy nicht", fügte er mit einem Seitenblick auf mich, den ich beim besten Willen nicht deuten konnte, hinzu. Amelia hatte die 'Unterhaltung' bis jetzt kommentarlos verfolgt und zündete sich nun eine Zigarette an. Keiner interessierte sich dafür, was sie dachte oder tat. "Los jetzt, geh lieber wieder fotografieren!" Doch Toby dachte nicht daran. "Hey, Mandy, willst du mal die Fotos sehen, die ich von Amelia gemacht hab?" Ich wollte und wollte dann doch wieder nicht. Ohne was zu sagen streckte ich ihm auffordernd meine Hand entgegen, in die er einen Stapel Polaroidaufnahmen drückte. Die Fotos zeigten viel unbekleidetes Fleisch, alles in Farbe. Es kam mir vor, wie die Auslage eines Süßwarenladens, die nur das 'Beste' anpries. Und raffinierte Perspektiven hatte Toby gewählt, ich muss schon sagen. Zum Beispiel direkt von oben in Amelias Ausschnitt. Gestochen scharf, in jeder Hinsicht, konnte man doch sogar die feinen Schweißperlen auf ihrer Haut erkennen. Auf einem anderen Bild klebte das weiße, beinahe durchsichtige Oberteil hauteng an ihr und man konnte perfekt die Rundungen ihrer Brüste erkennen. Toby hatte wohl viel für große Brüste übrig. "Hier, die musst du dir auch noch anschauen!" Der Fotograf schob mir einen anderen Stapel Fotos zu. Mehrere Mädchenpopos in Tanga und mit Strapse streckten sich einem entgegen. Ich fand die Pose abartig. Wie konnte sich jemand so fotografieren lassen?? "Einfach obszön!", kam es von Lucas. Da konnte ich ihm nur zustimmen. "Was heißt hier obszön! Das ist Kunst", ereiferte sich Toby, "Kunst am lebenden Objekt!" Ich schob ihm die restlichen Bilder ungesehen zurück, mir war die Lust darauf vergangen. Was interessierten mich schon Mädchenhintern oder Brüste? Da gab es doch was viel besseres. Gegen das Bild, das jetzt vor meinem inneren Auge erschien, konnte ich nichts unternehmen, ehrlich, ich war total machtlos!! Toby klopfte Amelia leicht auf die Schulter: "Los Schatz, wir müssen weiter machen!" Dann ging er zur Stereoanlage und drehte den Techno wieder auf. Der Boden dröhnte, die Wände zitterten und mich hätte es nicht gewundert, wenn das Dach plötzlich abheben würde. "Wie hältst du das nur aus?", brüllte ich Lucas zu und beugte mich dabei zu ihm. 'Hmm, er riecht richtig gut. So männlich...' "Es ist nicht immer so wie heute! Manchmal ist es auch ganz still, aber ehrlich gesagt, freut es mich, wenn es wenigstens etwas laut ist, dann ist Leben in der Bude und das tut gut." Was versteht er unter 'etwas'? "Na ja, wenn du meinst... Und die unter euch? Wie finden die das?" "Unter uns wohnt Maria. Die hat keinen Mann, dafür drei Gören und ist Spanierin. Sie ist vollkommen okay, die Musik stört sie nicht. Ab und zu laden wir sie mal ein und ab und zu putzt sie mal unsere Wohnung durch." Amelia war gerade dabei, sich umzuziehen. Hier, mitten im Wohnzimmer, umgeben von drei Jungs. Und es schien ihr nichts zu machen. Obwohl sie echt einmalig große Brüste hatte, trug sie keinen BH und Toby starrte sie ungeniert an. Hatte die denn kein Schamgefühl? Man, was Lucas hier zu sehen bekam, frei Haus und gratis und dann sollte er schwul sein? Ich glaubte der Story meines Bruders immer weniger. Schon allein die Sache mit dieser Sängerin... Konnte es nicht eher sein, das Lucas, wenn überhaupt, bi war? Mitten in meine Überlegungen hinein nahm mein