Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Prolog: *~Midoriko~* -------------------- "Mancher Mensch hat ein großes Feuer in seiner Seele, und niemand kommt, um sich daran zu wärmen." – Vincent van Gogh Prolog - Midoriko *Existiert die vermeintlich höhere Macht des Schicksals wirklich oder ist es nur ein von Menschen erdachtes Trugbild, das in die Irre führt? Eine surreale Fata Morgana, der sich der Gläubige fügen muss? Bleibt diesem eine Aussicht auf Erfolg, wenn er versucht, sich aus den verworrenen, engen Maschen des schwarzen Netzes zu winden um so endlich seine Freiheit zu erlangen?* ּ›~ • ~‹ּ "Am Anfang gab es keine Trennung zwischen Himmel und Erde, alles war eins, eine einzige chaotische Masse. Der reine und klare Teil erhob sich zum Himmel, der schwere und festere Teil senkte sich herab und wurde zur Erde. Alles trieb jedoch noch auf der Oberfläche des Ur-Ozeans. Da traten die ersten drei Gottheiten in die Welt; es waren die Götter des Himmels und der schöpferischen Kräfte. Dann folgte die vierte Gottheit in Gestalt eines Schilfrohrschößlings, die Leben aus dem Ozean keimen ließ. Die fünfte Gottheit errichtete die himmlische Sphäre. Die ersten Fünf waren himmlische Götter. Nach und nach entstanden weitere Gottheiten, unter ihnen traten auch die Geschwister Izanagi und Izanami in die Welt. Diese beiden erhielten nun von den himmlischen Göttern die Aufgabe, die Erschaffung des Festlandes zu beenden. Zu diesem Zwecke überreichten sie ihnen eine mit Juwelen geschmückte Lanze. Auf einem Regenbogen stehend, tauchten sie diese Lanze in den Ozean und rührten ihn um. Als sie die Lanze wieder aus dem Wasser heraushoben, tropfte von der Spitze Salz herab, das zu einer Insel gerann. Izanagi und Izanami stiegen aus dem Himmel auf die Insel hinab und errichteten einen wunderschönen Palast und einen himmlischen Pfeiler. Hier erkannten sie das erste Mal, dass sie von unterschiedlichem Geschlecht waren. Da umkreisten sie den himmlischen Pfeiler, der Mann von links und die Frau von rechts, um sich so bei ihrem Aufeinandertreffen auf menschliche Weise hinter dem Pfeiler zusammenzufinden. So zeugten sie miteinander viele Nachkommen, darunter auch Oh-Yashima-Guni und die kleineren Inseln. So entstand das Festland. Als diese Aufgabe abgeschlossen war, zeugten sie zahlreiche Gottheiten, unter ihnen auch Amaterasu, die Sonnengöttin. Bei der Geburt des Feuergottes Kagutsuchi wurde Izanami jedoch sehr schwer verbrannt, dass sie starb und in die Unterwelt einkehrte. Wehklagend begrub Izanagi seine geliebte Frau auf dem Berge Hiba. Dem Feuergott schlug er den Kopf ab. Vergeblich versuchte Izanagi weiterhin, seine Frau aus dem Totenreich zurückzuholen. In die Menschenwelt zurückgekehrt, wusch er sich sogleich gründlich in einem Fluss den Schmutz der Unterwelt vom Körper; dabei entstanden wiederum neue Götter, die auch wieder Nachkommen zeugten und so die Inseln mit Leben füllten..." Die Sonne stand bereits tief, ihre schwindenden Strahlen färbten die Wolken, tauchten sie in die verschiedensten Nuancen eines zarten Rosas; die Bäume warfen lange, dunkle Schatten auf den ausgedörrten Boden, der Regen ließ dieses Jahr auf sich warten. Durch die warme Luft tönten im Hintergrund die lauten Stimmen der am kräftig orangeleuchtenden Horizont vorbeiziehenden Krähen, im Vordergrund verblieb es ruhig, die Bewohner des kleinen Provinzdorfes schwiegen nahezu andächtig, als die Priesterin mit dem Ende ihrer Erzählung verstummte. Die junge Frau erhob sich, löste ihren Blick gänzlich von den vielen Kindern, die ihr aufmerksam zugehört hatten. Sie hielt das Seufzen, welches ihrer Kehle zu entkommen versuchte, geflissentlich zurück, betrachtete das warme Farbenspiel am Himmel, folgte mit den Augen den Bewegungen der dunklen Vögel. ,Wie gerne wäre sie so frei wie einer von ihnen gewesen... "Midoriko-sama, bitte erzählt uns noch eine Geschichte, bitte, nur noch eine!" Ein kleines Mädchen zupfte am Hakama der Miko, sah nahezu flehend an ihr hoch. Die Angesprochene reagierte nicht merklich, verharrte in ihrer Position, bedachte das Kind mit einem milden, aber erzwungenem Lächeln, strich ihm abwesend mit einer beiläufigen Bewegung durch das schwarze Haar. ... aber ihr schien es nicht vergönnt zu sein, frei oder wahrhaft glücklich zu sein oder es zu werden... "Nächstes Mal bestimmt, versprochen." Sie hoffte insgeheim nicht in dieses Dorf zurückkehren zu müssen. Der sanftgehaltene Ton der Worte stimmte das Mädchen trotzdessen zufrieden, entlockte ihm ein vorfreudiges Lächeln, sowie ein eifriges, bejahendes Nicken. ... ihre vermeintliche Gabe hielt sie gefangen, niemand wollte den Menschen, der unmittelbar dahinter stand, sehen... "Bleibt doch noch ein wenig, Midoriko-sama." Der Dorfälteste stand nicht weit entfernt, stützte sich schwerfällig auf einen knorpeligen Stock; sie wandte den Blick leicht in seine Richtung ab, sah ihn aber nicht direkt an. Stimme und Gestalt des Dorfoberhauptes waren deutlich vom Alter gezeichnet, er wirkte überaus gebrechlich und befürchtete sein baldiges Ableben. Midoriko durchschaute sein wahres Anliegen, so wie sie es bei jedem anderen auch vermochte; unfreiwillig geschah es ihr jedes Mal. ... sie war sich dem wahren Wesen des Menschen bewusst, nicht nur ihre Oberflächlichkeit und Unehrlichkeit waren ohne Grenzen... All jene, die ihre Hilfe in Anspruch nahmen, verlangten nicht nach Midoriko, sondern nach ihren Fähigkeiten... "Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, alsbald werdet ihr nicht von uns scheiden." Er schenkte dem, was sie sagte, Glauben, natürlich tat er das: schließlich war sie zu diesen Zeiten die wohl bekannteste Miko im Reich. Ihren Worten konnte man in jedem Fall trauen, ihre Fähigkeiten überschritten die der anderen Priester um Längen. Sie war berühmt für ihr Können, genoss das höchste Ansehen unmittelbar nach dem Tennô; ihr Name war in aller Munde. Selbst unter den Youkai kannte man sie, aber dort war sie gefürchtet. Ihre unheimlichen Kräfte erlaubten es ihr, einem Wesen die Seele zu entziehen und diese zu läutern. Die Seele eines Dämons zu reinigen bedeutete für diesen den Verlust seiner übernatürlichen Fähigkeiten und somit für die meisten den Verlust der eigenen Identität und ihres ursprünglichen Seins. Diese Priesterin fürchteten sie mehr als jeden anderen Krieger, mehr als jeden Mönch, sogar mehr als die Dämonenjäger. Aus ihrer Angst ging ein unbändiger Hass hervor, um jeden Preis wollten sie den Tod dieser Miko. Aus ihrer Perspektive durfte es keinen solchen Menschen geben, keine Menschenfrau durfte so übermächtig sein. Und darum wusste Midoriko. ... von den einen für ihre Fähigkeit höchstlobend verehrt, von den anderen bis auf das Äußerste dafür gehasst... "Dann gehabt euch wohl, werte Priesterin, und möge Amaterasu Ômikami ihre Hände auch schützend über euer Haupt halten." ... in ihrem tiefsten Inneren war sie stets alleine, verlassen... Er deutete eine leichte Verbeugung an, trat dann einen halben Schritt zurück, für einen Moment beherrschte die Ehrfurcht seinen Blick. "Ich danke euch, Ojiisan, möge euch das selbige wiederfahren." ... aber der Blick und die Geste des Greises gingen bloß durch sie hindurch. Höflichkeit war eine Fassade, auch von ihrer Seite aus; aber im Gegensatz zu den anderen Menschen brauchte sich Midoriko nicht zu verstecken, da sie ohnehin niemand wirklich sah oder es auch nur wollte...' Sie verbeugte sich höflich, ließ bald darauf das Dorf hinter sich und begab sich auf den Rückweg. Immerzu war sie alleine unterwegs, es schien niemanden zu geben, der das Wagnis eingehen wollte, sie zu begleiten. Sie war ihrer Gabe, die sie zu einer lebenslangen Gefangenschaft verurteilte, mehr als leid. Für Midoriko war es keine Gabe, kein Segen, vielmehr ein Fluch, den sie weder abschütteln noch in irgendeiner Art und Weise entrinnen konnte. So viele Dinge blieben ihr verwährt, sie wurde dadurch so vieler, unzähliger Selbstverständlichkeiten beraubt... sie hielt ihre tiefe Verzweiflung in sich verwahrt, ebenso die Trauer und manchmal auch die Wut, die sie empfand; sie hielt ihr Leid verborgen. Ohnehin hätte es niemanden interessiert; Midoriko war alleine, auf sich gestellt, schon immer. Die Vorteile, die ihre Fähigkeiten hingegen mit sich brachten, wurden, für scheinbar niemanden sichtbar, vollkommen von ihren Schattenseiten dunkel überlagert... ּ›~ • ~‹ּ ***>>> Kapitel 1: >"In den aufkommenden Schatten der Nacht treffen zwei mächtige Präsenzen aufeinander - der Wald hüllt sich währenddessen unbeteiligt in trügerische Stille. Nur einer kann lebend aus dieser Begegnung hervorgehen, und das Schicksal des Anderen besiegelt sich noch in der Dämmerung..." *» Mótspyrna Kapitel 1: *~Mótspyrna~* ------------------------ "Gegner bedürfen einander oft mehr als Freunde, denn ohne Wind gehen keine Mühlen." – Hermann Hesse Kapitel 1 - Mótspyrna -Rivalität- *Was wird aus dem Jäger, der zum Gejagten wird? Etwa das obligatorische, winselnde Opfer, dass ebenso vor sich selbst wie vor anderen fortläuft - oder wird in ihm eine reißende Urgewalt entfesselt? Eine Gewalt, die das losgelöste Wesen in ihr eisiges Regiment aus Instinkt und Wahn zwingt?* ּ›~ • ~‹ּ Hitze, Schweiß, das wütende, schrille Echo eines kranken, rasanten Tages. Die stickige Luft stand still, undefinierbares Flimmern durchzog ihre drückende Schwüle. Die Sonne prangte in hellem Gelb am Himmel, schickte ihre letzten, erbarmungslos sengenden Strahlen auf die Erde; die erlösende Kühle der Nacht würde trotz dessen noch ein wenig abzuwarten sein. Klammer Stoff bezeugte jede Muskelbewegung, Durst, das simple Verlangen nach Wasser, trieb mich aus den Wäldern. Ich verabscheute es in dieser beengten Form vor mich hinzuvegetieren. Was nützte mir dieser schwächliche Körper? Dieser humane Leib stellte mehr Ansprüche, war weniger belastbar und trübte zudem meine Sinne, genau genommen war es schlichtweg unpraktisch, sich so fortzubewegen. Die entstehenden Vorteile hielten sich derweil rar... Jeder Schritt wirbelte Staub auf, das Gras war dörr und brüchig, in den langen Schatten der Bäume am Rande des dichten Waldes tanzten Schwärme winziger Fliegen umher; ein intensiver Geruch von Nadelgehölzen, insbesondere Kiefern und Pinien, sowie ein leichter Hauch von Harz erfüllte die Luft. Weit oben vom tiefrot schimmernden Horizont ertönte das Geräusch kräftiger Schwingen, dann erschall ein infernalischer, dunkler Schrei - er war gekommen. Es würde hier und jetzt enden. Unsere Fehde konnte nur mit dem blutigen Tod des Anderen in die Areale des Ewigen eingehen. Es dauerte nicht lange, bis sich sein massiger Körper deutlich vor dem Himmel abzeichnete. Trotz seiner Größe wirkten seine flüssigen Bewegungen in der Luft beinahe graziös. Er hielt auf mich zu. Eigentlich war ich der Meinung gewesen durch die Hitze und totale Windstille einen Vorteil ihm gegenüber zu haben. Meine Witterung war ihm wohl rein zufällig in die Nüstern gestiegen, denn ich hatte ihn bis jetzt nicht wahrnehmen können. Das in meinen Adern kursierenden Drachenblut begann merklich zu pulsieren, Adrenalin vergiftete meinen Körper. Jeder Muskel spannte sich an, die aufwallende Blutlust und die Gier nach einem Kampf nahmen mir mehr und mehr das klare Denken. Die animalische Seite meines Bewusstseins entriss mir die Kontrolle. Von diesem Punkt an war von ,denken' nicht länger zu reden, es war lediglich mein Instinkt, der mich vorantrieb, mich in einen wahnwitzigen Zustand der Raserei - bestehend aus roher Kraft in Form von Gewalt und einem irren Verlangen nach dem Blut meines Gegners - stürzte. Ich kannte dieses Gefühl gut, der Druck im Inneren meines Brustkorbes wuchs, als wollte es mich zerreißen. Um mich begann sich die Luft zu bewegen, es formte sich Wind, unnatürlicher Wind, dessen Intensität stetig anschwoll. Ich schloss die Augen, spürte bewusst die Veränderung die in mir vorging; die menschengleiche Hülle transformierte zurück in meine wahre Gestalt. Es fühlte sich gut an, die Kraft, die mir mein Element, die Luft, verlieh, strömte ungehindert durch meinen gesamten Körper. Hornige Schuppenplatten glänzten grünlich im schwindenden Licht der Sonne, der letzte Flügelschlag des großen Eitursdreki wirbelte eine Wolke feinen Staubs auf. Elegant setzten die riesigen Pranken auf dem ausgedörrten, öden Boden auf, meterlange Krallen versanken für einen flüchtigen Moment in der harten, trockenen Erde, hinterließen gut sichtbare Abdrücke. Er drehte den Kopf leicht seitlich, magentarote Augen mit schwarzen, schlitzförmigen Pupillen starrten in die Richtung des Rivalen. Seine Haltung wurde zusehends aggressiver, er richtete sich zu voller Größe auf, spreizte drohend seine ledrigen Schwingen, riss das Maul auf und ließ ein kehliges Knurren ertönen. Der sturmartige Wind, der bis zu dieser Sekunde seinen Gegner gänzlich umhüllt hatte, klang ab, und hinter dem Schleier des lehmfarbenen, in der Luft schwebenden Sandes gab sich nun allmählich der Blick auf den monströsen Loftsdreki frei. Milchige Nickhäute zuckten über seine rein weißen Augen, aus denen die schwarzen Pupillen in aller Deutlichkeit hervorstachen. Obwohl rein vom Körperbau wesentlich leichter und zierlicher beschaffen, überragte er den Eitursdreki. Sein größtenteils in etlichen Blautönen gehaltenes Schuppenkleid wurde teils von weißer, teils von grauer Färbung durchzogen. Zwei Flügelpaare mit gigantischen Ausmaßen lagen kurzweilig ruhig zusammengefaltete an seinen schmalen Flanken. Auf seiner breiten Stirn prangte unübersehbar das Zeichen seines Clans, ein dunkelgraues Mandala in dessen Mitte sich ein eigenartig verschlungenes Symbol befand: das dämonische Symbol für Luft; zumindest das, was der Clan der Loftsdrekar zu verwenden pflegte. Jeder Zweifel war vergangen, dieser Loftsdreki konnte nur der älteste Sohn des ClanOberhauptes sein, Flúgar. Vor allem seine Größe und die schier unbegrenzte Macht über die Luft belegten dies; das hervorstechendste Merkmal war aber immer noch die vollkommen weiße Färbung seiner Augen. Ungewöhnlich, sehr sogar, selbst für einen seines Clans, aber ein klares Erkennungsmerkmal. Hochtoxischer Speichel troff aus dem Maul des Eitursdreki, zog schleimige Fäden, tropfte schließlich auf den ausgezehrten, toten Boden, reagierte mit diesem unter einem Zischen. Hellgrünes Gas entstand, stieg nebelig von den verätzten Stellen auf. In Flúgars Kehle formte sich ein abgrundtiefes, bedrohliches Grollen. Auf die Provokation des Anderen eingehend, streckte er sein doppeltes Schwingenpaar, trat einen herausfordernden Schritt auf seinen Gegner zu, den sehnigen Körper zum Zerreißen angespannt, um auf jede Reaktion des Eitursdreki antworten zu können, und das sofort, Bruchteile von Sekunden konnten den Ausgang des Kampfes beeinflussen oder gar entscheiden. Jeder noch so kleine Fehler war fatal, bedeutete für den Ausführenden nichts Anderes als den sicheren Tod. Die Spannung zwischen den beiden Drachen schien fast wahrnehmbar in der Luft zu knistern, wage, aber vorhanden. Der grünlich schimmernde Kontrahent schnaubte wütend, schüttelte den riesigen Schädel, Tropfen giftigen Geifers lösten alles Umliegende auf, unbeachtet, um was es sich auch handelte. Er war sichtlich nervös, verlagerte sein Gewicht ständig um. Keine Sekunde nach der letzten Umlagerung seines Schwerpunktes auf seine Hinterhand, stieß er sich mit den muskulösen Hinterläufen von dem harten Untergrund ab und sprang mit einem großen Satz auf den Loftsdreki zu, hob den Kampf in die aktive, entscheidende Phase. Der Boden hielt dem aufkommenden Gewicht des Eitursdreki nicht stand, brach auf, bröckelte augenblicklich zu sandigem Staub, wirbelte in die warme Luft. Reflexartig zog Flúgar seinen Körper leicht zur Seite, legte die Flügel der linken Flanke ruckartig an seinem Leib an, um sie den gefährlich schnell zuschnappenden Kiefern des Angreifers zu entziehen. Dann riss er sich wieder gänzlich herum, zu schnell für den Eitursdreki, erwischte diesen am Ansatz des Halses, vergrub seine mit dolchartigen Zähnen besetzten Kiefer darin, die langen Klauen des rechten Vorderlaufs versanken im Fleisch der Schulter. Letztendlich erfolglos bleibend, versuchte sich der Überraschte zu befreien, der Griff seines Gegners war mehr als eisern. Aber er nutzte die verbliebene Freiheit und biss dem Loftsdreki ins linke Vorderbein. Gift fraß sich langsam in das helle Fleisch, vermischte sich mit dunkelrotem Blut, floss hinab über blauweiße Schuppen. Doch Flúgar schien diese Begebenheit nicht mehr wahrzunehmen, der Blutrausch, in den ihn sein Instinkt getrieben hatte, verhinderte vehement, dass sein Nervensystem ihm seine Schmerzen mitteilte. Derweil hatte er begonnen heftig den Kopf zu schütteln, so dass sich seine Fänge noch tiefer in den Körper seines Feindes bohrten. Urplötzlich ruckte der Eitursdreki seinen Kopf nach links, brachte somit den Loftsdreki für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Er fing sich gerade noch, musste dafür aber seine Kiefer öffnen und von seinem Feind ablassen, büßte seinen gehabten Vorteil mit einem Mal ein. Das rote Blut-Gift-Gemisch floss auf den Boden, verätzte alles dort befindliche, toxische Dämpfe stiegen auf. Flúgar fing an unaufhörlich den Kopf zu schütteln, ohne Unterlass zuckten die Nickhäute über seine Augen, ein aggressives Knurren drang aus seiner Kehle, es wirkte recht eigenartig, als er seinen Schädel gegen eines der Vorderbeine drückte. Der Eitursdreki ergriff seine offensichtliche Chance beim Schopf, die giftigen Dämpfe blendeten seinen Gegner, da sie bevorzugt die empfindlichen Schleimhäute befielen, bevor sie sich anderweitig ausbreiteten. Er war sich dessen bewusst, das war seine Taktik, attackierte das Opfer seines Giftes. In den Winkeln seines Mauls und zwischen den Kiefern schäumte der toxische Speichel, verband sich auch jetzt noch mit Blut, zog ein rotes, verhängnisvolles Netz zwischen seinen Zähnen. Sich dem Ziel seines Angriffs bewusst, drehte er leicht den Kopf, schnellte blitzartig vor und packte den wahrscheinlich nun fast völlig erblindeten Flúgar an der Kehle. Zu spät folgte dessen Reaktion darauf, es war ihm unmöglich jetzt noch den Kopf in irgendeiner Weise wegzuziehen. Unbarmherzig sanken die giftbenetzten Fänge tiefer in das unter den Schuppen weicher beschaffene Fleisch. Der Loftsdreki röchelte, der beabsichtigte Laut verklang in einem Zwischending aus schwachem Husten und dem Hochwürgen von Blut. Schaumiges Gift verunreinigte die tieferwerdenden Wunden in der Kehle des Drachen. Der Kampf wirkte entschieden, Flúgars Situation aussichtslos, sein Schicksal besiegelt und sein Tod greifbar nahe... ּ›~ • ~‹ּ Die Hitze des allmählich endenden Tages verflog langsam. Eine federleichte Brise wehte durch die Wipfel der Bäume, ließ ihre reichlich beblätterten Äste rascheln. Ganz behutsam begann es aufzufrischen, die kühler werdende Luft auf der Haut hatte einen angenehm erfrischenden, belebenden Effekt. Dieser Tag hatte viel Mühe gekostet, die hohen Temperaturen hatten nicht gerade für mein Vorankommen beigetragen. Ich hatte noch kein Lager für die Nacht, meines Wissens zur Folge lag in der näheren Umgebung auch kein Dorf. Der Wald war heute außergewöhnlich still, man hörte keine Grillen zirpen, das Schreien des Kauzes blieb gleichermaßen aus. Es war schlichthin eigenartig, bizarr mochte man es nennen, es passte nicht zum sonstigen Sein des Waldes. Ob sie das gespürt hatten, was auch ich vernommen hatte? Eine geraume Zeit lang hatte ich zwei mächtige Präsenzen ganz in der Nähe gefühlt, wobei die eine nach einer gewissen Zeit erloschen war, langsam, schier gequält. Es bestanden keinerlei Zweifel daran, dass die zwei Kreaturen aufeinander getroffen sein mussten. Bei diesen Wesen konnte es sich nur um Dämonen handeln, die Aura eines Menschen rief ein anderes Gefühl in mir hervor, diese Fremde, die ich empfunden hatte, zeigte, dass es sich um etwas Animalisches gehandelt haben musste. Weiterhin bestritt ich den Weg durch das dichte Unterholz des Waldes, den staubigen, schmalen Pfad hatte ich vor kurzer Zeit aus den Augen verloren. Die Sicht wurde zusehends schlechter, die Sonne war jetzt untergegangen und das vertrackte Dickicht aus dornigen Ranken und feinfiedrigen Farnen ließ kaum einen Blick durch. Zugegebenermaßen, ich war müde, erschöpft und auch hungrig, die Nacht musste ich wohl wieder einmal im Freien hinter mich bringen. Zumindest hielt es sich nicht kalt, ein kleiner Trost, der im Vergleich eigentlich keinen Wert besaß. Nach einer Weile des puren Marsches, als es düster und die Dämmerung vergangen war, lichtete sich endlich das Gestrüpp, nunmehr aus einigen Wisteria und abgeblühten Manryou bestehend, der Wald fand in einigen hundert Metern sein Ende. Durch das spärlicher werdende Blätterdach der Baumkronen fiel das sanfte Licht des zunehmenden Halbmondes, tauchte den Wald in ein gespenstisch ruhiges, diesiges Licht. Keine Wolke trübte das reine Firmament, überall glitzerten Sterne, es war nicht nur eine äußerst behagliche, sondern auch wunderschöne Nacht. Noch immer schwiegen die Tiere des Waldes, nichts rührte sich, man konnte nicht einmal ein einzelnes Glühwürmchen erspähen. Trostlos, ungewöhnlich. Die folgende zaghaft wehende Böe, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken, sie kam aus der Richtung, in die ich mich bisweilen fortbewegte. Unheimlich, es fröstelte mich, obwohl der Wind keineswegs so frisch war, um fähig zu sein, einem Menschen solch eine Reaktion zu entlocken. Das war es nicht. Nein, da war etwas, etwas, das mich beunruhigte. Die Kunde des Windes war es, die mich erschaudern ließ. Ich ging weiter, gefasst auf beinahe alles. Meine Hand schloss sich um den Griff meines Schwertes, allein der Sicherheit halber. Je weiter ich ging, desto schlechter wurde meine Gefühl bei dieser Sache, mit jedem Schritt wuchs mein Unbehagen. Ich überwand eine kleine Anhöhe, dann hielt ich inne, überschaute das, was sich mir dort schweigend im fahlen Mondlicht darbot: Die staubtrockene Erde war aufgewühlt, mit Kratzern und Striemen gezeichnet, wies tiefe, gleichmäßige Löcher auf; der größte Teil des eigentlich lehmfarbenen Untergrundes war dunkel verfärbt, schimmerte aber nur an wenigen Stellen wirklich rötlich. Ein gigantischer, lebloser Körper verweilte in der Mitte des ehemaligen Schlachtfeldes; es war ein Drache, aber selbst für einen dieser Rasse war dieses Exemplar von ordentlicher Größe. Sein Maul stand offen, gab die tödlichen Waffen darin preis, seine Augen waren stumpf, starrten in die Leere. Er lag auf der Seite, die Schwingen leicht von sich gestreckt, die Vordergliedmaßen somit verdeckt, die Hinterläufe flüchtig gebeugt. Unter ihm war die Erde dunkel, schwarz; dieser Drache war definitiv tot. Seine Schuppen wiesen nur noch einen matten Grünschimmer auf. Aber wer oder was war in der Lage einen Dämon solcher Ausmaße zu töten? Gab es tatsächlich so mächtige Dämonen? Man hörte ab und zu davon, wenn man von Dorf zu Dorf reiste oder den Händlern zuhörte, aber belegen konnte es niemand, es waren reine Spekulationen. Oft hörte man auch Geschichten von Dämonen in menschlicher Gestalt. Ich für meinen Teil hielt von diesen Behauptungen nicht viel, sie waren unrealistisch. Bis jetzt war mir noch nie eine solche Kreatur unter die Augen gekommen. Warum sollte ein mächtiger Dämon ein humanes Äußeres annehmen? Das war unsinnig. Ich schüttelte den Kopf, näherte mich dem bereits gänzlich erkalteten Leib des toten Drachen. Aber selbst in diesem Zustand wirkte der Drache noch auf seine eigene Art und Weise imposant, niemals in meinem Leben hatte ich einen so nahe und in voller Größe gesehen. Bewundert hatte ich ihre Rasse schon seit ich ein kleines Mädchen gewesen war, sie faszinierten mich. Der Mythos, der sich um die Drachen sponn, zog mich in seinen Bann. Man erspähte sie nur selten, sie lebten zurückgezogen, hielten sich im Allgemeinen von menschlichen Siedlungen fern, allzu viele gab es wohl auch nicht mehr. In den vorangegangenen Jahrhunderten waren viele Dämonenjäger auf die Tötung von Drachen spezialisiert gewesen, hatten ihren Bestand dezimiert, aber auch selber hohe Verluste eingebüßt; einen Drachen zu töten war ein gefährliches und auch sehr schwieriges Unterfangen, denn sie waren intelligenter als die meisten anderen Dämonen. Ihre Scheu den Menschen gegenüber war verständlich, es wurde erzählt, dass ein Drache niemals vergaß... ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Eitursdreki - ein Drache, dessen Element das Gift ist Loftsdreki - ein Drache, der das Element Luft nutzen kann -> Ein großes Dankeschön an AllixAyndra für die inspirierende Anfangssequenz!<- ***>>> Kapitel 2: >"Das Schlachtfeld und der Verlierer des Kampfes sind eindeutige Zeichen für die starken destruktiven Kräfte, die diesen Ort zerstörten und dieses Wesen töteten. Der Sieger ist nicht verschwunden und setzt sein Treiben fort, doch dem muss Einhalt geboten werden, und eine Konfrontation ist unausweichlich..." *» Saikai Kapitel 2: *~Saikai~* --------------------- "Die größte Tat bleibt immer die Läuterung der eigenen Persönlichkeit, das Finden und Ausbauen des Heiligtums, das in uns allen ist; das werktätige Ausstrahlen dieses Heiligen in die zu erobernde Welt." – Friedrich Lienhard Kapitel 2 - Saikai -Läuterung- *An welchem Punkt müssen wir uns eingestehen, die Grenzen unserer Fähigkeiten erreicht zu haben? Dann, wenn wir die zerstörerischen Ausmaße erblicken, oder aber erst, wenn wir letztendlich wahrhaft versagen? Und welche Bedeutung muss dem zugemessen werden? Sind wir bestimmt, zu diesem Zeitpunkt des Scheiterns auch unser Leben zu verlieren? Oder sieht so die Lehre des Daseins aus?* ּ›~ • ~‹ּ Vage berührten meine Fingerspitzen die mattgrünen Schuppen, strichen darüber. Kalt, steif, des Lebens beraubt. Mir entwich ein Seufzen, ehe ich von ihm abließ, den Kopf hob und wieder die nähere Umgebung betrachtete. Die weiträumige Lichtung war eben und bloß von dörrem Gras und ausgezehrtem, toten Kraut bewachsen, an vielen Stellen sogar kahl, nackt, durch die Hitze spröde und aufgerissen. Ein betörender, süßlicher Geruch hing in der Luft, ein fremdartiger Duft, der im Hals kratzte. Ich sollte mich wirklich nicht mit solch peniblen Begebenheit befassen, das hielt auf, raubte Zeit. Ich ermahnte mich selbst, mein Blick schweifte weiter. In einiger Entfernung war der Boden mit Pfeilen gespickt, ein metallen glänzender Speer lag dazwischen. Ich schaute über meine Schulter zu dem Drachen. Nein, er war nicht von Menschen getötet worden, er hatte anders seinen Tod gefunden, aber wie vermochte ich unter diesen Bedingungen nicht zu sagen. Ich ging in die Hocke, zog einend er Pfeile aus dem Boden. An sich nichts Besonderes, aber das Symbol, das im Schaft eingraviert war, betrachtete ich näher. Ein Schild, dass das Wappen, das Symbol - einen weißen Kranich mit ausgebreiteten Schwingen auf dunklem Grund - des derzeitigen Tennô-heika zeigte, der momentan oberste Shintôpriester des gesamten Reiches. Ich kannte es mehr als gut. Auf dem Wappen prangte das Zeichen ganz bestimmter Dämonenjäger. Solche, deren Jagdinteresse auch jetzt nur an Drachen bestand, Drachentöter. Für Menschen mit so einer Einstellung hatte ich eigentlich wenig übrig, aber der Anblick der am Boden liegenden Person nahe des wieder angrenzenden Waldes - bei der es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen von eben diesen handelte - gab mir zu denken. Zögerlich trat ich näher, beugte mich zu ihr hinab und drehte sie auf den Rücken. Es war ein Mann, ein Drachentöter - auf seiner an Brust, Armen und Beinen verstärkten Rüstung war ein Drache abgebildet, hinter dem sich zwei Schwerter kreuzten. Er war tot; ein länglicher Schnitt zog sich schräg über seinen Hals. Seine glasigen Augen waren starr, weit aufgerissen, er war unter Angst gestorben. Helfen konnte ich ihm nicht mehr und obwohl ich ihn nicht kannte, fühlte ich mich dazu verpflichtet, ihn wenigstens ordentlich beizusetzen. Ich hatte Mitleid mit ihm. In einer sichelförmigen, leichten Einbuchtung, gesäumt von jungen Föhren und zahlreichen Urashimasou darunter, bedeckte ich seinen Körper mit Erde und Steinen, einen gewissen Abstand zu dem einstmaligen Schlachtfeld haltend, wo der Boden unter einer dickeren Schicht abgestorbener Blätter und Nadeln noch verhältnismäßig weich war. Meine Arbeit war abgeschlossen, ich hatte getan, was ich konnte, mehr lag auch nicht in meiner Macht. Dem fügte ich noch einen kleinen, gezwungen eintönigen Strauß bei, sprach ein kurzes Gebet in seinem Andenken, segnete die Erde, in der er nun lag. Danach nahm ich meinen Marsch wieder auf. In der Nähe dieses Ortes wollte ich nicht schlafen. Das Waldstück, welches ich durchquerte, hielt sich kurz, bald lösten Felder am Wegesrand die großen Laubbäume ab. Fast zeitgleich erhob sich zu meiner Rechten ein plateauähnlicher Berg, auf dessen flacher Oberfläche ich - zu meiner großen Verwunderung - eine hoch umzäunte Siedlung ausmachte. Jetzt musste ich die Nacht wohl doch nicht draußen verbringen, nach dem Äußeren der Pseudo-Festung zu urteilen, war es ein Dorf von Dämonenjägern - vielleicht sogar das Dorf, dem der tote Drachentöter angehörte - und diese waren üblicherweise sehr gastfreundlich, hier würde ich bestimmt eine Unterkunft bekommen. Durch diese Voraussicht beschwingt, ging ich mit raschen Schritten den Aufstieg an, der sich schon nach kurzer Zeit schwieriger als erdacht, herausstellte. Der Pfad war zwar fest, aber recht steil und die Strecke ziemlich lang. Dem Rebellieren meiner Glieder zum Trotz kam ich endlich an das Ende des Weges, erreichte die höher liegende Ebene des Plateaus. Die aus massiven, oben spitz zulaufenden Holzpfählen gefertigte Umzäunung der Siedlung ragte vor mir steil in den Himmel auf, das Tor stand - was mich ziemlich irritierte - wahllos offen. Je näher ich mir diesen Fakt vor Augen führte, desto skeptischer wurde ich ihm gegenüber. Irgendetwas stimmte hier nicht, ein flaues Gefühl lag mir schwer in der Magengegend. Keine Menschenseele kreuzte mein Blickfeld, einige Fackeln knisterten leise in die Dunkelheit der Nacht hinein, beleuchteten den Eingang und die Häuser nur spärlich, es war dürftig. Auch hier war es ruhig, zu ruhig. Lautlos strich eine Brise durch die Festung, ließ orangerote Flammen aufflackern, fuhr durch meine Haare, streichelte meine Haut. Der Wind war äußerst angenehm, aber es passte nicht hierher - die Atmosphäre des wie leergefegten Dorfes machte mich zusehends nervöser- es war makaber. Beunruhigt setzte ich mich wieder in Bewegung, in den einzelnen Hütten war es stockdunkel, kein Bewohner war auszumachen. Stille. Totenstille. Diesmal blies der Wind fast scharf durch die Behausungen, rüttelte an dem dünnen Holz, durchdrang mühelos meine Rüstung und Kleidung. Ich schaffte es kaum Luft zu holen, versuchte tief einzuatmen, mich zu konzentrieren. Mein Körper fröstelte, eine kalte, fremde Präsenz beherrschte diesen Ort, schien dessen Aura förmlich einzufrieren. Mir war absolut nicht wohl bei dieser Vorstellung. Eisige Kälte durchströmte meinen gesamten Leib, intensivierte sich mit jedem Windstoß, mit jedem Schritt, den ich vorwärts tat. Weiterhin sah ich mich um, rieb mir die Oberarme. Ich wollte nicht weiter, nicht nur mein Geist sträubte sich dagegen, aber es war mir fast so, als würde dieses Fremde mich anziehen, so wie das Feuer die Motten anlockte, ein Fehler, der die meisten von ihnen ins Verderben riss. Zu meiner Linken erhob sich eine riesige, nach außen bald begrenzte Tempelanlage. Ein gigantisches, rotes Torii bildete den einzigen, frontal gelegenen Eingang, einige Asebi und ein Sakaki wuchsen unweit des Schreins, welcher an sich geräumig und kunstvoll gehalten war, aber weder meine Aufmerksamkeit noch meinen Blick festhielt; das fremdartige Gefühl wuchs, zog mein volles Interesse auf sich. Ich passierte das prachtvolle Gebäude, ließ die lange Seite unbeachtet hinter mir. Doch auf das, was sich mir dann aber hinter dem letzten halbhohen Pfeiler der Eingrenzung, auf dem riesigen, hell mit Fackeln erleuchteten Dorfplatz darbot, war ich in keinster Weise vorbereitet. Mir stockte augenblicklich der Atem. Dort lagen sie reglos im Staub, die Dämonenjäger, die Drachentöter, ihres Lebens auf alle Zeit ausgehaucht, nutzlose, menschliche Hüllen auf blutgetränktem Boden. Was hatte es bloß mit diesem Massaker auf sich? In der Mitte der toten Menschenleiber stand eine Person - mit dem Rücken zu mir - deren Kleidung ganz und gar nicht mit der der Dorfbewohner in Einklang zu bringen war, auch ihre Haarfarbe war mehr als sonderbar. Die Bekleidung war edel, wies aufwändige Bestickungen mit eigenartigen Ornamenten auf, die Farben hielten sich in Weiß und einem ganz tiefen Saphirblau. Der Stoff wirkte selbst aus dieser Distanz fein und seidig - aber vor allen Dingen kostspielig. Statur und Größe verrieten ihn als Mann, denn wenn man von den langen, uneinheitlich in Blau- und Weißschattierungen gefärbten Haaren ausging, dachte man wohl eher an eine Frau. Welcher Mann scherte sich schon im höheren Maße um seine Haare? Plötzlich schnitt seine rechte Hand durch die Luft, eine so schnell Bewegung, dass ich sie nicht einmal mit den Augen hatte verfolgen können. Ich zuckte zusammen, als ein dumpfer Aufprall folgte, das Aufschlagen eines menschlichen Körpers auf der harten Erde. Hatte er etwa...? Aber... Just in diesem Moment drehte er den Kopf, ich schrak auf, konnte mich keinen Millimeter mehr bewegen, jeder Muskel schien mir den Dienst zu versagen. Geschockt starrte ich ihn geradewegs an. Sein Blick konnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen, kein Funken Menschlichkeit war darin zu erkennen, der pure animalische Instinkt beherrschte ihn; seine Augen hatten keine erkennbare Farbe, sie waren weiß, schwarze, senkrecht stehende Pupillen grenzten sich deutlich ab. Kürzere bläuliche Strähnen fielen ihm ins Gesicht, überdeckten aber nur grob die blutigen Striemen, die seine Wange zierten. Sobald er mich sah, verengte er die Augen zu schmalen Schlitzen. Ich schaffte es nicht auch nur einen Schritt zurückzuweichen, mir gelang es nicht einmal seinem auf mich fixierten Blick zu entgehen, wo bei es nicht so wirkte, als würde er mich sehen, nein, es hatte den Anschein als würde er einfach durch mich hindurch schauen. Ein dunkler, grollender Laut erklang aus seiner Richtung, in einem seiner Mundwinkel hoben sich deutlich spitze Eckzähne hervor. Das war kein Mensch. Die Vereisung der Aura dieses Ortes ging von ihm aus, er war diese fremde Präsenz, jene, die mich angezogen hatte. Wie hatte ich mich nur so leichtsinnig verhalten können? Bedeutete mir meine Neugier etwa jetzt den Tod? Ich zwang mich zur Ruhe, versuchte mich zu sammeln, zu konzentrieren. Als ich die Augen wieder öffnete, zog er meinen Blick sofort wieder auf sich, ich konnte gar nicht anders, aber jetzt war ich fähig, ihm nicht nur in die Augen zu blicken, ich musterte ihn gründlich. Blut trübte an vielen Stellen das Weiß seiner Kleidung, seine Hände - die zu meiner Beunruhigung lange, klauenähnliche Nägel aufwiesen - waren ebenso blutbesudelt. Die tiefroten Verfärbungen stützten meinen Verdacht: es war nicht nur Menschenblut, dass den Stoff tränkte, er war selber verletzt und so wie es von hier aussah nicht unbedingt leicht. Sichtbar stieg mein Atem stoßweise vor mir auf, kondensierte in weißen Wölkchen, die Kälte kroch in meinen Körper, ich zitterte - nicht nur, weil ich fror. Noch immer tönte das kehlige Knurren in meine Richtung, aber jetzt stand er nicht mehr still, er hatte sich umgedreht und kam nun auf mich zu. Mit einem plötzlichen, schneidendem Windzug verlosch jede einzelne Fackel, es wurde dunkel, nur noch der Mond beschien den entweihten Dorfplatz. Er kam näher, mit jedem Schritt. Er beeilte sich nicht, kam aber strikt auf mich zu, zermürbend. Ich konnte ihn doch nicht... nein, das würde und könnte ich nicht tun, ich tötete keine Menschen, niemals...aber... er war kein Mensch! Nein, ganz bestimmt nicht, also brauchte ich keine Rücksicht auf ihn zu nehmen. Zudem hatte er das gesamte Dorf ausgelöscht, für diese Tat verlangte es eine Sanktion - niemand hatte das Recht über das Leben eines anderen zu richten oder zu entscheiden, niemand... richtig, deshalb würde ich ihn auch nicht töten... den bewussten Tod durch jemand anderen hatte niemand verdient, selbst er nicht, zumal man einen Dämon viel härter strafte, indem man seine Seele läuterte und ihm damit seine übernatürlichen Fähigkeiten raubte. Ich hatte mich entschieden, ich würde es tun. Langsam führte ich meine kalten Hände vor meinem Körper zusammen, verhakte die Finger ineinander, bis auf die Zeigefinger, schloss die Augen, begann mich auf das äußerste Maß zu konzentrieren, mein Umfeld für einen Moment zu vergessen. In tiefen Wogen strömte die Luft in meine Lungen, die Energie, die ich heraufbeschwor, wallte spürbar auf. Lautlos formten meine Lippen die Worte des Rufes, den ich stumm aussandte, eine nicht wahrnehmbare Barriere zog sich um mich auf, vertrieb die störenden Eindrücke der Realität. Derer benötigte ich jetzt am Wenigsten. Ihr Einwirken hätte fatale Auswirkungen auf das Gelingen des Spruches, was aber genau daran sich verändern würde, war nicht vorauszusehen. Magie war eine gefährliche Sache, für die, die nicht mit ihr umzugehen verstanden - und das taten die Meisten nicht. Nützlich in jedem Falle, daher lief sie auch auf schmalem Pfade, wenn es um ihren Missbrauch ging. Auch das fand sich oft. Damit hatte sich der Name schwarze Magie geprägt, ein Begriff über den man als der Magie mächtiger nur schmunzelte. Pfusch, Falschgelingen, unvorhersehbares Eintreten nicht-gewollter Ereignisse schloss sich aus dem Tun dieser Pseudo-Magier. Ich sprach weiter, rief mich damit zur vollkommenen psychischen und physischen Konzentration, meine Stimme war jetzt fast ein Wispern, mein Gebet wurde erhört, ich spürte es unumgänglich in mir, jetzt konnte ich sprechen. Nun, deutlich und klar, hörte ich meine eigene Stimme, die laut in die Nacht hallte, die Silben aussprach, die mir unverkennbarer als jemals zuvor vorlagen, ihre Reinheit beschirmte mich, wies schon in diesem Moment die Aura der anderen Präsenz stark ab. Die beiden gegensätzlichen Energien stießen sich merklich voneinander, bildeten knisternde Felder in denen sich die überdrüssige Spannung nur noch mehr aufstachelte. Es war ein Spiel mit dem Feuer. Ein letztes Mal wiederholte ich den Satz meiner Bitte, öffnete meine Augen, fasste mein Ziel. Jetzt war der richtige Augenblick. Als die junge Priesterin die Augen öffnete, ihn mit ihren dunkelbraunen Augen direkt ansah, war ihm, als würde sein Herz für einen Schlag aussetzen, nur um sich dann mit jedem neuen, immer rascher folgenden Schlag schmerzhafter in seiner Brust zusammenzuziehen. Wellen von Schmerzen wogen durch seinen Leib, brannten ihm wie flüssiges Metall durch die Nervenbahnen, es war ihm, als wollte man sein Inneres mit brachialer Gewalt nach Außen zerren. Ein Schmerz von solch zehrender Intensität war ihm noch nicht untergekommen, er kannte keine vergleichbare Situation, also keine Antwort oder Reaktion darauf. Im Grunde war er hilflos, ausgeliefert. Ein Gefühl, dass ihm weniger behagte als die Witterung eines Menschen zu erfahren. Sein Zustand verwehrte ihm das klare Denken, die süße Schwere des Giftes begann sich kriechend in ihm auszubreiten, ihn wieder zu berauschen - diesmal gegen seinen Willen. Selbst Gedanken, die sich stur geradeaus richteten, simple Vorstellungskomplexe, bereiteten ihm unlösbare Probleme, er fand darauf nichts Brauchbares. Bis jetzt hatte er nichts gespürt, sein Blutrausch hatte ihm jede Empfindung in Form von Schmerz verwährt, der jetzt umso gnadenloser durch jede Muskelfaser jagte. Er atmete gepresst, grub die klauenartigen Hände tief ins eigene Fleisch, es war mehr als eine Qual, eine Tortur, die er nicht zu benennen vermochte. Diesen unsäglichen Druck würde dieser Körper nicht mehr lange standhalten, das wusste er. Aber was er tun sollte, wusste er nicht. Er war ratlos, er war verloren... Er brach auf die Knie, immer deutlicher spürte er, wie ihn seine Kraft verließ, kniff die Augen zusammen; er biss die Zähne aufeinander, vermied jegliche Lautäußerung, diese Blöße gab er sich nicht - seinen Stolz gab er nicht auf, selbst wenn ihm das den Tod bescherte, das kam nicht in Frage, keinesfalls. Nur am Rande bekam er mit, dass sich vor ihm ein verworrenes Knäuel aus Licht bildete, immer mehr anwuchs, sich immer komplexer in sich selbst verschlang. Die Miko setzte ihr Ritual fort, diese Seele war schwerer zu separieren als sie gedacht hatte, sie passte auch nicht zu diesem Körper, dafür war sie zu groß, zu kompliziert, zu eigen. So etwas hatte sie noch nie erlebt, diese Seele war anders als alles andere, was sie bis jetzt gefühlt hatte. Sie entzog sich ihrem Fassungsvermögen, es war ihr nicht möglich, sie weder mit der eigenen Energie einzugrenzen oder zu umschließen noch sie zu erfassen. Der dunkle, vollkommen unmenschliche Schatten, der sie überlagerte, machte eine Erkennung der Persönlichkeit oder sonstigem dort Enthaltenen, unmöglich. Dazu fügte sich noch hinzu, dass er sich vehement gegen diese Prozedur auflehnte, ein gewöhnlicher Dämon war in diesem Punkt schwach, da sich Seele und Körper nicht in Einklang miteinander befanden und mit der wachsenden Lebensspanne immer weiter auseinander drifteten. Seine übernatürliche Aura verlosch nicht, auch wenn er zusehends schwächer wurde, er gab nicht nach. Er musste Höllenqualen leiden, gab sich aber nicht preis, es zögerte sich zu lange heraus. Normalerweise war dieser Vorgang schmerzfrei und wickelte sich problemlos über einige Sekunden ab. Warum funktionierte das nicht bei ihm? Sie stand vor einem Rätsel, ihr wurde klar, auch ihre Kräfte waren begrenzt und gingen über ein gewisses Pensum nicht hinaus. Sie hatte nicht vor jemanden zu quälen, das war nicht Ziel und auch nicht Zweck der Sache, es war ungerecht. Er war zu schwach, um sich wirklich dagegen verteidigen zu können. Seinen Tod würde sie nicht verantworten können. Die herbeigerufenen und auch ihre persönlichen Energien versagten deutlicher, sie hatte nicht genug Macht, um es fertig zu bringen, es zu beenden. Sie brach ab. Nebenbei war sie sicher, dass eine Vollendung ihn das Leben gekostet hätte, was sowieso schwer auf der Kippe stand. Mit ihrem Abbruch sank sie auf die Knie. Er war von seinem Schmerz erlöst, die begleitende Verspannung seiner Muskeln wich sofort, er entspannte sich, unbewusst, kippte zur Seite. Er brach zusammen, fiel reaktionslos in den Staub, verblieb ohne Regung. In seinen schwachen Atemzügen zeichnete sich kein Rhythmus ab, willkürlich trieb sein Unterbewusstsein die lebenswichtige Luft in seine Lungen; ob ihm das zu Gute kam, blieb letzten Endes fraglich. Sie blickte auf, zu ihm herüber. Er lebte, aber möglicherweise nicht mehr auf lange Voraussicht. War es ihre Schuld? Der Versuch eines Seelenentzuges hatte ihm seine letzte Kraft genommen, die er womöglich für die Regeneration seines Körpers aufgespart hatte um sie später zu nutzen. Diese Reserven bestanden jetzt nicht mehr, waren restlos aufgebraucht. Selbst wenn er es schaffen würde sein Bewusstsein vergleichsweise schnell zurückzuerlangen, würde er wohl oder übel seinen zahlreichen Wunden und dem Fieber erliegen, auch an Wasser kam er nicht schnell genug heran - er war ausgelaugt, zu schwach. Wie es schien war er ein Einzelgänger, auf sich gestellt, jeder andere Dämon würde wohl in einen Hochgenuss kommen ihn vor sich dahinsiechen zu sehen; er machte den Anschein, zu den mächtigeren Repräsentanten seiner Rasse zu gehören. Vielleicht gab sich das auch nur so. Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie war nicht wie dieses Pack von Dämonen, die den Tod eines - wenn auch entfernten - Artgenossen mit Wohlbefinden herbeisehnten oder es genossen, eben diese zu beobachten, wie sie sich langsam und elendig zu Tode quälten. Er mochte so verkommen sein wie er wollte - das Töten von Menschen erledigte er schnell und schmerzlos, Freude empfand er dabei mit Sicherheit nicht, sonst hätte sich das Szenario vorhin anders ereignet. Sie empfand tiefstes Mitleid für ihn, zumindest trug sie einen Teil der Schuld an seinem Zustand und mit dem Wissen ihn hier alleine Sterben zu lassen, wenn sie fortging, konnte sie weder schlafen noch weiterleben ohne schreckliche Gewissensbisse davonzutragen. Das würde sie nicht tun, das wiedersprach ihrer Moral und den Grundprinzipien, nach denen sie lebte. Man musste sich auch im Falle eines Dämons nicht zu hoch aufspielen, Übertreibung fand man überall. Hier mochte sie ab und zu angebracht sein, aber nicht jetzt. Mit Leben - egal welcher Art - spielte man nicht. Sie war ein Mensch; Grausamkeit, Sadismus und Herzlosigkeit lagen ihr fern. Vielleicht würde sie ihre Tat bereuen; aber nur vielleicht... ּ›~ • ~‹ּ ***>>> Kapitel 3: >"Das Leben des Dämons hängt an einem seidenen Faden, und tiefe Schuldgefühle wandeln sich in Mitleid und stete Sorge. Der süße Duft des Todes schwebt verhängnisvoll in der Luft, entfaltet aber derweil anderorts erst seine wahrhaft fatalen Folgen..." *» Vorkunn Kapitel 3: *~Vorkunn~* ---------------------- "Wenn man Mitleid fühlt, so fragt man nicht erst andere Leute, ob man es fühlen soll." – Georg Christoph Lichtenberg Kapitel 3 - Vorkunn -Mitleid- *Sind Barmherzigkeit, Gnade und Mitleid wahrhaft die nobelsten Eigenschaften, die ein denkendes Wesen zu zeigen weiß? Liegt nicht der Verdacht näher, dass man dies vorschützt, um sich sein eigenes Seelenheil zu bewahren? Aus welchem anderen Grund als dem eigenen Wohl sollte man um andere besorgt sein? Aber sieht man tatsächlich nur den puren Eigennutz, wenn man sich für jemand anderen aufopfert?