Gedankenobjekt mich an der Hand und sagte: "Komm, ich zeig dir noch die restlichen Zimmer." An der ersten Tür wollte er mich vorbeiziehen: "Hier brauchst du nicht reinsehen!" "Warum nicht?" Jetzt war ich neugierig und befreite mich aus seinem sanften Griff. Ich öffnetet die Tür und steckte meinen Kopf hinein. Es war die Küche. Das konnte man allerdings nur an den Stapeln dreckigen Geschirrs erkennen, die sich überall befanden. "Na ja, bräuchte mal wieder ein bisschen Pflege", meinte Lucas und stand so dicht hinter mir, dass sein Atem im Nacken kitzelte und ich seine Wärme spürte. "Kein bisschen übertrieben!" konnte ich ihm nur beipflichten. Es war echt einmalig. Das die Geschirrtürme überhaupt noch standen, war ein kleines Wunder der Schwerkraft. Sah irgendwie aus wie abstrakte Kunst und das sagte ich ihm auch. "Findest du?" Er lachte unsicher. "Und wie lange werdet ihr das so aufbewahren?" "Bis jemand kommt und sauber macht", sagte Lucas unschuldig. "Manchmal kommt eine gute Freundin, Sandra, die kann das echt gut und manchmal kocht sie dann auch." Schon wieder eine neue Freundin. Die lebten hier ja beinahe wie die Paschas. Sandra spült das Geschirr und kocht. Maria putzt das Wohnzimmer. Und Amelia stillt ihre Sehnsüchte, in dem sie ihre Möpse sehen lässt. Mein Gott, war ich froh, das ich kein Mädchen bin, nicht zu ihren Freundinnen gehörte und man somit nichts dergleichen von mir erwartete! Ich zog meine Nase aus der Küche, in der es offengestanden nicht gerade umwerfend roch. Oder vielleicht doch, allerdings im negativen Sinne. "Willst du ne Banane?" Lucas hatte sie gerade auf der Anrichte entdeckt und sie war echt das einzige in der Küche, das noch neu und unverbracht und genießbar aussah. "Nein, ich mag keine Bananen." "Hätte ich gewusst, dass du kommst, hätte ich sauber gemacht." Aha, schien ihm wohl doch ein wenig peinlich zu sein, mir diesen Anblick geboten zu haben. Doch da zeigte sich ein schwarzer Katzenkopf im Türspalt und die Küche war Vergangenheit. "Eine Katze habt ihr auch?" "Das ist Rudi. Der hält sich am liebsten in meinem Zimmer auf", erzählte Lucas. "Dann gibt es da noch Richard, aber wo der ist, weiß ich grad nicht, hab ihn schon seit Tagen nicht mehr gesehen." Lucas und ich gingen in sein Zimmer. "Wo kann er denn sein? Er kann doch hier nicht ins Freie, oder?" Katzen mochte ich schon immer und die Tiere schienen auch keine Abneigung gegen mich zu haben, denn sobald ich auch nur einer übers Fell strich fing sie an zu schnurren. "Oh doch, wenn mal ein passendes Fenster offen ist, gehen die beide auf die Dächer." "Na, vielleicht ist dann draußen eine Katze rollig", fiel mir ein. Konnte ja sein, Tier dachten schließlich auch nur an drei Dinge: Fressen, Schlafen und Sex. Lucas machte ein verschmitztes Gesicht. "Keine Chance für die Katze! Rudi und Richard sind nämlich schwul." Shit, ob ich wollte oder nicht, mein Herzschlag beschleunigte sich schon wieder und eine leichte Röte legte sich um meine Nasenspitze. Gab es schwule Katzen oder wollte er mich nur verarschen? Aber das war *die* Gelegenheit, ihn darauf anzusprechen. "Und du? Wie ist das mit dir?" Lucas zog heftig die Tür hinter uns zu und lehnte sich dagegen. Oh, oh, Fluchtweg abgeschnitten. Jetzt saß ich in der Falle wie ein Vogel im Käfig. Mist. "Hör mal, Mandy, woher hast du das überhaupt?" Er sah mich fest an und wartete und ich konnte spüren, dass es ihm total ernst war. "Ich höre!" "Ich hab es von Peter, ist aber schon ein Weilchen her, zwei Jahre oder so. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern." "Er hat also mit dir über mich gesprochen. Und was genau hat er gesagt? Erinnerst du dich daran?" "Dass du schwul seist, mehr nicht." Mir war unbehaglich zu mute. Stimmte das also doch nicht. Toll, dann hatte ich ein großes Problem. Pah, das war ja noch untertrieben, es war riesengroß! Eine Zeit lang war es still im Zimmer und ich wünschte mir auf einmal, ich wäre nicht zu ihm gekommen. Dann wären meine Träume wenigstens nicht jetzt schon so grausam zerstört worden. Ich dachte gerade darüber nach, dass ich nun wohl nie herausfinden würde, ob seine Lippen so weich waren, wie sie aussahen, als er plötzlich sagte: "Und du? Was glaubst du?" Ein dringlicher Ausdruck stand in seinen Augen. "Ich kümmer mich nicht um Gerede, mir ist das total egal!" Lüge!! Aber ich konnte ihm ja nicht sagen, dass ich gehofft hatte, das er schwul sei. Jedenfalls nicht, solang er von sich aus nichts sagt. "Wirklich?" Ich fühlte mich wie in einem Kreuzverhör. Verdammt, ich hatte schließlich nichts gemacht, außer ein paar schmutzig-feucht Träume war da nix gewesen!! Aber das konnte er ja nicht wissen. "Und wenn ich es wäre? Ich meine, wie wäre das dann für dich?" Innerlich hielt ich die Luft an, war mir nicht sicher, ob ich schon in Jubel ausbrechen konnte, äußerlich zuckte ich ruhig und gelassen mit den Schultern. "Wär mir egal, echt. Für mich würde sich nichts ändern, du wärst für mich Lucas, nicht mehr und nicht weniger." Mann, ich wusste nicht, dass ich so gut lügen und schauspielern konnte. Vielleicht sollte ich später ans Theater. Meine Handflächen waren feucht und ich schob sie lässig in die Hosentaschen. 'Ganz cool, nur nichts anmerken lassen!' Er nickte nur. Bilde ich mir es ein oder war er ein bisschen enttäuscht? Er ging an mir vorbei, zum Fenster und sah hinaus. Er stand mit dem Rücken zu mir und ich konnte sehen, dass er breite Schultern hatte, wie gemacht um sich daran anzulehnen. Dann sah ich mich erst mal um. Ein Schreibtisch, ein Bett und jede Menge Bücher- und Zeitschriftenstapel. Sein Zimmer war nur ein wenig größer als meins. Wir schwiegen immer noch. Ich lockte Rudi zu mir, hob ihn hoch und setzte mich auf den Schreibtischstuhl. Während ich den Kater kraulte beobachtete ich Lucas. Hätte ich doch nur nicht gefragt! Andererseits, wenn er wirklich schwul war, warum benahm er sich dann so komisch? Wollte er nicht, dass ich das glaubte? Wenn ja, warum sollte ich es denn nicht wissen? "Bist du mir böse?" fragte ich schließlich. "Nein", er drehte sich um, die Hände in den Hosentaschen versenkt. "Ich mag es nur nicht, wenn Leute, die man für seine Freunde hält über einen herziehen." Tja, was sollte ich dazu sagen. Ich kraulte also den behaglich schnurrenden Kater, sah Lucas an und schwieg. Ich weiß nicht genau, wie lange wir so dastanden bzw. saßen, aber langsam wurde mir unwohl. Außerdem sollte ich schleunigst nach hause, Mama machte sich bestimmt schon wieder Sorgen. "He, also, weswegen ich eigentlich hier bin, hast du nun Flickzeug für mein Rad?" "Wie? Ach so, ja klar! Warte kurz, ich helf dir dabei." Er nahm mir den Kater ab und