* ּ›~ • ~‹ּ Ich beobachtete ihn. Schon seit geraumer Zeit weilte mein Blick einzig auf ihm. Er litt immer noch, aber jetzt sichtbar für jedes Auge. Doch die Ursache seines quälenden Leides war mir unbekannt, ich wusste es nicht, ich konnte ihm nicht helfen. Seine Wunden hatte ich versorgt, zugegeben, sie sahen ernst aus, einem Menschen hätten sie sicherlich den Tod bedeutet, aber ich glaubte nicht, dass das reichte um einen Dämon zu töten; und noch weniger einen seines Ranges. Bei der näheren Betrachtung seiner Verletzungen war ich schnell zu dem Schluss gekommen, dass kaum eine - wenn überhaupt - davon von Menschenhand, sprich einer menschlichen Waffe, stammen konnte. Besonders die tiefen Wundmale an seinem Hals waren auffällig, es waren eindeutig Bisswunden, aber welches Tier war so stupide einen Dämon anzugreifen? Und selbst wenn es ein solches Tier geben sollte, wie hätte es das jemals schaffen sollen? Ein Dämon ließ sich doch nicht von einem einfachen Wolf - oder Ähnlichem - angreifen oder gar verletzen. Das passte nicht. Ich kniete neben seinem Lager, das ich im Tempel zusammengetragen hatte, bemerkte mit Besorgnis die Veränderungen seines Zustandes. Die ersten ein, zwei Stunden hatte er vollkommen still gelegen und regungslos hinter sich gebracht, seine Atemgeräusche hatten sich allmählich beruhigt und versucht, wieder ein gleichmäßiges Muster einzubringen. Diese Entwicklung hatte mich ungemein beruhigt, und desto mehr verunsicherte mich der vermeintliche Rückschlag. Die Frequenz seiner Atmung hatte sich rasch wieder in seinem alten Tempo wiedergefunden, es artete in ein röchelndes Ringen nach Luft aus, er hustete, kämpfte um jeden Atemzug. Unruhe ergriff ihn, er wälzte sich unter Schmerzen auf die Seiten, krampfte die Finger in den dünnen Stoff des Futons. Dieses böse Spiel kannte keine Pause und keine Gnade mit ihm, trieb es weiter voran, auch jetzt noch. Mittlerweile bedeckte der Schweiß seinen gesamten Körper, auch wenn mir seine Temperatur an sich zu niedrig vorkam, immerhin war er kein Mensch, ich wusste nicht, wie sich das mit der Körpertemperatur bei Dämonen verhielt. Woher auch? Ich fühlte mich miserabel, einfach hier zu sitzen, nichts tun zu können, rat- und hilflos zu sein. Er tat mir schrecklich leid. Am Ende starb er mir noch unter den Augen weg. Mir fiel partout nichts ein, gar nichts , mit dem ich ihn auch nur vielleicht ein bisschen hätte entlasten können. Auch Magie würde hier nicht helfen, weder kannte ich den Verursacher der Wunden noch eine Art von Heilzauber, die auf einen Dämon ansprach. Ich atmete tief ein, schloss die Augen, versuchte mich zu erinnern, ob ich nicht doch irgendwann einmal etwas mitgekriegt hatte, was mich in meiner derzeitigen Situation weiterbrachte. Jäh wurden meine Gedankengänge unterbrochen, verwundert hob ich den Kopf. Dieser Geruch... Ich war mir ganz sicher, ich kannte ihn. Nur woher...? Diese beißende Süße war mir vertraut. Mit einem Mal fiel der Groschen: der gleiche Duft schwebte über dem Schlachtfeld, auf dem der mattgrünschimmernde Drache gefallen war, wo ich unter anderem auch den toten Dämonenjäger entdeckt hatte. Genau, ich erinnerte mich gut. Er war nicht nur aufdringlich, sondern auch äußerst unangenehm, reizte den Hals und brannte in den Augen. Aber wie kam er hierher? Draußen war es seit einer ganzen Zeit schon windstill, zudem wirkte er nicht verteilt oder auseinandergestoben, eher wie ein Verbund, der einer kleinen Wolke ähnlich, in der Luft waberte, unscheinbar umherzog. Unschlüssig sah ich mich um, was mich aber auch zu keiner näheren Erkenntnis führte. Ich kam in meine Ausgangsposition zurück, seufzte leise, musterte ihn weiterhin mit Besorgnis, aber auch Interesse. Ich streckte zögerlich die Hand nach ihm aus, meine Fingerkuppen streiften wage seine Stirn, die unverletzte Wange, bevor sie behutsam eine Strähne seines Haares hervorzogen; wie feine Seide floss es förmlich durch meine Finger. Seine Züge erschienen mir noch sehr jung, trotz dessen wagte ich mich kaum, sein Alter zu schätzen. Was bedeutete denn schon jung wenn man von einem Dämon sprach? Die Begebenheiten lagen dort wohl auch um Einiges anders als bei Menschen. Für einen Dämon war er mehr als ansehnlich, das musste man zugeben. Ein Schatten legte sich über diesen weiteren erkannten Fakt, als ich mir seinen jetzigen Zustand in Erinnerung rief, mein Blick sich an die verletzten Stellen seines Körpers heftete. Es war eigenartig, aber die Blutungen kamen nur sehr schwerfällig zum Stillstand - versiegt waren sie bis jetzt nicht. Das bereitete mir ein ziemliches Unbehagen, ich verstand es nicht. Bedacht darauf keinen Druck auszuüben, führte ich meine Fingerspitzen nun über die raue Oberfläche des Verbandes an seinem linken Arm, dessen Verletzungen denen an seiner Kehle überaus ähnlich sahen. Sofort benetzte das Blut meine Haut, jagte mir durch seine Kühle einen Schauer über den Rücken. Dabei konnte ich es nicht belassen, zog meine Hand zu mir, wollte aufstehen, als es mich plötzlichen, in jenem Augenblick wie ein Blitz durchzuckte. Ungläubig hob ich meine Hand auf Höhe meines Gesichtes, atmete mit geschlossenen Augen tief durch... Und ich hatte Recht. Der ursprünglich metallische Geruch seines Blutes wurde fast gänzlich von diesem süßlichen Duft übertüncht, dessen Aggressivität ich in Form von einem leichten Brennen an den sensiblen Fingerkuppen spürte. Jetzt fügte es sich zu einem klaren Bild, ein paar wenige meiner Fragen fanden damit eine Antwort. Und diese hielt sich simpel: Gift . Erschrocken darüber stand ich hastig auf, eilte in die Hütte zurück, in der ich vorhin schon die Verbände gefunden hatte. Hoffentlich war es noch nicht zu spät, ansonsten würde ich mir meine anfängliche Unwissenheit nicht so schnell wieder verzeihen. Warum war mir das nicht gleich aufgefallen? Man hatte mich gelehrt, mit höchster Konzentration zu agieren, egal, was ich tat; es wäre wichtig. Den Sinn der Worte begriff ich nun umso mehr; meine Müdigkeit und die Ausgelaugtheit aufgrund meiner Anstrengungen hatten mich geblendet. Aber ich sah es nicht verloren, noch nicht - möglich, dass ich es nicht realistisch sehen wollte. Ich konnte von großem Glück sprechen, dass dieses Dorf hinsichtlich Verbandsmaterial und vor allem Heilkräutern bestens sortiert war, ich brauchte nicht loszuziehen um geeignete zu sammeln; ein klarer Vorteil, der mir in meiner Eile nur zugute kam. Rasch suchte ich mir alles Nötige zusammen, beeilte mich auf dem - vergleichsweise - kurzem Weg zum Brunnen, kehrte schließlich, rasch das rote Torii passierend, zum Tempel zurück. Schon vom Fuße der Treppen war er zu hören, wie er sich abmühte, zeitweise erfolglos nach Luft rang. Mittlerweile fühlte ich mich schuldiger als zuvor, absichtlich hätte ich niemandem so etwas angetan. Obwohl er nicht bei Bewusstsein war, würde er sich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit in den Tod quälen und erst dann eine Erlösung finden. Kopfschüttelnd verdrängte ich diese Gedanken, erklomm die steinernen Treppenstufen. Es mochte unangebracht sein, aber ich verhielt mich so leise wie möglich, kniete mich geräuschlos wieder neben ihn. Ohne weitere Zeit zu verlieren oder zu verschwenden machte ich mich an das sorgfältige Reinigen seiner Wunden - ich fragte mich, ob es jetzt noch etwas half, letztendlich blieb es mir aber nebensächlich; zumindest konnte ich etwas tun, was ihm möglicherweise half. Die Verbände waren bereits blutdurchtränkt, die Matratze fleckte sich mit dunkelroten Punkten, es war unvermeidbar. Behende hielt ich an meinem Tun fest, legte neue Druckverbände an, hoffte dadurch auf eine baldige Besserung der Gesamtsituation. Ein weiteres Mal fiel mir auf, dass sich die Verletzungen weitestgehend auf seinen Oberkörper beschränkten, insbesondere auf Arme, Schultern und Hals, der übrige Teil hatte nichts Gravierendes davongetragen, höchstens blaue Flecken oder nicht nennenswerte Schrammen. Ihr Aussehen war ähnlich, passte aber genaugenommen zu keiner geläufigen Waffe; Bissspuren kamen dem am nächsten. Es musste ein großes Tier mit dolchartigen Zähnen gewesen sein, kräftig im Bau... oder vielleicht ein anderer Dämon? Während ich mich weiterhin meinen Überlegungen widmete, begann ich ein starkes Anti-Toxin zu mischen. An sich gesehen würde es den Konsumenten mit bestimmter Sicherheit töten, aber in diesem Fall schien es mir angebracht, viel schlimmer konnte es nicht mehr werden. Es war immerhin eine Chance, wie hoch sich die Wahrscheinlichkeiten behielten, wollte ich gar nicht so genau wissen. Das flüssige Gemisch roch stark, war von bitterem Geschmack - nicht, dass ich es probiert hätte, aber die enthaltenen Kräuter waren wirklich - in dieser Beziehung - von übelster Sorte. Mit einer deutlichen Verweigerung seinerseits hätte ich gerechnet, wäre er bei Bewusstsein gewesen. Aber dem war nicht so, glücklicherweise. Jetzt musste ich nur Acht geben, dass er es auch schluckte und sich nicht selbst damit erstickte. Ein wenig unsicher blickte ich ihm ins Gesicht, rückte näher. Wenn ich es nicht wenigstens versuchte, hieß es für ihn bald nichts mehr... Er war mir absolut ausgeliefert, ich war in der fähigen Position mit ihm tun und lassen zu können, was ich wollte. Nur behagte mir dieses Machtgefühl nicht. Und wenn er davon mitbekam wohl noch weniger. Freiwillig ordnete sich ein Dämon nicht unter, und einem Menschen schon gar nicht; noch weniger einer Menschenfrau . Es war nicht meine Absicht ihn auf irgendeine Weise zu erniedrigen, aber er würde das nicht glauben oder nicht verstehen. Oder beides. Ich kam geflissentlich vom präsenten Thema ab, vergeudete Zeit, wichtige Zeit. Tief einatmend wandte ich mich wieder ihm zu. Mit verhaltener Vorsicht strich ich durch sein klammes Haar, hob seinen Kopf soweit an, dass ich ihn auf meinen Schoß betten konnte. Meinen linken Unterarm ließ ich an seinem Hinterkopf verweilen, setzte mit der rechten Hand die Tonschale an seine Lippen. Für die herrschenden Verhältnisse war er sehr ruhig, lag beinahe still, was eine seltsame Entspannung über mich brachte. Ich hoffte auf mehr als nur eine kurze Phase. Ich wartete ab, bis er seinen nächsten Atemzug abschloss - er atmete eigentlich schon die ganze Zeit durch den Mund, andererseits wäre er wohl längst aufgrund von Luftmangel erstickt - kippte die Schale in seine Richtung. Meine linke Hand erreichte gerade so seine Kehle, bedeutete ihm mit sanftem Druck auf eine unverletzte Stelle zu schlucken - was er auch tat. Es erleichterte mich ungemein, dass das so problemlos ablief, einen unbewussten Protest brauchte ich definitiv nicht. Die Hälfte genügte für den Anfang, ich setzte ab, woraufhin er seine kurzzeitig verschobene Atmung durch den Mund wieder aufnahm. Wie ich ihn so ansah, kam er mir äußerst blass vor, auch das graue Symbol auf seiner Stirn wirkte fahl, war halbwegs unter einigen kürzeren, schweißnassen Haarsträhnen verdeckt. Dann ließ ich von ihm ab, gönnte ihm seine Ruhe. Nach einer Weile legte sich seine eher mittelmäßig wieder aufgenommene Unruhe, er wand sich nicht mehr hin und her, sein aufgebrachter, erstickungsnaher Atem klang ab, verschmolz kaum hörbar mit den zwischenzeitlich aufgekommenen Geräuschen der Nacht. Ich seufzte auf, erleichtert. Ich war zufrieden, vielleicht bestand ja doch die Möglichkeit noch ein wenig schlafen zu können. Von der Müdigkeit sofort wieder eingeholt, gähnte ich, streckte meiner erschöpften Glieder. Ein Blick an mir herunter belegte, dass ich die letzten Stunden für ihn allein genutzt hatte; ich trug selbst mein Schwert noch. Missmutig entledigte ich mich meiner Rüstung, legte das Schwert beiseite, genoss die mir entgegenkommende Entspannung. Für heute sollte es genug sein. Ich freute mich, endlich ausruhen zu können, begab mich auf das bereits provisorisch vorbereitete, zweite Lager. Sobald ich lag, entzog sich mein Geist geschwind der Realität, ließ mich fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf fallen... ּ›~ • ~‹ּ »Kirschblüten... Zarte, blassrosafarbene Blütenblätter... Willenlos treiben sie mit dem Wind, ändern mit ihm die Richtung, stehen mit ihm still, vollführen schier willenlos ihren liebreizenden Tanz... Kirschblütenregen fällt hernieder, bewegt sich im Einklang mit den sanften Brisen des Windes, das zwanglose Spiel trägt sich in der Luft aus, unaufhörlich... Ein Wirrwarr aus feinen, weichen Flocken, ein Chaos mit absoluter Ordnung bei genauer Betrachtung... Im Wohlklang rauscht der Bach, die Oberfläche mit Blüten bedeckt, nimmt sie mit sich hinfort, die Strömung wiegt das empfindsame Rosa... Der Böen treiben die Kirschblüten umher, über die kleine Holzbrücke hinweg, unter der leise das Wasser fließt... Mit Weiß bedeckte, dürre Sakura säumen den Uferrand, werfen ihre mittäglichen Silhouetten auf das klare Nass, über ihre eigenen Spiegelbilder hinweg... Nackte Füße spüren das trockene Holz, die kleine Hand umschließt den hellen Schaft des dunkelroten Windrades, welches sich dem Takt der Blüten anpasst, sich unbekümmert immer weiter dreht... Kirschblüten... Angenehm fährt der Wind durch Haare und Kleidung, verfängt sich dort für wenige Sekunden, bringt die Blüten mit sich, lässt einige dort zurück, verschwindet in die vorherbestimmte Richtung... Weiße Wolken ziehen über den blauen Himmel, geben zeitweise die wärmenden Strahlen der Sonne preis, verjagen den kühlen Schatten. Vom Sonnenlicht beschienen, glänzen die zierlichen Blättchen matt weißlich, setzen ihren Weg schließlich fort ohne zu verharren... Der Regen, vom Wind bestimmt, schmiegt sich an, die rosanen Tropfen streifen kalt schimmernde Menschenhaut, kitzeln diese für einen Augenblick, bevor sie die neue Brise mit sich fortführt... Neutralität liegt in den jungen, kindlichen Zügen, verleiht deren Ausdruck eine gewisse Kälte sowie eine rätselhafte Undurchsichtigkeit. In den hellen, fixiert erscheinenden Augen spiegelt sich das Treiben des Kirschblütenregens... es rührt sich nicht, seine Umgebung, die reale Situation scheint es nicht zu beeinflussen, nicht zu existieren; egal, wie präsent sie auch in jenem Moment ist... Unverkannt dreht sich das rote Windrad, immer weiter, ohne Pause, kommt nicht zum Stillstand... Keine Reaktion findet sich, bewegungslos verharrt das Kind auf der Holzbrücke im Kirschblütenregen, umfasst mit den Fingern sicher den Schaft des Windrades, starrt schier gebannt auf den nicht-existenten Punkt... Kirschblüten... Zarte, blassrosafarbene Blütenblätter... Schweigend spielt der Wind mit ihnen, nimmt sie mit sich hinfort, in die unbekannte Ferne seiner Vorherbestimmung...« Er sprach vor sich hin, sprach Worte, die ihr mehr als fremd vorkamen, Worte, zu denen sie nicht einmal ansatzweise eine Sprache zuordnen konnte. Er klang ziemlich heiser, obwohl er seine Stimme leise hielt, genaugenommen nur flüsterte. Dennoch hörte sie keine besondere Betonung einzelner Silben heraus; es klang so monoton, emotionslos, als würde er einen sachlichen Vortrag halten oder etwas Ähnliches in dieser Richtung. Sie setzte sich auf, rieb sich verschlafen über die Augen. Es war nicht sein Gemurmel gewesen, das sie aufgeweckt hatte. Die Sonne hatte sie angefangen zu blenden und es war gut so. Sie schätzte die Zeit auf kurz nach Mittag, für ihre Verhältnisse eigentlich zu spät. Mit einem letzten Blick auf das andere Lager erhob sie sich - wenn man ihn so sah, würde man nicht im Entferntesten darauf kommen, wie schlimm sein Zustand in der vergangenen Nacht gewesen war. Die junge Frau seufzte leise, erleichtert, verließ ohne Eile den Tempel; wenn sie ihren Hunger gestillt hatte, würde sie mit der Beisetzung der getöteten Dorfbewohner beginnen. Keiner von ihnen hatte es verdient - ganz egal, wie er sein Leben unterhalten hatte - im Staub des eigenen Dorfplatzes langsam unter der Sonne zu verrotten. Sie bezweifelte, auch wenn sich der Schuldige vergleichsweise rasch wieder erholen würde, dass er auch nur im Geringsten daran denken würde, ihr zu helfen, ganz zu schweigen von dem Gedanken es selber zu tun. Das konnte sie getrost vergessen. Irgendwo empfand sie das als unverschämt; aber was dachte sie denn, wer er war? Ein Dämon, der seine Opfer beerdigte? Niemals. Das war bedenkenlos über Bord zu werfen, zu vergessen. Also blieb es an ihr und sie würde es tun, diesen Respekt war man eigentlich jeder Kreatur schuldig, nicht nur Menschen. Hieß das damit, dass man das auch einem Dämon schuldig war? Oder fielen die aus der Reihe? Wenn ja, was am Wahrscheinlichsten klang, dann war es wieder ungerecht... obwohl, Dämonen - zumindest der Großteil von ihnen - waren mehr als nur ungerecht und die Menschen genauso... Seit ewigen Zeiten herrschte dieser extreme Konflikt zwischen Menschen und Dämonen; keine Fraktion gab nach. Und ein Ende war nicht in Sicht, nicht mal ansatzweise. Die Menschen hassten die Dämonen und die Dämonen hassten die Menschen. Warum? Das wussten sie wohl selbst nicht. Wahrscheinlich resultierte dieser Hass aus ihrer großen Ähnlichkeit zueinander, und dann wieder doch nicht. Viele Züge hatten sie eben gemein, natürlich gab das beiderseits niemand zu, aber es verhielt sich so; dennoch unterschieden sie sich in anderen, ebenso zahlreichen Hinsichten. Vielleicht Neid? Warum sollte ein Dämon neidisch auf einen Menschen sein? Unbewusst zuckte sie die Schultern, dazu fiel ihr nichts ein. Zumindest nicht auf Anhieb. Aber es bestand die Möglichkeit zu fragen, die Chancen, darauf überhaupt eine Antwort zu bekommen hielten sich überaus niedrig, es war wohl wahrscheinlicher dass er sie zum Dank genauso schnell erledigte wie die Dämonenjäger. Daran dachte sie besser nicht mehr, ob sich Optimismus allerdings lohnen würde, war mal so dahin gestellt. Eher nicht. Es war keine gute Idee gewesen ihm zu helfen, jetzt, mit einem Mal, kamen die Zweifel, überschütteten sie erbarmungslos. Sie war selbst Schuld, sie hatte es selber so entschieden, folglich musste sie es auch gänzlich auf sich nehmen - egal, wie es sich gestalten würde. ּ›~ • ~‹ּ ***>>> Kapitel 4: >"Nach einem eigenartigen Fund bricht ein neuer Morgen an, und der Verletzte erlangt schließlich das Bewusstsein wieder. Die Wirkung des Giftes hält an, und jeder Versuch von Kontakt scheitert an ihm kläglich, obgleich er sein Gegenüber nicht mehr aus den Augen lässt..." *» Ishiki Kapitel 4: *~Ishiki~* --------------------- "Manche Leute wären frei, wenn sie zu dem Bewusstsein ihrer Freiheit kommen könnten. " – Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach Kapitel 4 - Ishiki -Bewusstsein- *Was versteht man eigentlich unter Dankbarkeit in ihren Grundzügen? Und in welchem Verhalten kann man diese erkennen? Ist es überhaupt möglich, jenen Begriff des Dankbarseins für die Allgemeinheit gültig zu definieren? Hat nicht jedes Wesen seine eigene Art und Weise, sich auszudrücken und sich für einen Gefallen oder eine Leistung erkenntlich zu zeigen?* ּ›~ • ~‹ּ Erschöpft hielt ich inne, wischte mir mit einem der weißen Ärmel über die Stirn. Es war mehr Arbeit und vor allem anstrengender als ich gedacht hatte, zudem stimmte meine Schätzung die Dauer betreffend absolut nicht. Ich hatte mich gründlich vertan. Die Sonne stand schon tief, heute würde ich es nicht mehr schaffen. Allzu schlimm stufte ich es dann aber doch nicht ein, wirklich weg konnte ich zur Zeit ohnehin nicht. Mein Blick wanderte vom Horizont über den großräumigen Mittelpunkt des Dorfes, überflog kurz den Tempel, erfasste dann wieder den Gegenstand in meiner rechten Hand. Es war ein Schwert, ein Katana, aber... seine Aura war seltsam. Es gestattete mir zwar es zu berühren, anderweitig kehrte sich die Energie gegen meine. Mehr als sonderbar, ein Schwert mit eigener Energie, einer richtigen Aura und so etwas wie einem Willen? Dazu fiel mir nur der Begriff Dämonenklinge ein, Menschen fertigten und besaßen so etwas nicht, dazu fehlte dem allergrößten Teil einfach die nötige Verbundenheit mit speziellen Elementen - beispielsweise mit der Natur oder mit der Magie. Ich hatte in dieser Richtung auch schon Gerüchte zu Ohren bekommen. Von errungenen Schwertern, deren Besitzer einer nach dem anderen starben. Verfluchte Schwerter, angeblich. Für mich hörte sich das nicht sehr nachvollziehbar an, jetzt hatte ich zu diesem Thema meine eigene Theorie. Selbst ich könnte dieses Schwert nicht effektiv einsetzen; ich wäre nicht fähig sein Potential zu entfalten, mit einem Dämonenschwert konnte ein Mensch nicht in Einklang kommen. Fremdartige Ornamente schmückten die makellose weiße Scheide, es machte einen wertvollen Eindruck. Trotzdem entdeckte ich weiterhin nichts Besonderes an ihm, die Klinge war scharf und in bester Verfassung, vielleicht ein wenig matt, aber alles in allem erschien es mir sehr klassisch - auf das Aussehen bezogen, wirkte es nicht dämonisch. Vielleicht gehörte es ja ihm; die Schwerter der ansäßigen Drachentöter unterschieden sich deutlich, ich war mir sicher, dass es niemandem von hier gehört haben konnte. Die absolut Sicherheit hatte ich nicht - ich hätte mir auch sonst etwas aus den wenigen Fakten zusammenreimen können, allerdings klang das für mich nicht verlockend, Spekulationen mochten gut und schön sein, ich hielt sie hier nicht für angebracht. Während ich diese Gedanken weiter vertiefte und ausschweifen ließ, lief ich zurück zum Tempel; irgendwie hatte es mir dieses Schwert angetan, es interessierte mich und ich dachte gerne weiter darüber nach. Wieder einmal stieg ich die aus Stein gefertigten Tempeltreppen herauf, wog das verhältnismäßig schwere Katana in der Hand. Wie sollte man dieses Schwert nur einhändig führen? Selbst mein eigenes - welches ich grundsätzlich zweihändig zu führen pflegte - war leichter als dieses. Möglicherweise ein Sammlerstück, ein Staubfänger zum bloßen Anschauen oder etwas Dergleichen. Daraus folgend im Grunde nutzlos. Ich nahm die letzte Stufe, richtete mein Sichtfeld auf mein Ziel. Immer noch darauf bedacht, so wenige Geräusche wie nur möglich zu erzeugen; ich trat näher, stand fast neben ihm, als ich plötzlich meinte, so etwas wie einen Impuls zu spüren, einen energetischen Impuls, der von dem Schwert in meiner Hand ausging. "Skýdis..." Unter diesem Wort spannte sich sein Körper sichtlich an. Erschrocken wich ich ein Stück nach hinten, das Schwert entglitt meinem Griff, ein durchaus lauter, metallischer Klang hallte in der geräumigen Tempelhalle wieder, verklang nur allmählich. Ich hatte wohl damit gerechnet, dass er wieder zu sich kommen würde, aber jetzt...? Diese Reaktion hatte mich wirklich überrascht. Er hatte auf der linken Seite, mir abgewandt, gelegen, aber geschlafen konnte er nicht haben; zugegeben, der Reflex war nicht sehr rasch gekommen, aber für einen Schlafenden doch noch zu schnell. Er war immer noch heiser, ziemlich musste ich feststellen und bei Weitem noch nicht bei Kräften. Seit ihn dieser Impuls erreicht hatte, versuchte er sich auf die Unterarme zu stützen und aufzurichten - vergebens. Seine deutlich sichtbaren Anstrengungen waren umsonst, er begriff das erst eine ganze Weile später. Er hatte sich sinnlos verausgabt, verblieb nun hörbar nach Luft keuchend und ohne Regung. Hatte er mich überhaupt wahrgenommen? Meinem Gefühl zur Folge nicht... das war sicherlich auch gut so, meinetwegen konnte diese Erkenntnis seinerseits noch ein bisschen auf sich warten lassen. Ich hoffte inständig darauf, dass ich auf sprachlicher Ebene keine Probleme mit ihm bekam. Bis jetzt hatte er sich nur - für mich - unverständlich geäußert, in einer Sprache, die ich nicht einmal irgendeiner Region zuzuordnen wusste. Das würde diese ganze Geschichte noch um einiges verkomplizieren und darauf legte ich es wirklich nicht an. Zumindest hatte ich jetzt den Beweis, dass es sein Schwert war; er hatte ja unverkennbar darauf reagiert oder es auf ihn, wie man es eben nehmen wollte. Interesse hätte ich noch an dem Wort, dass er vorhin gebraucht hatte... was das wohl bedeutete? Was sagte man denn, wenn man die Aura seines Schwertes spürte? Also darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht... die Dämonen waren eben ein seltsames Volk... ּ›~ • ~‹ּ Die Nacht gestaltete sich ruhig; in den frühen Morgenstunden wurde sie jedoch von seinen andauernden Hustenanfällen geweckt. Es ergab sich beinahe wieder das Bild der letzten Nacht, nicht so dermaßen heftig, aber das konnte sich ja noch ändern. Verschlafen rieb sie sich die Augen, schlug die dünne Decke beiseite, langte nach der Schale in der sie voraussichtlich noch den Rest der Kräutermischung aufbewahrt hatte, rutschte bewegungsfaul zu ihm herüber. Mit sanfter Gewalt drehte sie ihn auf den Rücken, flößte ihm den ganzen restlichen Inhalt des Tongefäßes ein. Gähnend kehrte sie zu ihrem Lager zurück, legte sich nieder und zog die Zudecke über den Kopf. Jetzt konnte sie zumindest bis Sonnenaufgang schlafen. Einige Stunden nach Mittag beendete ich schließlich meine Arbeit, sprach zuletzt noch ein umfassendes Gebet für die Gefallenen, nahm mir dafür angemessen viel Zeit. Ich empfand es als sehr wichtig, das Seelenheil der Verstorbenen musste gewährleistet sein. Nach einer spärlichen Säuberung mit dem kalten Wasser des Dorfbrunnens kehrte ich zum Tempel zurück, setzte einen Fuß auf die erste, von der Sonne angewärmte, steinerne Stufe der hinaufführenden Treppe. Ich blickte auf, ein merkwürdiges Gefühl spielte in meiner Magengegend und trotz seiner beständigen Fremde kam es mir bekannt vor... Behende bewältigte ich die Treppe, mit jedem Schritt überlegte ich inne zu halten oder wieder hinabzusteigen, aber ich tat es nicht. So schnell würde er nun auch wieder nicht in den Besitz seiner vollen Kräfte kommen, wenn ich jetzt schon solch große Bedenken pflegte, wie verhielt ich mich, wenn er auch nur einigermaßen wieder bei Kräften war? ... ich wusste es nicht. Missmutig nahm ich die letzten Stufen, blieb auf der obersten stehen, ging den Raum zuerst mit den Augen ab. Eine deutliche Regung zeichnete sich an seinem noch liegenden Körper ab, als ich in seine Richtung schaute; heute schaffte er es sich aufzusetzen, stütze sich auf den rechten Unterarm und drehte sich in meine Richtung, die Leinendecke rutschte ihm bis zu den Hüften. Einmal mehr tauchte das Abbild von einem Tier in meinem Kopf auf; ein Tier hatte gerade so viel auf den Rippen, dass es für den nächsten Beutezug reichte, der Körper hielt sich eher sehnig als muskulös. Mager traf es wohl eher als dünn. Und das bei seinem nicht wirklich schmal angelegten Körperbau; trotzdem machte er keinen richtig unterernährten Eindruck. Er starrte mich an oder in meine Richtung, sonst nichts. Ich verhielt mich ebenso. Schweigen. Und weiter? Die linke Hand lag in seinem Schoß, mit der rechten stützte er sich ab, lagerte einen kleinen Teil seines Gewichtes darauf, diente wahrscheinlich nur dazu das Gleichgewicht zu halten. Sein Blick war eigenartig, ähnlich dem an jenem Abend, als ich ihm das erste Mal begegnet war. Nein, das Fanatische, rein Tierische fehlte, im Moment beherrschte er seinen Instinkt und nicht andersherum. Vielleicht würde er mich doch nicht sofort in der Luft zerreißen... Auch weiterhin tat sich nichts. Ich atmete tief ein, bewegte mich in kleinen Schritten vorwärts, allerdings nicht auf ihn zu . Herausfordern musste man es nicht. Er ging dem nach, jedoch nicht mit den Augen, drehte den Kopf. Seltsam... Ich streckte den Arm leicht zur Seite, legte die Hand auf den Griff meines Schwertes. Es veränderte sich nichts. In mir begann ein Verdacht zu keimen. Dieser bestätigte sich, als ich mit allerhöchster Vorsicht das Schwert aus seiner Scheide zog. An dem Abend unserer ersten Begegnung hätte er mich augenblicklich für einen solch feindseligen Zug getötet. Kein Zweifel. Aber es war sicher, dass er es auch so nicht dulden würde. Damit verblieb eine Möglichkeit... ...er nahm es nicht wahr, er sah es nicht; deshalb kam keine Reaktion. War er etwa blind? Oder... war das eine weitere Tücke dieses Giftes? Wie benommen schluckte ich, steckte das Schwert zurück; so konnte das nicht weitergehen und den Anfang würde er nicht machen. Ich räusperte mich zaghaft, kniete auf der Unterlage meines Lagers ab. Unsicher fing ich seinen Blick ab, mit dem Wissen, sowieso nicht gesehen zu werden. "Mein Name ist Midoriko, ich bin Priesterin... fühlst du dich besser?" Die Worte schienen ungehört im Raum unterzugehen. "..." Er antwortete nicht, woran es lag, wusste ich in dem Moment auch nicht. Aber mir schien es nicht so, als würde er mich nicht verstehen. Ein leises Grollen erfüllte schließlich den Raum, mit der Zeit klang es zu heiser um wirklich als bedrohlich durchzugehen, dem Abbruch folgte ein Schnauben. Vielleicht passte es ihm nicht, dass ich ihn geduzt hatte... aber warum sollte ich ihn denn siezen? Das verlangte ich ja auch nicht von ihm. Was sollte ich jetzt tun? Seine Präsenz war mir jetzt bereits wieder seltsam unangenehm, selbst in seinem derzeitigen Zustand war seine Aura mächtig und eiskalt. Ich wich seinem starren, blinden Blick aus, es gab mir dieses Gefühl, dass ich vor ihm nichts verbergen konnte; ich mochte es absolut nicht, wenn mich jemand von vornherein durchschaute, so wie ich es tat - warum wusste ich nicht. Ich entschied mich nach längerem Hin und Her Wasser holen zu gehen, war ziemlich erleichtert, als ich den Tempel für einige Zeit verlassen konnte; die Eingeengtheit verflog. Tiefe Atemzüge nehmend, hievte ich den Eimer über die niedrige Brüstung des Brunnens. Seine bewusste Anwesenheit war beklemmend - nach diesem Begriff hatte ich gesucht, der Grund dafür wollte mir nicht so recht in den Sinn kommen. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte er sich ja recht annehmbar gebärdet, mir blieb nur die Hoffnung darauf, dass es auch so blieb. Eine Garantie würde ich nicht bekommen. Es war gefährlich, riskant - vielleicht hatte mich gerade diese Tatsache dazu verführt... Das Schlafen ließ ich für heute wohl lieber geflissentlich aus, ich würde sicherlich gar keine Ruhe finden. Außerdem glaubte ich weniger bis gar nicht, dass er es nötig hatte mich feiger Weise nachts im Schlaf zu töten. Das konnte ich wohl ausschließen. Als ich in den Tempel zurückkehrte, lag er wieder, aber er war wach, drehte sich von mir weg. Ihm seine Ruhe zu lassen war die beste Lösung; mehr als ihm eine Schale Wasser möglichst in Reichweite zu schieben, hielt ich nicht für notwendig, wollte es auch nicht. Wie ich schnell herausfand, brauchte ich mir auch nicht mehr Mühe zu machen; außer Wasser nahm er nichts an, ließ es stehen und er trank auch nur, wenn ich nicht zugegen war. Von Dankbarkeit war nichts zu erkennen. Einerseits hatte ich damit gerechnet, andererseits hätte ich es vorgezogen, doch irgendwie gezeigt zu bekommen, dass er es schätzte noch am Leben zu sein. Der trübe Schleier über seinen weißen Augen verflog mit den Stunden des nächsten Tages, sein Zustand schien sich nun rascher zu bessern. Eine richtige Beurteilung meinerseits blieb trotzdem aus, er ließ mich nicht sehr nah an sich heran, das Maximum bewegte sich in der drei oder vier Schrittlängen-Grenze. Ich würde lügen wenn ich behauptete, dass mir dieses abweisende Verhalten nichts ausmachen würde; ich hielt es nicht nur für unangebracht, es war unverschämt. Aber was hatte ich von ihm erwartet? Genau, dass er sich auf irgend eine Weise erkenntlich zeigte und wenn er mir auch nur ein paar meiner Fragen beantworten würde. Nein, ganz im Gegenteil. Jeder Ansprechversuch endete gleich: er ignorierte vollkommen, was ich sagte - und ich konnte schwören er verstand es - wartete auch nicht ab, bis ich fertig war, sondern gab nur dieses tiefe, kehlige Knurren von sich; einen animalischen Laut, den ich so noch nie vernommen hatte. Man erkannte es deutlich als Drohung. Ich verstand das nicht, ich tat ihm doch nichts. Seit er wieder zu sich gekommen war, schlief er nicht mehr. Nicht, wenn ich nicht vor Ort war und schon gar nicht, wenn ich mich kurzzeitig doch im Tempel aufhielt. Auch dösen sah ich ihn nicht, wenn ich auftauchte schien er hellwach, beobachtete jede kleinste Bewegung meinerseits. Doch er mied es, mich direkt anzusehen, er schaute mir nicht ins Gesicht. Ehrlich gesagt, kam mir das gelegen, damit blieb ich zumindest von diesem ,nackten' Gefühl verschont. Ich wusste immer weniger, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte, sein einfaches Hiersein machte mich zusehends ratloser - immer hielt ich den Gedanken fest, dass er bis jetzt noch keinen Versuch unternommen hatte mich zu töten, das rechnete ich ihm an. Aber wie bereits erwähnt, ich konnte nur hoffen , dass er es sich nicht anders überlegte... ּ›~ • ~‹ּ Das Gift zirkulierte noch immer in meinen Adern, ich spürte deutlich die verhängnisvolle Süße, die mich zu verführen versuchte, sowie die Trübe, die meine Sinne umfing, meine Wahrnehmung stark beeinträchtigte. Die betroffenen Wunden heilten schlecht, fast gar nicht, das Gift verlagerte nur seinen Schwerpunkt, ich hatte es noch nicht ausgestanden. Dazu fügte sich noch, dass sich mir keine Gelegenheit mehr bot meinen Körper in einen absoluten Ruhezustand zu versetzen - damit würde ich mich selbst ausliefern. Dieser Mensch war eigenartig... sie hatte mehr als einmal die beste Chance gehabt mich zu töten, aber sie hatte es nicht genutzt. Es gab keinen plausiblen Grund dafür. Ich hätte sie in jener Nacht getötet; sie hatte es verhindert - was genau sie getan hatte, lag meinem Wissen fern. Menschen waren so schwach... sie hatte mich wahrscheinlich aufgrund ihres Mitleides verschont. Allein dieses Wort verabscheute ich... mit Gnade, Mitgefühl und Barmherzigkeit oder was auch immer kam man nicht weit. Solche Grundsätze brachten den frühen Tod mit sich und den konnte ich mir nicht erlauben. Mit dem Aufkeimen der Menschheit schwanden die Populationen der Drachenclans, nicht nur die Loftsdrekar wurden übelst dezimiert. Ganze zwei große Clans von uns waren übrig, einer hier im Osten, der andere lebte im fernen Westen. Auch weiterhin fielen die Zahlen, die Menschen hörten nicht auf... wenn man mit Gnade über sie waltete, dann beging man offen Selbstmord. Seine stupide, naive Denkweise würde uns früher oder später den sicheren Untergang bringen; dafür hasste ich ihn... Skýdis Reaktion auf dieses gewöhnliche Menschenweib gab mir zu denken; sie besaß einen heftigen Eigenwillen und dann gewährte sie einem Menschen sie zu berühren? Es lief falsch, ziemlich sogar. Meine Situation passte mir nicht in den Sinn. Es würde dauern, bis ich überhaupt wieder hier heraus kam; allein der Gedanke daran stimmte mich missmutig. Für so etwas hatte ich keine Geduld, wollte sie vielmehr nicht haben... Wie konnte ein Mensch nur so dumm sein für einen vermeintlichen Dämon Mitleid zu empfinden? Bei der war wohl schon alles verloren. Aber sie hatte keine Angst vor mir, ob das gut für sie war würde sich zeigen. So lange sie auf dem Abstand blieb, den ich ihr unmissverständlich darlegte, würde ich sie am Leben lassen. Es hatte keinen Reiz für mich sie zu töten und sie gab mir auch keinen wirklichen Grund es zu tun. Ich war mir nicht sicher, ob ich es nach ihrem bizarren Angriff alleine geschafft hätte... wenn ich mir meinen jetzigen Zustand vor Augen rief, wohl höchstwahrscheinlich nicht. Dieses verdammte Gift hätte mit mir kurzen Prozess gemacht, davon konnte ich ausgehen. Das widerwärtige bittere Kräuterzeug hatte etwas ausgemacht... bedeutete das, dass ich noch lebte weil... sie mir geholfen hatte? Diese Überlegung gefiel mir ganz und gar nicht, ließ sich aber nicht mehr verdrängen. Falls es sich so verhielt, war es mir nicht möglich die Sache einfach so stehen zu lassen. Ein Leben hatte einen hohen Wert, auch wenn man es selber nicht allzu hoch schätzte, im Allgemeinen traf das wirklich zu. Und das lief natürlich nur auf eine Sache heraus... ich war ihr etwas schuldig... ich hatte meine Ehre und meinen Stolz, im Gegensatz zu dem sonstigen niederen Pack das sich Dämonen schimpfte, ich konnte es nicht einfach hierbei belassen, lebenslange Schulden bei einem Menschen waren eine Schande; ich musste das zügig hinter mich bringen... So konnte ich es einfach nicht auf mir sitzen lassen. Natürlich könnte ich sie einfach so aus dem Weg räumen und die Begebenheit für nie geschehen erklären, das wäre eine Lösung es zu unterschlagen, vor Anderen. Wenn ich mich auf diese Weise selbst belog, würde ich nie aus meinen Schulden herauskommen... Überfordert starrte sie in den Brunnen, betrachtete sich selbst auf der glatten Oberfläche des dunklen Wassers. Sie hatte keinen Plan für die nächste Zukunft, vielleicht war es am Besten zu verschwinden ohne dass er es mitbekam. Ob er sie gehen lassen würde? Unzufrieden schüttelte sie den Kopf, wandte sich ruckartig von ihrem Spiegelbild ab, ließ sich auf dem Brunnenrand nieder. Sie schaute zum Tempel. Wie lange er schon auf dem äußeren, rundherumführenden Tempelweg saß, wusste sie nicht. Aber sie wusste, dass er sie beobachtete. Die meiste Zeit hielt er die Augen geschlossen, döste vor sich hin. Wenn er das nicht tat, fixierte er sie. Er verunsicherte sie mit Absicht, aber was versprach er sich davon? Egal was, er würde es nicht bekommen. Langsam kam sie in die Situation, es leid zu sein, mitzuspielen. Sie stand auf, blickte ihn fest an. "Warum tust du das?" Ihre Stimme gehorchte, verlieh den gesagten Worten die Strenge und Bestimmtheit, die sie brauchten, um überzeugend zu klingen. "..." Er schwieg, ignorierte ihre Frage, fuhr unbeirrt fort, das zu tun, was sie versuchte ihm zu untersagen. Er provozierte sie. Deswegen musste sie sich ihre Ruhe bewahren, mit Sicherheit war es das, was er wollte. Auf ihn durfte man nicht eingehen. Personen wie ihn musste man konsequent außer Acht lassen, nicht auf das Verhalten reagieren, ausblenden . Mitunter fiel das schwer, aber anders war man dem nicht beizukommen. Das hätte sie von einem unerzogenen Kind erwartet, aber nicht von einem mehr oder weniger erwachsenen Dämon. Obwohl, körperlich erwachsen bedeutete ja noch lange nicht geistig erwachsen... Sie kam wohl nicht daran vorbei noch mindestens einmal zu versuchen mit ihm zu sprechen. Irgendwo in ihm musste ja ein Quäntchen Vernunft zu finden sein, ansonsten wäre er längst in der Härte der Gesellschaft untergegangen, solche Spielchen halfen bei gewalttätigen, grenzenlos dummen Riesendämonen rein gar nicht. Er schlug sich nicht auf die Kosten anderer durch, den Anschein machte er nicht. Ein Wolf im Schafspelz? Bei dem Gedanken kam sie ins Schmunzeln. Daran festhaltend stand sie auf, begab sich in den Tempel. Es ließ sich leider nicht aufschieben, sie war mehr oder weniger dazu gezwungen es zu tun. Was tat man nicht alles... ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Skýdis - Wolkengöttin ***>>> Kapitel 5: >"Jedes Leben hat seinen Wert, und wenn man diesen für jemanden bewahrt, entstehen Schulden. Schulden, die es zu begleichen gilt - auch, wenn es schwer fällt. Der Offenbarung folgt der Aufbruch, der von den schwarzen Schwingen des Drachengiftes überlagert wird..." *» Brottför Kapitel 5: *~Brottför~* ----------------------- "Jede Reise, jede Wanderschaft ist ein Aufbruch zu neuen Ufern, ein Sprengen der Ketten, die uns an den Felsen des Alltäglichen und Gewohnten schmieden." – Dr. Carl Peter Fröhling Kapitel 5 - Brottför -Aufbruch- *Versuchen wir nicht alle auf gewisse Weise der Einsamkeit zu entkommen? Und sei dies nur durch einen Partner, der uns eine kleine Etappe unseres Lebens lang begleitet? Zieht es nicht jedes Wesen vor, zumindest irgend jemanden bei sich zu haben - auch, wenn dieser nicht gerade dessen Idealbild entspricht? Ist Gesellschaft, gleich welcher Art, nicht etwas, das wir alle mögen und wertschätzen?* ּ›~ • ~‹ּ Ich überwand mich und betrat den bewussten Gang, setzte meine mit seiner Augenhöhe gleich indem ich mich auf den Boden kniete. Eine Weile geschah nichts, ich sammelte mich, suchte nach treffenden Worten. "Was bezweckst du mit deinen Spielchen? Ich glaube nicht, dass dir das in irgendeiner Weise weiterhilft." Er starrte noch immer auf den Brunnen, auf die Stelle, an der ich mich vor einigen Momenten noch aufgehalten hatte. "Es ist kein Spiel." Das überraschte mich aber jetzt wirklich, seit wann sprach er mit mir? Und ich hatte Recht, er verstand mich sehr wohl und gab sich selber auch klar und deutlich zu verstehen. Seine Stimme war vergleichsweise tief und gleichmäßig, sein Ton kalt und bestimmend, dieser eine Satz hatte vollkommen ausgereicht, um jene Begebenheiten zu erkennen; allerdings meinte ich einen leichten Akzent herausgehört zu haben, vielleicht täuschte ich mich. Den Augenblick, den ich zum Nachdenken gebraucht hatte, hatte er genutzt um aufzustehen, mit gemächlichen Schritten entfernte er sich langsam von mir, von Anstand oder Höflichkeit hatte er wohl noch nicht viel gehört. Wenigstens eine Sache wollte ich noch wissen. "Meinen Namen kennst du, verrätst du mir wenigstens noch deinen?" Er drehte sich nicht um, blieb auch nicht stehen, war halbwegs hinter der Ecke verschwunden. "Flúgar." Damit war er gänzlich verschwunden, ließ mich hier einfach sitzen. Was bildete er sich denn ein? Dass er etwas Besseres war, weil er sich zu den Dämonen zählte? Sein respektloses Verhalten wäre ihm bei einem strengen Vater längst vergangen, in diesem Fall hätte er nämlich Prügel bezogen und zwar zu Recht. Ich verbot es mir ihn auch nur in meinen Gedanken zu verfluchen, das gehörte sich nicht. Zudem fehlte mir ehrlich gesagt der Mut um es ihm offen zu sagen, für wen und was ich ihn hielt. Das war keine gute Idee. ,Flúgar'... ein seltsamer Name, das kam definitiv nicht aus der vorherrschenden Sprache in diesen Regionen. Möglicherweise hatten die Dämonen seiner Art auch einen eigenen Dialekt, so weit hergeholt klang das nicht. Das würde auch den angedeuteten Akzent erklären. Andererseits könnte es natürlich auch nur eine willkürliche Anordnung von Buchstaben sein, die er mir an den Kopf geworfen hatte, damit ich ihn zufrieden ließ. Auch eine Möglichkeit, die ich ihm zutraute. Aber wenn er es mir so sagte, würde ich ihn auch so nennen. Ich nahm seine Antwort einfach ernst. ּ›~ • ~‹ּ Gegen ihren eigenen Entschluss war sie dann doch eingeschlafen, lehnte an einem der großen Pfeiler des Torii. Halbwach blinzelte sie in die durch das dichte Blätterkleid des Asebi, welcher im vorderen Teil der weiträumig angelegten, den Tempel umgebenden Anlage stand, abgeschwächten, jungen Sonnenstrahlen, setzte sich langsam auf. Noch immer benebelt, gähnte sie, wanderte mit ihren Augen ruhig die nächste Umgebung ab. Außer ein paar harmlosen Insekten die sich im kurzen Gras zwischen den Dokudami neben ihr tummelten, entdeckte sie nichts. Mit einem Mal war sie hellwach, schaute sich erneut um. Sie hatte sich umsonst erschreckt, von ihm gab es weit und breit kein Anzeichen von einer Spur. Es bestand die Möglichkeit, dass er einfach gegangen war - was sie inständig hoffte. Sicher konnte sie nur gehen, wenn sie nachsah. In hoffnungsvoller Erwartung auf die Bestätigung ihrer Vermutungen tat sie das auch. Sich alle Zeit und Ruhe vorwegnehmend ging sie erst den Tempel ab, dort war er nicht, auch auf dem Dorfplatz und vor dem Tempel hielt er sich nicht auf. Ihre Spekulation schien sich langsam aber sicher zu bewahrheiten. Momentan spürte sie seine Aura nicht, dennoch wollte sie ganz sicher gehen. "Flúgar?" Ihrem Ruf folgte keine Antwort, also wiederholte sie es, lief währenddessen in Richtung des Brunnens. Immer noch blieb es still, außer dem penetranten Zwitschern einiger Vögel hörte man auch nur den Wind in den Baumkronen rascheln. Mittlerweile rief sie ziemlich laut, wenn er noch in der Nähe war, musste er es hören. Was tat sie hier eigentlich? Fakt war, sie lief durch das Dämonenjäger-Dorf, dessen Bewohner er alle um die Ecke gebracht hatte und rief nach dieser unverschämten, undankbaren Person... das war eine makabere Situation. Und wieder war alles nur seine Schuld! In diesem Augenblick wusste sie nicht recht, ob sie ihre Tat wirklich bereuen sollte, immerhin war ihr nichts geschehen. Seufzend folgte sie der leichten Kurve um das nächste Haus. Einmal würde sie noch rufen, ohne Antwort würde sie die Sache als erledigt ansehen. "Flúgar?" Das Geräusch von plätscherndem Wasser ließ sie aufschauen und der Anblick, der sich ihr bot, zwang sie augenblicklich dazu, dem Szenario ruckartig den Rücken zuzukehren. Woher sollte sie denn bitte wissen, dass er sich ausgerechnet hier am Brunnen aufhielt? "Falls dir an deinem Leben etwas liegen sollte, hör auf meinen Namen durch die Gegend zu plärren." Als ob das jetzt das Problem gewesen wäre. Hätte er nicht zu einem anderen Zeitpunkt seinen speziellen Waschritualen nachkommen können? Zum Beispiel dann, wenn sie sich nicht gerade in seiner Nähe aufhielt? Gut, nötig hatte er es wohl, aber... kannten Dämonen denn überhaupt keine Scham? Es schien ihn nicht zu kümmern, dass sie ihn gesehen hatte. Ihr hingegen war es peinlich. Sie hielt es für nötig sich zu entschuldigen. "Gomen, ich wollte nicht..." Sie bekam ihren Satz nicht einmal zuende gesprochen, als er ein verärgertes Schnauben von sich gab. "Verklemmtes Menschenweib." Bitte? Fast hätte sie sich umgedreht um ihm einen scharfen Blick zuzuwerfen, hatte es glücklicherweise aber doch unterlassen. Sie war eben nicht so freizügig wie er, na und? Vor anderer Leute Augen musste man sich ja auch nicht völlig entkleiden, allein aus Höflichkeit nicht und vor einer Frau schon gar nicht! Er besaß kein Fünkchen Anstand. Außerdem fehlte ihr das Verständnis dafür, wie man sich freiwillig mit so kaltem Wasser in Berührung bringen konnte. Schon allein die Vorstellung ließ sie frösteln. Warum tat sie sich das an? Wenn er nicht ging, würde sie es einfach angehen und von hier verschwinden, er schien soweit genesen, dass er fähig war alleine klarzukommen. Hier hielt sie - realistisch betrachtet - nichts mehr. Zugegeben, die Sache wirkte ziemlich überstürzt, aber es hatte weder Sinn noch Grund weiterhin zu bleiben. Und warum warten? Sie konnte genauso gut jetzt wie morgen früh oder Abend gehen, das blieb sich letztlich gleich. Entschlossen entfernte sie sich von dem Dorfbrunnen, brachte den Tempel in den Zustand, in dem sie ihn vorgefunden hatte und trug ihr beinahe spärlich erscheinendes Reisegepäck zusammen. Dann sprach sie ein letztes Gebet für die von ihr beigesetzten, getöteten Dorfbewohner und lief eiligen Schrittes in Richtung des Haupteinganges um das Dorf zu verlassen. Sie durchschritt das Tor, bereitete sich auf den schwierigen Abstieg vor. Herunter zu kommen bewies sich eindeutig schwerer als hinauf. Die Lage des Dorfes war nicht unbedingt vorteilhaft, wenn man vorhatte es oft zu verlassen. Diese steile Anhöhe war unpraktisch, einen Wagen brachte man wohl nicht sicher nach oben, geschweige denn nach unten. Aus ihren Gedanken gerissen, hielt sie plötzlich inne, stand mit einem Mal vollkommen still. "Gibt es einen plausiblen Grund dafür, dass du mir nachläufst?" Sie bemühte sich nicht den genervten Klang ihrer Stimme zu unterdrücken, er konnte ruhig wissen, wie sehr er sie störte. Sie hatte sich nicht einmal umgedreht. "Sicher gibt es den." Mit dieser Antwort konnte sie nicht viel anfangen, sein Verhalten war eine Wissenschaft für sich. Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie überhaupt nicht ausstehen konnte, also was bitte sollte das jetzt werden? "Der da wäre?" Es klang nicht wie eine Frage, sie wunderte sich über ihren eigenen Ton. Allerdings gab er ihr doch allen Anlass dazu, jetzt nahm sie es schon in die Hand zu gehen und dann das! Was ging in seinem - wohl eher beschränkt funktionalen - Gehirn vor sich? Sie warf einen leichten Blick über die Schulter, musterte ihn schweigend. Selbst seine Kleidung war sauber, was bedeutete das denn jetzt? Etwa ein männlicher Dämon, der seine Klamotten wusch? Alleine? Freiwillig? Mit ihm konnte irgendwas einfach nicht stimmen, das passte schlichtweg nicht zusammen. "Warum du mich nicht getötet hast, interessiert mich nicht, Fakt ist, du hast es nicht. Ein Leben hat seinen Wert, und der steht nun aus." Er sah sie nicht einmal ansatzweise an, starrte auf die riesige Waldlandschaft, die sich vor ihnen über den gesamten Horizont ausdehnte. In seiner tiefen, gleichmäßig gehaltenen Stimme hörte sie eines glasklar heraus. Was er gesagt hatte, gefiel ihm nicht und was er damit meinte wusste sie nicht. Sie würde wohl nachfragen müssen, auch wenn ihm das noch um einiges weniger gefallen würde. "Was bedeutet das?" Behende drehte sie sich halbwegs zu ihm um, versuchte ihm in die Augen zu sehen, in der Hoffnung, er würde die Gestik erwidern, aber das blieb aus. Mit etwas Anderem war nicht zu rechnen gewesen. "Schulden." Jetzt schien alles klar. Aber... Sie sah ihn an, deshalb verhielt er sich so unhöflich... seit er wusste, dass er sein Leben wahrscheinlich ihr verdankte, musste er sich... wie fühlte man sich als Dämon, wenn man einem Menschen etwas schuldete...? Erniedrigt... das war der Grund für seine Misslaunen. Irgendwo hatte sie Verständnis dafür; wenn er tatsächlich zu den hochrangigen Mitgliedern seiner Rasse zählte und das hier bekannt wurde, war die Schande groß. Natürlich, das konnte ihn wohl alles kosten; seinen Rang, seine Ehre, den Platz in seiner Sippschaft, sein Leben und seinen Stolz, was ihm bestimmt am Härtesten treffen würde. Und sie war Schuld, aufgrund ihres Handelns würde er in diese Situation geraten. Aber was hätte sie sonst tun sollen? Ihn töten? Was die größere Schande war, blieb schlussendlich egal. Wie es auch gekommen wäre, keine Möglichkeit hätte ihn aus dieser Sache unschändlich befreit. Er sollte froh sein, dass er noch lebte, ein verschwendetes Leben hätte auch einiges an Unheil mitgebracht. In jedem Falle wäre es zu einer miserablen Situation gekommen - für sie beide. Außerdem machte er ihr keine Vorwürfe, seiner direkten Art nach, hätte er sich deswegen längst beschwert. Wie er seine Schulden genau begleichen wollte, wusste sie nicht und danach zu fragen war wohl eine äußerst schlechte Idee. Wortlos drehte sie sich zurück in Laufrichtung, achtete weniger auf den Weg als zuvor, diese Begebenheit mit den Schulden beschäftigte sie mehr als das. Mit einem Dämon zu reisen, würde garantiert Schwierigkeiten mit sich bringen, bei gastfreundlichen Leuten war sie allemal willkommen, aber sobald sie wussten, was er war, würde es Probleme geben. Sie seufzte, hielt am Fuße des Anstiegs wieder inne. "Bist du sicher, dass du mitkommen willst? Du weißt ja selber, dass der allergrößte Teil der Menschen einen ziemlichen Hass auf Dämonen hegt." Er hielt sichtbar Abstand von ihr, den Blick noch immer in die Ferne gerichtet. "Mit ,wollen' hat das nichts zu tun." "Das heißt, du musst ..." Stumm nickend lief sie weiter, an den großzügig angelegten Reisfeldern des Dorfes vorbei, betrat schließlich wieder den Wald. Wohin sie ging, wusste sie auch nicht so genau, es würde sich irgendwie etwas ergeben; er sollte nur nicht merken, dass sie keine bestimmten Pfade nahm und sich von ihrem Gefühl leiten ließ. Sie war noch nie wirklich gerne alleine unterwegs gewesen, es war durchaus gefährlich als Frau alleine durch die Provinzen des Reiches zu reisen. Aber ob sie sich über diese Begleitung freuen konnte, war noch unklar. Wenn er schon sagte, er hätte Schulden bei ihr, dann würde er sie mit Sicherheit nicht irgendwelchen Fremden - seien es Menschen oder Dämonen - überlassen. Das galt zumindest zu hoffen. Einzig beunruhigend empfand sie, dass sie ihn momentan weder hören noch seine Aura spüren konnte. Es fühlte sich eigenartig an zu wissen, dass jemand da war, ihn aber nicht wahrzunehmen. Allzu gesprächig war er ja auch nicht; ihr wäre wohler bei einem Gespräch gewesen, aber darauf würde er sich nicht einlassen. Im weiteren Verlauf des Tages ereignete sich streng genommen nichts. Wir schwiegen uns gegenseitig an. Nur die typischen Geräusche des Waldes unterbrachen diese Stille, die nicht daher rührte, dass wir uns nichts zu sagen hatten. Mir wären hunderte von Fragen eingefallen, die ich ihm hätte stellen können, deren Antworten mich wirklich neugierig machten. Aber ich traute mich nicht, sie einfach so zu äußern; es erschien mir irgendwie unhöflich einen Fremden mit Fragen über seine Rasse und sich zu löchern, wenn man ihn nicht einmal dabei ansah. Da er mir folgte und sich nicht neben mir aufhielt, blieb es mir vehement verwehrt. Der Abend kam rascher als ich es erwartete hatte, die Dämmerung brach bald herein, kündigte die kommende Nacht an. Es war kälter als die Abende zuvor, um ein Feuer würde ich nicht herum kommen, ob ich schlafen konnte würde sich herausstellen. Eine geeignete Stelle fand sich auch schnell, ich entschied mich am Ufer des kleinen Flusses, dessen Lauf ich wohl unbewusst den ganzen Tag lang gefolgt war, auf einer kleinen Lichtung, die von Lärchen und riesigen Kusunoki - die für diese Gegend absolut untypisch waren - umringt war, zu bleiben. Es war am Praktischsten. Zufrieden sah ich mich um. Erst in diesem Augenblick fiel mir auf, dass er im Vergleich zu den letzten Stunden ziemlich zurückgefallen war. Als er dann in einigen Metern Abstand mein Blickfeld kreuzte und an mir vorbeilief, hörte ich seinen schwerer liegenden Atem. Er machte nicht den Eindruck als würde es ihm gut gehen. Woran das lag erkannte ich erst, als er sich setzte, einen der großen Bäume zum Anlehnen benutzte. Er vermied jede Bewegung mit dem linken Arm und lagerte ihn mit höchster Vorsicht in seinem Schoß; er schloss die Augen, legte den Kopf gegen die glatte Rinde des Stamms. Ob sich der Zustand der Wunden verschlimmert hatte? Auf jeden Fall konnte ich mir das nicht weiter ansehen, wenn er wirklich Schmerzen hatte würde er auch keine allzu heftige Gegenwehr leisten. Nur wusste ich nicht genau, wie ich es am besten anging. Improvisation war wohl die beste Lösung, sich etwas vorzunehmen, das ohnehin nicht funktionierte, hatte wenig Sinn. Ich hielt mich zunächst auf Distanz, musterte ihn weiterhin. Schon das alleine passte ihm nicht, aber diesmal würde ich nicht auf seine lautstarke Drohung eingehen. Ich wusste auch nicht so recht, wo ich ansetzen sollte, es war unsinnig zu fragen, wie er sich fühlte, die Antwort darauf kannte ich bereits. Langsam kniete ich in geringerer Entfernung vor ihm ab, hielt meine Stimme leise. "Flúgar?" Wenigstens reagierte er noch, auch wenn er die Augen nur einen Spalt öffnete, sah mich diesmal an. Deren glasiger Schimmer verriet mir Weiteres über seinen Zustand. Er tat mir leid, aber das gefiel ihm sicherlich auch nicht. Warum ich mir Sorgen um ihn machte, fragte ich mich auch noch. Als ich die Hand nach ihm ausstreckte, sah ich wieder umso deutlicher wie dankbar und kooperativ er sich mir gegenüber verhielt; mit meiner Annäherung wandte er den Kopf zur Seite ab, verspannte die Muskeln und drückte seinen Körper gegen den Baum, intensivierte den dunklen Laut merklich. Mich behielt er im Augenwinkel, ihm entging nicht die kleinste Bewegung. Ich verstand, dass er meine Hilfe geflissentlich ablehnte, aber es kümmerte mich nicht, es ging nun mal nicht immer nach dem eigenen Willen. "Wenn du mich es nicht wenigstens einmal anschauen lässt, ist es morgen noch schlimmer. Stell dich doch nicht so an!" Oberflächlich betrachtet gab er kein Stück nach, aber es interessierte mich wenig, zumindest machte er keine Anstalten sich anderweitig zu widersetzen und das würde ich nutzen. Ich ignorierte es, wendete mich seiner Verletzung zu, brachte wahrscheinlich ebenso viel Mut wie Behutsamkeit auf - was passierte wenn ich ihm - aus Versehen - wirklich wehtat, wollte ich nicht am eigenen Leib erfahren. Trotz seiner miserablen Verfassung ließ er mich nicht frei gewähren, er beobachtete mich, er traute mir kein bisschen über den Weg; Letzteres beruhte auf Gegenseitigkeit. Vielleicht sollte ich ihm das nicht verübeln, was sollte man denn sonst von Menschen denken wenn man auf ihrer Abschussliste ganz oben stand? Es war verständlich, aber so beschränkt war er auch wieder nicht, dass er nicht erkannte, dass ich nicht zu dieser Sorte zählte. Vielleicht hatte er auch einfach keine Vorstellung was eine Priesterin tat, möglich war es immerhin. Andererseits war mir ebenfalls nicht wirklich bewusst, was ich von ihm halten sollte... eigentlich entsprach er ziemlich genau dem, was man sich erzählte: brutal, menschenverachtend, eiskalt, emotionslos, aggressiv und blutgierig. Manches davon konnte ich bis jetzt noch nicht bestätigen, aber es würde zu ihm passen. Ich schob ihm den Ärmel hoch bis über den Ellbogen, rätselte derweil, aus welchem Stoff nun seine Kleidung wahrhaftig bestand, lenkte letztendlich meine volle Aufmerksamkeit auf den Verband und die darunter befindliche Wunde. Und es verwunderte mich doch, dass er mich - streng genommen - so gewähren ließ wie ich wollte. Entweder hatte er es verstanden oder er konnte nichts dagegen tun. Er hielt still, selbst als der Verband gelöst war und ich einigermaßen vorsichtig die kaum verheilten Wundmale abtastete. Es hatte sich nicht viel getan, dabei hieß es doch, Dämonen regenerierten sich so überaus schnell. Wie kam das? "Weißt du, warum es nicht heilt?" Für einen Moment stellte er den Ausdruck seines Missfallens ein, holte mehr Luft als mit den vorangegangenen Atemzügen. "Drachengift." Seine Stimme klang gepresst, es schmerzte anscheinend doch ziemlich. Moment. Drachengift? Bei diesem mir fremden Toxin handelte es sich tatsächlich um Drachengift? Was man dagegen unternahm, war ich nie gelehrt worden, richtig helfen konnte ich ihm nicht. Die Kräuter-Mixtur war nur eine Übergangslösung, ein noch stärkeres und vor allem wirksames Anti-Toxin kannte ich nicht... wie bekam ich nur das Gift aus ihm heraus? Und wie kam er eigentlich zu so einer Vergiftung? Hatte er sich vielleicht mit dem grünen Drachen angelegt? Dieser süßliche Duft war in dessen Umgebung besonders intensiv wahrzunehmen gewesen. Irgendwo würde das doch einen Sinn ergeben. Angenommen Flúgar hatte den anderen Drachen besiegt und die Dämonenjäger waren kurz darauf erschienen, er hatte einen Teil getötet und dann das Dorf ausfindig gemacht... das klang doch ganz plausibel. Aber für diesen Drachen waren die Bissmale an seinem Körper zu klein, das Gebiss des Drachen konnte unmöglich so wenig ausmachen, gegen diese Tatsache verhielten sich die Fakten hier beinahe mickrig; wohl aber nicht ungefährlich. "Wie man so eine Vergiftung heilt, entzieht sich meines Wissens, als Priesterin lernt man nichts über Drachengifte..." Es tat mir leid, dass ich in diesem Punkt nichts vorzuzeigen hatte. Und was weiter? Ehrlich gesagt, hatte ich keine Ahnung. "Damit komme ich alleine klar. Verschwinde." Irgendwie glaubte ich das nicht... er klang zwar ziemlich sicher, aber mehr auch nicht. Unzufrieden mit der präsenten Lage, erneuerte ich den Verband, ließ von ihm ab, seiner äußerst abfälligen, barschen Anordnung mehr oder weniger nachkommend, und verschwand im nächstgelegenen Teil des Waldes, um Feuerholz zu suchen. Oder ich versuchte mich dadurch abzulenken - das war auch gut möglich. Vielleicht war ihm seine derzeitige, offensichtliche Schwäche unangenehm, nein, eher peinlich. Er versuchte jetzt noch es zu verbergen, obwohl ich es längst wusste. Auf die Idee, dass ich diese Begebenheiten für mich behalten würde und dass er sich vor mir nun wirklich nicht dafür schämen musste, dass er verletzt war, kam er nicht einmal. Mit ihm reden verhalf mir nicht wesentlich weiter. Er meinte, er würde alleine damit klarkommen... und warum war er dann der festen Überzeugung, ich hätte ihm vorher sein Leben bewahrt? Hochgradig wirksam war meine Mixtur nicht, diese Rückfälle bestätigten das. Wenn er schon halbwegs im Delirium gelegen hätte, wäre es mir aufgefallen. Und immerhin kannte er seinen Körper um Einiges besser als ich, er sollte schon wissen mit was er zurechtkam und mit was nicht. Selbst wenn nicht, hätte er nicht nach Hilfe gefragt, würde wohl lieber daran zu Grunde gehen als sich von einem Menschen helfen zu lassen; selbst schuld! Ich sollte meine Gedanken etwas mehr im Zaum halten oder zumindest das ausführen, was ich ehrlich über ihn dachte. Fakt war, er würde von sich aus diese erworbene Schande durch mich nicht noch weiter ausdehnen. Zudem schuldete er mir noch etwas, einfach abtreten konnte er nicht. Es brachte doch ohnehin nichts, sich weiter damit zu beschäftigen! Wenn er meinte klarzukommen, dann würde das schon seine Richtigkeit haben. Als ich zurückkehrte und auf die freie Fläche trat, war es bereits dunkel geworden. Der voller werdende Halbmond sandte ein silbriges Licht auf die kleine Lichtung am unmittelbaren Ufer des leise vor sich hinmurmelnden Flusses, spiegelte sich auf seiner ruhigen Oberfläche und brachte sie an einigen Stellen, wo sich das Wasser kurz darunter kräuselte, zum Glitzern, tauchte die Umgebung in ein sanftes, angenehmes Grau, warf halbdunkle Schatten über das weiche, nachgiebige Gras. Flúgar schlief. Der kalte Wind schien ihn nicht zu stören, es zeigten sich nicht einmal annähernd Anzeichen davon, dass er womöglich fror. Im Gegensatz zu vorhin war seine Atmung ruhig, seine Züge entspannt, vielleicht erholte er sich wirklich wieder von alleine. Für einen Mörder würde man ihn nicht halten, wenn man ihn so sah, er wirkte unschuldig auf den Betrachter und vermittelte eigentlich den Eindruck, als gäbe es auch ein paar weichere Züge in seinem Gesicht - von denen er keinen Gebrauch machte. Seltsamerweise stimmte mich das wirklich ein wenig heiterer und ich machte mich daran, das Holz anzuordnen und ein Feuer zu entzünden. Schlafen würde ich nicht können, es war einfach zu kalt und auch ein Feuer würde mich nicht gänzlich aufwärmen. Ich schmunzelte; wenn Flúgar wüsste, wie er aussah wenn er schlief, würde er es garantiert nie wieder tun; einem Dämon ähnelte er nämlich am wenigsten... ּ›~ • ~‹ּ ***>>> Kapitel 6: >"Im blassen Licht der Morgensonne geben sich die rastlosen Seelen zu erkennen, die auf ewig darauf verdammt sind ziellos umherzuirren. Die Begegnung mit den Windgeistern hinterlässt bei manchem spürbaren Nachdruck, während sich der Geruch von Menschen mit dem des Waldes vermischt..." *» Henge Kapitel 6: *~Henge~* -------------------- "Wie leicht doch bildet man sich eine falsche Meinung, geblendet von dem Glanz der äußeren Erscheinung." – Jean Baptiste Molière Kapitel 6 - Henge -Erscheinung *Welche Auswirkungen haben Erinnerungen, Geschehnisse aus der Vergangenheit und Erfahrung auf die Reaktion und das Betragen des Einzelnen? Prägen schlechte Erlebnisse wahrhaft mehr als gute? Und wo liegt der Unterschied zwischen gut und schlecht, wenn man wichtige Erkenntnisse aus diesen vergangenen Vorfällen gewinnen kann?* ּ›~ • ~‹ּ »Der Wind legt sich, kommt sachte zur Ruhe. Leblos taumeln die Kirschblüten einfach zu Boden, bedecken die Erde mit einem sanften Rosa. Die Sonne erscheint langsam wieder hinter der dichten, weißen Wolkenfront, beleuchtet die vollkommene Veränderung der Umgebung, entlockt den liegenden Blüten ihren matten Schimmer. Der Ort gleicht einer Ruine, unwiderruflich liegt alles in Trümmern. Die dürren Bäume sind beinahe kahl, sichtlich mitgenommen, ein Großteil der empfindsamen Blättchen zerriss in der Gewalt des vergangenen Augenblicks. Im Hintergrund plätschert leise der Bach, unbeeindruckt, von den Geschehnissen nicht beeinflusst. Die Angstschreie sind längst verklungen, der Geruch von Panik und Tod liegt noch deutlich wahrnehmbar in der Luft, betört die empfindlichen Sinne. Es ist ein Schaubild, das von roher Kraft, grenzenloser Wut und einem unzügelbaren Temperament zeugt. Kein Anzeichen von Reue. Das Kind steht regungslos inmitten der eigens angerichteten Zerstörung, unbekümmert, unberührt. Es interessiert es nicht. Für einen Moment entglitt ihm die Kontrolle, für einen Moment verlor es die Beherrschung... in diesem kurzen Moment passierte es. Einfach so. Es war nicht seine Schuld. In den hellen Augen zeigt sich nichts, Leere, die von höchster Jugend sprechenden Züge sind wie starr, eingefroren, das vorliegende Szenario spiegelt sich darin, mehr nicht. Es war keine Absicht. Sein Instinkt trieb es in die Enge, es wusste sich nicht anders zu helfen, die Situation war ohne Aussicht. Es wollte sich selbst schützen. Emotionslos, mit absolut neutralem Ausdruck fixieren die Augen den von Blütenblättern bedeckten Gegenstand, die kleinen Hände greifen danach. Ein rotes Windrad. Nun steht es still, vollkommen, der Wind schweigt dazu. Das lebenswichtige Element Luft besiegelte den Untergang, stellte sich als tödlich heraus. Der Gegensatz in sich liegt in dem Kind. "Warum hast du das getan?" Eine sanfte Frauenstimme durchdringt in einem leisen Ton die vom Tod zeugende, vorherrschende Stille. Ihre schlanke Gestalt zeichnet sich zwischen den strikt abwärts fallenden Kirschblüten ab, stellt deren Schönheit bei weitem in den Schatten. Das matte Rosa betont die feminine Figur, die zarten Gesichtszüge. Ihre atemberaubenden, erhabenen Präsenz ehrte einst diese Siedlung. "Ich hasse dich." Es sieht nicht auf, dreht sich nicht um, hält das Windrad fest in Händen. Hass und Wut verzerren seine kindliche Stimme, entstellen die grundsätzlich weichen Züge, verstärken die Härte und eisige Kälte. Weiterhin verbleiben seine Augen ohne Reaktion, ohne Emotion... Ich hasse dich...« Der Morgen kam rasch, der Himmel zeigte langsam ein blasses, durchscheinendes Blau und die Luft war angenehm frisch und rein. Die Sonne blinzelte verschlafen über die hohen Baumwipfel, warf nur vereinzelte, schwache Strahlen in den Wald und auf die Lichtung, stieg gemächlich herauf; dünne Nebelschwaden waberten über dem klaren, indigofarbenen Wasser des leise plätschernden Flusses. Die Abreise musste wohl noch ein wenig warten. Im Gegensatz zu mir, die die Nacht über kaum ein Auge zugetan hatte, schlief er immer noch seelenruhig. Die Kälte schien ihm nicht im Geringsten etwas anzuhaben, er zeigte keinerlei Reaktion in dieser Richtung. Eigentlich empfand ich es nicht als Zeitverlust... zum ersten hatte ich es nicht eilig, zum zweiten gefiel mir der Anblick, den Flúgar beim Schlafen darbot... andererseits - hätte ich unter Zeitdruck gestanden - hätte ich auch warten müssen. Sein Katana steckte vor ihm im Boden, umgab ihn mit einer Art Barriere, die mich schon bei leichter Annäherung deutlich abwies. Er vertraute mir kein Stück. Gut, ich tat es ihm in dieser Beziehung gleich, es beruhte auf Gegenseitigkeit. Jedem das Seine, ich gönnte ihm ja irgendwo seine Ruhe, insbesondere aufgrund seines Zustandes am gestrigen Abend. Die Erholung hatte er wohl bitter nötig, ansonsten hätte er sich nie dazu durchgerungen in meiner Anwesenheit zu schlafen und sich damit mir auszusetzen. Naja, mehr oder weniger, immerhin lag zwischen ihm und mir noch diese Barriere. In der kühlen Morgenluft regte sich etwas, bereitete mir ein flaues Gefühl in der Magengegend. Wie feiner, durchscheinender Nebel bewegte sich etwas durch die Luft, wand den länglichen Körper so wie es eine Schlange zu tun pflegte, streifte ab und zu durch die Kleidung hindurch meine Haut, ließ mich frösteln. Die wagen Silhouetten nahmen die Farbe von weißem Dunst an, schlängelten sich an mir vorbei, wanden sich für einige Augenblicke um mich, verloren dann sofort wieder das Interesse. Aus jeder Himmelsrichtung strömten sie herbei, kamen hinter den Bäumen, aus dem Unterholz und den Büschen ringsum hervor. Ich drehte mich um; allesamt bewegten sie sich auf Flúgar zu, durchdrangen ohne erkennbare Schwierigkeiten die Barriere. Im Gegensatz zu mir wandte sich ihre Aura nicht gegen den Schutzwall aus Energie, verschmolz für einen Moment damit, erreichte so das Innere. Erklären konnte ich mir dieses Phänomen überhaupt nicht, so etwas war mir bis dato noch nicht untergekommen. War das eine besondere Art von Dämonen? Ihre Leiber waren nicht greifbar, boten keinerlei Widerstand dar, meine Hände glitten bei dem Versuch sie zu erfassen einfach so durch sie hindurch, als wären sie nichts weiter als geformter Nebel. Eine Nebelkreatur, die durch Magie erweckt und zusammengehalten wurde? Es war immerhin eine Möglichkeit, aber ich wusste es nicht wirklich. Fakt war, sie waren mir unheimlich, ihre Nähe unangenehm, ich vermochte sie nicht einzuschätzen. Mir war nicht einmal klar, ob sie feindliche Absichten hatten oder sich nur von Flúgar's Präsenz angezogen fühlten. An mir schienen sie jedenfalls keinen Gefallen zu finden, ich war bestimmt nicht der Grund für ihre Anwesenheit. Durch den weißgrauen Nebelknäuel aus schlangenartigen Leibern glomm fahl ein hellblaues Licht; ich meinte das Schwert aufleuchten zu sehen. An dieser Stelle begann sich die Sicht zu lichten und alsbald erkannte ich Flúgar's aufrechtstehende Gestalt. Das Schwert verschwand in der weißen Scheide, die bizarren Wesen legten sich um den Körper des Dämons. Er schien sich nicht daran zu stören, ließ sie gewähren. Das erstaunte mich, was für Wesen konnten das sein, dass jemand wie er ihnen ernsthaft erlaubte, ihm so nahe zu kommen? Ungläubig beobachtete ich die Bewegungen der eigenartigen, genau genommen körperlosen Wesen, die wie Motten um ein Lagerfeuer schwirrten, sich in der Luft um und über ihm tummelten, als würden sich ihre Energien wie gegensätzlich gepolte Auren anziehen. "Was ist das?" Meine Stimme war so leise, dass ich sie selbst kaum vernahm, diese Nebelerscheinungen beunruhigten mich ungemein, die Frage hatte ich einfach stellen müssen, ich brauchte Gewissheit und war ziemlich sicher, dass er ganz genau wusste, um was es sich hier wirklich handelte. "Vindursandar... Windgeister." Für einen flüchtigen Augenblick hatte er mich angesehen, bevor er seinen Blick wieder abrupt abwandte und mir nur noch die Seite seines Körpers preisgab; er ließ nicht zu, dass ich auch nur die Gelegenheit bekam, ihm ins Gesicht zu blicken. Mit der rechten Hand fuhr er über die schlanken, teils nur schemenhaften Körper der von ihm als ,Windgeister' bezeichneten Kreaturen, löste den Nebel, aus dem sie bestanden, in Bruchteilen eines kurzen Momentes auf. Mit dieser einen Bewegung hatte er sich einem Großteil von ihnen entledigt, aber stetig strömten neue von ihnen herbei. Damit kam die endgültige Erkenntnis. Es waren keine Dämonen, es waren wahrhaftig Geister, rastlose Seelen, die nur hier und da einmal zu gewissen Zeiten in Erscheinung treten konnten und dann auch nur für einen sehr begrenzten, einen kurzen Zeitraum. Wo der Begriff Windgeister herkam, konnte ich mir allerdings nicht daraus erschließen. Ob ich danach fragen sollte? Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, den er natürlich nicht erwiderte, sondern abschätzig überging und ignorierte. "Was zeichnet einen Windgeist aus?" Ungelogen, darauf wollte ich um jeden Preis eine Antwort. Am liebsten hätte ich ein bittendes Lächeln hinzugefügt, aber das würde bei ihm mit Sicherheit nicht helfen. Erwartungsvoll sah ich ihn an, wartete auf eine Reaktion, auf die Antwort, die ich mir so herbeisehnte. Vorsichtig trat ich einen halben Schritt zur Seite um zumindest sein Profil vor Augen zu haben, ich führte nun mal nicht gerne eine Unterhaltung, wenn ich meinem Gegenüber nicht einmal ansatzweise ins Gesicht schauen konnte. Mir war als würde er innerlich seufzen, als er kurz die Augen schloss, den rechten Arm leicht ausstreckte und die Handfläche nach oben drehte. Kurz über seiner Hand sammelten sich kleine hellblaue, mit weiß durchzogene Energiekristalle aus seinem direkten Umfeld, verschmolzen zu einem winzigen, kaum erkennbaren Energiefeld in Form einer Kugel, unsichtbar für das Auge eines gewöhnlichen Menschen, aber ich sah es; Flúgar sammelte die Energie seiner Aura und die seines Elementes, vergleichbar mit dem, was ich getan hatte, als ich den Versuch unternahm, ihm die Seele zu entziehen. Es glich dem meinen wenig, fast gar nicht... allerdings nahm ich dass viel deutlicher wahr als das ich es erblickte. Keinen Wimpernschlag nach dem aufkeimen dieser Quelle an Energie strömten die verbliebenen Geister darauf zu, umschwärmten die kleine Bündelung an besonderer Kraft. "Windgeister werden von Energien angezogen, die dem Element Luft unterstellt sind." Eine klare Aussage, mit der ich nicht gerechnet hatte. "Und wie kommt es zu dieser Prägung?" Flúgar ließ die kleine bläuliche Kugel schlagartig verschwinden, schloss die Hand und ließ den Arm sinken, wandte sich nun deutlich von mir ab, drehte mir den Rücken zu. "Das kommt auf ihre einstige Existenz an." Damit war unsere Konversation - wenn man das denn so nennen konnte - vorüber. Ich hatte bekommen, was ich wollte und ehrlich gesagt war ich ihm dafür dankbar. "Arigatou." Jetzt konnte ich mir ein leichtes Lächeln nicht untersagen, immerhin hatte er mich nicht sofort abgewiesen und mir willig drei meiner Fragen beantwortet. Es war mir egal, dass er das kommentar- und reaktionslos so stehen ließ, ich vermutete, er nahm es auf seine eigene Art und Weise schweigsam zur Kenntnis.. ּ›~ • ~‹ּ Es war kurz nach Mittag, als der Wald sich allmählich lichtete und das verstrickte Unterholz endlich verschwand, bald leuchtete das satte Hellblau des Himmels durch das stetig dünnerwerdende Blätterdach der vereinzelten Baumkronen bis hinab auf den mit Laub bewährten, jetzt leichter passierbaren Boden. Kaum eine Wolke war am Firmament zu erspähen, die Sonne schien und der ab und zu aufkommende Wind war ausgesprochen mild. Seit dem Vorfall mit den Windgeistern - der jetzt den zweiten Tag zurücklag - war kein Wort mehr gefallen, weder zwischen uns noch hatte jemand ungerichtet etwas geäußert. Mir selbst missfiel diese Schweigsamkeit, viel lieber hätte ich ihm noch einige Fragen gestellt, nicht nur auf den Verbleib der schlangenähnlichen Geister bezogen. Ich hielt einen Seufzer zurück, zumindest war ich im Moment nicht alleine; irgendwie beruhigte es mich zu wissen, dass Flúgar sich in unmittelbarer Nähe befand. Er mochte zwar seine Aura gut zu verbergen wissen, ich spürte trotz dessen einen - zugegeben sehr kleinen - Teil seiner Präsenz. Mittlerweile hatte ich meine Orientierung zurückgewonnen und schlug nun zielstrebig den Weg in Richtung Norden ein. In kurzer Zeit würde der Wald gänzlich enden und auf offenes Gebiet, eine weite, kurzgrasige Ebene, sie sich aber schließlich in einer bergigen Hügellandschaft verlor, führen. Ich kannte diese Gegend gut, nicht allzu fern von hier war ich aufgewachsen und bald schon würden wir Kakougen No Kyou erreichen, ein Dorf, in dem ich eine Weile lang gelebt hatte. Egal wie es auch gekommen wäre, ich hätte in jedem Fall dorthin zurückkehren müssen, und das nicht aufgrund von Heimweh oder Sehnsucht nach Menschen, die ich kannte und in gewisser Weise auch zu schätzen und zu mögen gelernt hatte. Nein, für meine kurzzeitige Rückkehr gab es einen völlig anderen Anlass. Erleichtert atmete ich auf als ich die letzten Bäume passierte und auf den Pfad am Waldrand hinaustrat, mit Freude die weite Ebene überschaute. Es fühlte sich gut an hier zu sein, kaum einmal war es mir wirklich zumute das, was ich gerade empfand, ganz offen zu zeigen. Dies war einer dieser eher seltenen Augenblicke. Ich warf einen Blick über meine Schulter, sah Flúgar an, dessen Miene genauso kalt und unantastbar erschien, wie jedes andere Mal, als ich ihm ins Gesicht geschaut hatte. Er wirkte auf mich abwesend, konzentriert auf etwas, das ich nicht wahrnahm. Seine neutralen Züge entspannten sich sichtlich, als eine leichte Brise die stille Landschaft streichelte, sich behutsam an jeden aufkommenden Widerstand schmiegte. Für einen Moment schloss Flúgar die Augen, er genoss die sanfte Böe, die flüchtig an seiner Haut entlang strich. Nach dem Ereignis mit den Windgeistern zu urteilen, war sein Element ebenfalls die Luft, aus der präsenten Situation und seinem Verhalten schloss ich eine tiefliegende, enge Verbundenheit. Bis heute war mir so etwas noch nicht untergekommen; die Dämonen, mit denen ich bis zu jenem Zeitpunkt zu tun gehabt hatte, waren mit ihren Kräften nicht an ein Element gebunden gewesen oder hatten die Fähigkeit besessen, eines der Elemente zur Hilfe für ihre Zwecke zu nutzen. Es war außergewöhnlich, er war außergewöhnlich - selbst für einen Dämon. Seltsamerweise beruhigte mich dieser Gedanke ungemein.... irgendwie hatten wir etwas gemeinsam; wir waren beide nicht gewöhnlich. Allerdings wusste ich nicht, wie seine Artgenossen zu seinen Fertigkeiten standen. Ob er aufgrund dessen alleine unterwegs war? Hatte seine vermeintliche Gabe ihn - genau wie mich - zum Einzelgänger gemacht? Es war wohl ein eher schlechter Einfall ihn danach zu fragen, schließlich wäre mir eine Frage in diesem Zusammenhang auch überaus unangenehm gewesen. Dieses Thema anzusprechen brächte höchstwahrscheinlich Nachteile für mich. Ich beließ es dabei, so, wie es war, es war sicherlich besser. Ich blinzelte, als ich unbeabsichtigt in die Sonne schaute, senkte meinen Kopf wieder auf die ursprüngliche Höhe und beobachtete den Wandel in Flúgars Zügen. Als er die Augen öffnete, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck drastisch, er fing meinen Blick mit seinem ab. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich den Hass und die Verachtung, die Abscheu, die er empfand, für einige Sekunden in seinen Augen ausmachen konnte. Seine kalte Aura flackerte kurz gefährlich auf, ein Zittern durchlief meinen Körper, kroch an meiner Wirbelsäule hinab, schlagartig wurde mir furchtbar kalt. Was veranlasste ich zu solch einer heftigen Reaktion? War mir unbewusst einer meiner Gedanken entfleucht? So rasch wie es über ihn gekommen war, verschwand es auch wieder; seine Züge erlangten ihre gewohnte Emotionslosigkeit zurück und er wandte sich von mir ab, kehrte mir den Rücken zu und zeigte mir überdeutlich, wie sehr ihm die Umstände nicht in den Sinn passten. Sein launenhaftes Betragen war mir ein Rätsel; ob er... nein, wir waren noch zu weit entfernt, als dass er die Menschen hätte wittern können, oder nicht? Aber warum hätte er sonst so reagieren sollen? Ich war ehrlich betrachtet absolut überfragt, rätselte weiter herum, während ich mich wieder in Bewegung setzte und dem breiteren Pfad folgte. Die Begegnung mit den Windgeistern bereitete mir noch immer ein stetes Unbehagen in der Magengegend; ich hätte es lieber vermieden. Es hatte einige Gedanken in mir hochgebracht, die ich schon lange Zeit verdrängt und in die Tiefen meiner Erinnerungen verbannt hatte. Jetzt kreisten sie wieder an der Oberfläche meines Verstandes, materten ihn mit Fragen, auf die ich keine Antworten wusste, und unwiderruflichen Erkenntnissen, die ich längst gewonnen und zur selbigen Zeit auch schon verflucht hatte. Mir gelang es nicht, meine Gedankengänge auf etwas Anderes zu konzentrieren oder gar umzulenken, in meinem Kopf lief alles gegen meinen Willen, ich kam nicht davon weg, so sehr ich es auch anstrebte. Erst, als mir mit einem Mal der Wind eine äußerst unerfreuliche Kunde brachte, drängte mein Hirn das Aufeinandertreffen mit den rastlosen Geistern in den Hintergrund. Die Witterung war zugegebenermaßen schwach, aber dennoch eindeutig... Menschen. Mein Körper spannte sich ohne mein Zutun an, etwas in mir sträubte sich immens dagegen auch nur noch einen einzigen Schritt in Richtung Norden zu tätigen; dieses Weib strebte zweifellos eine Siedlung an und hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich sie auf eine solche Entfernung ausmachen konnte. Sie sah mich an, auf ihren Lippen spielte ein leichtes, ehrliches Lächeln, aber ihre Freude teilte ich keineswegs; für einen Augenblick übermannten mich die Aggressionen, die sich schlagartig in mir aufstauten, wenn ich daran dachte, was sie sich als Zielpunkt gesteckt hatte. Was plante dieser Mensch wirklich? Es hielt nicht lange an, und ich war froh darüber. Meine auflodernde Wut brachte mich oft an die Grenzen meiner Selbstbeherrschung, es fiel mir schwer, es unter Kontrolle zu halten; natürlich gestand ich mir diese Tatsache nicht gerne ein, offen gar nicht, aber das war die Wahrheit. Mein kaum zu zügelndes Temperament würde mir vielleicht sogar einmal zum Verhängnis werden... Schwierigkeiten hatten sich dadurch schon sehr früh ergeben, als Kind war ich machtlos dagegen gewesen. Mein Instinkt war stärker als mein Verstand, als mein Wille, aber wie hätte es jemals anders sein können? Ich war mehr Tier als alles andere, mein Instinkt sicherte mir das Überleben, im Notfall war mein Instinkt der Ausweg. Einst hatte ich es wirklich geglaubt, doch mit der Zeit kam meine Einsicht; außer mir schien kein anderes Mitglied des Clans ein derartiges Problem zu haben. Ich war alleine damit, mir konnte niemand helfen. Der leise Spott blieb mir nicht lange verborgen, ich machte meinem Vater Schande und ich schämte mich dafür. Der Sohn des leuchtenden Morgensterns, der zukünftige Erbe des mächtigsten Oberhaupts, den der Clan der Loftsdrekar im Osten jemals vorzuweisen hatte, war nicht in der Lage, seine eigenes Temperament zu zügeln, so diszipliniert zu sein, wie es sich für eine hohe Persönlichkeit von edlem Blute wie ihn gehörte. Mit meinem Erbantritt befürchtete man den entgültigen Untergang der gesamten Dynastie, niemand setzte ernsthaft Hoffnung in mich. Aber irgendwann änderten sich die Meinungen, ich war den anderen in Bezug auf Stärke und elementabhängiger Befähigungen weit überlegen, schon vor meiner vorläufigen Volljährigkeit hatte ich mir den mir gebührenden Rang erkämpft. Bald forderte mich niemand der bei Sinnen war mehr heraus, niemand verlor mehr ein höhnisches Wort über mich. Es kümmerte mich nicht im Geringsten, ob sie mir gegenüber nun Respekt oder Angst erwiesen, es war mir egal... Bis dahin war ich wenig daran interessiert, auf welche Art mein Vater herrschte, ich wusste darüber genaugenommen nichts. Aber mit meinem aufkeimenden Interesse an seinen Methoden, wurden meine Zweifel an ihrer Effizienz immer größer; ich verstand bei bestem Willen nicht, warum er eine Allianz mit den Menschen anstrebte. Der eine Teil von ihnen verabscheute ihn, bezeichnete ihn als einen blutrünstigen, feindlichgesinnten Dämon, dem es nur nach mehr Macht und der Vernichtung der Menschheit gierte; der andere Teil verehrte ihn wie einen Gott, betete ihn an, brachte Opfergaben dar und fiel vor ihm unterwürfig auf die Knie, wann immer er in Erscheinung trat. Ich verstand weder ihn und seine Taten, noch die Menschen, die ihn mit dem Wort Kami betitelten. Seine Prinzipien entsprachen in keinster Weise den meinen, immer öfter eskalierten unsere Gespräche zu aggressiven Diskussionen. Er war ein Ignorant, ich schien ihm egal zu sein und meine Meinung nichtig; ich hasste ihn. "Komm schon!" Die Stimme der Priesterin riss mich abrupt aus meinen Reflexionen; ich hatte tatsächlich nicht bemerkt, dass sie längst weitergegangen und ich immer noch regungslos an der selben Stelle verblieben war. Ihrer Tonlage und dem freudigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sie ihre gute Laune beibehalten und lief jetzt flott voraus. Es sollte mir egal sein, ich schüttelte den Kopf; einzig der Fakt, dass sie direkt auf ein Menschendorf zusteuerte, behagte mir weniger als alles andere, in gewisser Weise beunruhigte es mich. ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Vindursandar - Windgeister Kakougen - Kraterebene Kyou - Dorf, Heimatdorf ***>>> Kapitel 7: >"Menschen verhalten sich berechenbar - im Gegensatz zu Dämonen, und wenn beide Rassen aufeinandertreffen, kann es zu keiner klaren Situation kommen. Gefährlich wird es allerdings auch, wenn die Absichten von Anfang an festgelegt sind..." *» Áreynsla Kapitel 7: *~Áreynsla~* ----------------------- "Denn zuweilen ist dem Menschen Schmerz dienlicher als Gesundheit, Anspannung nützlicher als Ausspannung, Zurechtweisung förderlicher als Nachsicht. So wollen wir in guten Tagen nicht übermütig werden und im Unglück nicht verzagen und zusammenbrechen.[/i"] – Gregor von Nazianz Kapitel 7 - Áreynsla -Anspannung- *Aus welchem Grund sind böse Vorahnungen und schlechte Omen etwas, von dem Menschen nichts hören wollen? Ist es, weil sie das Gesicht von der Wahrheit abwenden, die die harte Realität ihnen stellt? Oder eher eine bestimmte Art von Schutz der eigenen Seele, damit diese nicht in die Fänge der dunklen, Verzweiflung bringenden Hoffnungslosigkeit fällt?* ּ›~ • ~‹ּ Der Weg, dessen Rand von Higanbana und Karasu-Uri, die kurz vor ihrer Blüte standen, gesäumt war, führte weiterhin am Waldrand entlang, bog erst nach einer größeren Distanz den üppig mit Gras und niedrigem Kraut bewachsenen Hügel hinab und bot einen guten Ausblick über das anliegende Tal. Die Gegend wirkte durch ihre Überschaubarkeit karg und leer, das Gelände war flach, ohne Bäume und hohe Sträucher; hier schien es weder Tiere noch Menschen zu geben. Es war still und dem Auge präsentierte sich bloß ein monotones Bild der sich ewig dahinziehenden Graslandschaft mit vereinzelten Farbtupfern, die weit auseinander lagen und sich in Inseln zusammenscharrten; Flúgar langweilte die Umgebung, Midoriko hingegen schien sie zu gefallen. Zeitweise beschleunigte sie ihre Schritte, hielt dann inne um kurz auf Flúgar zu warten, damit er aufschloss und den gehabten Abstand zwischen ihnen wieder herstellte, legte währenddessen den Kopf zurück in den Nacken und blickte in den Himmel hinauf, beobachtete die langsam vorbeiziehenden, bauschigen Schäfchenwolken. Einen Sinn erkannte er in ihrem eigenartigen Verhalten nicht, er ignorierte es geflissentlich und hielt derweil seine eigenen Schritte gleichmäßig in einem bleibend mittleren Tempo. Sie kamen gut voran, ließen auch die Anhöhe des nächsten Hügels schnell hinter sich und erreichten schließlich den höchsten Punkt des gegenüberliegenden, kleinen Berges, der einen fantastischen Aussichtsplatz über ein weitreichendes, tiefer gelegenes Tal darbot. Riesige Felder und ausgedehnte Viehweiden bestimmten die Gestalt der großflächigen Ebene, waren rings um die Siedlung selbst angelegt. Schmale Grasstreifen trennten die Anbaugebiet der Bauern voneinander ab, es gab kaum Bäume, bloß einige Sakaki und eine einzeln stehende, knorrige Salweide etwas außerhalb; eine Quelle entsprang unweit einer felsigen Klüftung, verlor sich alsbald in Wiese und Feldern. Aus jeder Himmelsrichtung führte jeweils ein breiter Weg in den besiedelten Teil der von Menschen geprägten und veränderten Landschaft. Von dort oben sah man deutlich das rote Torii und den Tempel im Zentrum, den großgehaltenen Dorfplatz, der es umschloss sowie den regen Menschenfluss, der sich durch die engen, sehr belebten Gassen drängte. Der Geruch von Menschen in der Luft wurde, je näher sie dem besiedelten Gebiet kamen, stetig intensiver, Flúgar hatte die Grenze seiner Toleranz in dieser Hinsicht längst überschritten, er hielt es kaum noch aus. In ihm weigerte sich alles heftig gegen einen weiteren Schritt geradeaus, alle rationalen Denkvorgänge rückten allmählich in die hintersten Ecken seines Verstandes und büßten jede Verfügbarkeit ein. Langsam aber sicher begann sich die Sache zu verselbstständigen und sein klares Denken auszuschalten, seinen Instinkt zu wecken; Flúgar fürchtete um seine Beherrschung, er würde es nicht halten können. Die präsente Situation verweigerte es ihm auch nur irgendwie einen richtigen Gedanken zu fassen, sein Kopf fühlte sich furchtbar leer an; das Einzige, das er noch wusste, war, dass er nicht wollte... um keinen Preis... "Am besten bleibst du in meiner Nähe, dann... Flúgar?" Seine Abwesenheit äußerte sich bemerkbar, fesselte ihn strikter, versagte ihm fast vollkommen die Wahrnehmung. Er wirkte beinahe apathisch, zuckte erschrocken zusammen, als sie ihn erneut ansprach, ihre Stimme in einem milden Ton gehalten, der Klang von Sorge bestimmt. Er hob den Kopf und sah die junge Priesterin direkt an; sein Blick war eigenartig, unklar wie von Nebel verschleiert, aber so ehrlich wie Midoriko es bis jetzt noch nicht gesehen hatte. In seinen Augen spiegelte sich vor allem eines: Unsicherheit; dahinter stand etwas Undefinierbares, etwas Fremdartiges, Dämonisches und eine beklemmende, ungestalte Leere. Sie blinzelte verwirrt, zog die Augenbrauen fragend zusammen, aber er reagierte nicht darauf, sondern starrte an ihr vorbei auf die Siedlung. Sein Körper stand selbst für die Miko sichtbar unter äußerster Anspannung. Was war nur los mit ihm? Mit Bedacht näherte sie sich ihm, streckte die Hand eher zögerlich nach ihm aus; ihre Fingerspitzen berührten kaum seine Schulter, veranlassten ihn aber augenblicklich dazu, heftig aufzuschrecken. Mit einer ruckartigen Bewegung entzog er sich der wagen Berührung und warf ihr einen eindeutig bösartigen, drohenden Blick zu, zwang sie zurück auf eine - für ihn - zumutbare Entfernung. Sein kehliges Knurren wurde von einem fremden, beängstigendem Ton durchzogen, der nicht einmal mehr einem ungemein aggressiven Tier zuzuordnen war. Er wirkte mehr wie ein Dämon als an jenem Tag, als sie ihn das erste Mal auf dem Dorfplatz der Dämonenjäger zwischen all den Leichen zu Gesicht bekommen hatte. Sie verspürte eine nahezu panische Angst in sich hochsteigen, wich einige kurze Schritte zurück, ihre Augen vor Schreck geweitet, geradewegs auf ihn gerichtet. Die Art und Weise, wie sie ihn ansah, durchzuckte seinen Verstand wie ein Blitzschlag, beförderte ihn in die Realität zurück; Erinnerungen kamen in ihm hoch, er kannte diesen Ausdruck viel zu gut, als dass er ihn jemals hätte vergessen können, wünschte, ihn niemals in seinem Leben kennen gelernt zu haben. Bilder zogen an seinem inneren Auge vorbei, ein Schaudern durchlief seinen Leib, stückweise kehrte seine Besinnung zurück, die Kontrolle seines Instinkts schwand von Sekunde zu Sekunde. Er atmete hörbar aus, sammelte sich, wandte sich von Midoriko ab, den Kopf gen Boden gesenkt; Flúgar fühlte sich seltsam benommen. Er war froh darüber, zumindest blieb es ihm so erspart, sich bis ins kleinste Detail zu erinnern und die momentanen Begebenheiten zu überdenken. »"Das ist deine Angelegenheit, damit musst du selbst zurechtkommen." Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust, sein Blick war bestimmend und vor allen Dingen streng, herab auf seinen Sohn gerichtet. "Aber-" Er schnitt dem Kind mit einer Handbewegung sofort das Wort ab, seine Züge wurden hart und gleichermaßen unbarmherzig, sein Ton ließ keinen Widerspruch mehr zu. "Ich will zu diesem Thema nichts mehr hören, gar nichts! Hast du das verstanden, Sonur?" Der bedrohliche Unterton in der Stimme des ClanOberhauptes blieb nicht im Verborgenen, hallte förmlich im Saal, in den Fluren zwischen den Wänden wieder. Das Kind senkte den Kopf und starrte auf den Boden, schwieg, grub die spitzen Eckzähne in seine Unterlippe. Ihm entfuhr ein Schnauben, das sowohl seine Wut, als auch seine Enttäuschung über das Missverständnis seines Vaters ausdrückte. Er zwang sich dazu den in ihm aufwallenden Zorn so gut es ging zu verstecken, zu unterdrücken, verschwand dann rasch aus der Sichtweite des mächtigen Clanführers...« Flúgar erinnerte sich zu diesem Zeitpunkt besser an dieses Gespräch als er es bisher getan hatte, lebhaft spielte sich die Szene noch einige Male in seiner Imagination ab; es kam ihm so vor, als würde es keinen Tag zurückliegen, als wäre es die gegenwärtige Lage. Aber eben diese gestaltete sich völlig anders; während Flúgar in Erinnerungen versunken war, hatte Midoriko die Gunst der Stunde genutzt, ihn am Ärmel gepackt und hinter sich mit in das dichte Gedränge in die Straßen der Siedlung gezogen. Der jungen Priesterin war von vornherein bewusste gewesen, dass es durchaus ein erhebliches Risiko war, ihn einfach so mit ins Dorf zu bringen. Auffällig war er, vielleicht nicht unbedingt sofort als Dämon, eher als ein Adeliger, der durch das Reich zog, aber lange würde die Erkenntnis der Masse wohl nicht auf sich warten lassen. Selbst gewöhnliche Menschen spürten Gefahr, wenn sie ihnen drohte und da sie jeden Dämon als potenzielle Gefahrenquelle abtaten, würde ihnen ihr Gefühl schnell verraten, was es mit Flúgar wirklich auf sich hatte. Hoffentlich hatte ihre Begleitung die Nerven und die nötige Disziplin, sich so zurückzuhalten, dass weder die Dorfbewohner noch er Schaden davontragen würden. Es trat das ein, was Midoriko im Stillen prognostiziert hatte; die Blicke, die die beiden unvermeidlich auf sich zogen, waren misstrauisch, skeptisch, die Leute hielten gebührenden Abstand und begannen hinter vorgehaltener Hand zu flüstern, wüste Vermutungen anzustellen, als die Miko und ihr fremder Begleiter an ihnen vorübergegangen waren. Unzählige, von Abfälligkeit und Argwohn geprägte Augenpaare folgten den Bewegungen der beiden, hielten sie sicherheitshalber in ihrem Blickwinkel fest. Nut allzu deutlich spürte die Priesterin die Reaktionen der hiesig angestammten Bauern, ihre vorurteilsvollen, missgünstigen Blicke, die sich ihr förmlich in den Rücken brannten und ihr folgten; nicht einmal den Mut, es vor ihr, vor ihren Augen zu tun, brachten sie auf. Es beschämte sie, die meisten dieser Leute zu kennen und ihnen geholfen zu haben. Sie schüttelte den Kopf, vertrieb die Gedanken über die Oberflächlichkeit und Ignoranz der Menschheit. Midoriko stolperte rückwärts und fiel fast, als sich plötzlich ein unerwarteter Widerstand auftat und sie gewaltsam zurückzog. Erschrocken drehte sie den Kopf zur Seite und realisierte, dass Flúgar aus seiner Paralyse erwacht, wieder voll bei Sinnen war und sie ansah, als wäre sie das personifizierte Böse und hätte gerade, mit dieser Tat, den Weltuntergang heraufbeschworen. Mit einer kurzen, ruckartigen Bewegung riss er ihr unwirsch den weiten Ärmel seines zweifarbigen Haoris aus der Hand. Sie warf ihm einen strengen Blick zu, drückte deutlich ihr Missfallen über seine unangebrachte Grobheit aus, machte ihm unmissverständlich klar, dass dies weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für ein Streitgespräch oder sonstiges in dieser Richtung war. "Los, komm mit." Sie war um einen neutralen Klang in ihrer Stimme bemüht, es war schlichtweg nicht die rechte Situation um die wahren Standpunkte kundzugeben; die Dörfler mussten nicht wissen, dass sie ihm freiwillig das Leben gerettet hatte und er sich dadurch gezwungen sah, sich bei ihr angemessen zu revanchieren. Nein, sie war nicht hergekommen um ihn in aller Öffentlichkeit mit dem gesamten Dorf als Publikum zu schikanieren, das hatte sie bei Weitem nicht nötig und es musste einfach nicht sein. Die Miko sah ihn noch kurz eindringlich an, drehte ihm dann den Rücken zu und begann sich einen Weg durch die unförmige Menge zu bahnen; Flúgar würde ihr folgen, ihm blieb genaugenommen nichts Anderes übrig als ihr zu folgen, er hatte keine Wahl. Selbst für jemanden wie ihn musste es riskant sein, sich mit den vielen Leuten hier anzulegen und er wusste, dass sie selbst nicht auf seiner Seite stehen würde. Einerseits behagte es ihr nicht zu wissen, dass sie ihn gewissermaßen zu Dingen zwang, die er partout nicht wollte; andererseits war es seine Entscheidung gewesen, sich in dieser Weise erkenntlich für das zu zeigen, was sie für ihn getan hatte. Für den Moment wusste sie nicht so recht, wie sie über die ganze Angelegenheit denken sollte. Nach der Ehrung der hiesigen Kami, dem guten Essen der hier seit Jahrzehnten lebenden Priesterin und einer erholsamen Nacht würde sie sicherlich besser nachdenken können. Der Tempel und der dort ganz in der Nähe befindliche Schrein von Kakougen No Kyou waren etwas höher gelegen als alle umliegenden Hütten und bildeten das Zentrum des Dorfes sowie gleichermaßen das des großen Tales. Von oben gesehen machte es den Anschein, als gingen alle großen Wege, die durch das bebaute Gebiet und aus eben diesem hinausführten, von genau diesem Punkte aus. Ohne Mühe bewältigte Midoriko die weitgefassten, mit dünnem Holz befestigten Stufen des leicht erhöhten Plateaus, eilte - schier von Vorfreude beflügelt - zielstrebig in die Richtung der Hütte der ansässigen Miko, Hinoe, eine Dame höheren Alters, der sie großen Respekt entgegenbrachte, wie sie es bei sonst kaum einem Menschen tat. "Hinoe-san?" Die junge Frau spähte durch den mit einer dünnen Strohmatte abgehängten Eingang der Holzhütte in das spärlich beleuchtete Innere. Zögerlich schob sie die provisorische Tür zur Seite, betrat die bescheidene Behausung; die alte Priesterin war nicht hier, aber sie würde wohl nicht lange wegbleiben, sonst hätte sie das Feuer gelöscht. Midoriko vermutete sie beim Gebet oder der Ehrung der Kami der Region. Sie kniete auf dem Tatami, der vor der Feuerstelle ausgelegt war, ab; sie würde hier auf die alte Miko warten. Nachdenklich sah die junge Priesterin in die langsam erlischende Glut, begann sich um den Verbleib ihrer Begleitung Gedanken zu machen. Er war ihr gefolgt, das wusste sie sicher, aber wo er jetzt war konnte sie nicht sagen. Wo sollte er denn hin sein? Flúgar war absolut fähig auf sich selber aufzupassen und zurechtzukommen, sie brauchte sich nun wirklich keine Sorgen um jemanden wie ihn zu machen. Vielleicht war es ja auch nicht unbedingt direkt wegen ihm, die Reaktion der Dorfleute auf ihn beunruhigte sie eher, sie traute den meisten nicht über den Weg. Die Brutalität und Grausamkeit, die sie Dämonen gegenüber bereits oftmals bewiesen und hemmungslos an den Tag gelegt hatten, das war es, was sie beunruhigte. Gnade kannten sie genauso wenig mit den Youkai, wie diese mit ihnen; es schien, als würden alle nur nach einem einzigen Prinzip handeln: Auge um Auge, Zahn um Zahn; das Feuer mit Feuer bekämpfen. Dadurch wurde alles nur noch schlimmer, aber das interessierte sie entweder keineswegs oder sie realisierten es nicht. Midoriko zweifelte am Verstand der Menschen in dieser Beziehung, sie dachten nicht nach, ihr blinder Hass und die Wut machten sie zu größeren Ungeheuern als es der Großteil der Dämonen war; Ausnahmen bestätigten die Regel, und es gab Ausnahmen. Ein leises Rascheln ließ sie aufschrecken, sie wandte ihren Blick zum Eingang. Wenn man vom Teufel sprach... eine Lächeln huschte über ihre Lippen, sie drehte sich leicht zur Seite. "Kaneko-chan!" Die Angesprochene miaute, hüpfte leichtfüßig näher heran und sprang der Miko auf den Schoß, rollte sich dort zusammen und genoss die Streicheleinheiten, die man ihr dort zu Teil werden ließ. Kaneko schnurrte zufrieden, schmiegte den kleinen Kopf an die warme Handfläche der Priesterin, schloss genießerisch die roten Augen. Midoriko strich über das hell beigefarbene Fell der doppeltgeschweiften Katze, kraulte sie hinter den Ohren. Aufgrund dessen war sie zurückgekehrt; sie hatte ihre langjährige Weggefährtin für den Auftrag in dem kleinen, nicht allzu weit entfernten Provinzdorf, hier, in Kakougen No Kyou, bei der alten Hinoe gelassen, da sie ohnehin vorgehabt hatte, weiter in den Nordwesten des Reiches zu ziehen. Das niedliche Äußere täuschte, Kaneko war definitiv keine gewöhnliche Katze: sie war ein Dämon, aber friedlich gesinnt, treu ergeben und anhänglich. Damals hatte die Priesterin sie verletzt von einem Kampf mit einem Artgenossen im Wald gefunden und es nicht über ihr Herz gebracht, sie dort liegen und qualvoll verenden zu lassen; sie hatte sie zu sich genommen, sie gesund gepflegt und sehr rasch festgestellt, dass das Tier absolut ungefährlich war, trotz der offensichtlichen Zugehörigkeit zur Rasse der Youkai. Ihre Verwandlung mochte einen furchteinflößenden Eindruck auf den Betrachter ausüben und durchaus gewöhnungsbedürftig sein, aber Midoriko hatte ebenfalls schnell erkannt, dass sich dadurch nichts an ihrem ausgeglichenen, liebenswerten Charakter veränderte; der transformierte Dämon war ein begnadeter Kämpfer und stets treu an ihrer Seite. "Midoriko, mein Kind, wie schön dich endlich wiederzusehen. Nun, wie ist es dir ergangen?" Die junge Frau sah auf, mehr oder weniger aus ihren Gedanken gerissen, blickte der betagten Miko ins Gesicht, musterte deren freundliche, aber auch von Nachdenklichkeit bestimmten Züge; die Gestalt der alten Priesterin war hager, ihr ehemals schwarzes Haar beinahe schneeweiß, doch trotz ihrer Erscheinung wirkte sie weder gebrechlich noch senil, im Gegensatz zu anderen in ihrem Alter hatte sie ihre einstige Form gut gewahrt. Gemächlich ließ sich Hinoe neben ihr nieder, legte einige Holzscheite nach, um das kleine Feuer in Fach zu halten. "Mir geht es gut, wie du siehst. Der Auftrag war rasch erledigt und genaugenommen nur eine Lappalie, nichts Besonderes." Aufmerksam hörte ihr die andere zu, bereitete nebenbei einen Kessel vor, setzte Wasser zum Kochen über den auflodernden, nun höher züngelnden Flammen auf. "Weshalb bist du dann erst jetzt zurückgekehrt?" Sie wandte sich an Midoriko, schaute ihr fragend ins Gesicht, die linke Augenbraue leicht hochgezogen. "Kaneko und ich waren bereits voller Sorge um dich und auch das Feuer erbrachte mir keine klaren Antworten." Die Gefragte senkt den Blick, betrachtete ihren Schoß, noch immer fuhren ihre Finger durch das weiche Fell der dämonischen Katze, noch immer lauschte sie ihrem Schnurren. "Mir ist etwas dazwischen gekommen..." Scheinbar hatte sie weder seine Präsenz gespürt noch ihn gesehen, bis jetzt hatte sie ihn noch nicht wahrgenommen; sollte sie Hinoe von ihrer Begegnung mit Flúgar erzählen? Alles, von Anfang an? War das eine gute Idee? Sie wusste es nicht, rang innerlich mit sich selbst; zum einen wollte sie absolut ehrlich mit der alten Frau sein und sich ihr anvertrauen, zum anderen konnte sie nicht verleumden, dass sie Zweifel an der Reaktion ihrer zeitweiligen Mentorin hatte. Kaneko hatte ihre Akzeptanz erhalten, aber nicht sofort und nicht ohne einen gewissen Widerwillen, wie sah es dann mit Flúgar aus? Das mit ihm war eine ganz andere Sache als das mit dem kleinen Katzenyoukai, es war eine bedeutend größere Angelegenheit und er stellte durchaus eine beträchtlichere Gefahr dar, als ein Dämon, der wie ein gewöhnliches Tier handelte. Auch für sie war er nicht berechenbar, es war nicht vorauszusehen, wie seine Umsetzungen auf bestimmte Verhaltensweisen ausfallen würden. Man sollte die Erkenntnis dessen nicht herausfordern... "Ist alles in Ordnung?" Die Jüngere nickte abwesend, schloss die Augen. Sie sollte es nicht tun. Hinoe war nicht dafür bekannt, ein Freund der Dämonen oder etwas Derartiges, das sich dem annäherte, zu sein, es war eher das Gegenteil; dieses Dorf wurde verhältnismäßig oft von ihnen heimgesucht und die Bewohner pflegten einen besonderen Hass gegen sie, hatten schon etliche getötet und auch in diesem Fall würden sie keine Ausnahme machen, keine Gnade walten lassen... ּ›~ • ~‹ּ Midoriko stand regungslos im hölzernen Türrahmen der Hütte, hielt mit einer Hand die Strohmatte beiseite, während sie die mittlerweile von der Dunkelheit der Nacht verhüllte Landschaft überschaute. In den leeren Straßen, auf den Feldern und Weiden verhielt es sich ruhig, aber ein eigenartiges Gefühl verursachte der Priesterin ein jähes Unbehagen, machte sie nervös. Im fahlen Licht des beinahe vollen Mondes huschten vage Schatten durch die Luft, Fledermäuse auf ihrem Beutezug prägten nun, hier und da einen Falter erhaschend, das Bild am von dunklen Wolken verschleierten Himmel. Ein angenehmer Wind kam ab und an auf, brachte die Blätter des großen, heilig gesprochenen Sakaki vor dem Schrein zum Rascheln, in der Ferne hörte man das schier klagende Heulen der Wölfe. Der jungen Frau wurde es mit der Zeit immer unwohler, irgendetwas stimmte nicht, die nächtliche Ruhe täuschte und die vorherrschende Stille war trügerisch. Aber sie wusste ihre Empfindung nicht einzuordnen, sie konnte nicht sagen, was ihre Nervosität verursachte. Auch Kaneko schien das, was Midoriko große Sorgen bereitete, zu spüren; leise schnurrend schmiegte sie sich an ihre Beine, hielt zuweilen inne um mit gespitzten Ohren in die Finsternis hineinzuhorchen und die Nase prüfend in die lauen Brisen zu recken. Sie verhielt sich im Gegensatz zu sonst äußerst unruhig, angespannt. Nach einem Anhaltspunkt suchend, hob die Miko ihren Blick und nahm das Torii, das jetzt eintönig dunkelgrau wirkte und kalte, lange Schatten über die Tempelanlage warf, genauer in Augenschein. Selbst bei diesen dürftigen Lichtverhältnissen erkannte sie problemlos, um wen es sich bei der finsteren, bewegungslos verweilenden Gestalt dort oben auf dem zweiten Querbalken handelte. Mit Sicherheit hatte auch er diese Anomalität bemerkt und vermutlich wusste er ganz genau, was wirklich vor sich ging. Mit einem beklemmenden Gefühl tief in ihrer Brust, trat Midoriko ins Freie und näherte sich langsam dem torgleichen Gebilde, dass das Symbol ihres Glaubens bildete. Für einen Moment betrachtete sie lediglich Flúgar, der noch immer so still und reglos wie eine Marmorstatue dort oben saß und auf einen imaginären, weit entfernten Punkt starrte. Sie atmete tief aus, lehnte sich rücklings gegen eine der massiven Säulen, schloss die Augen und fixierte anschließend die Gegenseite des Torii mit den Augen. ּ›~ • ~‹ּ ***>>> Kapitel 8: >"Der gierige Hunger nach Macht und Reichtum, aber auch tiefste Angst und Hass verwandeln ein denkendes Wesen in eine wilde Bestie, die vor Wut und Aggressionen schäumt. Das Nachdenken über mögliche Konsequenzen oder unnötige Opfer ist in jenem Zustand ausgespielt..." *» Koriya Kapitel 8: *~Koriya~* --------------------- "Wenn du dich mit dem Teufel einlässt, verändert sich nicht der Teufel, der Teufel verändert dich…"- Unbekannt Kapitel 8 - Koriya -Besessenheit- *Zu was ist ein von Angst und Hass getriebenes Wesen in seinem Wahn fähig? Wie weit, und zu welchen Taten, können sie es antreiben? Verleihen diese Empfindungen ihm die nötige Kraft, um fortzubestehen und sich zu behaupten? Oder ist dies nur eine trügende Illusion - eine, aus der es kein Entrinnen mehr gibt?* ּ›~ • ~‹ּ "Sind deine Wunden gut verheilt?" Es dauerte eine Weile, bis sie selbst wahrnahm, dass sie ihre Frage soeben laut gestellt hatte. Die Priesterin blinzelte, fragte sich, wie er wohl darauf reagieren würde, als er sie unterbrach. "Sind sie." Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen, ließ sie für einen Augenblick das schlechte Gefühl völlig in den Hintergrund drängen und vergessen. Darüber, dass seine Antwort so knapp ausgefallen war, sah sie hinweg. "Das freut mich für dich." Unbewusst schaute sie auf, in seine Richtung, bemerkte, dass er ihr zumindest die Seite zuwandte und ihr nicht - wie sonst so oft - den Rücken kehrte. Das silbrige Mondlicht betonte seine neutral erscheinenden Züge und hob das graue Mandala auf seiner Stirn hervor; seine Augen reflektierten einen Teil des Lichts wie die eines Tieres. "Deswegen bist du nicht hier." Beinahe fühlte sie sich durch seine nüchterne Feststellung ertappt, aber ihr Verhalten war wohl sehr offensichtlich gewesen und Flúgar war anscheinend gut darin, die ehrlichen Absichten zu erkennen; genau wie sie die wahren Beweggründe der Menschen, die ihre Dienste in Anspruch nahmen, sah. "Du hast Recht, das ist nicht der Grund." Midoriko drehte sich um und trat einige Schritte zurück, um den Dämon besser anschauen zu können, da er diesmal zumindest den Anschein machte, als wollte er sie sehen, wenn sie mit ihm sprach. "Irgendetwas stimmt nicht, aber ich weiß nicht, was es ist..." Beiläufig zog sie eine Strähne ihres langen, pechschwarzen Haares vor, spielte nervös daran herum, suchte nach der passenden Formulierung der Worte, die ihr mühselig über die Lippen kamen. Wieder blickte sie nach oben, musterte seinen abwartenden Ausdruck. "Ich bin sicher, du weiß, was hier vor sich geht." Sie sandte ihm einen erwartungsvollen Blick zu, hoffte, er würde verstehen, dass sie die Gewissheit brauchte, die er längst besaß. Flúgar drehte den Kopf zur Seite, beobachtete den Horizont. "Sicher weiß ich das." Schon seit einigen Stunden spürte ich ihre Präsenz, aber erst seit kurzem hatte ich ihre Witterung aufgenommen; es überraschte mich nicht, dass keiner der Wachhunde anschlug, es roch so stark nach Vieh, verbranntem Holz und Mensch hier im Dorf, dass dazwischen selbst für mich wenig auszumachen war, diese Vielzahl an Gerüchen war dermaßen hinderlich, aber die Menschen mit ihren abgestumpften Sinnen nahmen es ohnehin nicht wahr. Die fremden Youkai - Sálarsvipur - waren dabei sich zu organisieren und eine Formation zu bilden, die das Dorf wie ein undurchdringliches Netz umgab und es fluchtweglos einkesselte. Niemand würde ihnen entkommen, ihre Koordination untereinander war ausgesprochen präzise; ungewöhnlich für Dämonen, die grundsätzlich die Körper anderer Lebewesen besetzten, um sie für ihre Zwecke zu benutzen. Der Wind trug mir den Geruch ihrer diesmalig gewählten Wirte zu... Wölfe. Die stupiden Dörfler ahnten nicht einmal etwas von der drohenden Gefahr, sie waren nicht einmal fähig zu erkennen, dass sich das Klangmuster des Heulens der Wölfe in den umliegenden Wäldern ganz plötzlich drastisch verzerrt hatte. Sie würden nicht mehr lange abwarten, die Gunst und Deckung der Nacht würden sie sich nicht entgehen lassen und zu ihrem Vorteil nutzen, um die Siedlung mit möglichst wenig Risiko angreifen zu können. Es war damit zu rechnen, dass dieses Dorf im Morgengrauen mitsamt all seiner Bewohner vollständig vernichtet war. Mich störte dieser Gedanke keineswegs, ich würde sie nicht an ihrem Vorhaben hindern; es war immerhin nicht mein Problem und es gab keinen Grund sich in diesen Konflikt einzumischen. Die Menschen sollten zusehen, wie sie alleine damit klarkamen, schließlich waren sie selbst schuld, dass die Youkai sie so abgrundtief verachteten. Die Vorhut des Rudels streunte bereits auf den Anhöhen der Talränder umher, kundschaftete die aktuellen Umstände genau aus, machten sich ein Bild von der gegenwärtigen Lage; die tieferliegende Ebene war eine perfekte Begebenheit für sie, in diesem Krater fiel es umso einfacher die Menschen zusammenzutreiben und sie in Kooperation mit den anderen Rudelmitgliedern zu hetzen, um den Geruch ihrer Angst und die panischen Schreie zu genießen, nur um sie letztendlich genüsslich in Stücke zu reißen. Diese Dämonen waren machtlos gegen ihre banalen Instinkte, gegen die Blutgier, die sie zuweilen beherrschte und der Hass aus Menschen verwandelte ihren trüben Blick in vollkommene Blindheit. Und wen jemand wusste, dass blinde Aggressionen zu rein gar nichts führten, dann war ich es. Die Priesterin sah mich flehend an, in ihren Augen spiegelte sich die tiefe Ungewissheit, in der sie ihr vorausahnendes, aber grobes Gefühl zurückließ. Ich konnte ihre Nervosität bereits riechen, es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis die Angst, die sie noch im Zaum zu halten wusste, durchschlagen und ihr die Vernunft rauben würde. Verzweiflung begann ihre Züge zu prägen, ihr fehlte für diese Situation der Ausweg; ersuchte sie etwa bei mir Hilfe? Wie kam sie nur auf die Idee, dass es mich überhaupt interessierte, wie sie empfand? Oder wusste sie schlichtweg, dass ich die Antwort parat hatte, nach der sie so fieberhaft strebte? Anscheinend suchte sie Halt in ihrer Verlorenheit bei mir... wie töricht... aber warum? Was veranlasste sie nur dazu? Wieso hielt sie sich nicht an ihr menschliches Umfeld? Die Unsicherheit verfolgte mich schon mein ganzes Leben lang und ich verabscheute es, so machtlos gegen eine simple Empfindung zu sein; ich erinnerte mich zurück an unser erstes Aufeinandertreffen im Lager der Dämonenjäger. Damals war ich vollkommen hilflos gewesen, zu keiner Gegenwehr fähig... sie hatte mich verschont, aus ihrem freien Willen heraus, ihre Beweggründe spielten keine Rolle. Meine Schuld bestand weiterhin, und es war mehr als das. In den Augen bestimmter Personen, beispielsweise meines Vaters, hätte mein Tod mehr bedeutet, als nur den Verlust eines weiteren ClanMitgliedes oder seines Sohnes, viel mehr. Seine Pläne für die Zukunft und den Fortbestand des Clans wären stark gefährdet gewesen und das Wohl des Clans stand über allem. Ich hielt ein Seufzen zurück, lenkte meinen Blick wieder auf die Hügel am Rande des Tals; es wurden beständig mehr und sie fingen an, die Maschen ihres Netzes zuzuziehen. "Kannst du es denn nicht hören?" In stiller Erwartung der korrekten Antwort beobachtete ich sie aus den Augenwinkeln. "Huh?" Außer diesem von Überraschung zeugenden Laut entgegnete sie mir zunächst nichts, sie schwieg in ihrer Nachdenklichkeit, wirkte für einige Momente teilnahmslos; als jedoch die Wölfe ein weiteres Mal ihre nunmehr dämonischen Stimmen in einem disharmonischen Einklang miteinander erhoben und somit die täuschende Stille der Nacht durchrissen, straffte sich ihre Körperhaltung. Sie fasste den Horizont in ihr Sichtfeld. Ihre Züge wurden alsbald von der bösen Vorahnung, die gerade in ihr am Aufkeimen war, überschattet, ließen sie matt und gewissermaßen ungläubig erscheinen. "Wölfe...? Aber..." Atemlos und ohne richtige Betonung formten ihre Lippen jene Worte; die Tatsache trieb Verwirrung in ihr hoch, der unverzüglich darauf folgende, hilflose Blick galt einzig mir. Ich sah sie längst nicht mehr an, vermied jeglichen Augenkontakt, die starke Ausdruckskraft von Emotionen, besonders in den Augen von Menschen, war etwas, das ich einfach nicht ertrug, nicht mehr... In diesen Momenten schloss sich die Formation der Youkai und sie bezogen ihre finalen Positionen auf dem ringsherum erhöht liegenden Talrand; das Heulen verklang, die Ebene verfiel in eine trügende, verhängnisvolle Stille. Der Miko stockte der Atem, sie schien nun endlich zu begreifen, was es mit den Wölfen auf sich hatte; ohne noch eine Sekunde der für sie und alle anderen Menschen verbleibenden, lebenswichtigen Zeit zu verschwenden, ergriff sie die Initiative, machte aus dem Stand auf dem Absatz kehrt und eilte fluchtartig davon, merklich von Hektik und Angst getrieben. Für mich blieb es gleich, was genau geschehen würde, der Verlauf des Gefechts interessierte mich ebenso wenig wie dessen Ausgang; bloß eines behielt ich mir vor: die von Youkai besessenen Wölfe sollten die Dörfler haben und sie töten, es war einerlei, was sie mit ihnen anstellten, jedoch die junge Priesterin würden sie nicht anrühren, ansonsten würde es für sie noch finsterer aussehen, als für ihre Opfer... In meiner Hast schaffte ich es in aller Knappheit den verbleibenden Zeitraum zu nutzen, um das Dorf in Aufruhr zu versetzen, noch bevor die Wölfe die Behausungen erreichten und ihren Angriff starteten. Mir selbst fehlte für jegliche Präparation auf einen Kampf die nötige Zeit, ich fand keine Sekunde um auch nur darüber nachzudenken, Schwert und Rüstung aus Hinoes Hütte zu holen. Somit stand ich ihnen so gut wie schutzlos gegenüber. Viele Möglichkeiten blieben für mich nicht offen stehen, ich blickte dem Gefecht wahrhaftig mit einer gewissen Furcht entgegen. Ohnehin kämpfte ich nicht bevorzugt, aber ich hatte keine Wahl, es verblieb kein weiterer Augenblick mehr zum Nachdenken... Unzählige, rot glühende Augenpaare durchbrachen die tiefe Schwärze der Finsternis, kamen beständig näher, erschienen mal hier, mal dort, nur um augenblicklich wieder zu verschwinden und urplötzlich an einer anderen Stelle aufzutauchen; das bedrohliche Knurren schien von überall, aus jeder erdenklichen Richtung, zu kommen. Holz barst, splitterte, die Wölfe brachen von allen Seiten geräuschvoll durch die dürftigen Umzäunungen, die sonst als Schutz gegen wilde Tiere dienten, stoben im vollen Tempo weiter vorwärts, stur geradeaus, durch die Gassen der Siedlung, rittlings auf die zur Auseinandersetzung bereiten Menschen zu. Ohne weiteres Zögern fielen sie gnadenlos über die aussichtslos unterlegenen Dorfleute her, schlugen ihre Fänge unbarmherzig ins Fleisch ihrer mittellosen Opfer, brachten sie mit Leichtigkeit durch Einsatz ihrer Körpermasse zu Boden und rissen sie wortwörtlich mit wenigen Bissen in Stücke. Ihre Bösartigkeit und Aggressivität erschien grenzenlos, unermüdlich, so unnatürlich . Die Dörfler hatten keine Möglichkeit, gegen solch eine offensichtliche Übermacht anzukommen; aus so etwas waren sie nicht vorbereitet gewesen. Es waren unzählige Wölfe, wesentlich mehr als es in einem gewöhnlichen, groß angesiedelten Rudel und sie waren riesig, einem Ochsen an Schulterhöhe gleich, an Stärke und Schnelligkeit jedem anderen Wolf weit überlegen. Ganz gleich wie es nach außen schien, ich hatte furchtbare Angst, in meinem Kopf hallten die Todessschreie der Menschen wider, denen die Wölfe in meiner unmittelbaren Nähe die Kehle durchbissen oder den Rumpf erbarmungslos zerfetzten, an ihren schlaffen Gliedern zerrten. Ich war wie gelähmt, ich konnte nichts tun, vor meinen Augen lief alles in seiner Bewegung verlangsamt ab, die todbringenden Angriffe der skrupellosen Bestien und ihr blutbenetzten, weit aufgerissenen Mäuler, die Menschen, die von ihnen angefallen wurden und vergeblich um ihr Leben kämpften. Verzweiflung und eine schreckliche Panik begannen um sich zu greifen, die Leute zu befallen, sie blindlings in ihr Verderben zu treiben. Auch ich spürte diese so unglaublich menschlichen Empfindungen an meinem klaren Verstand nagen, aber um keinen Preis durfte ich die Besinnung verlieren, niemals... ich musste meine Haltung wahren und die beklemmende Lähmung abschütteln, die meinen Körper beherrschte, gefangen hielt. Ich gebot dem Zittern meines Leibes Einhalt, sammelte meine Konzentration, es gab nur eine Chance, diese verbleibende Possibilität musste ich nutzen. Indem ich die Seelen der Youkai läuterte, konnte ich Kakougen No Kyou und die noch lebenden Bewohner retten, das Mindeste, was ich tun konnte, war mit all meiner Kraft einen Versuch zu unternehmen. Ich spürte Kanekos Aura ganz in der Nähe, die Präsenz ihrer transformierten Form, auch sie kämpfte für den Fortbestand der Siedlung, eine Aufgabe konnte schlichtweg nicht in Frage kommen. Meine Entschlossenheit siegte über Zweifel und Angst, ich fand meine innere Ruhe und die notwendige, vollkommene Konzentration, für einige Augenblicke verschwanden die Eindrücke meiner Umgebung, um mich herum wurde es still. Stärker denn je spürte ich die herbeigerufene Energie in mir aufwallen, deutlich fühlte ich meine eigene Macht, die nun im Überfluss strömte und auszubrechen versuchte. Mir wurde bewusst, dass ich mit besonderen Kräften im Bunde sein musste, die mich sicherlich auch befähigten bei falschem Umgang oder gar Missbrauch, große, irreparable Schäden anzurichten. Es brauchte nicht nur meine Überzeugung und meinen Willen, sondern auch mein Herz um die völlige Kontrolle darüber zu erlangen. Nun näherten sie sich mir, und das rasch, aber ich verspürte keine Furcht, ich setzte mein Vertrauen in meine Fähigkeiten, ich würde es schaffen, ich wusste es einfach. Mit nichts als Bestimmtheit und absoluter Sicherheit versetzte ich meinen Ausdruck, nachdem ich die Augen geöffnet hatte und mein Ziel gefasst, in aller Ruhe abwartete, bis die Wölfe zu ihrem letzten, todverheißenden Sprung ansetzten. Genau in dem Moment, in dem die Pfoten ihrer Hinterläufe den Boden verließen, in dieser Sekunde ließ ich der aufgestauten Energie ihren freien Lauf, setzte sie auf das an, was sich mir nun als schwarze, knäuelförmige Energieansammlung präsentierte: die Seele der Wölfe, die meinen Augen nicht weiter verborgen blieb. Mit der Separation, dem eigentlichen Entzug, verlor sich die Schwärze, wandelte sich in eine eigenständige, mit langen Tentakeln versehene energetische Masse, die unter dem Druck meiner nun weiß erscheinenden Kraft allmählich verging, förmlich darin zerfiel. Diese Wölfe waren keine Youkai, sie waren von irgendetwas besessen gewesen und bloß aus diesem Grund hatten sie angegriffen. Denn sonst waren es scheue Tiere, die den Menschen stark mieden und auch nur selten weit außerhalb weidendes Vieh rissen. Ich atmete auf, erleichtert. Aufmerksam beobachtete ich, wie die Wölfe wieder ihren ursprünglichen Zustand annahmen, deutlich erkennbar an Größe verloren, als plötzlich ein heftiger Stoß in die linke Seite mich sofort von den Beinen holte und mit einer Wucht zu Boden riss, die mir beim Aufprall jegliche Luft aus den Lungen trieb. Präzise vermochte ich es nicht zu sagen, aber fast gleichzeitig jagte ein ziehender Schmerz durch meine Nervenbahnen, der seinen Ursprung eindeutig in der Gegend um Schulter und Hals hatte; der heiße Atem eines Lebewesens strich gleichmäßig über meine Haut, blanke Zähne bohrten sich unnachgiebig immer tiefer in mein Fleisch. In diesem Moment dachte ich nicht mehr, es war aus, entgültig... ich schloss die Augen, innerlich resignierte ich... Mit einem Mal verschwand das fremdartige Gefühl sowie der schmerzhafte Druck auf meiner Brust und an meiner Schulter; ich hörte einen durch Mark und Bein ziehenden, schrillen Aufschrei zu meiner Rechten, den man unter keinen Umständen einem Menschen hätte zuordnen können und parallel dazu das lautstarke Bersten von massivem Holz. Benommen richtete ich mich mühevoll auf, wandte meinen leicht verschwommenen Blick instinktiv nach links... "Flúgar...?" Die Kraftlosigkeit machte meinen Körper lahm, ich gab einen gequälten Laut von mir, als ich versuchte, mein Gewicht auf meine Arme zu stützen; ich unterließ es, tastete anstatt dessen, mit einer ahnenden Schwere in der Magengegend belastet, meine linke Schulter ab und wurde schnell davon überzeugt, dass meine Prognose mitten ins Schwarze traf: einer dieser Wölfe war mir unbemerkt nahe gekommen und hatte mich angefallen, seine Fänge in meiner Schulter vergraben und mich beinahe getötet. Erleichtert atmete ich aus, schloss die Augen, um mich herum drehte sich alles, mir war schwindelig und eine gewisse Übelkeit setzte mir mit ihren ständigen Intensitätsschwankungen unbarmherzig zu. Welch ein aufmerksames Mitgift... Unnachgiebig wehrte ich mich gegen die so verführerisch und greifbar nahe wie nie erscheinende Bewusstlosigkeit, schüttelte ihre schwarzen Arme, die sie verlangend nach mir ausstreckte, mich sanft einlullten, ab und versuchte inständig, einen klaren Kopf zu bewahren. Die Situation war nach wie vor angespannt, vermutlich sogar stärker als zuvor, denn nun hatte sich Flúgar gezeigt, wohl nicht gewollt, aber deutlich und offen wahrnehmbar für jede Person, die noch am Leben war. Im Stillen prognostizierte ich, was mir unvermeidbar erschien: sie würden den Versuch unternehmen, ihn zu töten. Ob Flúgar von sich aus eine feindliche Gesinnung offenbaren würde, wusste ich nicht mit Sicherheit zu sagen, ich hoffte es nicht... Die junge Miko lag keuchend auf dem Rücken, die Augen geschlossen, um ihr Bewusstsein ringend. Der Geruch ihres Blutes hing in der Luft, stieg Flúgar in die Nase; er beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während er die Wölfe auf Distanz hielt. Es bedurfte nicht mehr als einem eiskalten Blick und dem abgrundtiefen, grollenden Laut, den Midoriko nur allzu gut von ihm kannte, um den Youkai Einhalt zu gebieten; verwirrt blieben sie auf Abstand, knurrten bedrohlich, fletschten die Zähne, ließen ab und zu ein unschlüssiges, verärgertes Bellen verlauten, näherten sich aber keinen Schritt. Merklich verunsichert trippelten die aggressiven Bestien, von Unruhe gepackt, im Kreis, tigerten ziellos auf und ab, hin und her, inspizierten den leblosen Leib ihres toten Artgenossen, bevor sie sich wieder umwandten und Flúgars Gestalt musterten, ihn abzuschätzen versuchten. Es entsprach nicht dessen Absicht, ihnen durch eine bloße Drohung zu befehlen, diesen Ort zu verlassen und ihm nie wieder unter die Augen zu treten. Nein, keineswegs. Mit dem Versuch einer ihrer Gleichgesinnten, der Miko auf hinterhältige, feige Weise das Leben zu rauben, hatten sie ihr eigenes Unglück selbst heraufbeschworen und ihr Todesurteil praktisch signiert. Flúgar sah sich bloß als ausführender Henker; und der kannte keine Gnade - nicht in einer existenten Form - er würde sie töten, und zwar alle, ausnahmslos; das Rudel war bedingungslos und entgültig dem Untergang geweiht. Ohne Eile schritt er langsam, gelassen mochte man es nennen, auf die monströsen Ungetüme zu, die einstmals Wölfe gewesen waren, aufgeregt hechelten und sofort vor ihm zurückzuweichen begannen, sich eng aneinander drängten; lautlos verharrten sie, starrten ihn mit ihren roten Augen an, folgten jeder einzelnen seiner gemächlich verbleibenden Bewegungen. Die Warnung ihres Instinktes kam zu spät, sie hätten seine mächtige Präsenz niemals übersehen dürfen, denn im Rang hohe Dämonen wie er duldeten unter keinen Umständen so niedere Kreaturen wie sie. Die Panik griff als Kurzschlussreaktion auf die Erkenntnis unmittelbar über, veranlasste sie zu im selben Moment ihre massigen Leiber herumzureißen und hastig kehrt zu machen, in die entgegengesetzte Richtung blindlings zu flüchten, ungeachtet jedes Hindernisses, das sich unweigerlich auftat. In diesem Augenblick wurden Flúgars Züge so finster wie der Himmel in jener Nacht; keinen Wimpernschlag nach der überstürzten Kehrt der Wölfe riss er seine rechte, mit scharfen Klauen bewährte, Hand in die Höhe, ließ sie - für das Auge eines Menschen unerfassbar - durch die Luft schnellen, womit er eine druckwellenartige Sturmböe erzeugte, deren rapide Geschwindigkeit und offensichtliche Schärfe den Großteil der fliehenden Meute sofort einholte und buchstäblich in Stücke riss. Dem bescheidenen Rest setzte er mit einem einzigen, gewaltigen Satz nach, mit dem er sich vor sie brachte, sich ihnen mitten in den Weg stellte und die Prozedur von gerade eben wiederholte, den Wind in unsichtbare, aber messerscharfe, todbringende Klingen verwandelte, die unaufhaltsam durcheinander wirbelten und jeden Widerstand in Bruchteilen von Sekunden zerfetzten. Erschrocken und gleichermaßen entsetzt, ungläubig fixierten die Menschen den vermeintlichen Dämon mit ihren weit aufgerissenen, von Furcht erfüllten Augen, unfähig, sofort auf das eben Geschehene zu reagieren. Es war die alte Hinoe, die sich zuerst wieder einigermaßen fasste, einen Pfeil aus dem Köcher auf ihrem Rücken zog und damit die Sehne ihres Bogens spannte; sie zielte unverhohlen auf Flúgar. Dann entließ sie den Pfeil aus dem wahrenden Griff ihrer Finger, seine Flugbahn schien den sich unmittelbar anbahnenden Treffer zu garantieren; aber nicht einer der überlebenden Dorfbewohner konnte sagen, ob der Pfeil nun getroffen oder sei Ziel verfehlt hatte, das Auftreffen blieb im Unklaren und wurde von der Dunkelheit der herrschenden Nacht förmlich geschluckt. Denn die Silhouette des Dämons war mit einem Mal wie feiner Nebel abgezogen, wie vom Winde verweht, einfach so aus dem Sichtfeld verschwunden, schier in Luft aufgelöst ... ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Sálarsvipur - Seelengeißeln ***>>> Kapitel 9: >"Als die Nacht weicht, und die Sonne die düsteren Schatten vertreibt, kehrt schlussendlich Ruhe ein; die erschöpften Menschen gedenken ihrer Toten, und in dieser misslichen Situation zeigt jeder sein wahres Gesicht..." *» Tilviljun Kapitel 9: *~Tilviljun~* ------------------------ "Das, wobei unsere Berechnungen versagen, nennen wir Zufall." – Albert Einstein Kapitel 9 - Tilviljun -Zufall- *Ist alles, was um uns herum geschieht dem puren Zufall unterlegen? Lässt sich die Zukunft mit wahrscheinlichen und weniger wahrscheinlichen Ereignissen auslegen? Oder hat das Schicksal seine schwarzen Finger der Vorherbestimmung im Spiel, und entscheidet über die Geschehnisse in dieser Welt? Wer bestimmt also unser Leben - der Zufall, oder das Schicksal? * ּ›~ • ~‹ּ Der Morgen begann zu grauen, breitete sich langsam und schleppend über das Tal, über Kakougen No Kyou, aus, vertrieb die nächtlichen Schatten; der Himmel wurde bedächtig blasser, schüchtern lugte die Sonne über die hohen Talränder, sandte ihre ersten zarten Strahlen aus, die vage die obersten Blätter in der Baumkrone des Heiligen Sakaki nahe des Schreins berührten. Auf der Siedlung lastete eine gewisse Schwermut, eine Mattigkeit und Betrübung, die ausnahmslos um sich griff, die Menschen erschöpfte. Der Angriff der Youkai hatte ihnen schmerzhafte Verluste beigebracht und wertvolle Kraft gekostet, man war bedrückt, schweigsam, suchte in diesem so klaren Morgen nach Hoffnung, nach Belebung, Trost. Kaneko lag zusammengerollt neben der jungen Miko, die Ohren wachsam aufgestellt, auf jedes Geräusch, jede verdächtige Bewegung in der nächsten Umgebung horchend. Seit vielen Stunden lag sie auf ihrem Posten und hatte ihn nicht einmal verlassen, bewachte ihre Herrin, um sie im Notfall unter Einsatz aller Macht, die sie aufzubieten hatte, vor jedem Feind zu schützen. Der Nekoyoukai handelte nicht aus Sorge oder etwa Mitleid, etwas Derartiges zu empfinden war ihm nicht möglich, aber die doppeltgeschweifte Katze spürte, dass Midoriko nicht in Ordnung, verletzt war, roch das mittlerweile längst getrocknete Blut. Es weckte ihren Instinkt, dem sie willenlos gehorchte, befahl ihr gut aufzupassen, bis die Priesterin zumindest wieder zu Bewusstsein kommen würde. Außer ihnen beiden hielt sich niemand in Hinoes Hütte auf, sie waren allein. Die Alte war zum Gebet in den Tempel gegangen, schon ehe der erste Stern ausgeblichen war; jene Männer, die die junge Frau kurz nach dem Verschwinden des ominösen, unbekannten Youkai, mit dem sie am Nachmittag zuvor gekommen war, in die Behausung der betagten Dame gebrachte hatten, waren danach rasch wieder gegangen. Um ihre eigenen Wunden zu pflegen, im Schlaf Erholung zu suchen, sich ihrer Familie oder Angehörigen der zahlreichen Opfer anzunehmen. Kaneko hob den Kopf und öffnete ihre großen roten Augen, als sich ihre Besitzerin regte, ihre Liegeposition korrigierte. Ein gedämpfter, aber durchaus wohliger Laut verließ Midorikos Kehle, veranlasste den zierlichen Dämon ein leises Miauen zu äußern. Sie bekam bloß ein komplett unverständliches Murmeln zur Antwort. Beschwerlich drehte sich die Miko auf die Seite, gähnte ausgiebig, bevor sie sich letztendlich doch dazu durchrang, ihr müden Lider ein kleines Stück zu heben. Beigefarbenes, seidiges Fell, fein abgegrenzte, schwarze Zeichnung... "Kaneko-chan..." Zufrieden schnurrend schmiegte diese sich in die Armbeuger der jungen Frau, rieb den Kopf an ihrem Oberarm. Es nahm einige Zeit in Anspruch, bis sie sich vollkommen bewusste geworden war, wo sie sich befand, ihre Orientierung zurückerlangte und einige Bruchteile, vereinzelte Erinnerungen an die letzte Nacht in ihr Gedächtnis zurückkehrten. Plötzlich war ihr Geist hellwach. Sie hatte am Abend mit Flúgar gesprochen, er hatte ihr schlechtes Gefühl und die böse Vorahnung, die sie gehabt hatte, bestätigt. Kurz darauf hatten die Wölfe, die ganz eindeutig von irgendeiner Art Youkai besessen gewesen waren, die Siedlung angegriffen. Ihre Situation hatte sich rasch als beinahe aussichtslos erwiesen, trotz der großen Bemühungen und Kampfgeistes der Dorfbewohner. Sogar die alte Hinoe hatte um ihr Leben und den Fortbestand Kakougen No Kyous gekämpft, aber auch zusammen mit Kanekos und ihrer eigenen Unterstützung hatte es düster ausgesehen... selbst die stärkste Läuterung, die Midoriko in diesen Momenten fähig gewesen wäre heraufzubeschwören und auszusprechen, hätte niemals alle Youkai erreichen können. Sie hatte es am eigenen Leib zu spüren bekommen. Einer der vielen Wölfe, die sie nicht erfasst hatte, war so schnell so nahe an sie herangekommen, dass er sie mit völliger Sicherheit genauso zerfetzt hätte wie so viel der mutigen Dörfler, wäre er nicht gewesen... Sie erinnerte sich genau... Flúgar hatte sie gerettet, sie vor dem Tode bewahrt; aber wie war der Kampf ausgegangen? Und wie stand es um ihn? Ob die Bauern ihn angegriffen hatten? Angesichts ihres Aufenthaltsortes hatten offensichtlich zumindest ein paar der Leute aus dem Dorf überlebt, ansonsten würde sie nicht hier liegen, behütet von Kaneko, auf einem weichen Lager in Hinoes Hütte. ...und er? Die Schwarzhaarige schloss die Augen, konzentrierte sich... Wie sehr sie sich auch bemühte, sie spürte sein Präsenz nicht, entweder er war nicht mehr in der Nähe der Siedlung oder er... Sie schluckte; sie wollte sich gar nicht ausmalen, was alles passiert sein konnte, nachdem sie schließlich doch bewusstlos geworden war, aber sie hoffte innig, dass er wenigstens noch am Leben war. Die Vorstellung beklemmte sie... Sie zog Kaneko dichter an sich heran, vergrub das Gesicht in ihrem kuscheligen, weichen Fell; sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, die Gedanken erst einmal zurückschieben. "Midoriko... wie fühlst du dich?" Die Angesprochene schreckte auf und hob den Kopf. Ihr Blick traf den von Hinoe, die gerade die Hütte betreten hatte. "Wo ist er?" Sie war überrascht, wie leise und schwach ihre Stimme klang, die Worte an sich kamen ihr wie von selbst, völlig automatisch über die Lippen. Im Gesicht der Älteren machte sich ein fragender Ausdruck breit. "Von wem sprichst du?" Für einen Augenblick zögerte sie, aber da sie das Thema jetzt angeschnitten hatte, zwang sie sich dazu, es weiterzuführen, auch wenn sie vielleicht Antworten bekam, die ihr ganz und gar nicht gefallen würden. "Ich spreche von demjenigen, der letzte Nacht mein Leben rettete... Flúgar. Was ist mit ihm?" Die Alte kniete sich nebst Midorikos Lager auf den Boden, musterte deren von Sorge erfüllten Züge, den erwartungsvollen Blick, ihre dunkelbraunen Augen, in denen sich deutlich die Sehnsucht nach Auskunft und Gewissheit spiegelte. Hinoe schwieg eine ganze Weile, ehe sie zögerlich ansetzte. "Du meinst diese verabscheuungswürdige, blutrünstige Kreatur, die mit einem Hieb ihrer Klauen zwei Dutzend dieser Wölfe einfach so in Stücke riss? Diese Bestie in Form eines Menschen, die die Wölfe an Bösartigkeit und Rohheit noch in den Schatten stellte?" Sie brauchte einen Moment, um sich wieder einigermaßen zu fassen, die Gefühlswogen, die ungehemmt über sie hereinbrachen in den Griff zu bekommen. Ihre Stimme überschlug sich zum Ende hin fast, im konkreten Gegenteil zu dem ruhigen Ton am Anfang. Die Greisin nahm einen tiefen Atemzug, fuhr danach, mit einem bedrohlich schwankenden, wütenden Unterton, fort. "Ein paar Leute haben mir erzählt, dass du ihn hierher geführt, dass du ihn gestern Mittag selbst nach Kakougen No Kyou gebracht hast; sie sagten, du hättest es bewusst getan. Stimmt das, Midoriko?" Hass flackerte in ihren rotbraunen alten Augen auf, der sich zu diesem Zeitpunkt direkt gegen die junge Priesterin richtete. Diese nickte bloß schweigend, starrte den Boden an. "Warum hast du das getan? Warum, Midoriko? Bedeutet dir das Dorf nichts? Hast du die Zeit hier, das, was war, bereits vergessen?! Bist du der Menschen so leid, dass du jetzt mit den Dämonen im Bunde bist!" Hinoe war außer sich, ihre Stimme bebte vor unkontrollierbarem Zorn und war so laut, dass man sie ohne jegliche Anstrengungen draußen noch klar verstehen konnte, jedes einzelne Wort. Die Verachtung, die aus ihren Worten sprach, war so prägnant wie niederschmetternd... Die Jüngere reagierte äußerlich nicht darauf, unmerklich, sie ging nicht darauf ein. Sie blieb ruhig, drückte Kaneko an sich, durchbohrte die gegenüberliegende Wand mit einem gleichgültigen Blick, eine gewisse Traurigkeit begleitete ihre Frage. "Wie kannst du nur so selbstgefällig, so leichtfertig über etwas urteilen, von dessen Umständen und Beweggründen du rein gar nichts weißt?" Der Ton gefiel der Anderen überhaupt nicht und die vermeintliche Ruhe der Verletzten schürte ihren Groll ins schier unermessliche; sie schnaubte wutentbrannt, krampfte die Hände in ihren roten Hakama und herrschte die junge Miko rücksichtslos an. "Da gibt es nichts zu wissen! Wegen dir ist das Dorf an den Rand seiner Vernichtung getrieben worden, du scheinst nicht bei Sinnen zu sein, geschweige denn zu wissen, wovon du redest!" Midoriko presste die Lippen aufeinander. Hinoe war im Unrecht, vollkommen, beharrte aber krampfhaft auf das Gegenteil, auf ihre Wahrheit. Sie würde sie nicht umstimmen können, ganz gleich, welche Argumente sie auch immer zu ihrer Verteidigung, der Rechtfertigung und Richtigkeit ihres Tuns hervorbrachte. Andererseits brauchte sie sich nicht zu rechtfertigen; zu welchem Zweck? Die Alte stellte gerade unter Beweis, welche Welten sie und ihre kurzzeitige Schülerin trennten; Hinoe war ein Mensch wie alle anderen, was hatte sie erwartet? Zufälligerweise einen Lichtschein im Dunkel dieser trostlosen Gesellschaft zu erspähen? Womöglich, diese Annahme war nicht abwegig. Aber an diese Art Zufälle glaubte sie schon lange nicht mehr, im Allgemeinen lag es ihr fremd, irgendetwas noch mit der Bezeichnung ,Zufall' zu versehen, es existierten bloß wahrscheinliche und weniger wahrscheinliche Vorhersagen denen die entsprechenden Ereignisse folgten; unmöglich erschien dagegen schwindend gering, wenn nicht sogar nichts. Mit Zufällen hatte das Leben nichts zu tun, es war Bestimmung und mit der Zeit hatte sie eingesehen, dass sie ihrem Schicksal nicht so leicht entkommen konnte. Sie hatte gelernt sich damit abzufinden keinen direkten Ausweg zu sehen oder überhaupt zu kennen. Midoriko hatte sich dem gefügt, was aber nicht bedeutete, dass alle ihr Zweifel erloschen waren... Der Tag schritt voran, die Sonne folgte ihrem gewohnten Lauf und wärmte Erde und Luft nunmehr mit ihren kräftigen Strahlen; der Himmel war hellblau und klar, wolkenlos an jenem Tag. Am späten Nachmittag lag eine angenehme Wärme über dem Dorf, der Wind schwieg, und die Bewohner genossen das ihnen heute freundlich gesinnte Wetter. Sie waren dankbar für solche Tage, denn sie wussten nur zu gut, wie schnell es umschlagen konnte. Die Taifunzeit lag nicht in allzu weiter Ferne und es versprach einen harten Winter in diesem Jahr zu geben, wenn man dem allseits bekannten Bauernspruch "Auf einen heißen Sommer folgt der härteste Winter." Glauben schenkte. Midoriko hatte die Hütte bereits verlassen und bewegte sich, in Begleitung von Kaneko, nun auf die Quelle hinter dem Dorf zu. Ein Unbehagen, das sich nicht so leicht abschütteln ließ, hatte sie erfasst und herausgetrieben. Die bösen Geister, von denen die Wölfe besessen gewesen waren, machten ihr Sorgen; ihr war, als wären sie noch immer in der Nähe und trachteten nach ihrem Leben. Sie fühlte sich seltsam unwohl, sie sehnte das Misogi herbei. Vielleicht hatte es einfach zu lange ausgestanden; mit Sicherheit würde es ihr danach besser ergehen und sie konnte sich wieder auf Wichtigeres konzentrieren. Im langen Gras am Wegesrand zirpten unentwegt die Grillen, die angenehm temperierte Luft war erfüllt von Insektengeschwirr, Vogelrufen, und dem Quaken von Fröschen, ab und an hörte man vom Dorf her das Wiehern eines Pferdes, bellende Hunde oder ein Rind erhob seine tiefe Stimme. Die hier vorherrschende Atmosphäre vermittelte einen harmonischen, beruhigenden Eindruck, unweigerlich begann sich die Priesterin zu entspannen. Eine alte, knorrige Salweide, umgeben von Nokongiku und Kiransou, stand unweit der Quelle, warf ungleichmäßige Teiche von Licht über ihre stille Oberfläche. Geruhsam murmelte der kleine Bach, der in die Wiese floss, das leise Plätschern verursachte das Wasser, wenn es aus einem Spalt in der Klüftung austrat und sanft über eine kleine Unebenheit sprang. Ihre Anspannung verflog, schien sich unter den herrschenden Umständen ganz von selbst aufzulösen, ihre Gedanken waren träge und ungerichtet, eigentlich dachte sie an nichts. Es kam ihr auch eher nebensächlich vor, dass sie ihren Hakama und die Baykue abstreifte, einen Moment absolut regungslos, bloß mit einem dünnen, weißen Yukata bekleidet, dastand und die Augen schloss. Kaneko lag mittlerweile schon zufrieden in der Sonne dösend im Gras, gelegentlich zuckten ihre Ohren, wenn ein Insekt sich darauf niederließ oder ihr Surren sie aus ihrem Halbschlaf zu holen drohte. An einer seichten Stelle setzte Midoriko prüfend einen ihrer Füße ins Wasser und stellte zu ihrer Zufriedenheit fest, dass es eine milde, lauwarme Temperatur hatte, nicht die Eiseskälte innehielt wie jenes, das fortwährend aus der wahren Quelle im Felsen hervortrat. Sie tauchte die mitgebrachte Tonschale behutsam unter und begann ihren Körper mit dem angenehm temperierten Nass zu benetzen. Ein heißes Bad hätte sie wohl bevorzugt, aber das hätte nicht den gewünschten reinigenden Effekt mit sich gebracht und ihr wohl nur zeitlich begrenztes Wohlbehagen gespendet. Gedankenverloren widmete sie sich ausgiebig dem Misogi, vergaß für einen Weile all das, was ihren Geist belastete... Der Angriff der Sálarsvipur auf diese Siedlung war keinem Zufall unterlegen, es war nicht ihre blinde Blutgier, nicht das Verlangen Menschen zu jagen und zu töten gewesen, das sie genau an diesen Ort verschlagen hatte. Nein... sie waren aus einem anderen Grund hierher gekommen... Eine dermaßen große Anzahl von Wölfen fand sich nicht in den umliegenden Wäldern, einige hatten den Geruch von Salz und Meerwasser mit sich gebracht, und die Küstenregionen waren weit von hier entfernt. Ich hatte den unbändigen Hass in ihren Augen sehen können, hinter dem die Angst vor einer einzigen Person gestanden hatte... Midoriko. Ihre Macht war außerordentlich für einen Menschen, ich hatte es am eigenen Leibe erfahren und in der letzten Nacht hatte ich ihre enorme Aura gespürt, die selbst das Youki eines mächtigen Dämons in den Schatten stellte... trotzdem... Dieser einfache Mensch trieb diese minderbemittelten Kreaturen in die reine Panik hinein, raubte ihnen den ohnehin kaum vorhandenen Verstand; sie fürchteten diese Priesterin wie nichts Anderes, ließ sie in einen Wahnsinn verfallen, der ihnen letztendlich allen das Leben gekostet hatte. Das Töten der Miko war ihr Ziel gewesen, der wahre Grund für diesen unüberlegten Zug; in ihrem Wahn hatten sie mein Youki vollkommen außer Acht gelassen und waren mit offenen Augen in ihr Verderben gerannt. Selbst Schuld... Der klägliche Rest, der es aus dem Dorf geschafft hatte und in die Wälder geflohen war, bettelte um sein Leben; selbst ihr Oberhaupt war vor mir im Staub gekrochen, hatte versucht, sein erbärmliches Leben zu retten. Für nichts waren sich diese niederen Wesen zu schade. Mit so einem feigen Pack kannte man keine Geduld und schon gar keine Gnade; bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, fielen sie einem in den Rücken. Eine Angewohnheit, die sonst vor allem Menschen aufwiesen und das wurde auch ihnen nicht selten zum Verhängnis... Aber es war nicht nur ihre Feigheit, die die Menschen so schwach machte. Nein, bei weitem war es nicht das Einzige. Leichtsinn, Arroganz, Selbstüberschätzung, Gier, Eifersucht... es gab so vieles, dass man sich die Begebenheiten schon nicht mehr vor Augen führen mochte und wenn man genau hinsah, waren keine Ausnahmen erkennbar. Sie waren alle so. Selbst sie fiel nicht aus dem Rahmen, bloß ein weiterer Mensch; sonst nichts. Ebenso wie der nichtsnutzige Dämon an ihrer Seite. Auch er nahm mich nicht einmal annähernd zur Kenntnis. Ein Leichtsinn, der einem schnell den Tod bescherte, aber aus ihrer Sicht nicht einmal ein Wagnis, da sie die Gefahr nicht einmal im Augenblick ihres eigenen Endes realisierten. Ein so törichtes Volk... Wie konnte es einem nur in den Sinn kommen, mit einem solchen Evolutionsfehler eine Allianz schließen zu wollen? Wie konnte man so blind sein, dass man alle Tatsachen einfach abtat? Es resultierten keine Vorteile für uns, für den Clan, daraus. Also was sollte das? Was dachte er sich dabei? Wohl nichts, wie bei allem anderen, was er tat... Des ClanOberhauptes höchste Pflicht lag im Schutz des Clans an sich, er selbst betonte es immer wieder. Ungerührt dessen sprach er stetig von der Arbeit an einem friedlichen Bündnis mit den Menschen... wie konnte man sich nur so dermaßen offen wiedersprechen? Warum verschwendete ich überhaupt noch meine Gedanken an diesen unwürdigen Narren? Undankbar... Ich hasste es, wie er mit mir redete, sein Blick, wenn er mich nur ansah, seine Worte, die er gegen mich richtete... undankbar/ib]... Aus welchem Grund sollte ich ihm dankbar sein? Für was? Meine Existenz? Für das, was ich war? Ich hatte nicht darum gebeten, es war nicht meine Entscheidung gewesen... Sollte ich seiner Ungerechtigkeit mit Dankbarkeit entgegenkommen? Was er von mir verlangte, war schlichtweg zuviel; ich kroch nicht vor ihm auf den Boden, nur, weil er mein Vater und dies sein Wille war... Undankbar... Ein plötzliches Rascheln in den Blättern der Salweide schreckte mich heftig auf, ließ mein Herz doppelt so schnell wie zuvor schlagen, wobei mir eher die Angst innewar, es würde womöglich stehen bleiben. Abrupt wandte ich mich um, den Blick auf den alten Baum gerichtet; auch Kaneko war aufgesprungen und musterte äußerst kritisch die große Astgabel, nervös zuckten ihre beiden in schwarzen Spitzen endenden Schweife von einer Seite zur anderen, jederzeit bereit sich zu verwandeln. Eigentlich hätte ich es mir denken können und es wissen müssen! Ein erleichtertes Seufzen löste sich schwer aus meiner Brust, ich schloss die Augen und machte beiläufig eine abwinkende Bewegung mit der Hand in Kanekos Richtung. "Es ist in Ordnung, Kaneko..." Noch immer raste mein Herz, obschon ich in diesem Moment feststellte, dass ich bis eben die Luft angehalten hatte, nur langsam wich die Spannung wieder aus meinem Körper, dieser Idiot hatte mich fast zu Tode erschreckt... Taktgefühl schien bei ihm ebenso wenig vorhanden zu sein wie Höflichkeit, Scham oder gutes Benehmen - in jeglicher Form. ... aber zumindest war ihm nichts passiert, es beruhigte mich, dass er keinem hinterhältigen Angriff der Dorfbewohner zum Opfer gefallen war und immerhin den Anschein machte, als würde es ihm ganz gut gehen. Wo Flúgar wohl gewesen war? Und warum war er so lange - den Rest der Nacht und den halben Tag - fort gewesen? Er schaute mich nicht an, natürlich nicht - wie käme er dazu? Keine Regung zeichnete sich an seinem Leib ab, er spannte keinen einzelnen Muskel an. Ob er schon längere Zeit dort oben in der Astgabelung saß? Ich hatte ihn bis eben überhaupt nicht wahrgenommen, Kaneko ebenso wenig... bestand eigentlich die Möglichkeit, dass er eben erst gekommen war? Eher nicht... Sorgsam zog ich den Yukata etwas enger um mich, verschränkte die Arme vor der Brust, da mir gerade, als ich an mir heruntergesehen hatte, meine gegenwärtige Lage bewusst geworden war und mir der Fakt vor Augen trat, dass der dünne, weiße Stoff, wenn er mit Wasser in Berührung kam, an Undurchsichtigkeit verlor und so manchen Blick durchließ... Vorsichtig ließ ich mich am Rand des kleinen flachen Abschnitts der Quelle nieder, hob wieder leicht den Blick und betrachtete die von vollkommener Ruhe begleitete Erscheinung des Dämons hinter den Zweigen der Weide. Er hatte die Hände im jeweils gegenüberliegenden Ärmel seines Haoris verborgen, die Beine halbwegs überkreuz; das weiße Katana trug er an der linken Seite. Ich betrachtete ihn eine ganze Weile, schweigsam, schier unbemerkt. Es störte ihn nicht, denn ich war sicher, er wusste, dass ich ihn ansah. "Wo warst du so lange?" Er zeigte keine wahrnehmbare Reaktion darauf, verblieb in seiner unbeweglichen Position, ich war nicht einmal ganz sicher, ob er die Augen noch immer geschlossen hatte. "Die Angelegenheit mit den Sálarsvipur ist geklärt." Geklärt? Wirklich wissen, welchen Zustand er mit diesem simplen Wort beschrieb, wollte ich nicht. Nachdem, wie ich ihn bis jetzt einschätzte und dem, was Hinoe mir über seine Haltung im weiteren Verlauf des Kampfes gegen die Wölfe erzählt hatte, kam ich zu dem Schluss, dass er ihnen wohl gefolgt war und sie allesamt getötet hatte. Andere Möglichkeiten zog ich weniger in Betracht, aus welchem Grund hätte er auch nur einen von ihnen verschonen sollen? Flúgars Denkweise erschien mir sehr eigen, fremdartig und beinahe unverständlich; ihn hatten sie nicht angegriffen und die Dorfbewohner waren ihm ebenso gleichgültig wie das Summen einer Mücke am westlichen Ende des Festlandes. Aus welchem Grund war er diesen Wesen gefolgt und hatte sie restlos ausgemerzt? Je länger ich mir diese Frage stellte, desto unsinniger kam mir seine Handlung vor. Ich verstand ihn einfach nicht; vielleicht war das auch gut so. Zwischen uns lagen ganze Sphären, wenn nicht mehr; ich wagte es nicht, auch nur Vermutungen über seine Herkunft anzustellen, mir kam kein Ort, nicht einmal ein Land in den Sinn, das in Betracht zu ziehen wäre. Durch meine Fähigkeiten und die aktive Tätigkeit als Miko war ich schon sehr viel herumgekommen und hatte viele Geschichten über weitentfernte Länder in allen Himmelsrichtungen gehört, aber keine Beschreibung und keine der zahlreichen noch so bizarr klingenden Erzählungen mochte mit dem Bild dieses Dämons übereinstimmen. Und langsam fiel es mir schwer zu glauben, dass er von hier kam; seine Sprachkenntnisse erkannte ich nicht als Gegenbeweis an... ּ›~ • ~‹ּ ***>>> Kapitel 10: >"Ein Gewittersturm zieht über die Ebene hinweg, offenbart innere Schwäche bei den einen, und etwas wie Anteilnahme bei den anderen. Die Nacht birgt ein verwirrendes Geheimnis, und gespenstische Lichter tanzen auf der vom bleichen Vollmond beleuchteten Lichtung..." *» Yokaku Kapitel 10: *~Yokaku~* ---------------------- "Der erste Eindruck löst je nach Menschenkenntnis ein Vorurteil oder eine Vorahnung aus." – Gerlinde Nyncke Kapitel 10 - Yokaku -Vorahnung- *Sind wir nicht alle den Ängsten unterlegen, die in unserem Innersten wohnen? Und sind es nicht letztendlich diese, die uns vor unüberlegten oder gefährlichen Taten warnen? Ist Angst nicht eines der natürlichsten Gefühle, die man zu empfinden weiß? Oder ist es bloß eine menschliche Abart um sein Leben zu bangen, die man auf kein anderes Lebewesen übertragen darf?