setzte ihn auf die Fensterbank. Dann nahm er mich wieder am Handgelenk und so gingen wir aus dem Zimmer. Toby und Amelia standen untätig mitten im Atelier, rauchten und palaverten. Als wir vorbei liefen rief Toby: "Na, ihr beiden Süßen, habt ihr euch auch gründlich beschnuppert?" Ehe ich es verhindern konnte, errötete ich. Verdammt, warum eigentlich wurde ich wegen jedem Mist rot?? Aber bedeutete Tobys Kommentar nicht, das Lucas doch auf Männer stand? "Geht dich nichts an!", sagte Lucas kurz angebunden und bevor ich mich von den beiden verabschieden konnte, waren wir schon zur Tür raus. *** Mein Fahrrad stand einsam und verlassen unten im Hauseingang. "Wart kurz, bin gleich wieder da." Mit diesen Worten verschwand Lucas, wahrscheinlich in Richtung Keller. Die Stelle, an der er mein Handgelenk festgehalten hatte kribbelte wie verrückt. Da kam er auch schon wieder, leicht außer Atem, und schwenkte lachend einen Eimer Wasser und das grüne Schächtelchen mit dem Flicksach. "Hier!" Gemeinsam machten wir und vor der Tür an die Arbeit und nach zwanzig Minuten war mein Fahrrad wieder einsatzfähig. "Danke!" Ich strahlte ihn an: "Alleine hätte ich dafür mindestens eine Stunde gebraucht!" Ich war in solchen Dingen halt total trottelig... "Kein Problem, hab ich gern gemacht." Ich half Lucas, die Sachen aufzuräumen und schließlich standen wir im Hauseingang. "Tja, also dann", murmelte ich unbestimmt. Gerade wollte ich mich vollends verabschieden, als Lucas zärtlich eine meiner Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. "Warum violett? Sie waren doch so schön." Erschrocken sah ich ihn an. Gefiel es ihm nicht? "Gefällt es dir nicht?" "Doch, aber deine Originalhaarfarbe hat mir noch besser gefallen. Aber es ist ja nicht für immer." Seine Augen. Sie waren echt einzigartig. Dieses braun erinnerte mich ein wenig an dunklen, flüssigen Honig. Und sie kamen eindeutig näher. Fast automatisch machte ich einen Schritt nach hinten, bis ich mit dem Rücken an die Türe stieß. Wie gebannt sah ich in seine Augen. "Musst du schon gehen?", fragte er, rieb seine Nase ganz sanft an meiner. Meine Knie waren butterweich. Ich hatte angst, meine Stimme würde versagen, also nickte ich nur. "Schade. Aber versprich mir, dass du wieder kommst!" Wieder ein Nicken. Gott, war ich schon tot, träumte ich oder was war hier los? Das konnte doch unmöglich wahr sein?! Ich bekam erhebliche Probleme bei meiner Luftzufuhr, je näher er mir kam. Dann gab mir Lucas den von mir heißersehnten Kuss. Erst lagen seine Lippen nur wie ein Hauch auf meinen, nachgiebig und weich, fast schon unentschlossen. Ich spürte, wie seine Zunge langsam und zärtlich über meine Unterlippe glitt, sich sanft Einlass in meinen Mund verschaffte um ihn neugierig zu erkunden. Es durchfuhr mich wie ein Stromschlag, als unsere Zungenspitzen das erste Mal aufeinander trafen, sich wieder trennten nur um gleich darauf wieder dieses Gefühl in mir auszulösen. Alles um uns herum vergaß ich, es gab nur noch Lucas und dieser süße Kuss. All meine Sinne waren nur auf ihn gerichtet. Es wäre mir total egal gewesen, wenn jetzt neben uns eine Bombe hochgehen, ein Feuer ausbrechen oder eine Fußballmannschaft erscheinen würde. Alles was zählte war dieser Moment, nur wir beide. *** Ende Teil 6 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)