* ּ›~ • ~‹ּ Mit einem letzten Blick auf Kakougen No Kyou wurde Midoriko in voller Intensität bewusst, wie sehr sich dieses Dorf doch verändert hatte; gestern hatte sie sein wahres Gesicht erblickt und mit einigem Schrecken feststellen müssen, dass sie vollkommen blind gewesen war. Wie hatte sie es nur so lange hier ausgehalten? Sie realisierte gleichermaßen, dass sie sich schon zu früheren Zeiten, als sie hier gewesen war, nicht wahrhaftig verstanden oder gar wohlgefühlt hatte. Auch hier lebten nur Menschen, die Midoriko ihres Ansehens wegen geduldet und freundlich behandelt hatten, als Menschen hatten sie sie ebenso wenig anerkannt wie jeder andere es auch getan hatte: überhaupt nicht. Sie war froh, diesen Ort endlich zu verlassen und nicht die Verpflichtung zu haben, zurückkehren zu müssen. Sie war Hinoe und den Dörflern nichts schuldig; Kakougen No Kyou würde mitsamt seiner Bewohner zu einer trüben Erinnerung werden, die nur ab und an im Kopf der jungen Frau wiederkehrte, bloß, um sofort wieder zu verschwinden. Es mochte wahr sein, dass sie nicht in der Lage war es vollständig aus ihrem Gedächtnis zu löschen, aber die Einzelheiten würden mit der Zeit nach und nach verloren gehen, bis nur noch ein dunkler Schatten davon übrig blieb und das gesamte Bild in ein vages Gespenst der Vergangenheit verwandelte. Midoriko wandte den Blick ab und umfasste die ledernen Zügel des Zaums ihres schwarzen Packpferdes, das die ganze Zeit neben ihre gestanden und eifrig die Rispen an den Enden der langen Grashalme abgeknabbert hatte. Kaneko schaute noch einmal flüchtig zu ihrer Herrin auf, ehe sie ihr folgte. Flúgar war längst vorangegangen, für ihn gab es weder einen Grund das Kaff anzustarren wie das Weib es tat, noch auf sie zu warten. Ihm stand es definitiv danach aus dieser Gegend zu verschwinden und wieder in die Wälder zu gelangen, in denen der Menschengeruch in der Luft verflog und somit aufhörte, seine empfindliche Nase zu belästigen. Im Gegenteil zu ihrer Ankunft in Kakougen No Kyou schwieg Midoriko, ihre Erkenntnis betrübte sie zusehends und stimmte sie traurig. Von außen her sah man ihr nichts an, in ihrem Gesicht war keine Spur von Trübseligkeit oder Traurigkeit zu erkennen, nur die emotionslose Maske, die Fassade, die sie gegen den Rest der Welt errichtet hatte, um ihr wahre Gefühlslage dahinter zu verbergen. Ihr Ich musste sie nicht verbergen, das hatte sie mit den vielen Erfahrungen, die sie hatte machen müssen, gelernt. Niemand sah sie als einen wirklichen Menschen an, man hielt sie bloß für eine von den Göttern gesegnete Miko, deren Pflicht es war, den Menschen mit ihren Fähigkeiten zu helfen. Der Dank dafür waren Ruhm, den sie nie gewollt hatte, und falsche Anerkennung von den Leuten, denen sie half. Die hügelige, kurzgrasige Landschaft zog sich ewig dahin, über den gesamten Tag und selbst am späten Nachmittag waren die riesigen Mischwälder gerade so in weiter Ferne zu erkennen. Ich seufzte. Mit Flúgar zu reisen bedeutete für mich wohl größere Strapazen, als ich bisher angenommen hatte. Ohne Pause lief er Stunde um Stunde voran - ungeachtet des drückend warmen, schwülen Wetters -, sein Tempo blieb vollkommen konstant und er blieb niemals stehen, schien sich nicht einmal orientieren zu müssen. Entweder kannte er den Weg genau, oder er lief geradewegs ins Blaue herein; ich wusste es nicht. Wohin gingen wir überhaupt? Um ehrlich zu sein hatte ich kein Ziel vor Augen, das ich anstrebte und genaugenommen war ich froh darüber, dass er sicher wusste, wohin er wollte. Zumindest wirkte er sehr zielstrebig. Damit hatte sich die Sache dann auch. Fragen wollte ich ihn nicht unbedingt; das, was in Kakougen No Kyou vorgefallen war, wollte einfach nicht aus meinen Gedanken weichen, ich fühlte mich deswegen unbehaglich und matt, in gewisser Weise belastet. Seine kurzangebunden, eiskalte Art war wirklich das allerletzte, was ich in diesem Moment brauchte... Mein Blick schweifte von Flúgars breitem Rücken über die eintönigen, grasbewachsenen Hügel zum Horizont, an dem sich - meiner bislang unbemerkt - dunkle Wolken aufzutürmen begonnen hatten. Schwarze Gewitterwolken ballten sich zu einer undurchdringlichen Front, durchzuckt von grellen Lichtblitzen, die die schwarzen Massen zuweilen vollkommen willkürlich in ein tiefviolettes Nuancenspiel tauchten. Wenige Augenblicke später tönte das tiefe Grollen eines Donnerschlags über die ausgedörrte, verlassene Gegend. Mir wurde es mulmig zumute; ich mochte keine Gewitter, aber wie es aussah, zog die gewaltige, düstere Wolkenbank genau in diese Richtung. Es würde nicht lange dauern, bis die Sonne gänzlich verschwinden und der Sturm letztendlich losbrechen würde. Sommergewitter waren für mich zu einer Art schlechtem Omen geworden - sie zogen das Unheil unmittelbar nach sich. Außer mir störte sich niemand an den heraufziehenden, pechschwarzen Wolken; Flúgar ging unverkannt seiner Wege, Kaneko lief völlig unbeeindruckt direkt neben mir, und Inazuma, der schwarze Wallach zu meiner Rechten, legte bloß die Ohren etwas zurück und ergriff jede noch so kleine Gelegenheit, die ihm meine Unaufmerksamkeit bot, um sich hier und da einen längeren Grashalm zu angeln. Das nächste Donnergrollen ließ mich instinktiv zusammenzucken, und erschrocken musste ich wiederum feststellen, dass es weit und breit keine Möglichkeit gab, sich unterzustellen, um sich irgendwie von dem Gewittersturm abschirmen zu können. Mir wurde stetig unwohler in meiner Haut. Ein Blick nach oben verriet mir die gegenwärtige Lage: der Himmel zog in Windeseile zu, färbte sich in den düstersten Tönen, die Sonne verschwand mit einem Mal und die Sicht wurde diesig. Für keinen - außer mich - ein Grund zur gesteigerten Unruhe. Dann, für einen Augenblick, war alles still, nichts regte sich, kein Windzug, keine Blitze, nichts. Ich hielt vorausahnender Weise die Luft an, denn das war es, das man die Ruhe vor dem Sturm nannte... Schließlich öffnete der Himmel wie auf Befehl seine Schleusen und ein Regenschauer von seltener Heftigkeit ging auf das Land hernieder. Das laute Prasseln der dicken Tropfen, wenn sie auf die harte Erde trafen, wurde bloß von den vereinzelten Donnerschlägen unterbrochen; ab und zu zuckte ein gleißender, zackiger Lichtstrahl durch die massigen, dunklen Leiber der Wolken, die wie eine dichte, schwarze Decke direkt unter dem Himmel hingen. Niemand nahm merklich Notiz davon, nur ich fühlte mich elendig und bekam es langsam aber sicher mit der Angst zu tun; dieses Wetter konnte einfach nichts Gutes verheißen, das spürte ich. Zudem war meine Kleidung schon nach sehr kurzer Zeit vollkommen durchgeweicht und selbst meine Rüstung hielt das Wasser nicht lange vom Stoff und den Partien meines Körpers darunter, ab. Die Nässe wurde von einer eigenartigen Kälte begleitet, denn rein von den herrschenden Temperaturen her, wäre man nicht einmal auf die Idee gekommen zu frieren, es war eigentlich zufriedenstellend mild. Und trotzdem fror ich. Was weiter? Ich wusste es nicht, jede Bewegung in meinen vollgesogenen Kleidungsstücken verlangsamte meine Schritte und brachte mich bereits nach einer überaus kurzen Strecke zum Stillstehen. Kaneko suchte unter Inazumas großem Rumpf Schutz, sie mochte diese Begebenheiten noch weniger als ich. Der Rappe, des Wetters absolut unbewegt, widmete sich währenddessen dem Gras zu seinen Hufen, rupfte genüsslich, und ignorierte die gelegentlichen Blitz- und Donnerschläge geflissentlich. Und was war mit dem unerschütterlichen Youkai? Der Regen fiel so dicht, dass er die Sicht wie ein Schleier trübte, und ich nicht weiter, als vielleicht eine Schrittlänge in die Ferne zu sehen vermochte. Natürlich konnte ich ihn nicht ausmachen. Sollte ich nach ihm rufen? Alleine wollte ich hier bestimmt nicht sein, und von sich aus auf mich warten entsprach nicht gerade seinem Wesen, was sollte ich denn sonst tun? Auf dieser Stelle stehen bleiben und auf besseres Wetter warten? Ohne irgendeine Gestik, die ihn erreichte, würde er mich hier zurücklassen, und das war etwas, das mir fast panische Angst einjagte. So weit voran war er doch gar nicht gewesen, er konnte doch nicht einfach verschwunden sein, er... "Eh?" Etwas Weiches berührte meine Wangen, streifte meine Arme; plötzlich verschwand das Gefühl der schweren Regentropfen auf meiner Haut. Was...? Verwirrt blinzelte ich, schaute auf. Flúgar stand in nicht weit entfernt von mir, Inazuma an den Zügeln haltend, und warf einen flüchtigen Blick in meine Richtung; Rinnsale von Wasser bahnten sich einen Weg über seine langen Haare, einzelne Tropfen perlten von den kürzeren Strähnen, die ihm ins Gesicht fielen, zu Boden. Seine Miene war neutral, der Ausdruck in seinen Augen schwer zu deuten. Behutsam berührte meine Fingerspitzen das, was den Regen von meinem Körper fernhielt: es war weicher, weißer Stoff und just in diesem Augenblick realisierte ich, dass er seinen Haori nicht mehr trug, sondern nur noch ein schlichtes, weißes Untergewand, dessen Ärmel geradeso bis zu seinen Handgelenken reichten. Hieß das, er hatte mir seinen Haori...? Ich suchte den Kontakt zu seinen Augen, war erstaunt, verwundert, fassungslos; derweil setzte Flúgar sich in Bewegung, nahm wieder sein gewohntes Lauftempo auf und verschwand nach wenigen Schritten hinter dem Schleier des nun noch dichter fallenden Regens... Es war eine verdrießliche Nacht. Der Regen war versiegt und die Wolkendecke riss allmählich auf, brachte das Antlitz des runden, weißen Vollmondes zum Vorschein; ein kühler Wind wog die von Wassertropfen träge gewordenen Grashalme fast bis auf den Boden. Wir machten keine Pause, nicht einmal eine kurze Rast, kamen den großen Wäldern beständig näher; ohnehin hätte ich nicht schlafen können, meine Kleidung war noch klamm, der Untergrund völlig aufgeweicht, der mäßige Wind zu kalt um Ruhe zu finden. Immerhin hielt mich die ständige Bewegung des Laufens ein wenig warm. Mittlerweile lag Flúgars Haori nur noch um meine Schultern, aber ich war mir sicher, dass ich ohne ihn in meinen feuchten Sachen erbärmlich gefroren hätte. Außerdem hielt der dünnwirkende Stoff erstaunlicherweise einen beträchtlichen Teil der kalten Böen von mir ab. Ich hatte aufgehört, mich zu fragen, warum er mir dieses besondere Kleidungsstück geliehen hatte, es war sinnlos, da ich ihn ohnehin nicht fragen würde. Mehr als eine bissige Antwort, mit der er wahrscheinlich nicht einmal auf meine Frage einging, würde die Resonanz nicht sein. Es war gut, so wie es war. Zumindest ließ sich aus diesem Verhalten schließen, dass er auch eine andere Seite hatte; eine Seite, die er vermutlich nicht gerne preisgeben mochte... aber warum hatte er es dann getan? Es war ein Teufelskreis, der immer wieder an der Frage des Grundes einen neuen Anfang, aber sogleich das altbekannte Ende fand. Ein fremdartiges Geräusch zog meine Aufmerksamkeit auf sich; es klang wie überdrehtes Gekicher, wurde mal leiser, mal lauter. Verdutzt sah ich mich um. Überall auf der recht ebenen Wiese tanzten bunte Lichtpunkte umher, verschwanden manchmal einen Moment, bevor sie an einem vollkommen anderen Ort wieder in Erscheinung traten. Dieses Phänomen wurde von dem irrwitzigen Kichern begleitet, das gelegentlich auch in ein spöttisches Gelächter umsprang. Jetzt war ich wirklich konfus. Mit großen Augen beobachtete ich die merkwürdigen, schwebenden Punkte, lauschte dem scheinbar lustigen Treiben. Kaneko war die Sache nicht geheuer, die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf, unruhig wedelten ihre Schwänze hin und her. Inazuma hatte die Ohren gespitzt, blähte die Nüstern und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, den Kopf so anmutig und hoch getragen, wie er konnte. Flúgar blendete den ganzen Zirkus um sich herum einfach aus. Jetzt bildeten die vielen verschiedenfarbigen Lichter miteinander eine lange Kette, hatten im Nu einen großzügigen, geschlossenen Kreis um uns gebildet und tanzten auf und ab; dazu natürlich wieder höchstvergnügtes Gekicher von allen Seiten. Was war hier los? Ich begann mich ernsthaft zu fragen, ob ich wahrhaftig bei Bewusstsein war oder vielleicht während des Gewitters vom Blitz getroffen worden war und den Verstand verloren hatte. Das ging nicht mit rechten Dingen zu! Ich hatte ja schon viel gehört, selbst gesehen und erlebt, aber so etwas?! Es sah so aus, als spielten sie eine Art Ringelreihen, zogen enger werdende kreisförmige Runden um uns; in seiner allgemeinen Einheit hörte sich das kichernde Gelächter fast wie ein simpler Kinderreim in einer anderen Sprache an. Also alles was recht war, aber diese Situation empfand ich nicht ansatzweise als amüsant... Einige der Lichter lösten sich aus der Kette, bewegten sich lautlos, nur von trügerischem Feixen begleitet, auf die Zentrum des Kreises zu. Ohne jegliche Vorwarnung tauchte es, keinen Meter mehr von mir entfernt, vor mir auf. Der Anblick jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken; das etwa zwei Ellen große Gebilde schwebte in der Luft, ein kompakter Körper, der keine erkenntlichen Gliedmaßen aufwies. Es trug eine einfache, weiße Maske, aus deren Augenschlitzen kleine, rotglühende Augen hervorblitzten und - zu meiner absoluten Verwirrung - einen kleinen dunkelblauen Kapuzenmantel, der reichlich mit goldenen Ornamenten und Säumen bestickt war. Vor sich hielt es ein gläsernes Gefäß, das einen Deckel sowie einen Henkel besaß, in dem grüne Glühwürmchen umherschwirrten; wie das Wesen den Behälter allerdings festhielt, war mir schleierhaft. Die Erscheinung fing an, um ihre eigene Achse zu wirbeln, die Augen auf mich gerichtet, immer schneller werdend, und brach schließlich in ein irres Gelächter aus, als ich einen Schritt zurück trat, um aus dem Schwingradius seiner kleinen Glaskanne zu entkommen. Ich wandte mich um, im Begriff Flúgar lautstark zu Rate zu ziehen, aber meine Sicht wurde von einem weiteren dieser suspekten Gesellen versperrt. Eigentlich sah er genauso aus, die Unterschiede zwischen ihnen taten sich nur bei den Farben ihrer Gewänder, ihrer Glühwürmchen und den Formen ihrer Masken auf. Insgesamt waren es vier, die mich umringten und sich wie blöde um sich selbst drehten, überdies leises Tuscheln, unterbrochen von gekünsteltem Kichern. Diese Taktik gefiel mir ganz und gar nicht, ein Anflug von Panik überkam mich, als sie sich näherten. Unschlüssig, in welche Richtung ich fliehen sollte, duckte ich mich kurzerhand unter ihnen hinweg und rannte blindlings davon. Meine Flucht war von - unübertrieben - sehr kurzer Dauer, denn sie war sofort wieder vorbei, als sich mir plötzlich ein nicht in Erwägung gezogener Widerstand auftat und ich mich auf meinem Allerwertesten sitzend im Gras wiederfand. Das Schlimmste erwartend hob ich vorsichtig den Blick, begegnete den mondbeschienenen Zügen Flúgars. "Hrævareldar..." Ich runzelte überfragt die Stirn, denn sein Murmeln, auch wenn es nicht an mich gerichtet war, klang außerordentlich seltsam. Im Hintergrund erkannte ich Kaneko, die verzweifelt versuchte, die lästigen Kreaturen zu verscheuchen, indem sie sich ihrer größeren Form bediente und mit den ansehnlichen Pranken nach ihnen schlug. Erfolglos. Keinen Wimpernschlag später scharrten sie sich wieder um mich und diesmal - gezwungenermaßen - auch um den nicht gerade davon begeisterten Dämon. Unsicher sah ich zu ihm auf, in der Hoffnung, er würde endlich etwas unternehmen und diese Biester vertreiben. Argwöhnisch betrachtete er das bunte Treiben der bizarren Erscheinungen aus den Augenwinkeln, seine akustische Drohung in Form eines tiefen Knurrens nahmen sie nicht wahr. Damit wurden sie in meinen Augen zu Selbstmördern; wie schwer von Begriff konnte man denn sein? Oder war es ihnen schlichtweg egal? Wenn es Geister waren, mussten sie sich in so einem Falle wirklich keine weiteren Gedanken machen, dann konnte Flúgar ihnen rein gar nichts anhaben. Aber irgendwie glaubte ich bei diesen Dingern nicht, dass es Geister waren... Aus heiterem Himmel wurde ich ziemlich unsanft am Oberarm gepackt und auf die Beine gezogen, überrumpelt erkannte ich Flúgar unmittelbar neben mir. "Halt dich von ihnen fern." Ich wechselte einen Blick zwischen ihm und den vor sich hin kichernden Kreaturen; seine Begeisterung über diese Viecher hielt sich in nicht zu ermittelnden Grenzen. Anscheinend raubten sie nicht nur mir den letzten Nerv. "Sind das Youkai?" Es war seltsam, wie dicht er mich bei sich duldete; ich berührte ihn fast, und er brachte keinerlei Einwände dagegen ein, nicht einmal annähernd. Ich hob meinen Kopf leicht an, einen fragenden Ausdruck im Gesicht wahrend. "Nein. Das sind Hrævareldar." Nani? Er hatte diese Frage, die ich an mich selbst adressiert hatte, gehört? Wie...? Ich hatte weniger als ein leises Flüstern von mir gegeben, selbst bei dieser Nähe hätte er es unter normalen Umständen nicht gehört haben können. Oder hatte ich doch so laut gesprochen? Mein Gesichtsausdruck blieb weiterhin fragend, als ich versuchte, mir die Bezeichnung für diese Phänomene noch einmal in den Sinn zu rufen, aber es wollte mir bei bestem Willen nicht gelingen. Wozu auch diese komplizierten Namen? Auf einmal ward es still; der Spuk war vorbei. Das Einzige, was noch an unsere Begegnung erinnerte, war die kleine Glaskanne mit den grünen Glühwürmchen, die einsam im zentralen Punkt des jetzt bloß noch imaginären Kreises stand... ּ›~ • ~‹ּ Die Sonne strebte ihrem höchsten Stand entgegen, ihre wärmenden Strahlen fielen durch das satte Grün der Blätter der umliegenden Bäume. Es war früher Nachmittag und unter diesen herrlichen Bedingungen vergaß man schnell die Unannehmlichkeiten des letzten Tages und der Nacht. Der Waldweg gabelte sich vor ihnen in zwei fast gegensätzliche Richtungen; der eine führte in das Herz des Waldes hinein, der andere beschrieb einen langen Bogen am Rande um den Wald herum. Flúgar hatte nicht gezögert, und sofort den Pfad eingeschlagen, der sie mitten in den Wald führen würde, während Midoriko noch unschlüssig vor der Gabelung stand und überlegte. Abermals kamen Erinnerungen an Sagen in ihr hoch, die sich um diese Gegend hier rankten; angeblich hausten in den Untiefen dieses Waldes besonders gefährliche Youkai, die Menschen alles andere als wohlgesonnen waren und niemand, so hieß es, der jemals diesen Pfad beschritten hatte, war wieder lebendig zurückgekehrt. Das Alter des Waldes schreckte die zum Teil sehr abergläubischen Menschen ab, vielleicht wirkte dieser Ort gerade aus diesem Grund so anziehend auf die Dämonen. Dort waren sie ungestört und die Dörfer waren sicher vor ihnen; eigentlich die perfekte Lösung. Diesen Frieden, wenn man es so nennen konnte, wollte sie nicht unbedingt stören, denn das würde womöglich schreckliche Konsequenzen nach sich ziehen, die sie nicht am eigenen Leib erfahren wollte. Natürlich konnte Flúgar diesen Weg risikofrei betreten, er war auch ein Youkai, aber sie war ein Mensch; wie stellte er sich das vor? "Beweg dich, Kona!" Midoriko schaute ihm nach, zwischen ihnen lag schon eine beträchtliche Distanz und er blieb noch immer nicht stehen. Kona? Für einen kurzen Moment runzelte sie nachdenklich die Stirn über diesen Ausdruck. "Aber... aber das ist der falsche Weg!" Diese Aussage schien in nicht zu kümmern, und da er sich ohnehin nicht umsah, nahm er die Gestik, die ihre Bestimmtheit und Sicherheit unterstreichen sollte, nicht wahr. "Unsinn." Dem wusste sie im ersten Moment nicht wirklich etwas Schlagkräftiges entgegenzusetzen. Wesentlich leiser als zuvor erhob sie noch einmal die Stimme. "Woher willst du das wissen..." Es ärgerte sie, dass er sie nicht ernst nahm und vollkommen darauf bestand, im Recht zu sein. Was bildete er sich eigentlich ein? "Ich kenne diese Gegend." Überrascht sah sie auf. Er kannte sich hier aus? Er würde mit Sicherheit eine Warnung aussprechen, sobald es - für sie - gefährlich werden würde, wie in der letzten Nacht bei den Hrævareldar... Sie nickte, ergriff Inazumas Lederzügel und schloss rasch zu Flúgar auf, der sich dann doch dazu durchgerungen zu haben schien, wenigstens kurz auf sie zu warten. Dennoch begleitet sie eine schlechte Vorahnung, als sie dem Youkai in den Wald folgte. Irgendetwas stimmte nicht... Die Stunden schleppten sich nur so dahin. Es war angenehm kühl, da sie immer tiefer in den Wald gelangten, aber die Atmosphäre wurde zusehends unheimlicher, nahezu bedrohlich. Es war eigenartig; in diesem Wald war es mucksmäuschenstill. Midoriko hielt Schritt hinter Flúgar. Wenn sie sich hier verlief oder anderweitig irgendwie verloren ging, war es vorbei, sie würde nicht wieder zurück finden. Alles kam ihr befremdlich vor, die Bäume waren riesig, uralt, zeugten von längst vergangenen Zeitaltern; ihre Kronen stiegen weit gen Himmel auf und fingen den Großteil des Sonnenlichtes bereits in diesen luftigen Höhen ab. Es gab wenig Dickicht, aber aufgrund des fehlenden Lichtes war die Sicht auch so schon nicht sonderlich gut - für sie, wie es mit ihrem Begleiter aussah, wusste sie nicht. Der Pfad war längst verschwunden, und das machte nicht bloß die Priesterin nervös. Auch das Packpferd und der Nekoyoukai waren angespannt, die trügerische Stille war auch ihnen nicht geheuer. Irgendjemand musste sie brechen, es war nicht auszuhalten. "Flúgar?" Die Miko zog den mittlerweile getrockneten Haori von Inazumas Rücken und faltete ihn sorgsam vor sich zusammen. Kurz nach Morgengrauen hatten sie eine kurze Rast an einem kleinen Fluss eingelegt und Midoriko hatte die Gelegenheit ergriffen und den doch ein wenig in Mitleidenschaft gezogenen Haori gewaschen. "Was?" Ein wenig verlegen schaute sie zu Boden, suchte nach passenden Worten, ehe sie ihm das Kleidungsstück entgegenreichte. "Arigatou." Sie verbeugte sich leicht, sah aber nicht auf. Von ihm kam weiter keine Reaktion, wortlos nahm er es entgegen, war mit einigen Handgriffen seinerseits wieder vollständig bekleidet und setzte unverhohlen seinen Weg fort. Sie folgte ihm auf den Fuß, denn je tiefer sie in diesen Wald vordrangen, desto unwohler wurde ihr. ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Hrævareldar - Irrlichter Kona - Weib, Frau ***>>> Kapitel 11: >"Tief im dunklen Wald lauert eine unsichtbare Gefahr, eine tückische Falle, aus der es für das Opfer kein Entrinnen mehr gibt. Unvorsichtigkeit und Sturheit führen schließlich zu einem Ungehorsam, der über Leben und Tod entscheiden wird..." *» Óbeit Kapitel 11: *~Óbeit~* --------------------- "Der Grund, weswegen wir neue Bekanntschaften so lieben, ist nicht, dass wir der alten müde sind oder das Vergnügen am Wechsel, sondern der Widerwille, dass wir von jenen, die uns allzu gut kennen, nicht genug, und die Hoffnung von jenen, die uns nicht so gut kennen, mehr geschätzt werden." - François VI. Duc de La Rochefoucauld Kapitel 11 - Óbeit -Widerwille- *In extremen Situation, vor allem denen, die tödliche Gefahr bergen, erkennt man sprichwörtlich den wahren Freund - doch entspricht dies der Wahrheit? Würde nicht jeder aus Verlorenheit oder schierer Verzweiflung um seines Wohlergehens Willen so handeln, dass ihm seine Führung erhalten bleibt? Wer würde anders reagieren? Und würden wir nicht eher das Leben unseres Feindes retten als unser eigenes zu geben?* ּ›~ • ~‹ּ Nicht mehr lange, und wir würden auf eine kleine Lichtung hinaustreten, aber selbst dort wollte es nicht ansatzweise aufhellen. Ich sah mich um. Mit dem schier ziellosen Laufen, das uns in jede beliebige Richtung geführt haben konnte, waren mein Zeitgefühl und meine Orientierung vollkommen verloren gegangen, ich hatte keinen Überblick mehr. Jetzt musste ich mich auf Flúgar verlassen, ohne ihn wäre ich mehr als aufgeschmissen. Mein ungutes Gefühl für diesen Ort hatte sich verstärkt, dieser Wald schien etwas zu verbergen. Diese anhaltende Stille war verdächtig und bis jetzt war uns kein einziges Lebewesen über den Weg gelaufen. Dieses Gebiet, dieser Forst war mir suspekt... aber vielleicht verstand ich ihn auch bloß nicht, vielleicht war es mir einfach nicht möglich, etwas so Altes zu begreifen. Unter Umständen war es besser so. Eine zuckende Bewegung, die ich am Rande im rechten Augenwinkel wahrnahm, zog mein Interesse auf sich. Ich hielt inne, wandte mich nach rechts. ... ein Schmetterling? Anmutig flatterte er von einem Grashalm langsam auf meine Augenhöhe, fasziniert beobachtete ich seine graziösen Bewegungen. Schon immer hatte ich sie gerne angeschaut, ihre hübschen Farben bewundert, sie um ihre Freiheit beneidet... Weiterhin folgte ich dem zitronenfarbenen Wesen mit den Augen. Er war nicht mehr weit von meinem Gesicht entfernt, näherte sich graziös, aber kurz bevor er mich erreichte, spaltete sie plötzlich sein winziger Körper in zwei Hälften. Verwirrt und gleichermaßen erschrocken starrte ich auf die nun voneinander getrennten gelben Flügel, die leblos wie verdörrte Blätter im Wind, zu Boden sanken. Dann sah ich auf. Meine Erkenntnis überfiel mich förmlich. Ungläubig streckte ich die Hand nach dem hauchdünnen Faden aus, der sich direkt vor mir, unfähig in jeder Schwingung, spannte. Abermals hob ich den Blick und schaute auf die Lichtung; sie waren überall, kreuz und quer über den baumlosen Teil des Waldes gespannt, einige hingen locker durch, aber andere waren zum Zerreißen gespannt. Das bedeutete... eine Falle! Panisch umklammerte ich die Zügel des Rappen, versicherte mich, dass Kaneko dicht neben mir am Saum der Lichtung verblieben war, und suchte danach sofort die Umgebung mit den Augen nach Flúgar ab... "Flúgar!" Mein Aufschrei bewegte ihn zum Innehalten, brachte ihn dazu, einen flüchtigen Blick über seine Schulter in meine Richtung zu werfen. Ich musste ihm so schnell wie möglich klar machen, was die Fakten waren, ansonsten würde es ihm wahrscheinlich so ergehen wie dem zitronenfarbenen Schmetterling... "Das ist eine Falle!" Ich brüllte mir die Seele aus dem Leib, er stand zwischen unzähligen dieser lebensgefährlichen Fäden; merkte er das denn nicht? Sein Blick wurde undurchsichtig. Erst, als er sich zu mir umwandte und einer der straff gezogenen Fäden ihm die Wange aufschnitt, wurde er sich seiner Lage bewusst. Er trat einen Schritt zurück, wodurch er eine der bedrohlichen Strippen festzog und ein durch Mark und Bein ziehendes Kreischen von den Bäumen, die um die freie Stelle herum standen, erklang. In Scharen verließen sie jetzt ihre Verstecke in den Baumkronen, sammelten sich auf dem Boden, kreisten Flúgar ein. Dieser rührte sich nicht mehr, etwas anderes stand ihm auch nicht mehr frei. Es gab aus diesem Netz keinen erkenntlichen Ausweg. Bei genauer Betrachtung sahen die Wesen aus wie überdimensionierte, haarige Raupen, die schwarze, mit einem roten Ring umrandete Kreise auf ihren dunkelgrünen Körpersegmenten aufwiesen. Sie hatten große schwarze Facettenaugen, genau wie jedes andere Insekt, und wohl eine sehr gute Übersicht, dafür aber nur kurze Saugnäpfe als Beine; sehr schnell konnten sie nicht sein. Ich zitterte, versuchte auf die Lichtung zu gelangen, aber überall, rundherum zwischen den Bäumen waren die Fäden so eng gespannt worden, dass es kein Durchkommen gab. Was sollte ich tun? Flúgar erschien mir ruhig, aber da er nichts unternahm, vermutete ich, dass er selbst nicht wusste, was er tun sollte. Hieß das, die Situation war aussichtslos? "Verschwinde von hier!" Was? Ich sollte gehen? Ihn einfach so hier alleine lassen? Für wen hielt er mich...? Das war die Möglichkeit, die ich nie im Leben gewählt hätte... "Ich lass dich hier nicht allein!" Wieder ertönte dieses fürchterliche Kreischen. Ich hielt mir die Ohren zu, den Blick streng auf diese Kreaturen gerichtet, die anfingen, ihre länglichen Körper zu schütteln. Was hatten sie vor? Wieder stieg die Panik in mir empor, das verhieß definitiv nichts Gutes. Ohne Zögern ergriff ich die unnachgiebigen Fäden, versuchte irgendwo eine Lücke zu finden, eilte um die Lichtung herum, aber es gab nirgends auch nur eine winzige Schwachstelle in der verhängnisvollen Konstruktion. "Hau endlich ab!" Ich verstand nicht, wie er so etwas von mir verlangen konnte... was sollte das? Glaubte er ernsthaft, ich würde ihn zurücklassen und einfach fortlaufen? "Iie!!" Ich schüttelte energisch den Kopf, sodass mir meine Haare für einen Moment die Sicht versperrten. Ein langgezogenes Schreien tönte durch den Wald; es ging von dem größten Laubbaum am Rande der ebenen Zone aus und mit einem Mal strafften sich alle Fäden, die zuvor lose und bewegungsfrei erschienen waren. Flúgar saß fest; die tödlichen Schlingen zogen sich ruckartig zu, hielten ihn gefangen, umfassten jede mögliche Stelle seines Körpers. Und soweit ich es ausmachen konnte, drohten sie ihm sämtliche Schlagadern und die Kehle aufzureißen. Derweil hielt sich seine Gegenwehr in Grenzen, beschränkte sich darauf, die scharfen Schnüre mit den Händen von seinem Hals fernzuhalten. Sonst regte er sich kaum; was war los? "Flúgar!" Meine Stimme überschlug sich. Ich konnte ihn doch jetzt nicht im Stich lassen, aber... Mein Herz raste vor Angst, ebenso mein Atem, ich zitterte, versuchte mit allen Mitteln, diese dämliche Lichtung betreten zu können; dass ich mir dabei die Hände blutig riss, war nebensächlich. Das seltsame Ritual der Raupen dauerte an, während Flúgar auf die Knie sank. Er leistete keinen sichtbaren Widerstand mehr, rang nur noch halbherzig nach Luft... Hatte er nicht gesagt, er kannte diese Gegend? Hatte er das nicht?! Tränen stiegen mir in die Augen, die Verzweiflung begann von mir Besitz zu ergreifen, ich war vollkommen hilflos... was in aller Welt sollte ich denn bloß tun?! Ich sackte zu Boden, unterdrückte kraftlos ein Schluchzen; wie konnte man nur so hinterhältig, so grausam sein? Es blieb sich gleich, es war egal, wie oft ich die fast kreisförmige Stelle umrundete, an welcher Stelle ich versuchte, das verderbliche Netz zu durchdringen, nichts half. Er war in Sichtweite, ich spürte deutlich seine Präsenz und ich hätte jedes seiner Worte verstanden... nur wieso? Wieso konnte ich nichts, gar nichts tun? War ich so nutzlos? So schwach? Ratlos, verloren, nichtsnutzig, elend, so fühlte ich mich, aber... ich konnte doch nicht einfach zusehen... irgendwas musste ich doch tun können! ... noch hatte ich die Chance dazu, noch lebte er! Alle meine Anstrengungen gegenüber den absolut festsitzenden Strängen liefen ins Leere; Tränen liefen über meine Wangen. Das konnte doch einfach nicht wahr sein... warum war das Schicksal nur dermaßen grausam? Es war so ungerecht... Ich spürte, dass meine Verzweiflung und die Angst langsam in Wut übersprangen, ich war dazu entschlossen, dem Schicksal dieses Mal nicht nachzugeben. Niemals. Ich konnte nicht. Es ging jetzt um alles oder nichts, dazwischen existierte nichts! Wieder sah ich auf die Lichtung, die metallisch glänzenden, tückischen Schlingen, die tiefe Wunden in den Körper des wehrlosen Youkai schnitten... richtig, mir kam die entscheidende Idee: irgendjemand musste die Fäden ziehen, und diesen jemand musste ich so schnell wie nur irgend möglich ausschalten. Nur wer? Hastig sah ich mich um... die Raupen waren es nicht, keine von ihnen wies eine Verbindung zu den Strippen auf. Es musste noch jemand im Hintergrund agieren, mindestens einer musste also noch in seinem Versteck in einem der Wipfel sitzen und sich dort feiger Weise verstecken. Ich eilte bis zu dem großen Baum, aus dem vorhin der einzelne, schrille Schrei gedrungen war und zog mein Schwert. Jetzt spürte ich es: die Aura eines Dämons. Es gab keinen Weg hinein, also musste ich es von hier draußen versuchen, nein, ich musste es von diesem Punkt aus schaffen! Ich atmete tief aus, sammelte meine Konzentration und zog mein Schwert. Die Zeit wurde knapp. Flúgar... Ich transferierte alle Kraft, die ich zu jenem Zeitpunkt aufbieten konnte, alle Energie, die mir zur Verfügung stand, auf mein Schwert, erfasste die Auren der Youkai; ich hatte nur diesen einen Versuch. Und darauf legte ich es an. "Shinkon No Kori!" Ein gleißendes Licht tauchte die Lichtung in eine nie da gewesene Helligkeit, läuterte in seiner absoluten Reinheit alles, was es berührte. Die korrumpierten Seelen der Dämonen verloren in jenem Licht ihre Schwärze, büßten damit ihre Kräfte ein, wurden harmlos. Die Metallfäden lockerten sich sichtlich, ich hatte den verantwortlichen Dämon mit meinem Shinkon No Kori gereinigt. Mein Schwert entglitt automatisch meinem Griff, ungeachtet der scharfkantigen Beschaffenheit der noch immer kreuz und quer über die Lichtung verlaufenden Schnüre, rannte ich durch die potentielle Gefahrenzone, nur noch einen klaren Gedanken im Kopf. Jedes bloße Streifen hinterließ blutige Striemen in meinem Gesicht, auf meinen Armen, meinen Beinen und überall, wo mich meine Rüstung nicht schützte. Es kümmerte mich nicht im Geringsten. Ich stürzte in den zentralen Punkt der Schneise, warf mich neben Flúgar, der mittlerweile bewegungslos am Boden lag, sofort auf die Knie. Mit zitternden Fingern löste ich die unheilvolle Schlinge, die ihm nicht nur Hals und Hände übel verletzt, sondern auch das Atmen verwehrt hatte. "Flúgar...? Hörst du mich?" Der Angesprochene reagierte kaum, hustete schwach, gab keinerlei Zeichen von sich, die bestätigten, dass er noch bei Bewusstsein war. Aber er atmete, und ich hörte, dass sein Herz schlug, als ich den Kopf auf seine Brust senkte. Erschöpft verharrte ich in jener Position und schloss die Augen, lauschte schweigsam dem Herzschlag des bewusstlosen Youkai. Nun hielt ich es nicht mehr zurück, ohnehin gab es niemanden in der Umgebung, der meine offensichtliche Schwäche bemerken konnte. Kaneko und Inazuma zählten ebenso wenig wie die sichtlich verwirrten kleinen Raupendämonen, die ein wenig desorientiert in der Gegend umher krochen. Es dauerte eine ganze Weile, bis meine Tränen versiegten und ich nicht einmal mehr die Kraft aufbrachte zu weinen. Langsam richtete ich mich wieder halbwegs auf, musterte besorgt Flúgars momentane Erscheinung. Die feinen Schnitte übersäten seinen gesamten Körper, sein Atem ging flach, er regte sich nicht. Unsicher glitt mein Blick über seinen Leib, blieb schließlich an seinem Gesicht haften. Ohne wirklich darüber nachzudenken, barg ich sein Gesicht in meinen Händen, wischte ihm mit dem einen Ärmel meiner Baykue das Blut von der Wange. Zögerlich, aber wie von selbst, fuhren meine zerschundenen Fingerspitzen über die weiche, aber kalte Haut. Es war mir schon ganz am Anfang im Dorf der Drachentöter aufgefallen und mit der Zeit war ich ganz sicher geworden; Flúgar strahlte keine wahrnehmbare Eigenwärme aus, sein Körper war nicht warm wie der eines Menschen. Deshalb fror er auch nicht. Bis dato hatte ich mich noch nicht getraut, ihn deswegen anzusprechen. Ich setzte mich so, dass zumindest sein Kopf weich lagerte, bettete ihn auf meinem Schoß, denn ich konnte weder von Kaneko noch von Inazuma verlangen, die Lichtung zu betreten. Unschlüssig wechselte ich einen Blick zwischen meinen zwei anderen Gefährten, die vernünftiger Weise keine Anstalten machten näher zu kommen, und Flúgar; was sollte ich jetzt tun? Warten. Das war die simple Antwort. Warten, bis er wieder zu sich kam und hoffen, dass er keinen größeren Schaden genommen hatte. Warten... ּ›~ • ~‹ּ »Die ersten sanften Strahlen der Morgensonne überfluten zaghaft die ausgedehnte Wiese, als das Kind die Arme nach seiner Mutter ausstreckt und jetzt offensichtlich nach der längst überfälligen Zuwendung bettelt. Aber die Gestik wird ignoriert, die Reaktion bleibt aus, es folgt bloß ein kalter Befehl, nicht mehr und nicht weniger. "Warte hier bis die Sonne untergeht." Sie sieht ihn schon gar nicht mehr an, hat sich abgewendet und verschwindet im schieren Nichts. Ihr Interesse an ihm ist bereits erstorben, sie hat ein neues Objekt in ihren eigenen Mittelpunkt gestellt und schenkt ihm aus diesem Grund kaum mehr Aufmerksamkeit. Der Tag vergeht, die Sonne folgt ihrem gewohnten Pfad am Himmel entlang. Die Stunden quälen sich förmlich vorüber. Seit geraumer Zeit muss er sich damit abfinden, alleine gelassen zu werden; seine Zeit wird für jemand anderen benötigt. Für jemanden, der wichtiger ist als er. Niemand sagt es, aber jeder weiß es, selbst er. Aber er ist geduldig, lässt sich äußerlich nicht im Geringsten ansehen, dass ihm die Umstände nicht egal sind. Bloß der Wind lässt ihn nicht alleine, bleibt sein loyaler Begleiter und mit Missgunst beobachtet dessen einstiger Herrscher diese Entwicklung... Der Tag neigt sich seinem entgültigen Ende zu, die Sonne verschwindet nun vollkommen und hinterlässt ein mit dunkelgrauen, dicken Regenwolken verhangenes Firmament. Sehr bald hat der Regen die Ebene in eine nasse, matschige Landschaft ohne jeglichen Kontrast verwandelt, in der die Farben ineinander zu laufen scheinen, aus der sich alles Leben zurückgezogen hat. Dessen ungeachtet wartet er. Der Regenguss ist unbarmherzig, will sein Ende noch lange nicht finden, während sich im Hintergrund die Stimmen von Menschen mit dem leisen Donnergrollen vermischen. Die Männer kommen näher, Söldner, die kein festes Heim kennen und zuweilen ziellos durch die Lande ziehen. Er weiß, dass sie kommen, er kann sie nicht nur hören. Es ist unausweichlich. Im nächsten Moment stehen sie schon hinter ihm, mustern ihn mit kritischen Blicken, ehe sich auch nur ein Wort ihrer Lippen entrinnen mag. Das menschliche Trio ist sich ohne Besprechung einig und verzieht beinahe gleichzeitig die Lippen zu einem sadistischen Lächeln. "Dämonenbrut..." Er regt sich nicht, verharrt bewegungslos auf seinem Posten; nicht einmal sein Blick haftet auf den Männern. Hinter ihm erklingt das verdächtige Geräusch von Metallklingen, die man aus ihrem Schaft befreit. "Tötet den Bastard!"« Aus den Untiefen der Bewusstlosigkeit herausgerissen, fand ich mich noch eine ganze Weile in einem merkwürdigen Dämmerschlaf wieder, der unausgeglichen zwischen halbem Bewusstsein und Bewusstlosigkeit umherpendelte. Es bereitete mir Schwierigkeiten, mich an die letzten Stunden zu erinnern, ich schaffte es einfach nicht, die letzten Ereignisse in meinem Gedächtnis ausfindig zu machen. Ich gab es auf, ich kam zu keinem Ergebnis. Wenn ich meinem Bewusstsein näher kam, spürte ich deutlich, dass ich nicht alleine war, dass mich jemand berührte. Ansonsten blieb das Gefühl für meinen Körper aus, war einer bleiernen Taubheit gewichen, die zuweilen auch den Versuch zu unternehmen schien, meine Lunge zu befallen, um sich anschließend meines Herzens zu bemächtigen. Seltsamerweise beunruhigte mich meine Situation nicht ernsthaft. Warum wusste ich mir auch nicht zu erklären. Es kam mir so vertraut vor... Ich schob die Gründe beiseite, in meinem Zustand eine logische Verbindung zwischen zwei Faktoren herzustellen, war wahrlich ein Ding der Unmöglichkeit. Kein Zweck, es auch nur zu versuchen. Bewusst gab ich mich der Situation in ihrem jetzigen Bestehen hin, auch wenn es sonst nicht meiner Art entsprach, genoss ungeniert das kontinuierliche Streicheln, das man mir zuteil werden ließ. Ungeachtet allem; jede Form von Gegenwehr wäre mir letztendlich doch verwehrt geblieben, wieso sollte ich mich unnötig über etwas aufregen, von dem ich behaupten konnte, dass es angenehm war? Natürlich fand ich Gefallen daran... Nur vage erinnerte ich mich an Zeiten, in denen meine Mutter so zärtlich zu mir gewesen war... ich dachte nicht oft daran, denn auf mich wirkte diese harmonische Anfangszeit meines Lebens nur noch wie reine Heuchelei, eine verwerfliche Notlüge, damit das Kind nicht an der Lieblosigkeit seiner Eltern zu Grunde ging; abgeschoben, weil man ein besseres Spielzeug gefunden hatte, dessen Niedlichkeit das Interesse hielt. Die vollen Ausmaße des eigentlichen Hasses auf meine Eltern hatte aber er zu spüren bekommen; ich hatte mich zur Eifersucht hinreißen lassen - eine Eigenschaft, die mir hätte fremd sein und bleiben sollen. Denn Eifersucht war eigentlich etwas, dass man bloß Menschen und niederen Dämonen nachsagte... Es dauerte unglaublich lange, bis ich über die letzten Fragmente des erzwungenen Halbschlafs hinwegkam, diesen fahlen Zwischenzustand überwand und allmählich wieder zu mir kam. Als ich die Augen öffnete, zeichneten sich in langsam schärfer werdenden Kontrasten die Umrisse von hochgelegenen Ästen und Blättern ab; über mir schirmte ein dichtes Blätterdach alles darunter Befindliche von Sonne und Regen ab. "Flúgar..." Mein Blick traf auf ein tiefbraunes Augenpaar, das mich mit großer Besorgnis musterte; sie musste geweint haben. Ihre Augen wiesen bei genauer Betrachtung nur eine minimale Rötung auf, aber ich nahm in der Luft deutlich das Salz ihrer Tränen wahr. Für einen Moment schloss ich die Augen, schluckte schwerfällig. Ich brauchte unheimlich viel Zeit, um die Situation in ihrer Gesamtheit richtig zu erkennen, in allen ihren Einzelheiten, und schließlich zu deuten, was genau hier vor sich ging. Mein Körper war nutzlos, gelähmt vom paralysierenden Gift der Stálþráðarlirfur. Diese widerwärtigen Viecher waren gefährlicher als so mancher Dämon, ich konnte nichts Anderes, als mich selbst für meinen Fehler zu verfluchen. Es hätte mir einfach nicht passieren dürfen. Wie hatte ich nur so unvorsichtig und dumm sein können... ich war mit offenen Augen in die Klinge meines Gegners gerannt, mit dem Anschein vollkommener Absicht. Unter normalen Umständen wäre ich zu diesem Zeitpunkt tot gewesen... ich war bloß noch am Leben, weil sie sich meiner Anweisung so strikt widersetzt hatte. Ich war selbst schuld gewesen, ich hätte es verdient für meine grenzenlose Torheit mit dem Tode bestraft zu werden. Aber warum hatte sie es getan? Aus welchem Grund war sie nicht einfach davongelaufen? Wieso hatte sie ihr Leben für mich riskiert? Ich verstand es einfach nicht... wie tief konnte ich noch sinken? Kaum ein Seufzen mochte sich meiner Kehle entrinnen, mein Körper war ausnahmslos bewegungsunfähig; ich spürte nichts, nur diese schwere Taubheit, die selbst meinen Verstand lahm zu machen schien. Spät bemerkte ich die Hand der Priesterin, die mittlerweile still auf meiner Stirn ruhte. Dieses törichte Mädchen hatte sich bei dem Versuch, das Netz der Youkai zu durchdringen nicht nur ihre zarten Handflächen an den Stahlfäden regelrecht aufgeschlitzt, sie hatte weit mehr Wunden davon getragen. Und soweit ich es mit meinem eingeschränkten Sichtfeld ausmachen konnte, befanden wir uns noch immer in dieser Hölle aus stählernen Spinnenweben. Mein Kopf lagerte auf dem Schoß der jungen Miko, die unmittelbare Nähe zu ihr ließ mich nicht nur der Wärme ihres Leibes gewahr werden, sondern verriet mir auch ihren Geruch in allen Einzelheiten. Anders als bei dem Großteil ihrer Artgenossen empfand ich den nunmehr leichten Hauch von Schweiß nicht als scharf und unangenehm. Sie roch nach einer Mischung aus würzigen Waldkräutern, feuchter Erde, Kiefernadeln, frischem Reisstroh und einer geheimen Mixtur körpereigener Düfte, die ich nicht genau zuzuordnen wusste. All das zusammen verlieh ihr ein unverkennbares, wohliges Aroma, das ich wohl unter jeden Umständen wiedererkennen würde. Unbewusst beobachtete ich sie aus den Augenwinkeln. Sie war sichtlich erschöpft, machte einen unsicheren Eindruck, wagte sich scheinbar nicht, ihre rechte Hand von meiner Stirn zu nehmen und schon gar nicht, sie wieder ihrer vorigen Aktivität zuzuführen. Es war keine Einbildung gewesen, ich hatte die sanften Berührungen ihrer Hand bis in mein Unterbewusstsein gespürt. Vielleicht, weil ich mich nach eben diesem Gefühl der Zärtlichkeit ab und an sehnte; es war lange her, dass mich jemand gestreichelt hatte. "...fáviti..." Ich drehte den Kopf zur Seite, schloss die Augen erneut. Es würde - für meine Verhältnisse - viel Zeit in Anspruch nehmen, bis ich mich wieder vollkommen von dieser äußerst starken Paralyse erholt hatte. Ich musste mich unbedingt ausruhen... Aber mehr als ein mittelmäßiges Dösen war mir anscheinend nicht vergönnt, ich fand in meiner Unfähigkeit mich auch nur ein wenig zu rühren keinen Schlaf; es war sicherlich besser so, denn ein richtiger Tiefschlaf hätte mir im Endeffekt wohl selbst jetzt noch den Tod bedeutet. Mit Sicherheit lag jener Ausdruck der absoluten Neugierde, den nur Menschen an den zu Tag legen wussten, in ihren Zügen, als sie die störenden, kürzeren Strähnen beiseite schob und ihre Fingerkuppen das Symbol auf meiner Stirn behutsam nachfuhren. Eigentlich hatte ich mit diesem Verhalten gerechnet, vielleicht nicht in dieser speziellen Form, aber die leise Forschheit in ihren Augen vermeinte ich fast immer auszumachen, wenn sie mich ansah. Mir war fast klar gewesen, dass sie ihre Hände nicht still bei sich behalten konnte. Ich erinnerte mich nur an eine Person, die es jemals gewagt hatte, solch eine Unvorsichtigkeit zu zeigen und das graue Abzeichen des Clans in völliger Unschuld mit den Fingern nachzuzeichnen. Im Gegensatz zu ihr hatte er damals Todesängste ausgestanden, nachdem ihm bewusst geworden war, dass ich nicht geschlafen hatte. Unweigerlich entkam mir ein tiefer, normalerweise von absolutem Wohlempfinden zeugender Laut; dabei wusste ich selbst nicht so genau, ob ich nun wollte, dass sie aufhörte oder fortfuhr. Mein Verstand riet mir eindeutig etwas anderes, als mein - zurzeit äußert eingeschränktes - körperliches Empfinden. ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Stálþráðarlirfur - Stahlfadenraupen fáviti - Idiot ***>>> Kapitel 12: >"Die Nacht hüllt den Wald in tiefe Dunkelheit, silberne Blitze zucken leblos, aber verhängnisvoll durch die alles verschlingende Schwärze. Zeit hat für Menschen eine andere Bedeutung als für Dämonen, und ihr Lauf verändert die Dinge manchmal nachhaltiger, als man glauben mag..." *» Maguchi Kapitel 12: *~Maguchi~* ----------------------- "Niemand kann auf Dauer eine Maske tragen." – Lucius Anneus Seneca Kapitel 12 - Maguchi -Fassade- *Wann, und zu welchen Begebenheiten beginnt die dicke Eismauer, die man zu seinem eigenen Schutz um sich aufzieht, zu schmelzen oder rissig zu werden? Ist es die pure Unvorsichtigkeit, die dazu führt? Oder liegt es letztendlich daran, dass man eine Maske nicht ununterbrochen, ein ganzes Leben lang auf der Haut tragen kann?* ּ›~ • ~‹ּ Es begann zu dämmern, die Nacht brach allmählich herein und tauchte den umliegenden Wald in eine gespenstische Dunkelheit. Das Licht des Mondes verirrte sich im dichten Blattwerk der Baumkronen, nur vereinzelte, silbrige Strahlen fielen bis auf den Boden der Lichtung herab, offenbarten den metallischen Schimmer der lebensbedrohlichen Raupenfäden. Die vorangegangenen Stunden waren stumm verstrichen, und der Priesterin fiel es immer schwerer, dem verlockenden Rufen des Schlafes nicht nachzugeben, die Lider nicht einfach zu schließen und in die Welt der Träume einzutauchen. Flúgar schlief bereits seit dem späten Nachmittag und sandte jetzt auch keinerlei Anzeichen aus, als würde er bald wieder zu Bewusstsein kommen. Die Erleichterung, die eingesetzt hatte, als sich sein Blick mit dem ihrigen verfangen hatte, hielt noch immer an. Wenn sie sich recht entsinnte, war er ihr ein wenig konfus vorgekommen und sein Verhalten war ebenfalls sonderbar gewesen. Er war liegen geblieben, hatte nicht einmal versucht, sich aufzurichten oder anderweitig der Berührung mit ihrem Körper zu entgehen. Einerseits hatte er nicht den Eindruck in ihr erweckt, dass er Schmerzen hatte oder auf anderem Wege litt, andererseits war ihr sein Ausdruck matt und kraftlos erschienen; irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Sie hatte ihn nicht gefragt, weil er selbst beim Atmen Schwierigkeiten zu haben schien. Es ging ihm wohl tatsächlich nicht gut, aber was letztendlich mit ihm nicht in Ordnung war, konnte sie nicht sagen. In Gedanken versunken und schon halbwegs eingeschlafen, schreckte sie die plötzliche Regung, die durch Flúgars Körper ging, regelrecht auf. Noch ein wenig verwirrt, trafen ihre Augen wieder auf die des Dämons, die selbst in der vorherrschenden Finsternis aufgrund ihrer Helligkeit nicht schwer zu erfassen waren. Die ruckartige Bewegung, die sie regelrecht aus ihren dösigen Gedankengängen gerissen hatte, war von seinem etwas unkoordinierten Aufsetzen ausgegangen. Unsicher musterte sie seine halbwegs aufrecht sitzende Gestalt. "Bist du dir sicher, dass du schon aufstehen kannst?" Flúgar atmete tief aus, selbst für die Ohren der Miko gut hörbar, gab bloß einen missverständlichen Ton von sich, dessen Deutung locker von Ja bis Nein reichte, aber wohl eher von eigener Unwissenheit zeugte. Wieder setzte eine unerträgliche Stille ein, ein Schweigen, das Midoriko in jenem Augenblick zu unterbinden wusste. "Wann warst du das letzte Mal hier?" Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er gelogen hatte, solche Methoden hatte er einfach nicht nötig und vielleicht lagen seine Erinnerungen an diesen Ort in einem sehr entfernten Punkt seines Gedächtnisses, sodass er die Youkai schlichtweg übersehen oder vergessen hatte. "Zwanzig Jahrzehnte..." Der Loftsdreki legte den Kopf schief und schien gedanklich noch einmal hinterher zu rechnen, mit der Zahl noch nicht ganz zufrieden zu sein, wobei die junge Frau schon bei diesen Werten dachte, etwas gehörig falsch verstanden zu haben. Fast entgeistert suchte sie seinen etwas abwesenden Blick in der Dunkelheit, ein Schatten von Fassungslosigkeit huschte über ihr Gesicht. "Zwanzig Jahrzehnte?! Das kann nicht dein Ernst sein!" Sie war sich sicher, dass sie sich verhört haben musste, das konnte einfach nicht sein, denn zwanzig Jahrzehnte waren eine dermaßen lange Zeit, dass sie es sich kaum vorstellbar vor Augen führen konnte. "Das ist es." Die Priesterin war sprachlos, brauchte eine ganze Weile, um ersten einmal den Sinn seiner Worte einzuordnen und schließlich ihre Stimme wiederzufinden. Nach mehrmaligem Überdenken des Gesagten, begann sich jetzt Skepsis ihrer Züge zu bemächtigen, ein Anflug von höchster Neugier flammte in ihr auf und funkelte ihm förmlich aus ihren Augen entgegen, als sie sich näher zu ihm beugte und ihn fixierte. "Wie alt bist du?" Vom Hören kannte sie die Geschichten über das Alter von Dämonen, aber wirklich geglaubt hatte sie es nie. Wenigen Wesen war es vorausbestimmt, überhaupt mehr als ein Jahrhundert zu überdauern, und nur seltene Baumarten schafften es nachweislich, ein oder zwei Jahrtausende zu gedeihen. Flúgar wurde ihr Verhalten langsam aber sicher etwas zu aufdringlich, ihre Haltung eindeutig zu offensiv und fordernd. "Ein einfacher Mensch wie du es bist, kann sich das ohnehin nicht vorstellen." Midoriko verschränkte die Arme vor der Brust, mit dieser Antwort war sie ganz und gar nicht einverstanden. Kaum merklich verengten sich ihre Augen, als sie den Blick des Dämons in der Finsternis wieder erhascht hatte. "Wie kommst du nur auf so etwas?" Diesmal erwiderte er ihren Blick, sah ihr in die Augen, und mit einem Mal erschien es ihr so, als wären die seinen abgrundtief, weder oberflächlich noch blank, so wie es die Färbung seiner Iris einem Unwissenden vortäuschte. "Ich weiß es." Ein Intermezzo nichtausgesprochener Erwiderungen setzte ein, aber wirklich geschlagen geben wollte und konnte sie sich nicht. Für den Moment gelang es ihr einfach nicht, sich von dem Begriff dieser Konversation loszureißen. "Sag es mir doch einfach, dann hat sich die Sache erledigt!" Er wandte den Kopf ab, starrte in die einvernehmende Schwärze, die den Wald umfing, die auf der Lichtung ab und an vom silbrig-weißen Glanz der Metallstränge gebrochen wurde. "Es hat keinen Sinn." Er wich ihr aus, es wurde immer offensichtlicher. Aber warum? Es gab keinen plausiblen Grund für seine Scheu, die ihn hinderte, sein Alter preiszugeben. Midoriko konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er bei diesem Thema so dermaßen blockte. Oder tat er es aus Prinzip? "Ich verstehe nicht, warum du meiner Frage so ausweichst... es ist eine Zahl, nichts weiter." Das Gefühl, dass er sich wieder gegen seine Außenwelt abschottete und rein gar nichts mehr an sich heranließ, kehrte zurück, verstärkte sich, der seltsame Ausdruck in seinen Augen verflog sichtlich. Ihr war, als wollte er nicht, dass ihm irgendjemand auch nur ein Stückchen näher kam. Aber... warum? Unbewusst, reflexartig streckte sie zaghaft die Hand nach ihm aus, was ihn aber bloß zu einem heftigen Zusammenzucken veranlasste; das dunkle Grollen, das seiner Kehle entsprang, ließ sie augenblicklich zurückschrecken. Seine Miene wurde kalt, abweisend, nahezu unbarmherzig. "Sieh zu, dass du zu Kräften kommst, wenn du nicht willst, dass ich dich hier zurücklasse." Ein seltsames Gefühl, das sie nicht zu benennen wusste, erwachte in der Miko. Flúgars Verhalten, seine abweisende Haltung, stimmte sie nachdenklich; es musste mehr dahinterstehen, als Sturheit oder der Gedanke, aufgrund seiner Geburt hochrangiger zu sein als sie. Dazu kannte sie das Versteckspiel vor der Außenwelt zu gut, darauf fiel sie nicht so leicht herein. Ob es ihm so ergangen war wie ihr? Auf eine gewisse Art fühlte sie sich an diesem Punkte angekommen, ungewöhnlich hilflos. Das letzte, was ihre Augen wahrnahmen, bevor sie sich einigermaßen bequem hingelegt hatte und sie letztendlich doch schloss, waren die ausdruckslosen Züge des Youkai, die das Nichts selbst, die vollkommene Leere der vorherrschenden Düsternis fixierten... ּ›~ • ~‹ּ Der abnehmende Mond stand noch blass am gräulichen Firmament, wirkte fahl und unwirklich zwischen dem frischen Grün der Blätter, als ich aus meinem Schlaf erwachte. Entgegen all meiner Befürchtungen hatte ich unheimlich gut, vor allem tief geschlafen und blickte mit einer belebten, heiteren Einstellung nach oben, beobachtete für einen Moment die kleinen Fragmente von hellem Blau zwischen den Farben des Waldes. Wie ein Mosaik setzten sich die vielen kleinen Teile zu einem Ganzen zusammen, bildeten gemeinsam etwas Größeres, Schöneres. Dann sah ich mich um, und erinnerte mich an den letzten Tag, die präsente Lage. Mit einem Mal kam mir in den Sinn, was Flúgar mir letzte Nacht mehr oder weniger angedroht hatte; er hatte gesagt, er würde mich zurücklassen... Beinahe panisch sprang ich auf und fuhr hastig herum, unweigerlich überschlugen sich meine Gedanken, als ich mich alleine auf der verhängnisvollen Lichtung wiederfand. War er etwa schon gegangen? Hatte er mich wirklich hier zurückgelassen? Alleine? Mein Herz schlug so schnell, als wollte es bersten, ich war kurz davor die Kontrolle zu verlieren und in die totale Panik auszubrechen. Was sollte ich ohne ihn tun? Auf mich gestellt würde ich nie wieder aus diesem Wald herausfinden, ich... "Setz dich endlich in Bewegung!" Huh? Erstaunt drehte ich mich wieder um, erblickte die Gestalt des Youkai - mit dem Rücken zu mir - nur wenige Meter von mir entfernt. Ich musste ihn völlig übersehen haben... Zögerlich näherte ich mich, verstand zu meiner eigenen Verwunderung auch ohne Worte, dass ich ihm durch das Netz der Raupenfäden folgen sollte. Vollkommen bewusst hielt ich einen gewissen Abstand zu ihm, ich hatte nicht die Absicht ihn zu bedrängen und zudem war ich mir nicht so sicher, wie gut seine Laune heute war. Herausfordern musste man es nicht, und was er mit mir machen würde, wenn ich es dann doch tat, stand wohl auch einzig in den Sternen. Es gab keinen Grund, es herausfinden zu wollen... Kaneko begrüßte mich freudig, als wir endlich aus den Fängen der Todesfalle heraustraten und sprang mir in die Arme. Inazumas Freude musste sich in Grenzen halten, da sein ununterbrochenes Schmausen von den pikanten Waldkräutern jetzt sein Ende fand und er gezwungen wurde, sich mit vollem Bauch in einen angemessen schnellen Schritt zu versetzen. Nach meinem Schwert brauchte ich nicht lange zu suchen, es lag noch immer an derselben Stelle, an der ich es gestern so übereilt einfach hatte fallen lassen. Ich hatte nicht genug Zeit, um mir die Geschehnisse ein weiteres Mal durch den Kopf gehen zu lassen, da ich um nichts auf dieser Welt den Anschluss verpassen wollte. Dieser Wald machte mich kirre... Ich bemerkte rasch, dass Flúgar nicht das Tempo der letzten Reisetage vorlegte, und auch sein Gang an sich verhielt sich anders; er war ungemein steif in der Hüfte, seine Bewegungen waren eindeutig beeinträchtigt. Nur von was? Soweit ich es mitbekommen hatte, war er nicht schwer verletzt worden und dieser Bereich seines Körpers konnte selbst bei seinem Sturz nicht arg in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Irgendetwas war mir entgangen, und das lastete deutlich auf ihm. Auf jeden Fall war er in seiner Beweglichkeit eingeschränkt, ob er sich letztendlich quälte, war von außen her nicht zu erkennen. Flúgar tat mir unsagbar leid; nicht nur, dass er sich in seinem Zustand heute so stur vorwärts zwang, nein, besonders wegen dem, was er mir gestern unbewusst durch sein Verhalten offenbart hatte. Er verbarg sich, sein wahres Selbst, hinter einer Fassade aus augenscheinlicher Emotionslosigkeit und offensichtlich erscheinender Kälte - in dieser Beziehung waren wir uns sehr ähnlich. Allerdings kannte ich die Hintergründe für dieses Benehmen bei ihm nicht, und sich danach offen zu erkundigen stand außer Frage. Die Narben seiner Seele mussten tief sein, dass er sich so zurückzog, dass es den Anschein machte, als hätte sich der Kummer bereits tief in sein Herz gefressen, und dort das Misstrauen gegen alles und jeden, sowie den unbegründeten Hass auf sein Umfeld aufkeimen und zu voller Blüte gelangen lassen. Was war nur in der Lag gewesen, so schwere Wunden zu reißen? Nur zu gerne hätte ich ihm helfen wollen, aber ich konnte ja nicht einmal mir selber helfen; die Maske, die ich mir selber seit Jahren schon aufsetzte, verlangte nicht danach, wieder von meinem Gesicht abgenommen zu werden. Zumindest hatte sie es bis jetzt nicht. Seit mir Flúgar über den Weg gelaufen war, schien sich etwas zu verändern; seit er sich in meiner Nähe befand, passierte es immer öfter, dass mir danach zumute war, zu lachen, zu weinen, mich über sein Art offen zu ärgern... er lockte die Empfindungen förmlich aus mir heraus. Kein Mensch hatte es geschafft, mich in eine derartige Situation zu bringen. Würde es Flúgar sein, der mir schließlich die Maske wieder abnahm? Langweilig war kein Ausdruck für diesen Tag. Ich war ausgeruht und eigentlich voller Tatendrang, aber Flúgars Anblick und die Atmosphäre beklemmten mich zunehmend; unentwegt überdachte ich die Begebenheiten und suchte eine passende Lösung, einen annehmbaren Ausweg für uns beide. Aber der springende Einfall blieb aus. Seufzend schüttelte ich leicht den Kopf, ich wollte mir das nicht mehr ansehen. "Wenn du möchtest, kannst du Inazuma haben." Innerlich verunsichert hielt ich ihm die Zügel hin, nachdem ich ein wenig aufgeschlossen hatte, wagte es aber nicht, meinen nachdenklichen Blick auf ihn zu richten. "Nicht nötig." Die Antwort war mehr als bissig. Hatte ich ihn mit meinem Angebot etwa beleidigt? Das war nicht meine Absicht gewesen... niedergeschlagen senkte ich den Kopf, umfasste die Lederzügel fester mit beiden Händen und führte sie zurück vor meinen Körper. "Gomen nasai... ich wollte dich nicht beleidigen." Betrübt nahm ich sein verächtliches Schnauben einfach hin, unternahm nichts gegen mein stetiges Zurückfallen und trottete nunmehr lustlos hinter ihm her. Selbst die gewohnten Geräusche des Waldes, die allmählich wieder aufkamen, versprachen mir keinen Trost oder Aufheiterung. Kaneko betrachtete mich eingehend, miaute, als würde sie mich nicht so trübselig sehen wollen; ihre großen roten Augen wandten sich eine ganze Zeit lang nicht von mir ab. "Ist schon in Ordnung, Kaneko-chan..." Meine Worte klangen selbst für mich wenig überzeugend und eigentlich hatte ich dem noch etwas hinzufügen wollen, jedoch beging ich dieses Mal nicht den Fehler es auszusprechen, da ich Flúgars scharfes Gehör nicht noch einmal unterschätzen würde. Als ich wieder nach vorne blickte, tat sich unvermittelt eine weitläufige, vom Sonnelicht überflutete Lichtung vor uns auf, die zu ihrer rechten Seite hin anstieg, bis schließlich ein kleiner Berg aufragte, an dessen frontalen Überhang eine lange Treppe emporstieg. Über dem weißen Stufensansatz ragte ein Torii auf und am Ende der aufsteigenden Treppenstufen stand ein Schrein, der eindeutig der Fuchsgöttin Inari gewidmet war. Selbst aus dieser Entfernung sah ich die zwei weißen Steinkitsune, die den Eingang bewachten. Schon lange hatte ich nicht mehr gebetet, zu lange. Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm ich die Treppe in Angriff und machte mich auf den Weg zum Schrein. Für diesen Augenblick war es mir herzlich egal, was meine Begleitung darüber dachte oder was er tun würde. Kaneko blieb von sich aus zurück; sie hatte in der Vergangenheit bereits gelernt, dass man Dämonen nicht gerne an heiligen Orten sah und es als böses Omen deutete, wenn sie sich dort aufhielten. Es dauerte länger, bis ich vor dem kleinen, von Aoki umgebenen, Schrein, stand, als ich angenommen hatte. Ein gewaltiger Sugi warf seinen Schatten über den Tempel und die unscheinbare Quelle unmittelbar daneben, versah beides mit verschlungenen dunklen Mustern, die an die gewundenen Ranken einer Kletterpflanze erinnerten. Erleichtert entledigte ich mich meiner Sandalen, wusch mir Hände und Füße sowie das Gesicht, bevor ich die geweihte Stätte betrat und zum Gebet niederkniete. Ein wohliges Gefühl berauschte meinen Körper, meine innere Ruhe kehrte wieder und brachte mich dazu, das Gebet äußerst gründlich und sorgsam auszuführen. Meine Gabe an Inari, die Reisgöttin in der Gestalt eines Fuchses oder auch der einer jungen Frau, hielt sich knapp, aber viel mehr konnte ich nicht entbehren. Vielleicht betete ich auch deshalb so gewissenhaft, wie schon lange nicht mehr. Der gellende Todesschrei eines Tieres schreckte mich auf, ich fuhr zusammen. Wer dafür verantwortlich war, konnte ich mir gut denken; ich fragte mich, ob er wohl seine Aggressionen mit dem Töten unschuldiger Lebewesen abreagierte... Die Witterung der Kitsune lag schwer in der Luft, überlagerte die anderen Gerüche des Waldes. Obwohl sich keiner von ihnen zeigte, war es offensichtlich, dass sie nicht fern waren; allzu weit würden sie sich nicht von ihrem Schrein entfernen, da sie oftmals die Opfergaben der Gläubigen stahlen. Die Füchse waren nur eine niedere Erscheinung von Dämonen, die sich ihr Leben mit feigen Illusionszaubern zu retten pflegten und bei Gefahr viel eher flüchteten, als sich einem Kampf zu stellen, in dem sie meistens ohnehin unterlagen. Wie konnte man dieses armselige Gesindel nur anbeten und ihr Oberhaupt als Kami ehren? Naivität und der Zwang, einen Glauben vertreten zu müssen, schienen in der Natur des Menschen zu liegen... Der metallische Geruch von Blut zog meine Aufmerksamkeit auf sich, mein Instinkt meldete sich mit einem heftigen Verlangen nach Blut und Jagd unüberhörbar in meinem Kopf. Es war unmöglich zu leugnen, dass mir der Sinn danach stand, etwas zu töten; ein aufschreckendes Reh löste schließlich den entscheidenden Reflex aus, der mein Denken weitestgehend lahm legte. Das Jagen eines Rehs war für mich bloß ein Spiel, nichts weiter. Es hatte von vornherein keinerlei Aussichten weiterzuleben, da es mir in allen Hinsichten unterlegen war. Meine linke Hüfte arbeitete gegen mich, aber von meiner Beute ließ ich nicht mehr ab, dazu war mein Begehr, der Durst nach Blut zu groß, der Schweißgeruch des Opfers zu stark, meine schiere Gier etwas zu reißen zu übermächtig. Ich spürte sehr deutlich, dass es schwieriger für mich war als sonst, bald wurde ich des Spiels müde und beendete es kurzerhand, indem ich dem nassgeschwitzten, verzweifelt fliehenden Reh die linke Flanke mit meinen Klauen aufschlitzte. Der Geruch des frischen Blutes hatte eine belebende Wirkung auf meinen Körper, vernebelte aber auf der anderen Seite meinen Verstand, versetzte mich in einen mir wohlbekannten Rausch. Nur ein winziger Teil meines Bewusstseins war vorhanden, als ich dem Todeskampf des Tieres ein Ende setzte und seinen hinterlassenen Leib mehr oder minder begierig auseinander nahm. Normalerweise war es nicht meine Art, ein Opfer, egal welcher Art, so dermaßen zu massakrieren, aber ich hatte nichts dagegen ausrichten können. Außerdem war es mir gleichgültig; das, was übrig blieb, würde seinen Abnehmer mit absoluter Sicherheit finden. Natürlich hatte ich gewusst, dass das Reh als Beute zuviel für mich gewesen war, und ehrlich betrachtet war es mir nicht um das Fleisch des Tieres gegangen, nicht um Nahrung, ich hatte Jagen wollen... nein, ich hatte Töten wollen. Sonst nichts. Mein animalischer Instinkt beherrschte mich zuweilen völlig, brachte mich dazu Dinge zu tun, die mir ansonsten fast schon zuwider waren. Mein Interesse verflog so rasch wie es aufgekommen war, mit einem Mal verschwand der Einfluss meiner tierischen Natur. Nachdenklich betrachtete ich das Endprodukt meines blinden Wahns... Ich schüttelte den Kopf, in letzter Zeit begann es heftig auszuarten, meine Kontrolle entzog sich mir wie von selbst. Eigentlich durfte so etwas nicht geschehen; es war reines Glück, dass ich es dieses Mal bei einem einzigen Tier belassen konnte. Unter anderen Umständen hätte solch ein Anfall wohl unter den Kitsune ein Blutbad angerichtet, das seinesgleichen gesucht hätte... Auf dem Weg zurück zur Lichtung bemerkte ich die Lahmheit meiner Hüfte umso nachdrücklicher, wenn ich es recht betrachtete, war sie fast untauglich, es gestaltete sich für mich unglaublich schwer, durch das Unterholz zu kommen und das Gleichgewicht richtig zu halten. Schwerfällig ging ich vor dem kleinen Fluss, der sich durch das kurze Gras der Lichtung schlängelte, auf die Knie herunter und musterte für einen kurzen Augenblick meine Erscheinung. Es war definitiv keine neue Erkenntnis für mich, dass ich nach einem Anflug dieser Sorte vollkommen mit dem Blut meiner Opfer besudelt war. Mit der Zeit gewöhnte man sich eben an Vieles. Das langsam fließende Wasser begann sich rot zu färben, als ich mir Hände und Gesicht wusch, meine Haut von der fast schwarzen Flüssigkeit befreite. Mein eigenes Spiegelbild sah mir unverkannt entgegen, aber Schuldgefühle waren in mir wegen einer Sache wie dieser nie aufgekommen und so geschah es auch jetzt nicht. Ihre bedächtigen Schritte ließen mich aufsehen, ich hörte, dass ihr Atem kurz stockte, als sie mich ansah. Diese Reaktion verriet mir mehr als jede Frage, die sie mir in diesem Zusammenhang hätte stellen können, mehr als jedes Wort, das ihr in Verbindung mit meinem Anblick über die Lippen gekommen wäre. Nur zu gut wusste ich, was Menschen über solche unnötigen Barbareien dachten und wie sie mit den Ausführenden umgingen, über sie sprachen. Ich hatte kein schlechtes Gewissen; erwartete dennoch mit jedem weiteren Schritt, den sie auf die weißen Steinstufen setzte, dass sie mich dafür verurteilte und mit den Ausdrücken betiteln würde, die ich schon so oft in meinem Leben zu hören bekommen hatte. In stiller Erwartung folgten meine Augen ihren Bewegungen, nahmen wahr, wie sie näher kam und schließlich in einiger Entfernung frontal zu mir abkniete. Das hatte ich nicht in Betracht gezogen. "Geht es dir besser?" Es war kein Missfallen, was ihre Erkundigung in mir auslöste, eher Unverständnis, Verwirrung. Mein Blick kippte ins Abwesende. Was bezweckte sie damit? Die Priesterin faltete die Hände in ihrem Schoß, fixierte nicht die blutigen Flecken auf meiner Kleidung, sondern meine linke Hüfte. ...meinte sie das? Mühselig unterdrückte ich ein Seufzen; es verursachte mir keine Schmerzen, aber sie war so gut wie ungebräuchlich und erschwerte mir beinahe jede Bewegung... Um auf ihre Anfrage zurückzukommen: nein, ging es nicht. Im Grunde war es sogar schlechter geworden, die Überbeanspruchung durch die Jagd hatte den Rest der vorübergehenden Lähmung dazu gebracht, sich wieder auszuweiten. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich in der Lage war aufzustehen. Eine Bilanz, die mich zum Überlegen veranlasste. "Wenn du magst, können wir den Nachmittag über hier bleiben. Es besteht kein Anlass zur Eile." Ein schwaches Lächeln bildete sich auf ihren Lippen, als sie den Kopf hob und in den Himmel aufschaute. Wozu sollte ich ein Argument dagegen aufbringen? Damit würde ich mir die Gelegenheit, meinem Körper eine umfassende Regenration zukommen zu lassen, selbst verbauen; ich sah keinen Anlass ihr zu widersprechen. Andererseits bedurfte es auch keiner Zustimmung meinerseits; mein Schweigen schien ihr als Einverständnis auszureichen... ּ›~ • ~‹ּ ***>>> Kapitel 13: >"Die Warnung eines Unbekannten ernst zu nehmen, mag im ersten Moment töricht erscheinen, doch man sollte sich darüber im Klaren sein, dass es sich nicht bei jedem Fremden um einen Heuchler handelt. Es ist unvermeidlich, dass sich Wasser und Luft nach langer Zeit wieder begegnen..." *» Fyrirlitning Kapitel 13: *~Fyrirlitning~* ---------------------------- "Hass ist die Rache des Feiglings dafür, dass er eingeschüchtert ist." – George Bernard Shaw Kapitel 13 - Fyrirlitning -Hass- *Ist Rivalität etwas, über das man schlichtweg nicht hinweg kommen kann? Gelten diese Regeln der Feindschaft selbst noch, wenn seit der letzten Begegnung Jahrhunderte vergangen sind? Oder schürt die Zeit bloß noch stärkeren Hass zwischen den beiden gegensätzlichen Fraktionen? Und gibt es überhaupt ein Entfliehen aus jenem Teufelskreis der Unversöhnlichkeit?* ּ›~ • ~‹ּ Aus den länger werdenden Schatten des Waldes löste sich die Silhouette eines großen Tieres, ein paar kleinere Sträucher raschelten, als es an ihnen vorüber streifte. Aus reinem Reflex heraus, wandte Flúgar den Kopf in die Richtung der Geräuschquelle, fand rasch seine Witterung zwischen den vielen anderen Gerüchen und beobachtete aufmerksam die Stelle, an der die Gestalt in den nächsten Augenblicken auftauchen musste. Kitsune... Er versteckte sich nicht und gab sich keinerlei Mühe, seine Anwesenheit in irgendeiner Art zu verbergen; er wollte bemerkt werden. Mit vorsichtigen Schritten verließ er seine Deckung, den Schutz des dichten Unterholzes und gab seine Erscheinung preis; es war ein Fuchs, unglaublich graziös in seinem Körperbau und erhaben in seinem äußeren Eindruck. Sein Fell war cremefarben bis hellbraun, weiß an der stolz gewölbten Brust, seine Rückenhöhe maß wohl so viel wie die Inazumas. Sein Gesicht wies eine merkwürdige, dunkelbraune Zeichnung auf, und er besaß fast ein ganzes Dutzend Schweife. Midoriko wohnte dem schweigend bei, Kaneko teilte ihre Ruhe. Kitsune waren heilige Tiere und dieser Ort war ihrer Göttin Inari geweiht, sie bereiteten sicherlich keinen Angriff vor, das war undenkbar. Das einzige Problem, das möglicherweise aufkommen würde, war Flúgar. Ihn kümmerte die Heiligkeit dieser Wesen genauso wenig wie das Umkippen eines Sackes Reis am anderen Ende des Reiches. Hoffentlich entsann er sich eines besseren und schlug sie nicht sofort in Stücke, wenn sie näher kamen. Dieses Exemplar war gewiss nicht alleine, seine Gefährten hielten sich abwartend im Gesträuch. Ein helles Licht erfasste den Fuchs, ließ seine Gestalt kleiner und aufrechter werden und mit seinem Verschwinden gab es den Blick auf eine junge Frau preis. Die Miko war baff. Der Fuchs war eine...Frau? Oder war es wahrhaftig Inari-sama höchstpersönlich? Ihre Stimme versagte, sie verneigte sich demütig und senkte das Haupt bis ihre Stirn den Boden berührte. "I...Inari-sama..." Die Züge der Fuchsfrau wurden mild, sie lächelte und ließ sich gemächlich auf die Knie nieder. Dann schüttelte sie zaghaft den Kopf. "Nein, Miko-sama, ich bin bloß eine ihrer Töchter und Untergebenen. Man nennt mich Yumeji. Ich bin das Oberhaupt der Sippe, die hier am Fuße des Schreins lebt." Unsicher richtete sich die junge Priesterin wieder auf und stellte nun ihrerseits etwas verwundert fest, dass sich die Füchsin vor ihr tief verbeugte. Erst auf ihr Geheiß hin, setzte sie sich wieder auf. Midoriko prüfte ihr gegenüber von oben bis unten, angefangen mit den feinen Gesichtszügen, dem sorgfältig zurückgesteckten, hellbraunen Haar, das dunklere Akzente aufwies und den nussbraunen Augen, über ihre schlanke, zierliche Figur, den bauschigen Fuchsschwanz bis hin zu ihrem azurblauen Seidengewand. Sie war atemberaubend schön, man hätte sie ohne weiteres mit einer Hime verwechseln können. Ohnehin gab es kaum etwas, dass sie von einem Menschen unterschied, man musste schon sehr genau hinschauen, um die kleinen Differenzen sicher herauszufinden. "Was willst du?" Flúgars tiefe Stimme riss beide Frauen völlig aus dem Kontext. Ängstlich fixierten die Augen der Füchsin den Loftsdreki, der sich mittlerweile hinter der schwarzhaarigen Menschenfrau aufgebaut hatte und demonstrativ die Knöchel seiner Finger knacken ließ. Erneut warf sich Yumeji auf den Boden. "Verzeiht bitte, Gebieter, es ist nicht unsere Absicht Euch zu belästigen. Aber beunruhigende Dinge sind geschehen, von denen Ihr wissen solltet, denn sie betreffen nicht nur die Kitsune." Die Priesterin wurde hellhörig und wandte ihren fragenden Blick an den noch im Gras kauernden Fuchsyoukai. "Was genau meinst du damit, Yumeji?" Die Angesprochene zitterte, wagte sich nicht einmal mehr, die Augen zu öffnen. Flúgars Präsenz flößte ihr anscheinend die blanke Panik ein. "Drück dich präziser aus, Kitsune." Das war keine Bitte, es war ein Befehl, und zwar ein überaus nachdrücklicher. Langsam fasste sie sich, kam wieder in ihre sitzende Position zurück, beruhigte ihre vor Angst schwankende Stimme. Sie schluckte schwer. "Kein Tag ist vergangen, seit wir von unserer am Waldrand lebenden Schwesternsippe Nachricht erhielten, dass ein Fremder sich in der Gegend aufhält. Kaum ein Kitsune hat die Begegnung mit ihm überlebt, aber die, die mit ihrem Leben davon gekommen sind, berichten, dass er bevor er angriff nach dem Verbleib der Person mit dem ungewöhnlichen Youki fragte... er meinte, er suche diese, da er ihre Begleitung kenne..." Midoriko ließ sich Yumejis knappe Erzählung noch einmal durch den Kopf gehen. Wen suchte der Fremde? Sie, oder Flúgar? Jemand, der die Kitsune tötete, konnte eigentlich kein Mensch sein, oder? Also ein Youkai? Fragend suchte sie nach Flúgars Augen, wechselte einen Blick mit ihm, bat ihn wortlos um Rat. "Er sucht dich." Ziemlich erschrocken starrte sie ihn für einen Moment fassungslos an. Diese Aussage erschien ihr unglaubwürdig. Mehr für sich selbst schüttelte sie den Kopf und kam auf Yumeji zurück. "Und du denkst auch, dass er mich sucht?" Der Füchsin wurde ihre Hilflosigkeit bewusst, aber sie wusste, dass sie die Menschenfrau auch nicht von ihrer Befürchtung entlasten konnte. Sie würde nicht lügen, daher nickte sie gewichtig. "Ja. Das einzige Youki in der gesamten Umgebung, das ich als ungewöhnlich beschreiben würde, ist Eures, Miko-sama. Normalerweise besitzen menschliche Wesen keine Aura. Verzeiht, aber eine andere Möglichkeit besteht leider nicht und... wir sind uns einig, dass er nach Eurem Leben trachtet..." Betrübt wanderte ihr Blick auf den Boden. "Wir sahen Euer Gebet zu unser aller Anführerin, Inari-sama, deshalb entschlossen wir uns, Euch zu warnen, denn derjenige, der sich zu Inari-sama hingezogen fühlt, zu dem fühlen auch wir uns hingezogen ... verzeiht bitte, aber zu mehr sind wir unglücklicherweise nicht in der Lage, dieser Fremde ist zu mächtig, wir können nichts gegen ihn ausrichten." Der Kummer, den sie empfand, zeichnete sich überdeutlich auf ihrem Gesicht ab, sie bedauerte zutiefst, der Priesterin nicht helfen zu können. Schier um Verzeihung bittend neigte sie ein weiteres Mal den Kopf gen Erde. "Er durchstreift den Wald unaufhörlich nach Euch, er wird nicht ruhen, ehe er Euch gefunden hat, das versichere ich Euch, Miko-sama... vergebt mir, aber ich kann Euch nicht helfen..." Behutsam legte Midoriko der unglücklichen Yumeji eine Hand auf die Schulter, zollte ihr durch diese Gestik ihre Dankbarkeit. Sie hätte sich nicht in ihren entferntesten Träumen vorgestellt, dass sie sich einmal mit einem Kitsune unterhalten würde. "Ich danke dir für diese Warnung, Yumeji." Der Fuchsyoukai sah auf, dieser Mensch meinte es ernst mit ihr, deutete eine leichte Verbeugung an und schenkte ihr ein warmes Lächeln, das sie nur erwidern konnte. "Du sagtest, er wäre der Meinung gewesen mich zu kennen." Flúgars Miene war nachdenklich, sein Blick abwesend und in die Ferne gerichtet. Yumeji nickte zustimmend. "Das wurde mir erzählt, ja." Ihre braunen Augen erfassten den hochgewachsenen Youkai, beobachteten jede noch so kleine Muskelbewegung. Er schloss nun seinerseits die Augen, und mit einem Mal frischte der Wind unheimlich auf. Der Loftsdreki rief sich die Dämonen ins Gedächtnis, denen er solch eine Dummheit zutrauen würde. Es musste jemand sein, der ihn einigermaßen gut oder aber lange kannte, denn nur diese wussten, dass er nie in Begleitung anderer unterwegs war. Aber er spürte und witterte nichts, der Wind verriet ihm nichts über einen derartigen Fremdling in der weiteren Umgebung. Andererseits glaubte er nicht, dass der Kitsune log, es gab keinen Grund dafür und es sprangen keine Vorteile für ihre Sippe dabei heraus. "Er dämmt sein Youki so drastisch ein, wie Ihr, Gebieter, dass selbst wir ihn nicht erkennen können. Viel kann ich Euch nicht über ihn mitteilen, aber die Kitsune, die ihm begegnet sind, sagten aus, er rieche nach Salz und dem Ozean..." Sie hatte Recht, sein Youki war nicht zu erspüren, nicht zu erfassen... es musste sich um einen sehr mächtigen Dämon handeln, wenn er zu solch einer Tarnung fähig war. Ob er ihm vielleicht sogar mehr als ebenbürtig war? Aber wer? Aber ihre Ausführung über seinen Geruch brachte ihn nicht weiter, jeder, der zuvor an der Küste gewesen war, konnte diese Witterung mit sich bringen, und damit war es keine sehr hilfreiche Information. Yumeji unterbrach schüchtern seine Gedankengänge. "Ich glaube nicht, dass er gelogen hat... er kennt Euch, Gebieter, und aus unerfindlichen Gründen interessieren ihn Eure Angelegenheiten zurzeit mehr als alles andere. Ein Verbündeter würde nicht über Leichen gehen, um Euren und den Aufenthaltsort von Miko-sama zu erfahren... es hat den Anschein, als wäre es jemand, der damit rechnet sich mit Euch auseinandersetzen zu müssen. Also ist er entweder unheimlich dumm, oder unheimlich mächtig, er ist sich seiner Sache sicher. Vielleicht irren wir uns und Miko-sama ist nur das vermeintliche Ziel und... der wahre Anreiz für seine Bemühungen ist Euer Tod." ּ›~ • ~‹ּ Eine dünne Wolkendecke verhüllte den Himmel, der schwache Nieselregen warf einen Vorhang aus matten Grautönen über die klare Sicht, wobei der Wind lau verblieb, die winzigen Wassertröpfchen in seine Zugrichtung hin abtrieb. Schon den ganzen Tag war das Wetter diesig, schuf eine unangenehme Atmosphäre, die nicht nur mir an den Nerven zu zerren schien; er schwieg, aber das hatte bekanntlich nichts zu bedeuten. Nicht nur uns beiden gefiel das Wetter nicht, auch Kaneko und Inazuma hätten den Tag lieber an einem trockenen Platz verbracht. Zum anderen wollte ich weiter, denn der Wald war mir noch immer nicht geheuer, und Yumejis Warnung spukte ununterbrochen durch meinen Kopf. Eine ganze Tagespause hätte bloß meine Nervosität ins unermessliche gesteigert, und so setzten wir unseren Weg durch das unwegsame Gelände fort. Die Kitsune wich seit unserer Begegnung nicht mehr aus meinen Gedanken und das, was sie uns mitgeteilt hatte, war Ursache für eine böse Vorahnung, die mich beschlich. Ich konnte nur hoffen, dass sie sich nicht bewahrheiten würde und eine Ausgeburt meiner Fantasie blieb, denn schon zu oft war etwas Schlimmes geschehen, wenn dieses sonderbare Gefühl in mir wuchs. Ob ich vielleicht Flúgar davon erzählen sollte? Mir war bewusst, dass er nichts dagegen unternehmen konnte, aber möglicherweise würden seine Worte mich beruhigen; Leute wie er glaubten nicht an solche Ahnungen, und manchmal stimmte mich ihre Argumentation zur Begründung dessen so zufrieden, dass ich an meinen Empfindungen zweifelte. Wenn ich allerdings an das letzte Mal dachte... "Glaubst du, dass es möglich ist, dass Yumeji gelogen hat?" Selbst von meiner Position aus konnte ich erkennen, dass Flúgar für einen Moment den Kopf schief legte, ehe er antwortete, ohne sich umzudrehen oder stehen zu bleiben. "Nein, sie hatte keinen Grund dazu." Ich hatte sie auch als absolut glaubwürdig eingestuft, eine Lüge dieser Art wäre für sie sinnlos gewesen, aber ich wollte ohnehin auf etwas Anderes hinaus... "Könnte diese Warnung vielleicht ein schlechtes Omen sein? Seit unserem Gespräch ist der Himmel trüb und der Wald grau." Mein fragender Blick durchbohrte ungesehen seinen Rücken, er ließ sich diesmal viel Zeit für eine Erwiderung. Ich war schon kurz davor es aufzugeben, und wieder über Deutungen und Vorahnungen zu sinnieren, als er sich zu meiner Bemerkung äußerte. "Eine Warnung ist kein Omen, und selbst diese betreffen weder das Wetter noch den Wald." Konnte ich ihm in dieser Beziehung Recht geben? Ich war mir nicht sicher, immerhin begleiteten mich die Sommergewitter schon über Jahre hinweg als schlechte Omen... Diese Sache brachte mich durcheinander und in gewissen Punkten war ich seiner Meinung, was sollte den Wald eine Warnung kümmern? Nichts, denn es betraf ihn ja nicht... "Über so etwas nachzudenken führt zu nichts, du solltest deine Gedanken nicht an solch einen Unsinn verschwenden." Und das kam von ihm? Vielleicht störte ihn, dass ich seine Auffassung in dieser Hinsicht auch in Erwägung ziehen wollte... ich seufzte leise. Sein beiläufiger Seitenblick in meine Richtung sagte alles; er hielt mich für abergläubisch, mindestens... "Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand mich sucht, ich teile Yumejis Ansichten. Hast du eine Ahnung, wer dich so unbedingt aufspüren will?" Er reagierte kaum erkennbar, zuckte bloß unscheinbar die Schultern. "Es gibt Einige, die mich lieber tot sehen würden." Ungläubig blinzelte ich erst einmal, fuhr mir durch die Haare. Wie konnte man solche Tatsachen nur so gelassen aufnehmen und aussprechen? "Und das beunruhigt dich nicht? Ich meine, macht dir das nichts aus?" Flúgar schüttelte andeutungsweise den Kopf. "Es beruht auf Gegenseitigkeit." Mich verunsicherte es ja bereits, dass jemand angeblich hinter meinem Leben herjagte, und er...? ...sprach davon, als wäre es das Normalste auf der Welt. Ich verstand das nicht, zwischen Dämonen herrschten wohl andere Verhältnisse, obwohl ich auch einräumen musste, dass viele Menschen einander lieber tot als lebendig wieder begegnen würden. Meinem ärgsten Feind wünschte ich nicht den Tod, diese Einstellung war mir fremd, denn ich war gelehrt worden, den Tod und das Sterben mehr oder weniger zu verachten. Einer Seele den Körper zu rauben war nie ein anstrebsames Ziel für mich gewesen und würde es auch niemals sein. Den Mittag über gingen mir allerlei Dinge durch den Kopf, besonders über gute und böse Omen, Wetterverhältnisse, Geschichten über hellseherische Kräfte und das Racheverhalten bei Menschen und Youkai. In keinem Punkt kam ich zu einem runden Schluss. Währenddessen hatte sich das Wetter nicht verändert, und die Reisestimmung erreichte gerade einen neuen Tiefpunkt. Uns vier als eine Gemeinschaft einzustufen würde niemandem einfallen, dem war ich mir sicher; die Kommunikation untereinander verlief mehr als stockend, wobei zu beachten war, dass zwei von uns nicht einmal sprechen konnten. Bei Flúgar mochte einem dieser Verdacht auch rasch kommen, aber er war weder unfähig noch stumm, einfach keine sehr redselige Begleitung und daran war sicherlich nicht viel zu ändern. Ich hätte nunmehr viel für einen Gesprächspartner gegeben, denn langsam aber sicher nagte die ständig andauernde Stille an meinen Nerven. Irgendwann war eben Schluss, selbst bei mir. Toleranz über alles, aber nicht über das hier. Unter Umständen war es besser, wieder meiner eigenen Wege zu gehen... oder? Ob ich allein wirklich besser bedient wäre? Und was würde ich tun, sollte noch einmal so etwas wie in Kakougen No Kyou geschehen? Ich wusste es nicht... Gedankenverloren betrachtete ich die Umgebung, gab mir Mühe, mich abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen. Der feine Regen rauschte leise in den Blättern, begleitete das geräuschvolle Fließen des kleinen Flusses, der sich von einer Felswand aus als Wasserfall in ein flaches Steinbecken ergoss und dort sammelte. Das rostbraune Gestein war verwittert, umgeben von Geröll, das den steilen Aufstieg noch komplizierter erscheinen ließ, als er vermutlich war. Zusammen mit dem dunklen Grün des Waldes ergänzten sich die Farben fast perfekt, und die Formation fügte sich passend in die Erscheinung des Waldes ein. Vertieft in die Schönheit der Natur, stieß ich urplötzlich gegen Flúgar; ich hatte nicht bemerkt, dass er stehen geblieben war. Unmittelbar trat ich einen großen Schritt zurück und holte zu einer umfassenden Entschuldigung für mein unangebrachtes, träumerisches Verhalten aus, als mir auffiel, dass er sich absolut nicht um meine Unaufmerksamkeit scherte. Verdutzt sah ich ihn an, aber erst, nachdem ich ihn genauer in Augenschein genommen hatte, erkannte ich die Spannung jedes Muskels in seinem gesamten Körper. Eine Haltung, die an eine angriffsbereite Katze erinnerte, die ihre Beute genau vor Augen hatte. Auch Kaneko begann zu fauchen, legte die Ohren zurück, entfachte ihre dämonischen Kräfte, um sich in die tigergroße Feuerkatze zu verwandeln. Ich hingegen war ratlos, schaute mich um, ohne überhaupt zu wissen, nach was. "Lange nicht gesehen, Flúgar..." Alarmiert schreckte ich hoch, starrte in die Richtung, aus der ich die Stimme vernommen hatte. Viel konnte ich nicht ausmachen, denn selbst, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, war es mehr als eine beschwerliche Angelegenheit, Flúgar über die Schulter zu schauen. Um mir einen besseren Ausblick zu verschaffen, drängte ich mich an Kaneko vorbei, wurde aber augenblicklich von dem Dämon neben mir zum Innehalten gezwungen, als er seinen rechten Arm auf Brusthöhe vor mir ausstreckte. Aus den tiefen Schatten des gegenüberliegenden Nadelwaldes hoben sich zwischen den Bäumen immer deutlicher die Umrisse einer humanen Gestalt ab; die Konturen erhielten ihre Klarheit, als sich die Person aus dem Dunkel löste und sich ohne zu zögern preisgab. Erstaunt musterte ich den Fremden eindringlich, und allmählich begann sich die Faszination meiner zu bemächtigen. Er war mindestens so groß wie Flúgar, trug edle Gewänder in silbergrauer und meeresgrüner Farbe, Schmuck aus echten Perlen und seltenen Muscheln. Sein Haar war lang, dunkelblau wie die Tiefsee, endete in scharf abgegrenzten, weißen Spitzen und fiel ihm offen über die Schultern und ins Gesicht. Mit der rechten Hand umfasste er eine reichlich mit Edelsteinen besetzte und kostbaren Meeresschätzen geschmückte Lanze, deren Klinge sich im oberen Drittel teilte. Das war ohne Zweifel eine Waffe, eine heilige Waffe. Lässig schulterte der Unbekannte sein offensichtliches Heiligtum, sodass die Verzierungen klimperten, er hatte eine Ausstrahlung, die ich einfach nicht einzuordnen wusste. Mit sicheren Schritten näherte sich noch ein wenig, blieb schließlich stehen, herausfordernd, seine Körperhaltung sprach von außerordentlicher Sicherheit. Ein listiges Grinsen legte sich auf seine Lippen. "Sehr gesprächig warst du ja noch nie, aber dass du wirklich gar kein Wort für mich übrig hast, hätte ich nicht gedacht." Ein Selbstmörder...? Die Worte, die seine rauchige, aber durchaus angenehm schwingende, milde Stimme formten, klangen nach wahrer Enttäuschung. "Verräter." Unbeeindruckt und ohne erkennbare Notiz dessen wanderten seine Augen über Kaneko und Inazuma, dann ruhte sein Blick auf mir. Flúgar begann zu knurren. "Bloß ein Menschenweib... hübsch, zugegeben, aber was willst du mit ihr?" Das Grollen in der Kehle des Angesprochenen wurde tiefer. Sein Gegenüber legte den Kopf zurück in den Nacken, sog die Luft hörbar ein, dann wurde der Ausdruck in seinem Gesicht wissend. "Daher weht also der Wind... sie muss dir aber eine unglaubliche Befriedigung verschaffen, wenn du sie freiwillig so lange mit dir rumschleppst." Was meinte er mit unglaublicher Befriedigung?! Hatte ich etwas nicht mitbekommen? Auf seltsame Art und Weise konnte ich seinen Worten nicht so richtig folgen... ich war eindeutig überfragt, wie von selbst strebten meine Augen den Kontakt zu denen des Fremdlings an. "Von was bitte redest du?" Er unterdrückte sein Lachen, belächelte amüsiert meine Unwissenheit. "Erzähl mir nicht, dass Flúgar heute noch nicht über dich hergefallen ist wie ein ausgehungertes Tier. Bei deinem Geruch fällt es selbst mir schwer, mich zurückzuhalten." Sein Gesichtsausdruck gefiel mir gar nicht... Aber ich verstand es immer noch nicht, ich konnte mir einfach keinen Reim auf seine Worte machen. Flúgar und über mich hergefallen? Wegen was? Wozu?? "Du hättest es nicht wagen sollen hierher zu kommen, Shiosai." Der bittere Ernst und der bedrohlich schwankende Unterton in seiner Stimme waren so heftig, dass es mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Seine rechte Hand lag auf dem Griff seines Katanas, die verengten Augen fixierten den Gegner; dass die zwei sich nicht ausstehen konnten war nicht schwer herauszufinden, denn beide unterdrückten ihre Auren nicht weiter. Wer von ihnen stärker war, konnte ich nicht sagen. Ein letztes Mal wandte sich der fremde Dämon, den Flúgar mit Shiosai angesprochen hatte, an mich, und nichts als Lüsternheit sprach aus seinen Zügen... "Durch deine Witterung verrätst du unverkennbar deine monatliche Bereitschaft einer Empfängnis, und ein Dämon will seine Triebe befriedigt wissen... das ist ein angemessener Preis für meinen bevorstehenden Sieg über diesen verdammungswürdigen Loftsdreki." Ich spürte, wie mein Herz plötzlich anfing zu rasen und meine Wangen sich rot färbten, mein Körper zitterte. Davon redete er die ganze Zeit?! Flúgar sollte mich...? Wie kam er auf so etwas Abwegiges? Flúgar hatte mich nicht einmal unsittlich berührt, nicht einmal solche Worte in den Mund genommen... er wollte mich als seinen Siegesbeweis, und zwar buchstäblich... Tränen brannten in meinen Augenwinkeln, gegen jemanden wie ihn konnte ich mich nicht zur Wehr setzen, würde er es tatsächlich fertig bringen, Flúgar zu besiegen oder gar zu töten, bestand keine Hoffnung mehr. Weder für Flúgar, noch für mich... "Verschwinde endlich." Flúgars Tonfall hatte sich grundlegend geändert, überrascht sah ich ihn an, als wäre sein Befehl einfach an mir vorüber gezogen. "Du bist hier nur im Weg, beeil dich und bleib nicht stehen." Meine Fassung war dahin, die Tränen liefen mir ungehindert über die Wangen. Ich hatte mir so sehnlichst gewünscht nicht noch einmal in diese Lage versetzt zu werden, mich nicht mehr entscheiden zu müssen... "Aber-" Er gebot mir zu schweigen, mein Widerspruch hatte keine Aussichten auf Erfolg. Der flüchtige Blick, den er mir zuwarf, forderte meinen Widerwillen schließlich doch vollkommen ein... ich nickte schwach. Flúgar zog sein Schwert; es war das erste Mal seit unserem Treffen, dass er es zog, um es in einem Kampf einzusetzen. Die Klinge, befreit aus ihrer Scheide, verfärbte sich in den Händen des Youkai. Wie gebannt betrachtete Shiosai das nun mit breiten, ungleichmäßigen magentafarbenen Streifen gemusterte Stücke Metall, brachte demonstrativ die eigene Waffe vor seinem Körper. "Du verlässt dich auf die Macht eines längst krepierten Narren? Ich habe dich noch nie verstanden, Flúgar... Erinnerst du dich an Sui No Rinrou?" Betont langsam richtete er die Spitzen der beiden Klingen seiner Lanze auf seinen Gegenspieler; sein Gesichtsausdruck wurde finster. "Mit ihrer Hilfe reiße ich dich in Stücke, Loftsdreki, das ist ein Versprechen!" Flúgar umschloss das Katana fester mit den Händen, blanker Hass vernahm seine Augen ein. Shiosais Worte quittierte er mit einem abfälligen Laut, bevor er mich unsanft zu Inazuma stieß. Er forderte mich nicht mehr verbal dazu auf zu gehen, aber ich wusste instinktiv, was er mit seiner Gestik bezweckte und dass er Recht hatte. Schweren Herzens stieg ich behutsam auf den Rücken des schwarzen Wallachs und trieb ihn an, Kaneko folgte unaufgefordert. Ich sah nicht zurück, hörte aber nur allzu deutlich, wie Stahl auf Stahl traf, und zwar mit solch einem Nachdruck, dass der Klang des vibrierenden Metalls unaufhörlich in meinen Ohren surrte... ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Sui - zweites Element, Wasser Rinrou - schöne Perle ***>>> Kapitel 14: >"Mit roher Gewalt prallen die beiden Elemente aufeinander, fechten einen Kampf um Leben und Tod miteinander aus. Nur einer wird den Sieg davontragen, und den anderen wird sein Schicksal ereilen. Wer nun allerdings überlegen ist, bleibt fraglich..." *» Urei Kapitel 14: *~Urei~* -------------------- "Das sind die Starken, die unter Tränen lachen, eigene Sorgen verbergen und andere glücklich machen." – Franz Grillparzer Kapitel 14 - Urei -Sorge- *Wo ist der Sinn von Gewalt, Kämpfen und aggressiven Auseinandersetzungen zu suchen? Oder gibt es diesen überhaupt nicht? Bringt nicht selbst jeder errungene Sieg einen bitteren Beigeschmack mit sich? Und ist daraus nicht zu folgern, dass man bereits sein muss, einen hohen Preis zu bezahlen, Opfer und Verluste zu akzeptieren, um zu gewinnen?* ּ›~ • ~‹ּ Shiosai lächelte süffisant, aber gleichermaßen kalt. "Was würde wohl dein Vater dazu sagen?" Es war eine rhetorische Frage. "Du gibst dich mit einem Menschenweib ab, du beschützt sie regelrecht... du bist eine echte Schande für deine Familie!" Er wusste mit Bestimmtheit, dass diese Beleidigung saß; Flúgar blieb ruhig, wenn man ihn persönlich angriff, aber diese Gelassenheit schwand sofort, sobald man seine Ahnen oder seine Familie indirekt attackierte, sei es auch nur mit Worten. Flúgar fasste Skýdis mit beiden Händen und stieß den überlegen grinsenden Vatnsdreki mehrere Schrittlängen von sich weg. Einem knappen, ergebnislosen Schlagabtausch folgte ein beidseitiges Innehalten. Für einen Moment musste Flúgar sich sammeln, damit ihm nicht sofort die Kontrolle entglitt und er aus der Fassung geriet. Denn darauf wollte Shiosai letztendlich hinaus. Er würde sich nicht von einem elendigen Verräter wie ihm provozieren lassen. Niemals. Erneut trafen Sui No Rinrou und Skýdis aufeinander, Wasser begegnete Wind, der schwingende Stahl schrie unter dieser Art von Belastung gellend auf. Das Youki der beiden Kontrahenten steigerte sich ins schier Unermessliche, keinem gelang es, den anderen zurückzudrängen, trotz der Entschlossenheit, die beiden innewohnte, und dem Hass, der die beiden Drachen beherrschte. Es war ein endgültiger Kampf, einer von jener Sorte, der nur mit dem Tod von mindestens einem der Rivalen enden konnte. Sie waren einander ebenbürtig, zumindest auf der Ebene, die ihre körperliche Kraft beschrieb; es machte keinen Sinn, auf diese Weise Energie zu verschwenden und zu keinem Ergebnis zu kommen. Shiosai löste seine Waffe aus der Verkeilung mit dem Katana seines Gegners und setzte ein ganzes Stück zurück, um sich den nötigen Freiraum für einen neuen Angriff zu schaffen. Mit der Hilfe von Sui No Rinrou beschwor er sein Element, das Wasser, ordnete die beträchtliche Ansammlung, die sich unweigerlich auftat, um sich herum zu einem brausendem Strudel an, der einem Wall aus Felsen glich, den man zum Schutz vor den Waffen des Feindes um eine Festung errichtete. Auf dem Höhepunkt seiner Konzentration schwang er die Lanze in Flúgars Richtung, entfachte eine Flutwelle, die alles was ihr in den Weg kam gnadenlos mit sich riss. Der Loftsdreki schloss die Augen, ließ die Massen von Wasser auf sich zukommen; seine Ruhe kam Shiosai etwas zu stoisch vor, wie konnte er in dieser Situation nur so gelassen bleiben? Irgendetwas stimmte nicht... Der Wind frischte mit einem Mal heftig auf, Sturmböen in einem kaum gesehenen Ausmaß erschienen aus dem Nichts, schlugen die raue Oberfläche des Wassers schaumig. Flúgars Augen glühten blutrot, als er die kräftigen Windstöße schließlich anwies, sich zu verbinden, und sich um ihn herum zu einem orkanartigen Wirbelsturm zusammen zu schließen, der Shiosais Angriff entzweite und das Wasser auseinander trieb. Ungläubig starrte Shiosai ihn an, seine meeresgrünen Augen verengten sich leicht, bevor er seiner Verärgerung über Flúgars gleichermaßen gut ausgeprägte Kontrolle und Beherrschung seines Elementes Luft machte und sich einen langatmigen, heftigen Schlagabtausch mit diesem lieferte. Unerbittlich, Metall prallte auf Metall, der Stahl klagte schmerzerfüllt. Würde sich der Kampf weiterhin so gestalten, gab es keine Aussicht auf ein baldiges Ende. Allerdings bemerkte Flúgar mit jedem neuen Schlag, den Shiosai mit Sui No Rinrou in seinem Verdruss gegen ihn führte, dass er die Lanze nicht einhändig benutzen konnte, so wie Uminari es immer getan hatte; Shiosai mochte sein Sohn sein, aber er war bei Weitem noch nicht so stark wie sein Vater. Gut, er hatte sich in den vergangenen Jahrhunderten enorm gesteigert, das gab Flúgar zu, aber er schob die Gründe dieser Tatsache auf das mächtige Heiligtum zurück, das er erbarmungslos gegen ihn einsetzte. Vielleicht ergab sich für ihn durch den Fakt, dass er beide Hände brauchte, ein Vorteil, denn er hatte die linke Hand die meiste Zeit über frei, während der Vatnsdreki beide benötigte, um seine Waffe effizient anwenden zu können. Er wartete den nächsten Angriff geduldig ab und blockte ihn erfolgreich mit Skýdis, dann schnitt seine linke Hand durch die Luft, so plötzlich, dass Shiosai nicht mehr ausweichen konnte und Flúgars Klauen sich ungehindert durch dessen rechte Schulter bohrten. Schmerzerfüllt riss sich der Verletzte los, brach aus und stellte wieder Distanz zwischen sich und seinem verhassten Gegenüber her. Seine Wut war entfacht, loderte unverkennbar in seinen Augen; abgrundtiefer Hass entstellte seine Züge. Seine Hände schlossen sich enger um Sui No Rinrou, fast krampfhaft hielt er an der Kostbarkeit fest, nie und nimmer gewillt, sie in diesem Gefecht aufzugeben, obwohl es wahrscheinlich nicht nur seiner Schulter besser bekommen wäre. Aber rationale Gedanken lagen Shiosai zu jenem Zeitpunkt fern, er hatte nur noch ein Ziel vor Augen, und das würde er um jeden Preis zu erreichen versuchen. Problemlos parierte er eine ganze Salve von Flúgars Sturmklauen, ehe er wieder in die Offensive ging. Hinter seinem nächsten, seitlich angesetzten Schlag stand eine solche Gewalt, dass der Loftsdreki, seinen Instinkten folgend, mit einem Sprung nach hinten auswich, und sich mit einem flinken Überschlag außer Reichweite brachte. Doch der sofort nachgesetzte, präzise Angriff erfolgte so rasch, dass ihm keine Wahl blieb und er wohl oder übel blocken musste; und auch dieser war so von ungezügelter Gewalt getrieben, dass er selbst mit beiden Händen am Schwert fürchtete, nicht standhalten zu können. Dieses Mal klang die Schwingung von Skýdis Klinge erschreckend anders; diese Erkenntnis brachte ihn für einen Wimpernschlag aus dem Rhythmus, sodass es Shiosai mit Leichtigkeit gelang, Flúgar zu entwaffnen. Schon in den Händen ihres Besitzers hatte Skýdis ihre markante Zeichnung verloren, und mit erkennbarer Erschütterung entdeckte Flúgar die große Kerbe in der Klinge seines Schwertes, als sein Rivale es ihm aus der Hand schlug. Sie war nunmehr ein gewöhnliches Schwert aus Stahl, für einen Kampf wie diesen absolut ungeeignet und nicht zu gebrauchen, denn die Lanze des Vatnsdreki war nicht umsonst ein, oder vielmehr das Heiligtum seines Clans. Aus was Sui No Rinrou wirklich bestand, wusste Flúgar nicht, aber ihm war mehr als deutlich bewusst, dass eine normale Schwertklinge nicht einen Angriff dieser Waffe verkraften können würde. Er wollte Skýdis nicht aufs Spiel setzen, das war es nicht wert... Es blieb ihm nicht mehr viel übrig. Es war kein Problem für ihn, den Schlägen seines Widersachers geschickt auszuweichen, aber diese Taktik behagt ihm überhaupt nicht, schon sehr bald brach er sie ab und sein verzweifelter, reichlich unüberlegter Versuch, als Shiosai ihn in die Enge drängte, die Wasserlanze mit bloßen Händen zu blocken, kehrte sich unweigerlich gegen ihn; nicht nur, dass sie sich gegen seine Berührung mit einem mächtigen Bannsiegel wehrte, Shiosai nutzte die Gelegenheit, um beide Klingen seiner Waffe einmal schräg über Flúgars Brust zu ziehen. Die Striemen waren tief und bluteten stark, aber er ließ sich nichts anmerken; ohne Rücksicht auf sich selbst wurde sein Kampfstil immer offensiver. Seinem Gegner spielte er mit dieser Torheit nur in die Hände, fast jeder Angriff mit Sui No Rinrou brachte ihm einen Treffer ein, der weitere blutige Striemen oder Kratzer auf Flúgars Körper hinterließ. Und dieser wurde schwächer, die Anstrengungen und der hohe Blutverlust würden ihn vermutlich auch ohne eine Fortsetzung des Kampfes töten, aber Shiosai sehnte den finalen Schlag, den Todesstoß mit Sui No Rinrou herbei. Flúgar merkte, wie sein Blick sich mit der Zeit verklärte, seine Sicht verschwamm, die Umgebung wurde schummrig; er hielt sich bald nur noch mühselig mit allerhöchster Anstrengung auf den Beinen. Sein Atem ging nur noch stoßweise, der leichte Regen mischte sich mit seinem Blut, durchweichte die vom Sommer ausgedörrte Erde unter ihm. Shiosai näherte sich ihm, seine Waffe behutsam in den Händen wiegend, ein triumphales Lächeln auf den Lippen. Kurz vor Flúgar blieb er stehen, und dieser zuckte merklich in sich zusammen, als er plötzlich das kalte Metall der Klinge der heiligen Lanze zwischen seinen Rippen spürte; ein gequälter Laut entriss sich seiner Kehle, als Shiosai ein weiteres Mal mit aller Kraft zustieß. "Wie fühlt sich das an, Flúgar?" Die Augen des Loftsdreki wurden trübe, Blut begann seinen linken Lungenflügel zu füllen, er verlor langsam aber sicher das Gefühl für seinen Körper. "Skýdis..." Kraftlos streckte er die Hand nach seinem in einiger Entfernung liegenden Schwert aus, nicht nur seine Stimme zitterte, nicht nur seine Worte verklangen in ihrer Mattigkeit ungehört... "Was für eine erbärmliche Art zu sterben..." Shiosai zog die blutverschmierte Klinge seiner Waffe ruckartig aus dem Fleisch seines Gegners, setzte dann seelenruhig den Gnadenstoß an, als Flúgar ihm plötzlich in ungeahnter Klarheit tief in die Augen sah, unversehens, von einer Sekunde auf die andere genau vor ihm stand und ihm mit einem allerletzten Aufgebot seiner verbleibenden Kraft die rechte Hand durch die Brust stieß... ּ›~ • ~‹ּ Gelangweilt beobachtete ich die unzähligen Regentropfen, die vom Himmel herunter auf die Erde fielen. Die grauen Wolkenfronten hingen regungslos am Firmament, versperrten der Sonne und ihren warmen Strahlen den Weg, tauchten die Welt unter sich in eine trostlose, nasse Landschaft ohne Farbe. Ich seufzte leise. Seit ich keine der beiden Präsenzen mehr spürte, weder Flúgar noch Shiosai, steigerte ich mich in meine Nervosität und Angst hinein; nur meine Unwissenheit über das, was wirklich geschehen war, hielt die Verzweiflung noch von mir fern. Ich machte mir fürchterliche Sorgen, Vorwürfe, ich hätte nicht auf ihn hören sollen... Die Wurzeln einer riesigen Buche fixierten das umliegende Erdreich, das Wände und Decke der kleinen Höhlung gleichermaßen bildete; ich hatte mich in einen Hain geflüchtet, und Schutz vor dem Regen in dieser größeren Einbuchtung unter einer uralten Hainbuche gefunden. Hier war es trocken und windgeschützt, ein Ort, an dem man sich wahrhaftig wohlfühlen konnte. Aber ich konnte es einfach nicht. Was genau hielt mich davon ab? Der Gedanke, dass Flúgar vielleicht tot war? Oder aber die Ungewissheit über den realen Ausgang der Auseinandersetzung? Ich hatte schlicht und einfach keine Ahnung, schüttelte den Kopf, um mich von diesen Überlegungen zu befreien. Erfolglos. Niedergeschlagen senkte ich mein Haupt, schlang meine Arme um die Knie, atmete tief durch. Kaneko stand am Rand der natürlichen Überdachung, witterte und lauschte aufmerksam durch den Regen. Bilanzlos, wie es mir schien... doch wie vom Donner gerührt, sprang sie mit einem Mal einen halben Meter zurück, legte die Ohren an und stellte die Nackenhaare auf. Augenblicklich griff ich nach meinem Schwert, nahm eine defensive Kampfhaltung ein. Eine Weile geschah nichts weiter, ich spürte keine dämonische Aura, keine fremde Präsenz. Ich schreckte erst hoch, als ich Schritte hörte. Die Anspannung des Nekoyoukai flaute ab, was mich ehrlich gesagt, maßlos irritierte. Verunsichert, und eigentlich recht ratlos, ließ ich die Richtung, aus der das Geräusch kam, nicht mehr aus den Augen. Kaneko miaute leise, trat langsam ins Freie. Ich folgte ihr nur vorsichtig. Der dichte Regenvorhang behinderte die Sicht, selbst die Bäume in nicht allzu weiter Ferne, nahm ich bloß schemenhaft wahr. Umso mehr erschrak ich, als sich zwischen ihnen etwas bewegte; ich realisierte schnell, dass es kein Tier war, denn die Gestalt ging aufrecht, auch wenn sie sich eher vorwärts schleppte als lief. Ein kalter Schauer rann meine Wirbelsäule herab, jagte ein Zittern durch meinen Körper, Angst vernahm meinen Verstand ein. War das... Shiosai? Kam er, um sein Versprechen, das er mir gegenüber gegeben hatte, einzulösen? Ich spielte mit dem Gedanken davonzulaufen, war kurz davor, auf dem Absatz kehrt zu machen, als ich mir Kanekos Verhalten in Erinnerung rief. Nie und nimmer würde sie auf ein Scheusal wie ihn zugehen, oder ihm so zaghaft entgegenmiauen, wie sie es just getan hatte. Aber wer...? Ich erstarrte in meiner Haltung, das Schwert fiel scheppernd zu Boden, ich war fassungslos über meine eigene Blindheit. Wie hatte ich nur so dermaßen falsch liegen können? Erst jetzt, wo er nur noch ein paar knappe Schrittlängen von mir entfernt war, erkannte ich ihn. "Flúgar..." Mein Wispern schien ihn zu erreichen, denn er hob den Kopf an, ehe seine Beine nachgaben und er vor mir zusammenbrach. Ich sank neben ihm auf den Boden, war von dem Anblick, den er bot, so erschüttert, dass ich kein Wort hervorbrachte, zu keiner Handlung fähig war. Sein kurzangebundenes Keuchen drang an mein Ohr, und meine Versteinerung löste sich, als meine Augen die klaffende Wunde in seiner linken Seite erspähten, aus der unentwegt das Blut quoll. Er war nicht bewusstlos, er sah mich an, sein leerer Blick war auf mich gerichtet; andererseits kamen von seiner Seite aus keine Reaktionen mehr, er regte sich nicht, versuchte nicht einmal im Ansatz zu sprechen. Ich musste dringend etwas tun, wenn ich nicht wollte, dass er noch heute vor meinen Augen einfach so wegstarb. Zusammen mit Kaneko in ihrer wahren Gestalt brachte ich es fertig, den schwer verletzten Dämon ins Trockene zu bringen. Den dünnen Futon, den ich aus Kakougen No Kyou mitgenommen hatte, benutzte ich als Unterlage für ein provisorisches Lager; ihn einfach auf dem Boden liegen zu lassen, erschien mir herzlos. Auf seltsame Art und Weise erinnerte mich diese Situation an unsere Begegnung im Dorf der Dämonenjäger... Es war ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt, um in Erinnerungen zu schwelgen, denn Flúgar ging es miserabel. Eher zögerlich als bestimmt zog ich ihm seine blutdurchtränkte Kleidung aus, legte seinen von tiefen, länglichen Schnittwunden gezeichneten Oberkörper bloß. Er atmete gepresst, beobachtete meine Bewegungen aus den Winkeln seiner nunmehr halbgeöffneten Augen. Ich brauchte eine Weile, um mich bei diesem Anblick zu fassen, der Ausdruck schrecklich war stark untertrieben; ich fragte mich, wie er überhaupt noch am Leben sein konnte. Die Tatsache erleichterte mich zwar, trieb aber auch Vermutungen in mir hoch, die ich sofort wieder verdrängte. Das Wasser, das ich bereits vorhin in einem kleinen Kessel gesammelt hatte, fand rasch seinen Verwendungszweck. Das, was ich nicht dazu verwendete, um Flúgars Wunden auszuwaschen, versetzte ich mit einigen speziellen Kräutern und stellte es zum Kochen auf. Die unglaublich tiefe Wunde in seiner linken Flanke bereitete mir die meisten Sorgen; die Blutung wollte sich einfach nicht stillen lassen und meine Angst, dass er bereits zu viel Blut verloren hatte, mehrte sich. Man hätte zusehen können, wie sich der weiße Futon mit der roten Flüssigkeit voll sog und der Fleck sich stetig vergrößerte. Wenn ich das nicht zu verhindern wusste, würde er verbluten. Es blieben mir nicht viele Möglichkeiten offen, und ich hatte eigentlich auch nicht die Wahl, ich musste unbedingt handeln. Der kurze Halt in Kakougen No Kyou hatte nun doch etwas Gutes an sich gehabt... die Geheimpaste zum Stillen von Blutungen von Hinoe war fast schon als Wundermittel zu bezeichnen, denn ihre Wirkung konnte man getrost als phänomenal einstufen; die Behandlung damit war schmerzhaft - ich hatte es am eigenen Leib erfahren - aber wirksam und sehr effektiv. So wie ich die Sache sah, war ich nicht in der Lage ihm das zu ersparen. Sorgsam verteilte ich die dunkelgrüne Paste auf einem Tuch, atmete durch, bevor ich es wagte, mein Vorhaben durchzuziehen und das Stück Stoff auf Flúgars Wunde zu drücken. Ich hatte mit seiner Reaktion gerechnet, trotzdem zerriss es mir fast das Herz, als ich seinen unterdrückten Schmerzenslaut, der so gar nicht menschlich klang, hörte. Angesichts der Umstände war ich wieder einmal kurz davor zu weinen, nur mit Mühe hielt ich es zurück und kümmerte mich stattdessen um seine anderen Verletzungen. Flúgar zitterte, aber er hielt still, kein Ton kam mehr über seine Lippen, ohne Regung ließ er alles über sich ergehen. Und das, obwohl er bei Bewusstsein war, vielleicht nicht vollkommen, aber seine Teilnahmslosigkeit gegenüber meinem Tun spiegelte eindeutig den Grad seines Zustands wieder. Während meine Besorgnis noch mehr anstieg, als er anfing, fiebrig zu werden, begann er zu allem Überfluss auch noch Blut zu husten. Die Anfälle hielten sich kurz, doch zeigten sie mir, dass er auch innere Verletzungen davongetragen hatte. Behutsam tastete ich ihn mit diesem Hintergrund ab, stieß dabei auf mehrere angebrochene Rippen und zahlreiche angeschlagene Organe, zu deren Berührung er sich zwar matt, aber eindeutig mit einem Stöhnen äußerte. In dieser Hinsicht konnte ich nichts für ihn tun, gegen die inneren Blutungen war ich machtlos... Wie ich es überhaupt noch einmal geschafft hatte aufzustehen, war mir ein Rätsel, ich wusste es nicht. Mein Körper war nach Shiosais letztem Angriff mit Sui No Rinrou vollends taub geworden, ich hatte keine Kontrolle mehr gehabt. Nicht ich war es gewesen, der dem Vatnsdreki den Todesstoß versetzt hatte, sondern Afi... auch die Gründe dafür lagen meinem Wissen fern. Auf welche Weise ich den Weg zu ihr gefunden hatte, war mir genauso wenig bewusst; mein Unterbewusstsein war vermutlich blind ihrem Geruch gefolgt, der in seiner ansteigenden Intensität langsam anfing, mir den Verstand noch mehr zu vernebeln. Für wenige Augenblicke konnte ich den erdrückenden Schmerz meiner Wunden vergessen, dafür vernahmen einige äußerst verwerfliche Vorstellungen meine Gedanken ein... ich hätte mich verfluchen wollen, aber es ging nicht. Der brennende Schmerz, der plötzlich durch meinen Körper jagte, holte mich kurzweilig in die Realität zurück; ihre Behandlungsmethoden schienen mir nicht gerade auf Vorsicht oder Rücksicht zu basieren. Vielleicht hatten mich Blævars Praktiken in dieser Beziehung verweichlicht... wenn er meine Verletzungen umsorgte, war mir noch nie ein Laut wie eben entwichen. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen, womöglich brachte mich ihr Geruch deswegen so durcheinander. Das Verlangen in mir, sie zu meinem Eigen zu machen, wuchs beständig. Meine Gedankengänge arteten aus, zum Glück ahnte sie nicht einmal, was mir durch den Kopf ging, als ihre zarten Handflächen mit sanftem Druck über meine Brust wanderten. Was hätte ich in jenen Momenten darum gegeben, dass sie diese Prozedur, die ich nur allzu gut von Blævar kannte, weiter als bis kurz unter meinen Bauchnabel fortgeführt hätte. Ihre Witterung trieb mich fast in den Wahnsinn. Ich konnte mich nicht rühren, und um Befriedigung zu betteln lag mir dann doch noch zu fern, als dass ich es versucht hätte. Noch war ich mir nicht sicher, ob ich Glück hatte, dass mein Körper in einer so schlechten Verfassung war, denn wäre dies nicht der Fall gewesen, wäre ich wohl kurzerhand schonungslos über sie hergefallen. Unter diesen Umständen rational zu denken, war unmöglich, meine Triebe beglückten mein Hirn lieber mit anstößigen Fantasien. Der angenehm riechende Sud, mit dem sie wenig später noch einmal meine Wunden auswusch, ließ mich wieder etwas klarer im Kopf werden, aber das steigende Fieber gewann letztendlich die Oberhand und stürzte mich in eine Hölle aus Qualen, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Die Schmerzen wurden stärker, die fiebrige Hitze bemächtigte sich meines Leibes, brannte durch meine Nervenbahnen und halluzinationsartige Träume aus der Vergangenheit und präsente Wunschvorstellungen marterten zusätzlich meinen Geist. Es gab kein Entrinnen, ich wusste bald nicht mehr zwischen Geschehenem, Realität und meiner Begierde, diesen einfachen Menschen zu besitzen, zu unterscheiden; es vermischte sich alles zu einem bunten Wirrwarr, indem ich umhertrieb wie ein Blatt im Wind, unfähig, sich dagegen zu wehren. Ich hatte das drängende Gefühl, dass ich den Verstand verlor... ...Blævar ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Zuweilen hatte ich mich nach seiner Nähe förmlich verzehrt, im Grunde nicht so heftig wie nach diesem unschuldigen Mädchen, aber das Verlangen nach ihm war durchaus etwas, das ich nur beschwerlich zurückdrängen konnte. Wir hatten am Anfang große Differenzen gehabt, an meinem grundlosen Hass war er fast zerbrochen, der Grund für unsere Schwierigkeiten in der ersten Zeit war meine Eifersucht gewesen, an deren Existenz er in keinster Weise Schuld gewesen war. Ich hatte es nicht einsehen wollen. Unsere Eltern hatten sich immer mehr um ihn gesorgt und gekümmert, er war von Anfang an sensibel, fast schon schwächlich gewesen, und hatte ihre volle Fürsorge in Anspruch genommen. Er war ständig krank gewesen, aber nicht nur sein Körper wies Schwäche auf, auch sein Geist litt an einer gewissen Labilität. Mein Verhalten hatte ihm so zugesetzt, dass er anfing, sich selbst dafür verantwortlich zu machen und sich selbst zu hassen. Wäre es nicht irgendwann zu einer entsprechenden Aussprache gekommen, hätte er sich wahrscheinlich etwas angetan. Ich hatte es einfach nicht ertragen, dass er sich wegen mir selbst so quälte und unnötig Tränen vergoss, dass er sich so heftig in etwas hineinsteigerte, dass er einfach zusammenbrach. Ich mochte ihn zwar nicht unbedingt leiden, aber immerhin war Blævar mein Bruder, selbst ich hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich ihn einfach liegen gelassen hätte. Seitdem hatte sich unsere Beziehung grundlegend geändert, und ich hatte erkannt, dass er seine körperlichen Defizite mit seinem hellen Verstand wettmachte. Er gab mir die Möglichkeit, die Dinge, die Vater mir nicht mitteilte, zu erfahren, sodass ich hinter seine Zukunftspläne kommen konnte. Blævar hinterging unseren Vater, und das nur für mich, die Konsequenzen und Risiken nahm er auf sich als wären sie nichtig. Seine Dankbarkeit erschien mir immer wieder aufs Neue grenzenlos, und er war der Einzige, der sich um mich gesorgt hatte, wenn ich verletzt war, der das, was unser Vater mir antat als ungerecht empfand; er war der Einzige, der nächtelang bei mir blieb, nur um bei mir zu sein und über mich zu wachen... Midoriko hätte die Erleichterung, die sie empfand, seit Flúgar einigermaßen ruhig schlief, nicht in Worte fassen können. Sie war erschöpft von der ganzen Aufregung, aber es war noch zu früh, um sich in Sicherheit zu wähnen, Flúgar war noch nicht über den Berg. Besorgt musterte sie die blassen Züge des schlafenden Dämons, lauschte seinem Atem. Sie konnte nur hoffen, dafür beten, dass er selbst dazu in der Lage war, seine inneren Verletzungen zu heilen und die betroffenen Organe zu regenerieren. Auf diesem Gebiet war sie mittellos, und so weit sie wusste, gab es für Menschen mit derartigen Verwundungen keine Überlebenschance. Sie wechselte die kühlen Umschläge auf seiner Stirn, als sie von draußen das Geräusch von federleichten Schritten vernahm; sie fuhr herum, und begegnete dem ihr wohlbekannten, warmen Blick aus nussbraunen Augen. Erfreut erwiderte sie das leichte Lächeln ihres Gegenübers, deutete eine leichte Begrüßungsverbeugung an. "Miko-sama." Die Füchsin verneigte sich ausgiebig, bevor sie sich setzte. Hinter ihrem Rücken linste schüchtern ihre Begleitung hervor. "Du bist zur Abwechslung mal eine gute Überraschung, Yumeji." Midoriko seufzte leise und warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Erst dann wandte sie den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit der Kitsune zu. "Und wer hat dich heute begleitet?" Die kleine Gestalt verschwand flugs hinter dem Rücken der Angesprochenen, Yumeji nahm es mit einem wissenden Lächeln zur Kenntnis. "Das ist mein Sohn, Zuisou, er ist noch ein wenig schüchtern, aber ich hoffe, Ihr könnt darüber hinwegsehen, Miko-sama... Zuisou, willst du nicht wenigstens Guten Tag sagen?" Gekonnt zog sie ihren Sohn hinter ihrem Rücken hervor und setzte das strampelnde Etwas in ihrem Schoß ab, wuschelte ihm durch die kastanienbraunen Haare. Auf ihre Frage hin schüttelte Zuisou aber bloß den Kopf, errötete leicht und starrte wie gebannt zu Boden. "Ist schon in Ordnung, du musst nicht, wenn du nicht möchtest, Zuisou-chan." Die Priesterin hielt ein Kichern zurück, der junge Kitsune war wirklich ausgesprochen niedlich, und seine offensichtliche Schüchternheit verstärkte diese Empfindung ihrerseits. Yumejis Ausdruck war derweil ins Ernste übergegangen, ihre Augen fixierten Flúgar. "Ich hätte nicht gedacht, dass er es bis hierher schaffen würde... eigentlich bin ich gekommen, um Euch mitzuteilen, dass er tot ist..." Sie verstummte. Die junge Frau runzelte über diese Aussage die Stirn. "Wie meinst du das?" Die Füchsin löste die Schnur, die quer über ihre Brust verlief, fasste den länglichen, in Stoff gehüllten Gegenstand und legte ihn vor der Schwarzhaarigen nieder. Während Yumeji sich zu ihrer Frage äußerte, befreite Midoriko den Gegenstand von seiner Umhüllung. "Ich habe ihn kämpfen sehen, Miko-sama, ich war mir ganz sicher, dass er mit diesen Verletzungen nicht sehr weit kommen würde. Er hat so viel Blut verloren, dass er gar nicht mehr auf die Beine hätte kommen dürfen... im Grunde ist es mir schleierhaft, wie er überhaupt gewinnen konnte." Ungläubig betrachtete die Priesterin den Gegenstand: es war Skýdis. Allerdings war ihre Klinge stark beschädigt, und die große Kerbe beunruhigte sie zusehends. "Es ist ohne Zweifel ein außergewöhnliches Schwert, es sollte nicht in falsche Hände gelangen, auch in diesem lädierten Zustand nicht." Die Miko nickte andeutungsweise, sah schließlich auf. "Danke, Yumeji." Diese setzte gerade dazu an, fortzufahren, als Midoriko ihr das erste, unausgesprochene Wort bereits abschnitt und ihr mit einem Handzeichen höflich zu schweigen gebot. "Ich möchte gar nicht wissen, was genau geschehen ist... ich bin froh, dass er noch am Leben ist..." Die Kitsune nickte schweigend. Für einen Moment schien sie nachzudenken, blickte nach draußen; dann stand sie auf und näherte sich Flúgar, inspizierte sorgfältig seine Wunden. "Würdet Ihr für eine Weile auf meinen Sohn aufpassen?" Ein fragender Ausdruck machte sich in dem Gesicht der jungen Frau breit. "Es sieht schlecht aus, und meinem Gefühl nach ist die nächste Nacht wohl seine letzte, aber es ist mir einen Versuch wert." Yumeji fügte nicht hinzu, dass sie es bloß ihr zuliebe versuchen wollte. Der Tod dieses Youkai würde die Priesterin unheimlich schwer treffen, wenn es nicht sogar ihr Herz brechen würde. Der Blick der Miko, wenn sie den Dämon ansah, kam ihr verdächtig vor... sie wollte nicht, dass diese Frau dem Kummer und dem Leid eines solchen Verlustes ausgesetzt wurde, sie wollte es ihr ersparen, da sie selbst sehr genau wusste, wie es sich anfühlte. "Zuisou, ich möchte, dass du Miko-sama mit deinem Leben beschützt, verstanden?" Ein Schatten von neckischer Anwandlung huschte über ihr Gesicht. Zuisou schwoll bei ihren Worten sichtlich die Brust; ein Junge, der es wie alle anderen nicht erwarten konnte, ein Mann zu werden. "Hai!" Mit einem Mal stand Yumeji wieder in ihrer wahren Gestalt vor ihnen und war schließlich mit einem großen Satz aus ihrer Sichtweite verschwunden... ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Vatnsdreki - Wasserdrache ***>>> Kapitel 15: >"Es gibt einen Grund, warum man ein denkendes Wesen nicht töten darf: gleichgültig, wer sein Leben verliert - es existiert immerzu jemand, der um den Toten trauert und um ihn weint. Doch die Missverständnisse und Unklarheiten, die zu einem Tod führen, sind zumeist nicht so einfach aus der Welt zu schaffen..." *» Hryggð Kapitel 15: *~Hryggð~* ---------------------- "Unter allen Leidenschaften der Seele bringt die Trauer am meisten Schaden für den Leib." – Thomas von Aquin Kapitel 15 - Hryggð -Trauer- *Wie hoch ist schon der Wert eines Sieges, der mit dem Tod des Kontrahenten verbunden ist, im Vergleich mit der Trauer, die sich in die Herzen der Angehörigen des Verlierers einnistet? Darf man diesen Schmerz andere als nichtig einstufen, wenn man es mit seinem Gewissen vereinbaren kann? Oder aber holt einen solch eine gewissenlose Ungerechtigkeit früher oder später mit den entsprechenden Konsequenzen wieder ein?* ּ›~ • ~‹ּ »Der Morgen ist grau und unfreundlich; hinter dünnen, zerrissenen Wolkenfetzen prangt undeutlich die helle Scheibe des Tages, die Sonne, am blassen Himmel, wirft ihr ungebräuchliches Licht auf den bedeutungslosen Ort, der den Umständen entsprechend zu einem Schlachtfeld wurde. Die letzte Nacht war bitterkalt, unendlich lang, und die Verluste kaum noch erträglich. Der Feind lauert nun im eigenen Gebiet, bereitet im Verborgenen einen neuen Angriff vor. Das Meer rauscht leise, unberührt, kleine Wellen spülen über den weißen, kiesdurchsetzten Sandstrand der vereinzelten Inseln hinweg, geben einem großen Teil der Verteidiger das wohlige Gefühl von Vertrautheit und Hoffnung zurück. Die Angreifer kommen vom Festland, aus den hohen Feuerbergen im Herzen des Westens und beanspruchen jetzt das Land ihrer Vorfahren, das in vergangenen Zeiten in die Pranken anderer gefallen ist; aber weder Wind noch Meer fügen sich dem tobenden Feuersbrünsten, verteidigen als Verbündete den einstmals hart errungenen Boden. Seite an Seite, der Verzweiflung nahe, kämpfen das zweite und das vierte Element gegen das dritte, aber die Aussichten auf einen Sieg schwinden. Die Situation wird immer bedrohlicher, und langsam schwinden Mut und Hoffnung dahin; das Meer zieht sich zurück, plötzlich, schier grundlos, die Flanken verlieren ihre Durchschlagskraft und der Wind steht dem Feuer nun von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Es ist eine ungleiche Begegnung. Das verbleibende Oberhaupt des Widerstandes hält eisern an seinen Zielen fest, spornt seinen Clan ein letztes Mal zu Höchstleistungen an, um nichts auf der Welt darf dieser Ort in die Klauen des Feindes geraten. Der Gegner kann zurückgedrängt und die Schlacht letztendlich gewonnen werden... aber der Preis dafür ist hoch. Nicht nur der Großteil der Kämpfer ist auf alle Ewigkeit verloren, das Oberhaupt des Windes büßt sein Leben in den Armen seines Enkels ein, wird zu dem, was er einst war, und lässt bloß das Herz eines Lebens zurück, das für die Unendlichkeit bestimmt war. Gegen seinen eigentlichen Willen muss er mit seinem Tod den Clan seinem Sohn überlassen; ein Sohn, der aufgrund seines schwachen Willens der verbotenen Versuchung nachging und seine Ehre nachlässig verspielte. Ein Sohn mit Stolz, aber ohne Wert...« ּ›~ • ~‹ּ Das Tablett mit dem perlmuttfarbenen Geschirr entglitt ihrem Griff und fiel zu Boden, zersplitterte auf dem dunkelgrünen glasgleichen Boden, der den Anschein eines zugefrorenen Sees erweckte, in tausende Scherben. Geschockt sank sie auf die Knie hinab, unbegreifliche Gedanken jagten durch ihren Kopf. Das konnte einfach nicht sein... Tränen rannen über ihre blassen Wangen, der Ausdruck in ihren Augen war verstört, als sie sich wieder auf die Beine zwang und ungestüm durch die langen Gänge in den westlichen Teil des Palastes rannte, nur noch das eine Ziel vor Augen. Sie sehnte sich in diesem Moment nach den starken Armen ihres Geliebten, nach dem einzigen Mann, der ihren Schmerz verstehen würde und sie trösten könnte. "Uminari..." Der Angesprochene sah von seiner Schreibarbeit auf, das Gesicht von wissender Trauer geprägt. Ihr aufgelöster Zustand versetzte ihm einen weiteren Stich im Herzen, nicht schwächer als der, den die Erkenntnis über den Tod seines Sohnes hervorgerufen hatte. Für sie gab es kein Halten mehr, ihre Beherrschung war dahin; das Gefühl einer schrecklichen Leere vernahm ihr Herz ein, verhinderte geflissentlich das Aufkommen eines vernünftigen Denkens. Die Kraft verließ sie, nur die Umarmung ihres Gefährten hielt sie nunmehr auf den Beinen und vermittelte ihr den Trost und die Wärme, die in jener Situation unentbehrlich für sie waren. Trotz dessen blieben ihr die Fakten unbegreiflich... wie hatte das nur passieren können? "Shiosai ist..." Sie verstummte, vergrub schluchzend das Gesicht in Uminaris Kleidung. Er hingegen nickte bloß. "Ich weiß, Aranami, ich weiß..." Er wusste nicht, was er sagen sollte, ihm kam nichts in den Sinn, was er hätte äußern können um ihr die Sache leichter oder gar erträglicher zu machen. Behutsam strich er seiner Gefährtin durch das grünblaue, sanft gewellte Haar, fuhr ihr über den Rücken, flüsterte ihr die beruhigenden Worte eines alten Gebetes ins Ohr. Uminari fühlte sich hilflos, das Oberhaupt der Vatnsdrekar war ratlos, und das mochte bei seinem Alter schon etwas heißen... "Aber wer...?" Aranami sah tief in seine meeresgrünen Augen. Sie würde es nicht dulden, dass er ihr keine Antwort gab; mit ihrer bestimmten und energischen Art hatte sie sich schon unglaublich oft gegen ihn behaupten können. "Es war mit Sicherheit einer von Minamikazes Leuten, sonst wäre niemand zu so etwas in der Lage gewesen... zumal Shiosai Sui No Rinrou bei sich hatte..." Ungläubigkeit und Verärgerung ergriffen Besitz von Aranamis Zügen. "Wusstest du über sein Vorhaben bescheid?!" Unweigerlich löste sie sich von ihm und schüttelte seine Umarmung ab. Jetzt war es eindeutig Wut, die in ihren Augen aufflackerte. "Nein, ich wusste nichts davon. Er hat sie ohne meine Erlaubnis an sich genommen und war bereits verschwunden, als ich es bemerkt habe." Aranami schnaubte. Sie kannte Uminari viel zu gut, als dass sie ihm zutrauen würde, dass er log um sie zu beschwichtigen. Das hatte er nicht nötig, auch wenn sie manchmal die Ahnung beschlich, dass er ab und an die Tatsachen zu ihrem Belieben ausschmückte. Sie seufzte. Schließlich war er auch nur ein Mann. "Aber ich wusste es..." Sie fuhr herum; Kyouran, das älteste ihrer zahlreichen Kinder, stand in der noch immer weit offen stehenden Schiebetür, den Blick betrübt, schuldbewusst zu Boden gesenkt. "Wieso hast du ihn gehen lassen?" Erneut brach sie in Tränen aus, als sie sich ihrem ältesten Sohn näherte und ihn schließlich an den Schultern packte. "Mama, ich..." Mit Mühe hielt er seine Fassung, legte einen Arm um sie, wahrte seine Haltung gegenüber seiner todtraurigen Mutter, die sich sichtlich nicht mehr zu helfen wusste. "Ich habe es versucht, aber Shiosai hat sich nicht aufhalten lassen... er hat den Gedanken, dass die Loftsdrekar unsere Familie als Erwiderung auf ein gutgemeintes Angebot verspotteten, nicht mehr ertragen können, er... es tut mir leid..." Aranami lockerte ihren Griff, schlang die Arme um Kyourans Hals und schloss die Augen, als sie den Kopf gegen seine Brust schmiegte. Ihr war bewusst, dass er ein unheimlich schlechtes Gewissen haben musste; er gab sich selbst die Schuld dafür, dass sein Bruder nicht mehr am Leben war. "Es ist nicht deine Schuld." Uminari stand mit dem Rücken zu seiner Frau und seinem Sohn, beobachtete abwesend das Treiben des Meeres vor der gewaltigen, durchsichtigen Wand, die eine jede Seitenflanke seines Palastes - Ryugu - auf dem Meeresgrund einnahm und sich durch etliche Räume zog, die nach außen hin zum Meer ausgerichtet waren. "Er hätte das Gebiet der Loftsdrekar nicht betreten dürfen. Seit dem Bruch unseres Bundes sehen sie uns genauso als Feinde wie jeden anderen Drachen, der es wagt ihr Territorium zu betreten." Kyouran blickte auf. Diese alten Geschichten zogen ihre Konsequenzen bis zu dem heutigen Tage nach; es waren so viel Missverständnisse entstanden, es war so Vieles ungeklärt geblieben. Dieser Konflikt erschien ihm so unbegründet, so sinnlos... "Wir haben dieses Bündnis nicht gebrochen." Das Oberhaupt der Vatnsdrekar senkte leicht den Kopf, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und seufzte leise. Dann drehte er sich um, fixierte die Augen seines Sohnes. "Das weiß ich, Kyouran. Es ist nun einmal so wie es ist, wir können nichts daran ändern..." Der Jüngere setzte zu Widerworten an; wie konnte sein Vater nur so etwas offen aussprechen? Seine Mutter stieß ihm unsanft den Ellbogen in die Seite, hielt ihn zurück. Uminari wandte sich währenddessen wieder seinem einzigartigen Panorama zu. "Zu viel Stolz macht blind, mein Sohn, die Loftsdrekar sehen ihre Verdammnis nicht... ich habe damals erkannt, dass der Sieg nur über die Leichen meiner eigenen Artgenossen führen würde, und das konnte ich meinem Clan nicht antun. Als Oberhaupt ist es meine Pflicht, für das Wohl des Clans zu entscheiden, und das habe ich. Ein Rückzug war die einzige Lösung, ich habe Hríðarbylur inständig gebeten sich mir anzuschließen und seinen Clan zu retten, aber in seinem Stolz und seiner unendlichen Sturheit hat er mich nicht nur als Feigling beschimpft. Während ich meine Leute abzog, trieb er seine weiter zum Kampf an, er wollte seinen Geburtsort, seine Heimat nicht verlieren. Diese Inseln wären zu entbehren gewesen, sie waren nicht wichtig, zumindest für uns... Ich kann ihn verstehen, aber das war es nicht wert, er hatte den Tod nicht verdient..." Der Vatnsdreki seufzte schwer, die Erinnerungen an diese ehemalige Freundschaft und ihr abruptes, falsches Ende schmerzten ihn sehr. Er dachte nicht gerne daran und darüber sprechen wollte er eigentlich überhaupt nicht. "Zumindest konnte er an dem Ort sterben, den er so sehr liebte; den Ort, den er mit seinem Tod für seine Nachfahren bewahren konnte." Kyouran musterte die Gestalt seines Vaters. Bis jetzt hatte er ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt, die Sache mit den Loftsdrekar und das Auseinanderbrechen dieser Allianz hatten ihn wohl schwerer getroffen, als er es bisher vermutet hatte. "Aber warum behaupten sie dann, wir hätten sie verraten?" Uminari schwieg, Aranami antwortete anstatt seiner. "Die Truppen wurden so schnell wie irgend möglich abgezogen. Für die Loftsdrekar muss es so ausgesehen haben, als würden sie fliehen. Sie fühlten sich von uns im Stich gelassen und diese Schlacht forderte mehr als die Hälfte ihres Bestandes. Zum Schluss war niemand mehr übrig, der die wahren Umstände und Hintergründe kannte, und sie ließen einfach nicht mehr mit sich reden. Jeder Versuch von Kontakt hat mit einem Blutbad geendet; die Loftsdrekar sind in ihrem Stolz von diesem vermeintlichen Vertrauensbruch, unserem Verrat, so tief verletzt, dass sie so gut wie alle Bündnisse gelöst und ihre Verbindungen abgebrochen haben." Ein tiefes Grollen füllte plötzlich den Raum, Uminaris Ärger brachte das Meer merklich in Aufruhr, im Palast und um ihn herum wurde es unruhig. "Minamikaze hätte niemals das Oberhaupt der Loftsdrekar werden dürfen! Er ist nicht bloß zu jung und zu unerfahren dafür, er hat sich selbst entehrt - seinen Bruder getötet, seine Gefährtin betrogen... er wird in seinem närrischen Starrsinn und verqueren Denken dem Rest des Clans den sicheren Untergang bringen..." Kyouran verstand nicht, warum seinen Vater diese Gegebenheiten so sehr in Rage versetzten. Es gab keinen Bund mehr, die Eintracht der Clans war längst erloschen. Wieso kümmerte ihn das so offensichtlich? Sein Interesse galt diesem Sachverhalt, jedoch wollte er seinen Vater nicht weiter unnötig reizen. "Was ist mit Sui No Rinrou?" Die Frage verhallte zwischen den aus roten und weißen, aus Korallen gefertigten Wänden des Raumes, und es dauerte eine ganze Weile, bis sich Uminari dazu äußerte. "Einerseits würde ich es vorziehen, sie wieder hier zu haben, andererseits ist dieses Unterfangen zu riskant. Ich könnte niemanden ruhigen Gewissens dorthin schicken." Aranami runzelte besorgt, von einer bösen Ahnung befallen, die Stirn. "Heißt das, du gibst sie auf?" Uminari nickte gewichtig. "...ja." Den gellenden Schmerzensschrei, der die dünnen Korallenwände des Palastes durchdrang und jeden, der sich dort aufhielt, erreichte, hatte Suika ausgestoßen. Suika war Shiosais direkte Schwester; die beiden waren ein Geschwisterpärchen, wie es nur äußerst selten bei Drachen zustande kam. Etwas Derartiges war unumstritten ein gutes Omen, dass besondere Freude mit sich brachte. Aber mit diesem doppelten Glück verstärkte sich auch das Leid, das mit dem Tod eines Zwillings einherging, denn ihre Verbundenheit erlaubte es ihnen, gleichermaßen zu empfinden. Rakuchou und Irie betrachteten voller Besorgnis ihre Schwester. Suika war einfach zusammengebrochen, als sie das Wissen über den Tod ihres Zwillingsbruders überkommen hatte. Seitdem war sie nicht mehr zu sich gekommen, wälzte sich in Fieberträumen umher, rief in ihrer Bewusstlosigkeit immer wieder nach Shiosai. Niemand konnte ihr helfen und allmählich wurden den Anwesenden die Herzen schwer; würde Suika ihrem Bruder folgen? Würde nun auch sie ihre Familie in Trauer zurücklassen? Niemand sprach diese Befürchtungen, die ihnen allen innewaren, aus; jeder hüllte sich in sein eigenes Schweigen, versuchte auf seine Weise damit zurechtzukommen. Was würde die Zukunft mit sich bringen? Den Tod eines weiteren Vatnsdrekar? Oder gar einen Racheschlag gegen die Loftsdrekar, der noch mehr Opfer fordern würde? Konnte man diese schreckliche Tat ungesühnt lassen? "Raku..." Es bedurfte keiner Worte, Rakuchou nahm seine ältere Schwester in den Arm, legte den Kopf auf ihre Schulter. Sie saßen zusammen neben Suikas Lager, spendeten sich durch ihre bloße Anwesenheit Trost. Irie kam sehr nach ihrer Mutter, und das nicht nur ihrem Aussehen nach, aber ihr war nicht nach reden zumute. Wahrscheinlich wäre sie bei Rakuchou in jener Hinsicht ohnehin auf Granit gestoßen; sehr redselig war ihr Bruder nicht, und durch seine emotionsfreie Fassade setzte sich auch jetzt kaum ein Zeichen von echtem Kummer durch. Die Ältere wusste nur zu gut, dass er innerlich litt, und seine Trauer in sich hineinfraß. Seit dem tragischen Tod seiner Gefährtin ließ er nichts mehr sichtbar an sich heran, und auch über diesen Vorfall an sich sprach er nie. Er war ein undurchsichtiger Einzelkämpfer geworden, dessen verletztes Herz wohl keine Heilung mehr erfahren würde. Weiße Narben zeugten von der Vergangenheit, die er so gerne vergessen hätte; weiße Narben erinnerten ihn an die Gräueltaten der Loftsdrekar... "...Irie..." Ein heiseres Flüstern kam über Suikas Lippen; sie war schweißgebadet, ihr nasses Haar klebte an der Stirn, das Fieber glänzte in ihren Augen und ihr Atem ging hastig. Die Angesprochene fasste die Hand ihrer kleinen Schwester. "Ich bin hier, Suika-chan." Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die unweigerlich über ihre roten Wangen liefen. Die weiteren Ansätze zu sprechen, musste sie erfolglos abbrechen, es dauerte, bis sie auch nur ein paar Worte herausbekam. "Shiosais Herz..." Noch immer spürte sie den Todesschmerz ihres Bruders tief in ihrer Brust, seine Qual war rasch zu Ende gewesen, sein Gegner hatte ihm einen schnellen Tod bereitet, aber sie durchlebte diese Tortur, seinen kurzen Moment der Pein wie eine Dauerschleife, immer und immer wieder. Sie war sich selbst nicht im Klaren darüber, ob sie nun sterben musste, oder diese Folter irgendwann zu einem finalen Punkt gelangen würde. Rakuchou nickte langsam. "Ich verstehe." Ohne Eile richtete er sich auf, verließ lautlos das Schlafgemach seiner jüngeren Schwester und schloss die Schiebetür. Auf dem Gang lehnte er sich gegen einen der elfenbeinfarbenen Pfeiler. Suika hatte Recht, Shiosais Herz war das Einzige, das nun noch an seine vergangene Existenz erinnerte. Dort, wo immer es auch war, gehörte es nicht hin; es gehörte hierher, in die Tiefsee, in sein Zuhause, in den Kreis derer, die ihn liebten... Ob es wirklich einer der Loftsdrekar gewesen war? Seitdem sie ihm seine Geliebte genommen hatten, sinnte er nach Rache, und sollten sich diese Prognosen bewahrheiten, würde er noch einen Grund mehr haben, seinem Vater endlich den Vorschlag zu unterbreiten, gegen Minamikazes Clan vorzugehen... Gedankenverloren schüttelte er den Kopf; er wollte sich nicht ins Gedächtnis rufen, was sich damals zugetragen hatte. War er tatsächlich so verbittert geworden? Oder war das auflodern seiner Rachegelüste bloß eine Folge des herben Verlustes seines Bruders? Er war sich unsicher, was er denken sollte. Galt sein Hass ihren Lügen? Dem Tun, das sie verleugneten? Oder der Tatsache, dass er sie nicht einmal mehr hatte sehen dürfen? Füllte er vielleicht die klaffende Lücke der Unwissenheit über die wahren Umstände ihres Todes mit Hass? "Vater wünscht dich zu sehen." Rakuchou blinzelte überrascht, blickte geradewegs in Kyourans grüne Augen. Wortlos stieß er sich von der runden Säule ab, schlug die Richtung ein, aus der sein Bruder gekommen war. "Sei nicht töricht, Rakuchou, tu jetzt nichts Unüberlegtes. Spiel deinem Gegenüber nicht in die Hände." Kyouran sah ihm noch eine Weile nach, ehe er das Zimmer seiner Schwester betrat und sich neben ihr Schlaflager kniete. Ihr Zustand war schlechter, als man ihm mitgeteilt hatte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, zerfielen seine Hoffnungen in diesem Augenblick zu Staub, den der Wind zerstreute und in die ungewisse Ferne mit sich fort trug... Kyouran war entschieden gegen einen weiteren Konflikt mit den Loftsdrekar, eine Schlacht gegen sie zu führen war der reinste Irrsinn. Er hatte sie kämpfen sehen, und auch einmal am eigenen Leibe erfahren, was es hieß sich mit einem der Ihrigen anzulegen. Nur dem Zufall hatte er es zu verdanken gehabt, dass er überlebt hatte. Minamikazes Sohn war im Gefecht eine Bestie ohne Verstand, gefährlicher als jeder andere Drache, der ihm jemals begegnet war. Der Vatnsdreki war froh, dass er aus ihrem Zweikampf geflohen war, ansonsten hätte ihn Flúgar wohl mit seinem nächsten Angriff buchstäblich in der Luft zerfetzt. Hinter seinen blinden Aggressionen stand eine solche Gewalt, dass es Kyouran schwer fiel zu glauben, dass Minamikaze stärker als sein Sohn sein sollte. Von der anderen Seite gesehen war es unlogisch, denn er kannte Flúgars Respektlosigkeit gegenüber seinem Vater sehr gut, er hatte es mehr als einmal mitbekommen, und jemand wie er würde nicht zögern, seinen eigenen Vater zu töten. Zudem fügte sich noch, dass er von Hríðarbylurs Intentionen, Minamikaze in der Erbfolge zu übergehen und gleich Flúgar als Oberhaupt nach seinem Tod einzusetzen, wusste. Im Clan selbst schien es bei den Loftsdrekar große Probleme zu geben; wie konnte dort jemand zum Oberhaupt werden, dessen Betrug an seiner Gefährtin allen bekannt war? Wie konnte man jemanden zulassen, der seinen eigenen Bruder um des eigenen Wohls Willen getötet hatte? Und wie um alles in der Welt konnte es nur sein, dass sich Väter und Söhne so dermaßen verachteten? Kyouran war es unbegreiflich. Noch immer schwirrten die Worte seines Vaters durch seinen Kopf, Uminari waren die Loftsdrekar nicht gleichgültig, es schmerzte ihn diesen mächtigen Clan so untergehen zu sehen. Gleichermaßen tat ihm der Umstand über den Tod seines einstigen Bündnispartners, der ihn aufs Bitterste beleidigt hatte, merklich in der Seele weh. Das passte nicht zu seinem Vater... hatte er sich so geirrt? Bedauerte Uminari den Entschluss, für die Sicherheit des Clans dieses Bündnis geopfert zu haben? ...nein, es war simpler. Uminari ertrug den Gedanken nicht, mit seinem Beschluss Hríðarbylurs Tod indirekt herbeigeführt zu haben... was für ein Verhältnis hatten diese beiden wirklich zueinander gehabt? Irie bemerkte die Abwesenheit ihres Bruders, berührte zaghaft seine Wange. Kyouran fuhr in sich zusammen, als er die vorsichtige Berührung seiner Schwester spürte. "War es das...?" Er stürzte förmlich aus dem Zimmer, ließ eine überfragte Irie zurück, die in ihrer Verwirrtheit nicht viel mehr tun konnte, als die Schiebetür zu schließen. Männer waren schon eine seltsame Erfindung der Schöpfung... sie schüttelte den Kopf. In dieser Hinsicht dachte sie wie ihre Mutter, aber im Gegensatz zu dieser gab es für sie keinen Mann in ihrem Leben und im Grunde war Irie erleichtert darüber. Schon ihre Brüder waren ihr oftmals ein Buch mit sieben Siegeln, die sie nicht zu brechen vermochte. Wozu auch? Viele bezeichneten sie als schüchtern in dieser Beziehung, und aus diesem Grunde würde es noch keinen Gefährten an ihrer Seite geben. Wer sie einigermaßen kannte, wusste, dass es nicht so war. Sie war weder schüchtern noch zurückhaltend, ein zuweilen hitziges Temperament wie ihre Mutter. Sie fragte sich bereits geraume Zeit, wieso die Leute sich Sorgen um einen Gefährten für sie machten, wobei der Älteste von ihnen allen, Kyouran, noch nicht einmal das Versprechen für eine Gefährtin bekommen hatte. Er war mit anderen Dingen beschäftigt und kümmerte sich nicht um solche Nebensächlichkeiten, wie er diese Vermählungsgeschichten immer zu nennen pflegte. Irie konnte sich dabei etwas denken, aber sie erwähnte es nicht laut; Kyouran in dieser Überdeutlichkeit herauszufordern, würde gezwungenermaßen in einem Desaster enden. Und das war etwas, das man hier im Moment absolut nicht brauchte. Shiosais Tod beklemmte sie, aber so richtig ging es ihr nicht den Kopf; sie mochte nicht glauben, dass er nicht mehr am Leben war. Es war einfach undenkbar. Allerdings bemerkte sie die Stille des Raumes, des gesamten Palastes, und das machte es ihr deutlich. Ohne ihn würde es ruhiger werden, stiller, einsamer, und vor allem lebloser. Shiosais Verlust war ein bitterer Schlag für die Vatnsdrekar, aber einen Krieg mit seinen vermeintlichen Mördern war es nicht wert. Diese Möglichkeit sollte nicht einmal in Betracht gezogen werden. Die Brutalität und Unbarmherzigkeit der Loftsdrekar war bekannt, sie würden bis zum letzten Mann kämpfen und das würde wiederum schwere Verluste für den Clan ihres Vaters bedeuten. Ihre Brüder würden in die Schlacht ziehen müssen, und obwohl ihr jegliches Verständnis für diese Idioten fehlte, würde sie den Tod eines weiteren von ihnen wohl nicht verkraften... Uminari hatte sich strikt gegen Rakuchous Schlachtpläne gewandt. Ein solcher Zug war nicht tragbar, noch weniger für den Clan als für ihn. Es ärgerte den jüngeren Vatnsdreki immens, dass sich sein Vater so dagegen sträubte, etwas gegen die Loftsdrekar zu unternehmen. Er verstand ihn in dieser Beziehung einfach nicht. Ohne eine Verabschiedung war er schließlich gegangen, hatte in seiner von Zorn getriebenen Eile noch fast seinen großen Bruder umgerannt, der ihm schnellen Schrittes entgegengekommen war. Hastig zog Kyouran die Schiebetür auf, fixierte Uminari. "Chichi-ue." Selten machte er von dieser höflichen Form der Anrede Gebrauch, denn sein Vater legte zwar Wert auf Respekt, schrieb seinen Kindern aber nicht vor, wie sie ihn anzusprechen hatten. Er blickte nicht auf, beschäftigte sich mit seiner halbfertigen Arbeit als wäre nichts weiter gewesen. "Bist du auch gekommen um mich darum zu bitten, endlich einen Krieg anzufangen?" Uminari klang gereizt, Rakuchous Anfrage hatte ihn verärgert; seine Söhne sollten nicht in solchen Dimensionen denken. Es gab andere, bessere Lösungen als den Weg der Gewalt. "Nein, ich habe eine Frage an dich." Der ältere Vatnsdreki wurde hellhörig, rührte sich aber noch immer nicht. Kyouran verschränkte die Arme vor der Brust, er würde nicht locker lassen, dieses Mal bestand er auf eine Antwort. "Was war es wirklich?" Ein Hauch von Unverständnis zog über Uminaris Züge, dann aber begriff er die Frage. Sein Ausdruck wurde emotionslos. "Das geht dich nichts an, Kyouran." Der bedrohlich schwankende Unterton in der Stimme seines Vaters veranlasste ihn nicht dazu, sein Vorhaben frühzeitig abzubrechen. Er würde diesen Raum nicht verlassen bis er erfahren hatte, was er wissen wollte. "So wie Hríðarbylurs Tod dich noch heute mitnimmt, kann es keine pure Freundschaft im eigentlichen Sinne gewesen sein. Uminari, was war wirklich zwischen euch beiden?" Der Gefragte schlug die Faust auf den Tisch, strafte seinen Sohn mit einem drohenden Blick. "Sei still und verschwinde, wenn dir deine Unversehrtheit am Herzen liegt! Das geht dich absolut gar nichts an, kümmere dich um deine Angelegenheiten..." Kyouran hatte mitten ins Schwarze getroffen. Er verstand die Reaktion seines Vaters nicht, warum regte ihn das so auf? Fast schon enttäuscht schüttelte er den Kopf. "Ich verstehe dein Problem damit nicht... Vater, hasst du dich dafür, dass du dich damals gegen ihn entschieden hast?" Mit dieser Frage handelte der junge Vatnsdreki sich eine heftige Ohrfeige von seinem Vater ein. Mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Enttäuschung sah er Uminari an. "Geh mir aus den Augen, Kyouran, und zwar sofort." Er gehorchte - innerlich widerwillig - und verließ das Arbeitszimmer. Uminaris Verhalten bestätigte ihm bloß seine Vermutung; er konnte den Schmerz seines Vaters in gewisser Weise nachempfinden. Zu wissen, das jemand unerreichbar für einen war und es bleiben würde, belastete auch sein Herz... Beiläufig fuhr er sich mit der Hand über die schmerzende Wange. Wahrscheinlich konnte er froh sein, dass Uminari sich zurückgehalten und ihm nicht gleich eine Tracht Prügel zugemessen hatte. "Kyouran, was...?" Jemand legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter, musterte ihn eindringlich. "Alles in Ordnung?" Es war eine seiner Schwestern, Mizushibuki, ein zierliches Mädchen, das weder viel Ähnlichkeit mit ihrem Vater noch mit ihrer Mutter aufwies. Anfangs hatten viele Gerüchte kursiert, dass sie ein aufgenommenes und kein eigenes Kind war, aber entgegen dieser Annahmen hatte Mizushibuki bald ein sehr familientypisches Verhalten entwickelt und das Zweifeln hatte ein rasches Ende gefunden. Kyouran ging nicht auf sie ein, wollte sich an ihr vorbeidrängen, doch sie hielt ihn fest, gestattete es ihm nicht zu gehen. "Du weißt doch genau, was Shiosai vorhatte. Du warst mit ihm zusammen kurz bevor er ging; ich habe euer ausführliches Gespräch danach gehört. Was war der wahre Grund, Kyouran?" Der Ältere knirschte mit den Zähnen. War er seiner Schwester in dieser Hinsicht Rechenschaft schuldig? Nein. Das, was zwischen ihm und Shiosai gewesen war, ging sie nichts an, und das war ihr bewusst. Allein schon für diese Dreistigkeit, sie zu belauschen, hatte sie sich die Aussichten auf eine Antwort verwirkt. "Mach endlich den Mund auf, und wag es nicht mich anzulügen!" Er schüttelte leicht den Kopf, befreite sich mit einem heftigen Ruck aus ihrem Griff und ging. "Kyouran!" Mizushibuki war empört über sein Betragen, rief ihm noch eine ganze Weile hinterher. Ihr Bruder verheimlichte etwas und das nicht nur vor ihr, vor der ganzen Familie. Natürlich wusste er jetzt, warum Shiosai gegangen war, aber er hatte ihn nicht aufhalten können. Der Entschlossenheit seines jüngeren Bruders hatte er nicht viel entgegenzusetzen gehabt. Und erst jetzt, im Nachhinein, dämmerte ihm Shiosais wahres Motiv... es war keine Rache für die Beleidigung gewesen, keine Exkursion zum Erkundschaften des feindlichen Gebietes; Shiosai hatte den Gedanken nicht mehr ertragen, dass er, Kyouran, genauso wie sein Vater, Uminari, einem Loftsdreki verfallen war... ּ›~ • ~‹ּ ***>>> Kapitel 16: >"Die Welt der Dämonen und die der Menschen unterscheidet sich wesentlich, scheinbar lernt man nie aus. Doch es sind nicht nur allgemeine Geheimnisse, die sich der Priesterin offenbaren und in Erstaunen versetzen. Im Stillen werden Entschlüsse gefasst, die womöglich größere Wichtigkeit besitzen, als man zunächst denken mag..." *» Shinyou Kapitel 16: *~Shinyou~* ----------------------- "Vertrauen ist das Gefühl, einem Menschen sogar dann glauben zu können, wenn man weiß, dass man an seiner Stelle lügen würde." – Henry Louis Mencken Kapitel 16 - Shinyou -Vertrauen- *Wie stark ist die Bindung, die das Empfinden von gegenseitigem Vertrauen zwischen zwei Wesen schafft? Ähnelt es eher einem fragilen Netz aus seidenen Fäden, das durch eine minimale Unstimmigkeit zerreißt und nicht wieder geknüpft werden kann? Oder ist es ein unzerstörbares Tau, das sich durch nichts wieder lösen und somit zerstören lässt? Ist Vertrauen womöglich etwas, das man mit unseren gegebenen Maßstäben nicht zu erklären vermag?* ּ›~ • ~‹ּ "Afi..." Ich schrak auf, als ich Flúgars aufkommende Unruhe bemerkte und nahm ohne Umschweife wieder meinen Platz an seiner Seite ein. Er atmete wieder gepresster, sein Körper erlitt ein weiteres Mal die Tortur des puren Schmerzes, und unentwegt wiederholte er dieses Wort. Afi... ob es eine Bedeutung hatte? Rief er in dieser fast aussichtslosen, schrecklichen Lage nach jemandem, dem er vertraute? Flúgar tat mir unsagbar leid, aber ich konnte ihm nicht helfen; ich konnte ja nicht einmal seine Schmerzen lindern, geschweige denn ihn davon erlösen. Ich machte mir abermals Vorwürfe... "Miko-sama." Ich sah auf. Yumeji war zurück, durchnässt und recht erschöpft, aber redlich zufrieden mit ihrer Leistung. Stolz präsentierte sie mir die eigenartige Pflanze, deren Stiel und Blätter von silbrigem Flaum überzogen waren. Fragend runzelte ich die Stirn. "Das ist eine äußerst seltene und kostbare Pflanze, Miko-sama, die nur im tiefsten Herzen dieses Waldes beheimatet ist. Sie hat eine heilende Wirkung, aber... nicht unbedingt auf jeden... es besteht die Möglichkeit, dass sie in seinem Fall vollkommen nutzlos ist." Die Füchsin senkte den Kopf, setzte sich auf den trockenen Boden der von kräftigen Baumwurzeln zusammengehaltenen Höhlung. "Und was ist das?" Voller Neugier begutachtete ich die lederne Karaffe, die an einem braunen Gürtel locker um ihre Hüfte hing. Ein schwaches Grinsen vernahm ihre schmalen Lippen ein, als sie mit den Fingerspitzen über das Mitbringsel strich und es von dem Ledergurt löste. Dann legte sie es zwischen uns auf den Boden. "Kräuterschnaps!" Wozu das? Ein wenig verwirrt sah ich sie an, mein Blick von absoluter Unverständnis geprägt. Für diesen Moment verstand ich - ohne Übertreibung - überhaupt nichts. "Glaubt Ihr etwa, dass der da..." Mit einer beiläufigen Geste deutete sie auf Flúgar. "... sich als sehr kooperativ erweisen wird?" Meinte sie das ernst? Ich zuckte die Schultern, nachdem ich den verletzten Youkai noch einmal flüchtig angesehen hatte. Die Kitsune schüttelte energisch den Kopf. "Ohne diese kleine Hilfe werden wir nur erhebliche Schwierigkeiten bekommen. Ihr müsst wissen, Miko-sama, die Medizin, die man aus dieser Pflanze gewinnt, ist wirklich ungenießbar. Wenn er auch nur noch ein Fünkchen Leben in sich hat, wird er sich wehren." In meiner Verwirrung blinzelte ich einige Male, ehe mir langsam der Sinn dieses Vorhabens dämmerte. "Du willst ihn mit Alkohol gefügig machen?" Yumejis Grinsen wurde breiter, und sie gab einen bejahenden Laut von sich. Derweil fragte ich mich, ob das funktionieren konnte. Es erschien mir nicht der schlechteste Einfall zu sein, aber wie es sich mit Dämonen und Alkohol verhielt, wusste ich nicht. Sicher, mir war nur zu gut bekannt, was dieses Teufelszeug aus normalerweise sittlichen Bürgern, vor allem Männern, machen konnte, jedoch war mir nicht geläufig, was es mit Dämonen anstellte. Würde es Flúgar genauso den Verstand vernebeln, wie es bei den Männern in den meisten Wirtshäusern der Fall war? "Ihr braucht Euch keine überflüssigen Gedanken zu machen, Miko-sama, es wird ihm nicht schaden. Allerdings kann ich nicht vorhersagen, wie sich der Schnaps genau auf ihn auswirken wird, hoffentlich wird er nicht allzu ausfallend." Ich zog die Augenbrauen zusammen und runzelte leicht die Stirn. Ausfallend? Was meinte Yumeji mit ausfallend? Womöglich wollte ich das gar nicht wissen... Die ganze Zeit über hatte sich Zuisou verdächtig ruhig verhalten, mir schwante es bereits, dass etwas nicht stimmte. Als ich mich umdrehte, bewahrheitete sich meine Vermutung, die Situation war offensichtlich. Flúgars leere, weiße Augen bohrten sich förmlich in den kleinen Kitsune, der - von Furcht erfüllt - es sich nicht wagte sich zu regen, denn dann würde Flúgar ihn sehen können, das wusste er; so hatte er zumindest die Hoffnung, dass der Blick des anderen Dämons zu verschwommen war, um seine unbewegliche Gestalt zu erkennen. Der junge Fuchs begann zu zittern, als sich Flúgar mit immensen Bemühungen auf die Seite drehte; ein glänzender, kleiner Gegenstand entkam dem Griff der linken Hand des Fuchses. Was...? Es war eine Art Anhänger, dessen aus seltenem, farbigem Gestein hergestelltes Mittelstück mit feinen goldenen Bögen eingefasst war. Wenn man aber genauer hinsah, war zu erkennen, dass es bloß ein Bruchstück, ein Teil eines Glücksbringers war, denn die Linien blieben zur anderen Seite hin unvollständig. Flúgar streckte die Hand danach aus, in seinen Augen fand ich sein Bewusstsein in keiner ersichtlichen Weise wieder. Seine Pupillen waren bloß schmale, senkrechte Schlitze, er blickte ins Leere als wäre er blind. Was trieb ihn an? Was, oder wer, brachte ihn zu so einer Anstrengung? Ich versuchte inständig ihn mit Worten zu beruhigen und davon zu überzeugen, dass sich niemand an seinem Eigentum vergreifen würde, aber es half nicht. Erst, als seine Kräfte ihn erneut verließen, und der Schmerz, den er sich selbst zufügte, weil er auf seiner verwundeten Seite lag, offensichtlich wurde, gab er nach - gezwungenermaßen. Was es wohl mit diesem kleinen Schmuckstück auf sich hatte? Ich war mir sicher, dass es ihm gehörte; er schien an den wenigen Dingen, die er bei sich trug, sehr zu hängen. Meine Augen trafen schließlich Zuisous Blick. "Woher hast du das?" Ich hielt den Anhänger in die Höhe, ließ meinen Ausdruck und meine Worte nicht zu mild werden. Er zögerte einen Augenblick, warf sich dann aber vor mir auf den Boden. "Bitte, Miko-sama, verratet ihm nicht, dass ich es war! Es tut mir leid, ich habe es in der Nähe des Schwertes gefunden... Miko-sama, ich flehe Euch an, sagt ihm bitte nichts davon..." Sein Schluchzen erstarb ebenso plötzlich wie sein tränenersticktes Flehen, als ich ihm behutsam die Hand auf den Kopf legte. Zuisou sah auf, in seinen feuchten Augen glimmte eine vage Hoffnung. Ein Lächeln schlich sie über meine Züge, tröstend fuhr ich ihm durch die Haare. "Ist schon gut, Zuisou-chan, ich sage ihm nichts, in Ordnung?" Der Kitsune nickte eifrig zur Antwort, trat daraufhin einen Schritt zurück und straffte seine Haltung. "Arigatou, Miko-sama." Seine Worte begleitete er mit einer höflichen, tiefen Verneigung, seine ernsthafte Förmlichkeit aufgrund dieses kleinen Gefallens meinerseits veranlasste mich zum Kichern. "Gib mir deine Hand." Unsicher musterte er mich noch einmal genau, streckte mir langsam seine kleine Hand entgegen. "Diese Sache bleibt unser Geheimnis, verstanden?" Seine Züge hellten sich auf, ein freudiges Lächeln strahlte in meine Richtung, als unsere Hände - praktisch als Besiegelung unseres Paktes - sich berührten. Mein skeptischer Blick traf auf Yumejis. "Das riecht ja schon widerwärtig..." Ein eiskalter Schauer rann meine Rücken hinab, mein Körper schüttelte sich regelrecht, als mir ein weiteres Mal der beißende Geruch des Pflanzensaftes in die Nase stieg. "Ich versichere Euch, es schmeckt noch schlimmer als es riecht." Sie grinste wieder, machte eine wegwerfende Handbewegung. Ich beobachtete genau, wie sie die Tonschale unheimlich großzügig mit dem mitgebrachten Kräuterschnaps auffüllte. So oder so, auch jetzt kam ich noch zu dem Schluss, dass der Geruch dieses Gemischs kein bisschen angenehmer als der von vorher war. Unbewusst hatte ich schon die ganze Zeit versucht, dauerhaft durch den Mund zu atmen, aber es gelang mir nicht wirklich, und meine Gedanken hörten nicht auf um Flúgar zu kreisen. Da er nicht bei Bewusstsein war, und wahrscheinlich ohnehin ohne Mitspracherecht verblieben wäre, tat es mir wieder unsäglich leid, dass er dazu gezwungen wurde. Ich seufzte, es führte ja dann doch kein Weg daran vorbei. Yumeji kniete bereits neben Flúgar, doch ihr Gesichtsausdruck war von Nachdenklichkeit beherrscht und ihr Interesse galt etwas Anderem. "Yumeji?" Die Füchsin zog die Augenbrauen zusammen. Irgendetwas schien sie in seinen Bann gezogen zu haben und fesselte sie dermaßen, dass sie mich nicht mehr wahrnahm. Dann blickte sie auf. "Was für ein Dämon ist er?" Mir war zwar nicht bewusst, was sie mit dieser Frage bezweckte, aber ich hatte ohnehin keine Antwort darauf. Darüber war zwischen Flúgar und mir noch kein einziges Wort gefallen, aber wenn er mir nicht einmal sein Alter preisgeben wollte, würde er mir um nichts auf dieser Welt verraten, welcher Rasse er angehörte. Ratlos zuckte ich die Schultern, musterte Yumejis unveränderte Züge. Fragend neigte ich den Kopf zur Seite. "Sein Gegner war zumindest ein Drache..." Ungläubig starrte ich sie an und das absolut fassungslose "Was?!" platzte unaufhaltsam aus mir heraus. Die Kitsune hob die Hand und öffnete langsam ihre Faust. Eine bläulich marmorierte Kugel lag auf ihrer Handfläche, zeigte im fahlen Licht des herunterbrennenden Feuers einen matten Glanz. "Das ist das Herz eines Drachen... ein Heiligtum, dass sie nicht in die Hände Fremder kommen lassen..." Unfassbar... Shiosai sollte also ein Drache gewesen sein? Das konnte ich nicht glauben, irritiert schüttelte ich den Kopf. Flúgar hatte einen Drachen getötet...? "Aber..." Meine Stimme stockte, versagte mir den Dienst. Yumeji hielt einen Moment inne, schloss die Augen, dann betrachtete sie den verwundeten Dämon, der regungslos vor ihr auf dem Boden verweilte. "Ich befürchte, Miko-sama, dass er ebenfalls dieser Rasse angehört. Ein anderer Youkai hätte keine Chance gegen einen vollwertigen Drachen gehabt, und er sieht nicht nach einem aus dem Hundeclan aus..." Erstaunt sah ich sie an. Hundeclan? Flúgar ein Drache? Allmählich setzte sich diese Angelegenheit über mein Vorstellungsvermögen hinweg. In was war ich hier nur hinein geraten? Sie bemerkte rasch meine Abwesenheit, sah mich eindringlich an. "Habt ihr noch nie etwas von dem Hundeclan aus dem Westen gehört?" Ich schüttelte überfragt den Kopf. Hatte sich dieser Fuchs einmal vor Augen geführt, dass ich ein Mensch war? "Aber du kennst doch sicher die Geschichten über den Weißen Hund von Kyûshu?" Diesen Begriff hatte ich schon einmal gehört, im Wirtshaus einer größeren Stadt im Westen hatte ich einige Worte aus der Konversation zwischen einem Dämonenjäger und einem hochangesehenen Priester erhaschen können. Die Dämonenjäger kamen von Kyûshu, waren aber auf dem Weg in den Osten, sie flohen, da sie eine weitere Auseinandersetzung mit dem Weißen Höllenhund befürchten mussten. Und auch der Priester trat auf den Rat des gesetzten Jägers den Rückweg in den Osten an. Ich nickte abwesend. "Bis jetzt habe ich nur einmal einen von ihnen gesehen, als er in den Tiefen dieses Waldes mit einem der alten Bäume sprach, aber dein Begleiter riecht auch ganz anders..." Irgendwie fühlte ich mich, als würde sie mich an der Nase herumführen. "Er sprach mit einem... Baum?!" Sie nickte bejahend, als wäre es das Normalste auf der Welt, dass man ab und an ein Pläuschen mit einem Baum hielt. So recht wollte mir das aber dann doch nicht in den Kopf. "Bokusenou ist ein weiser Youkai, der mit seinem Rat und seinem Wissen nicht geizt; er hat meiner Sippe auch schon geholfen. Allerdings wahrt er Stillschweigen über seine Gespräche mit diesem Hund..." Die Füchsin wurde wieder nachdenklicher. Diese internen Umstände interessierten mich nicht unbedingt, ich tat Yumejis Auskunft mit einem etwas gleichgültigen Schulterzucken ab. Daraufhin ließ auch sie das Thema 'Weißer Hund von Kyûshu' ruhen und wir wandten uns dem Vorhaben zu, das unumgänglich blieb. Flúgars Gegenwehr hielt sich in Grenzen, was mir aber im Grunde nur noch mehr Sorgen bereitete. Wie schlecht musste es ihm gehen, wenn er nicht einmal mehr die Kraft aufbrachte, sich gegen dieses abstoßend riechende - und laut Yuemji noch viel schlimmer schmeckende - Gebräu zu wehren? Selbst in der Sekunde meines Todes hätte ich mich mit aller Macht gegen diese Flüssigkeit zur Wehr gesetzt. Von seiner Seite kam so gut wie nichts, er weigerte sich bloß eine ganze Weile, das Pflanzensaft und Alkohol-Gemisch zu schlucken. Verständlich, jedoch hätte ich von ihm wesentlich mehr erwartet... Zudem fügte sich, dass die Kitsune mir noch einmal in aller Deutlichkeit ihre Prognose mitteilte, bevor sie ihr schlafendes Kind in den Arm nahm und in der mittlerweile längst herangebrochenen Dunkelheit der Nacht verschwand. "Gehabt Euch wohl, Miko-sama, Ihr seid bei den Kitsune jederzeit willkommen!" Es regnete nicht mehr, nur ab und zu perlten vereinzelte Regentropfen von den Blättern der Pflanzen leise zu Boden. Der Himmel versteckte sich weiterhin hinter einer dichten Wolkenfront, der Mond war so unerkennbar am Firmament wie die Sterne. Diese Nacht erschien mir trostlos und meine Müdigkeit verstärkte sich zusehends. Ich durfte nicht einschlafen... Inazuma döste vor sich hin, obwohl ihn die ganze Sache den Nachmittag über nicht wirklich gestört hatte, und Kaneko lag auf meinem Schoß, schnurrte leise. Ich saß neben Flúgar, beobachtete ihn besorgt. Yumejis Worte gingen mir abermals durch den Kopf, ich wollte sie dennoch nicht wahrhaben. Vehement wehrte ich mich gegen solche Gedanken, schüttelte sie ab. Er war jemand, der sich nicht so leicht unterkriegen ließ, und er würde nicht einfach resignieren und aufgeben... Sicherlich war es eine unbewusste Handlung, als ich meine Hand auf seine legte, mit den Fingerkuppen die weiche Haut erkundete und mir den Verlauf der Linien auf seiner Handfläche bewusst machte. Vor seinen klauenartigen Fingernägeln machte ich Halt, ich zögerte, doch meine Neugierde setzte sich durch. Dieses Mal konnte ich genauso wenig widerstehen wie das letzte Mal, als ich das graue Symbol auf seiner Stirn nachgefahren hatte. Er war kein Mensch, und diese Tatsache verfestigte sich mit jeder neuen Erkenntnis, die ich gewann. "Sei lieber vorsichtig..." Ich zuckte heftig zusammen, als ich die flüchtige Bewegung seiner Muskeln spürte und fast gleichzeitig seine tiefe Stimme erkannte, die mir in ihrer Intensität fast einen Schauer über den Rücken jagte. Den Versuch, sich aufzusetzen, brach er mit einem von Schmerz zeugenden Laut sofort wieder ab. Ich stufte ihn nicht als wehleidig ein, und deshalb nahm ich seine Äußerung ernst und legte ihm die Hand auf die Brust, er sollte sich in seiner Verfassung wohl besser nicht bewegen. Unverhohlen blickte er mir in die Augen, wandte sich nicht ab. "Warum heulst du schon wieder...? Shiosai ist tot." Weinte ich? Zögerlich berührte ich mit der rechten Hand meine Wange, spürte augenblicklich die Nässe meiner Tränen. Ich hatte es nicht einmal gemerkt... "Ich weine doch nicht wegen ihm..." Der Griff meiner linken Hand festigte sich um seine, als ich ihn ansah. Jetzt war es ohnehin egal, ich ließ den Dingen ihren Lauf, hielt die Tränen, die sich den Tag über angesammelt hatten, nicht weiter zurück. "Flúgar... ich weine wegen dir, um dich, weil ich dachte, du müsstest sterben..." Meine Stimme versagte, ging in ein hilfloses Schluchzen über, dass ich nicht zurückzuhalten wusste. Die Priesterin weinte wegen... mir? Sie vergoss Tränen, weil sie um mein Leben besorgt war? Konnte ich das so ohne weiteres glauben? Ich wusste es nicht... ihr Verhalten, diese ganze Situation begriff ich nicht, es war mir schlichtweg unverständlich... Von Anfang an war es mit diesem Menschen eine andere Sache gewesen als mit all jenen, die mir zuvor in meinem Leben begegnet waren. Sie hatte nicht die Absicht verfolgt, mich zu töten, selbst bei unserer ersten Begegnung nicht. Ich hatte keine ihrer Berührungen als unangenehm empfunden und auch niemals das Gefühl gehabt, dass sie mich auf irgendeine Weise verraten oder hintergehen wollte. Sie hatte mich selbst auf meinen Befehl hin nicht im Stich gelassen und mehr als einmal meinen sicheren Tod verhindert; sie vertraute mir... ich war ihr etwas schuldig... Gab es denn noch einen Grund für mich ihr zu misstrauen? Den Punkt, dass sie ein Mensch war, konnte ich unter diesen Bedingungen einfach nicht gelten lassen, und ich war unsicher, ob ich es überhaupt gewollte hätte. Warum sollte ich ihr nicht vertrauen? Die Priesterin würde mich nicht enttäuschen... Ich schloss die Augen, genoss für einen Augenblick ihre Witterung. "Es sind fast genau vierundzwanzig Jahrhunderte und sechsundzwanzig Jahre..." Ihr Schluchzen verstummte, und eine ganze Weile verging, ehe sie sich so weit gefasst hatte, dass es ihr gelang zu sprechen. "Was meinst du?" Ich seufzte, aber das Gedächtnis eines Menschen fand nun einmal keinen Vergleich mit dem eines Drachen, man konnte es ihr nicht übel nehmen. "Du wolltest wissen wie alt ich bin... etwas mehr als vierundzwanzig Jahrhunderte..." Ungläubig starrte sie mich an, ihre braunen Augen verrieten ihre Skepsis. Ich hatte ihr gesagt, sie würde es sich nicht vorstellen können; sie sollte sich hüten sich zu beschweren und meine Worte anzuzweifeln. "Dieser Tag ist wirklich... erst soll Shiosai ein Drache gewesen sein, und du ebenfalls, Hunde reden mit Bäumen und du erzählst mir, du seiest über zwanzig Jahrhunderte alt... sonst noch etwas, dass ich wissen sollte?" Die Kitsune war hier gewesen, ihr Geruch war noch deutlich in der Luft wahrzunehmen. Scheinbar war das Leben an der Priesterin bis jetzt vorbeigezogen... immerhin war sie ein Mensch, und die liefen bekanntlich vollends blind durch ihr ganzes Dasein. "Was hast du denn erwartet?" Unentschlossen zuckte sie die Schultern, wischte sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. Dann galt ihr durchdringender Blick mir. "Und wie kommt es, dass du plötzlich so redselig bist?" Misstrauisch verengten sich ihre Augen. Aber sie wollte keine Antwort hören, sondern setzte gleich selbst dazu an. "Das muss wohl am Kräuterschnaps liegen..." Schnaps...? Was hatten die Füchsin und sie bitte den Tag über getrieben? Es interessierte mich nicht wesentlich und der Alkohol war eine plausible Erklärung für mein vermindertes Schmerzempfinden. Vermutlich spürte ich den Schmerz meiner Wunden deshalb nur ansatzweise... "Hier." Ich wandte mich in ihre Richtung, und war recht erstaunt, welchen Gegenstand sie mir reichte. Es war die Hälfte des Anhängers, die mir Blævar als Talisman geschenkt hatte. Obwohl ich mit derlei abergläubische Riten nichts anzufangen wusste, hatte ich es angenommen und nahm es mit mir, wenn ich das Zuhause meiner Eltern oder das meinige verließ. Meine Bewegungen waren matt, ich merkte, dass ich zitterte. Der Grund dafür war mir nicht bewusst, aber sie äußerte sich nicht dazu und legte mir das kleine Schmuckstück in die Hand. Eher zufällig streifte mein Blick Skýdis... ich erinnerte mich, Shiosai hatte sie mit Sui No Rinrou schwer beschädigt. Ob man sie reparieren konnte? Wohl oder übel würde ich mich mit diesem stupiden Schmied auseinandersetzen müssen, bei dem mein Vater nach Afis Tod Skýdis in Auftrag gegeben hatte. Bis jetzt war ich um einen Besuch bei ihm herumgekommen, da an Skýdis keine Reparaturen nötig gewesen waren, aber nun sah die Sache anders aus. In diesem Zustand konnte ich sie nicht lassen, das konnte ich Afi nicht antun... "Yumeji hat es gebracht... man kann es doch sicher reparieren, oder?" Ich war müde, legte den Kopf auf die Seite. Vielleicht schaffte ich es gerade noch, ihr Skýdis Wert ein wenig näher zu bringen. "Skýdis ist ein besonderes Schwert, und nur der Schmied, dessen Hand sie entsprungen ist, hat vielleicht die Möglichkeit, sie zu reparieren, ansonsten..." Mein Geist driftete langsam ab, ich konnte mich kaum noch bei Bewusstsein halten. Meinem Körper musste es schlechter gehen, als ich es zu spüren vermochte. Augenblicklich riss sie meine Hand an ihre Brust und intensivierte den Druck ihres festen Griffs. "Flúgar..." Ihr schien nicht ganz klar zu sein, was sie gerade tat... Glücklicherweise war ich unschuldig an dieser momentan offensichtlich prekären Position meiner linken Hand. Natürlich hätte ich diese Situation ausnutzen können, zumal sie nicht einmal ihre Rüstung trug, aber mein Zustand erlaubte es mir nicht einmal mehr zu sprechen... ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Afi - Großvater ***>>> Kapitel 17: >"Sich im Zaum zu halten, Herr seiner innersten Gelüste und Empfindungen zu sein, ist eine Fähigkeit, die nicht unbedingt jedem innewohnt. Zuweilen reicht das Bemühen des Einzelnen auch einfach nicht mehr aus, um seine Gefühle in sich zu verwahren und unwillkürlich steigen diese in großen Blasen zur Oberfläche auf..." *» Sjálfsstjórn Kapitel 17: *~Sjálfsstjórn~* ---------------------------- "Nach der Kraft gibt es nichts so Hohes als ihre Beherrschung." – Jean Paul Kapitel 17 - Sjálfsstjórn -Selbstbeherrschung- *Was ist Macht in ihrer reinen Form wirklich? Ist sie eine Bürde? Oder ein Segen, der uns unsere tiefsten Herzenswünsche erfüllt? Oder aber, ist es beides gleichzeitig? Kommt es womöglich auf die Ausgangsposition an, auf den Umgang mit ihr? Verzehrt sich der Machtlose nicht förmlich nach ihr, während der Mächtige sie zuweilen für einen Fluch hält?* ּ›~ • ~‹ּ Die Nacht und ein von sanftem Sonnenschein geprägter Morgen vergingen, der Himmel wurde wieder von grauen Wolken eingenommen, die aber glücklicherweise keinen Regen verhießen. Um die Mittagsstunde kehrte Midoriko von ihrer kleinen Exkursion an einen Bach ganz in der Nähe zurück, brachte frisches Wasser und gewaschene Kleidung zurück. Flúgar erkannte sie bereits von weitem, an ihrem Geruch, an der Art, wie sie lief und sich allgemein bewegte Den Nekoyoukai hatte sie zurückgelassen; sie traute diesem Wald einfach nicht, und seit Yumeji ihr von einem sprechenden Baum - Bokusenou - erzählt hatte, gefiel es ihr hier umso weniger. Irgendetwas konnte mit diesem Gebiet nicht stimmen, wenn es hier irgendwo tatsächlich Pflanzen gab, mit denen man eine gepflegte Konversation zu halten vermochte. Die Priesterin war sichtlich überrascht, als sie vor der Höhle ankam und ihren Begleiter aufrecht, mit geschlossenen Augen, an der Wand lehnen sah. Kaneko lag dicht neben ihm, den kleinen Kopf auf sein linkes Bein stützend, und schnurrte leise. Bis jetzt war der jungen Frau noch nicht aufgefallen, dass die zwei Dämonen sich so gut vertrugen. "Fühlst du dich besser?" Vorsichtig stellte sie den mit Wasser gefüllten Kessel ab und breitete die klamme Wäsche über dem Boden aus. Dann kniete sie sich kurz vor Flúgar, ermaß prüfend seine körperliche Verfassung. Der Großteil der kleineren Verletzungen und blauen Flecken waren bereits verschwunden, nur die große Wunde in seiner Seite war noch präsent. "Nicht unbedingt..." Mit Bedacht näherte sie sich ihm so weit, dass sie den Verband lösen und einen Blick auf die prägnante Stelle werfen konnte. Als sie begann, das verletzte Gewebe mit den Fingern abzutasten, presste Flúgar die Kiefer gegeneinander, hielt aber jeden aufkommenden Ton in sich verwahrt. Verunsichert sah sie auf. "Tue ich dir weh?" Das Gesicht des Dämons fügte sich unmerklich einer weiteren Schmerzenswelle, ehe er ihr darauf Antwort gab. "Du hast die Sensibilität und das Feingefühl eines Ackergauls..." Seine verächtlichen Worte gingen nicht spurlos an ihr vorbei, Verärgerung über seine absolut fehlplatzierte Ehrlichkeit fing an in ihrem Bauch zu brodeln. Mit einem neutralen Blick fixierte sie ihn. "So, ich bin also so feinfühlig wie ein Ackergaul... wenn du ein winziges bisschen vernünftiger wärst, hättest du dir so eine Verletzung niemals zugezogen! Idiot!" Damit verfielen sie beide in ein Schweigen, das keine der beiden Seiten zu brechen wusste. Seine Worte hatten sie dazu gebracht, präziser und vor allem gründlicher zu arbeiten, sie ließ sich Zeit. Noch immer haftete der Geruch der monatlichen Bereitschaft an ihr, und Flúgars Beherrschung stand gefährlich auf der Kippe. Ihre unmittelbar Nähe, die sanften Berührungen ihrer Finger auf seinem Körper machten die Sache nicht einfacher. Der Youkai biss sich auf die Unterlippe, drängte seinen Instinkt zurück und versuchte die abwegigen Bilder und Vorstellungen, die seine rationalen Gedanken überlagerten, aus seinem Verstand zu bekommen. Aber es gelang ihm nicht, sein animalischer Instinkt, seine tierischen Triebe gewannen wieder einmal die Oberhand, veranlassten ihn zu einer unüberlegten Tat, die seinem wahren Wesen eigentlich fern lagen. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr, ihr Geruch vernebelte ihm denn Sinn, er war in jenen Augenblicken nicht mehr klar im Kopf, und er wusste es. Er handelte so überstürzt, dass Midoriko überhaupt nicht darauf reagieren konnte. Urplötzlich spürte sie seinen Atem in ihrem Nacken, seine muskulösen Arme, die sie kurz unter der Brust und um die Hüfte fassten, seinen kühlen Oberkörper an ihrem Rücken. Im ersten Moment erachtete sie die Situation nicht als bedrohlich, da sie sie ganz und gar nicht einzuordnen wusste. Was tat Flúgar da? Oder hatte er ganz etwas Anderes vor? Ein grollendes, kehliges Geräusch drang an ihr Ohr. Es war ohne Zweifel ihm zuzuordnen, aber es klang seltsam, damit konnte sie nichts anfangen. Langsam schwand ihre Ruhe, Flúgars Griff lockerte sich nicht sonderlich, aber als sie schließlich seine scharfen Fänge in der Haut ihres Nackens wahrnahm, wurde ihr angst und bange. Panisch riss sie sich los und fuhr herum, und ohne dass sie wusste, was sie tat, versetzte sie ihm eine heftige Ohrfeige. Tränen standen in ihren Augenwinkeln, ihr war nicht klar, was dieses Ereignis für eine Bedeutung hatte, aber ihr fehlte die Beherrschung, um in irgendeiner Form Verständnis dafür zu entwickeln. Flúgars trüber Blick klärte sich auf, und er wandte sich sofort von ihr ab. Er zog sich in die äußerste Ecke der Höhle zurück, senkte den Kopf zu Boden und starrte angestrengt auf die harte Erde unter ihm. Wie hatte ihm das nur passieren können... Midoriko saß regungslos da, stützte ihren Körper noch immer mit der linken Hand ab, und versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen. Was für eine Annäherung war das eben gewesen? Er schien sich dafür zu schämen, entzog sich ihrer Reichweite. Sie hatte ihn nicht schlagen wollen, aber es hatte sie überkommen, einfach so, wie ein Reflex. Zugegeben, es hatte sie fürchterlich erschrocken, aber im Endeffekt war ihr nichts geschehen. Sie hatte wohl überreagiert... "Flúgar, ich..." Ihre Stimme zitterte, gestaltete sich uneben und verfänglich. "Sei dankbar, dass du mich zur Besinnung gebracht hast, bevor ich dir etwas antun konnte." Verschreckt sah sie auf. Hatte sie die Situation etwa intuitiv richtig eingeschätzt? Hätte Flúgar sie wirklich verletzt oder gar Schlimmeres getan? "Ich kann für nichts garantieren, halt dich besser fern von mir..." Midorikos Hände zitterten, ihr Atem ging unkontrolliert. Zudem wusste sie nicht, was hier vor sich ging. Was war mit ihm los? Was konnte denn nur sein, wenn er sie anwies sich ihm nicht mehr zu nähern? Zögerlich ging sie auf ihn zu, streckte die Hand nach ihm aus. "Ich habe keine Angst vor dir." Der Dämon zwang seinen Blick auf den Boden, hielt die Augen geschlossen und presste die Zähne aufeinander; einen weiteren Aussetzer seines klaren Verstandes würde sie nicht überleben, denn Drachen waren nicht unbedingt dafür bekannt, dass sie vorsichtig oder behutsam mit ihrem Gefährten umgingen. Nicht selten zierten ihre Leiber unzählige Verletzungen, wenn sie sich auch nur für eine Nacht zusammengefunden hatten. Flúgar hatte dies bei seinen Eltern beobachten können, nicht nur sein Vater musste in dieser Beziehung ein sehr ungestümes Temperament haben... "Das wird dich vor mir nicht retten." Kurz hinter ihm ging sie auf die Knie, berührte seine Schulter. Er zuckte zusammen, aber dem folgte keine weitere Reaktion. Midoriko wollte das Aufkommen einer neuen Distanz zwischen ihnen unterbinden, sie würde verhindern, dass er den Kontakt zu ihr ablehnte oder sogar mied. Sie mochte Flúgar, auf welche Art und Weise auch immer, und sie würde es nicht ertragen, wenn sie auch noch von ihm Ablehnung erfahren würde. Das kannte sie zur Genüge, dieses Gefühl sollte nicht zwischen ihnen herrschen... Ohne weiter darüber nachzudenken, legte sie ihre Arme um ihn, lagerte ihren Kopf auf seiner Schulter. Sie hatte nicht gelogen; sie hegte keine Angst vor ihm. Wieder liefen vereinzelte Tränen über ihre blassen Wangen, suchten sich einen Weg über ihr Kinn und schließlich über Flúgars Schultern und Brust. "Hör auf so etwas zu sagen... es ist in Ordnung..." Die Umarmung der Priesterin löste in ihm ein Gefühl von Geborgenheit, von Wärme, aus, das er lange nicht mehr verspürt hatte. Flúgar schloss erneut die Augen. Er genoss es, weil er genau wusste, dass dieser Moment nicht ewig andauern würde. Alles war vergänglich, und besonders die Dinge, zu denen man eine Verbindung aufbaute, nur ihm blieb es dabei verwehrt zu vergehen. Er würde ewig leben, der Preis dafür war hoch, alles um ihn herum würde sich verändern; in der Vergangenheit hatte ihn dieses Phänomen schon oft heimgesucht. Würde er allerdings entgegen seiner Bestimmung doch sterben, erwartete ihn ein noch grausameres Schicksal... Die zarten Strahlen der frühen Morgensonne geleiteten mich langsam aus meinem traumlosen, aber über die Maßen tiefen Schlaf. Noch leicht benommen setzte ich mich auf, streckte meine müden Glieder und rieb mir die Augen. So gut hatte ich lange nicht mehr geschlafen; kein Alptraum hatte mich heimgesucht, keine Sorge hatte meine Seele geplagt... ich fühlte mich gut, ohne jegliches Wenn und Aber. Schlaftrunken sah ich mich um, betrachtete eine Weile lang nachdenklich Kaneko, die außerhalb der kleinen Höhlung saß und aufmerksam die Luft prüfte. Zuweilen zuckten ihre schwarzen Ohren, aber der Nekoyoukai blieb ruhig, und somit gab es keinen Grund zur Beunruhigung. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich unsagbar weich gelegen hatte und ein flüchtiger Blick bestätigte mir meine Vermutung; ich hatte auf dem Futon geschlafen. Ich erinnerte mich an gestern... Zögerlich fuhren meine Finger über den tiefrot verfärbten Stoff... ich brauchte nicht aufzusehen, um mich zu vergewissern, dass ich alleine war. Flúgar war derzeit nicht hier, dessen war ich mir bewusst. Langsam legte ich mich wieder zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, starrte an die von Baumwurzeln durchsetzte Decke... ich hätte gerne gewusst, wo Flúgar war, denn soweit ich mich entsinnen konnte, ging es ihm noch nicht wieder richtig gut. Hoffentlich war er in Ordnung... Ja, ich gestand es mir ein, ich mochte Flúgar, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt keinerlei Gründe zu benennen vermochte. Es war einfach ein Gefühl, zugegeben ein starkes, aber nichts weiter. Aber warum nur...? Immerhin war er ein Youkai. Aber das war wohl kein Argument, denn schon Kaneko hatte bewiesen, dass es Ausnahmen gab. Woran lag es nur, dass ich mich um ihn sorgte, dass er mir nicht gleich war, dass ich ihm... vertraute... Ich schloss die Augen. Es war die reine Wahrheit, ich vertraute Flúgar... aber was veranlasste mich bloß dazu? Es gab so viele Gründe ihn nicht zu mögen, so Vieles, für das man ihn hassen konnte... vielleicht, weil er nicht immer so war? Weil ich mir immer sicherer wurde, dass sein Verhalten größtenteils eine Fassade war? ...oder vielleicht, weil er mir ähnlich war? ... ich wusste es einfach nicht... Kanekos freudiges Miauen holte mich aus meinen Gedanken, ich drehte den Kopf in ihre Richtung. Über dem Boden der Lichtung vor dem Hain schwebte eine Energiekugel, die sich umgehend verformte und schließlich eine humane Silhouette bildete. Das gleißende, energetische Licht verging, und ich erkannte die Person, die noch einen Moment regungslos dort verweilte. Erneut setzte ich mich auf, warf ihm einen neugierigen Blick zu, aber er reagierte nicht darauf. Als er sich mir näherte, stieg mir ein eindeutiger Geruch in die Nase; Salz, Seetang, Fisch... Das Meer war unendlich weit entfernt von hier... war es möglich, dass er in so kurzer Zeit so weit gekommen war? Ich war skeptisch, allerdings musste ich in Betracht ziehen, dass er sich nicht in dieser humanen Form fortbewegt hatte. Schweigend musterte ich ihn, seine Bewegungen, die teilweise noch einen Hauch von Schmerz verrieten. Anscheinend war die Wunde noch nicht ganz verheilt, jedoch hätte mich das wahrscheinlich auch bei ihm gewundert. Flúgar schien meinen Blick im Rücken zu bemerken, denn er setzte sich so, dass für ihn die Möglichkeit bestand mich anzublicken, auch wenn er in diesem Augenblick nicht tat. Nach einer Weile legte ich den Kopf schief; es kam mir so vor, als wollte er mich nicht ansehen. Ob es noch immer wegen der Sache von gestern war? "Hast du Hunger?" Er schüttelte andeutungsweise den Kopf, lehnte sich zurück gegen die Wand und schloss die Augen. Er ging einer Konversation mit mir aus dem Weg... ich seufzte. Es bedurfte einer Art von Aussprache, auch, wenn er nicht wollte. So konnte es unmöglich bleiben. Ich kniete mich genau vor ihn, merkte, wie sich seine Haltung verkrampfte. Sein Ausdruck verblieb ruhig, aber ich spürte seine Anspannung. "Hör zu, Flúgar... ich bin dir nicht böse, und ich mache dir keine Vorwürfe..." Meine Worte schienen an ihm vorbeizuziehen, ungehört, bedeutungslos. "Ich verstehe es nicht... Flúgar, bitte, ich bitte dich! Sieh mich an... ich möchte nicht, dass du mich meidest, mich ablehnst..." Mein Ton wurde neutral, monoton. Äußerlich hatte ich es nie an mich herangelassen, wenn mich jemand mied. Aber innerlich hatte es mir schon immer zu schaffen gemacht, dass die Leute mich ablehnten, und nur meine Dienste, meine Fähigkeiten annahmen. Als ich behutsam den Blick hob, traf ich auf den seinen. Vorsichtig streckte ich die Hand nach seiner Wange aus, beobachtete den leichten Wandel in seinem Blick, als ich ihn berührte. "Ich habe keine Angst vor dir... ich... vertraue dir, Flúgar..." Eine ganze Zeit lang geschah nichts, niemand sagte ein Wort, und zu meiner Verwunderung wich er meinem Blick nicht aus. Mein Zeitgefühl setzte aus, und ich verlor mich in Flúgars so blank erscheinenden weißen Augen, obwohl ich nicht zu deuten vermochte, was in den Abgründen, die sich dort auftaten, verbarg. Irgendwann packte er mein Handgelenk und zog mich mit sich auf die Beine. "Lass uns gehen." Uns? Meinte er das ernst? Ein wenig stutzig sah ich ihm nach, mein Blick heftete sich auf seine Seite. Flúgar betrachtete mich bloß kurz aus den Augenwinkeln, schien aber sofort genau zu wissen, was mir derweil durch den Kopf ging. Ohne eine Aufforderung entblößte er seine linke Seite, erlaubte mir somit mir ein Bild vom jetzigen Zustand seiner Wunde zu machen. Wie ein roter, mit ungleichen Zacken bewährter Stern prangte sie über einem beträchtlichen Bluterguss, der sich beinahe über seine ganze Flanke zog. "Bist du sicher, dass..." Die Verletzung wirkte auf mich noch immer bedenklich, wäre es nach mir gegangen, hätte ich ihn sofort wieder auf den Futon verbannt, aber das konnte ich mir wohl sparen. Er würde es ohnehin nicht tun. Auf der anderen Seite... wenn er es schaffte von hier aus bis zum Meer und zurück zu kommen - auf welche Art und Weise auch immer - dann konnte es ihm nicht allzu schlecht gehen. "Ist gut!" Flúgar stellte die Ordnung seiner Kleidung wieder her, während ich zusammenpackte und die Satteltaschen befestigte. Die Vorräte gingen langsam aber sicher zur Neige, ich musste sie möglichst bald in einem Dorf oder einer Stadt aufstocken. Ob man hier in der Nähe so etwas finden konnte? Welcher vernünftige Mensch würde sich auch nur am Rande dieses unheimlichen Waldes aufhalten wollen? Ich sollte Flúgar fragen, vielleicht hatte ich ja wenigstens einmal Glück... Der Wald fand bald ein Ende, und in weiter Ferne türmte sich eine in dunstigen Nebel getauchte, mit weißen Gipfeln gekrönte Gebirgskette auf. Graue Wolkenfetzen hingen vor den verschneiten Wipfeln, erlaubten nur ab und an einen Blick auf den nächst höheren Berg dahinter. Das Gestein war nicht einheitlich gefärbt, die Frontseite präsentierte sich von einem hellen Ocker bis hin zu einem schmutzigen Dunkelblau. Die momentan von der späten Nachmittagssonne beschienene Seite erschien kupferfarben, die im Schatten liegende war tiefschwarz. Dieser Gebirgszug war markant, aber trotzdem hatte ich keinen Schimmer von unserem derzeitigen Aufenthaltsort. Wo waren wir hier? Der Weg dem wir folgten, führte am Waldrand entlang, fiel rechts in einem grasigen Steilhang tief hinab. Nachdem die mannshohen Hecken nicht mehr weiter die Sicht behinderten und in Wiese übergingen, erkannte ich eine kleine Stadt, einen Fluss und einige Felder. Wenn ich genau darüber nachdachte, erschienen mir die Felder und die Straßen der Siedlung leer, denn es war kaum ein Mensch dort unten zu erspähen. War das Dorf eventuell von Youkai heimgesucht worden? Oder von Räubern überfallen worden? Eher nicht, denn ich spürte weder die Präsenz einer bösen Energie, noch waren die Häuser beschädigt oder gar abgebrannt. Zu meiner Freude schien die idyllisch gelegene Siedlung ein Gasthaus zu beherbergen; die Besitzer solcher Behausungen waren mir freundlich und hilfsbereit in Erinnerung. Priester und Schreinjungfrauen waren dort höchst willkommen, denn sie zeigten den einfachen Leuten an, dass die Gaststätte vertrauenswürdig war. "Zwei Tage." Vor der Wegesgabelung hatte Flúgar angehalten und wartete nun auf mich. Es machte den Anschein, als wollte er den Weg über den schmalen Steg in die Stadt einschlagen. Ging es ihm gut? Seine nüchterne Aussage kam mir eigenartig vor. Das letzte Mal hatte ich eher das Gefühl gehabt, er würde am liebsten einen weitläufigen Bogen um jede menschliche Ansiedlungen machen. Hatte ich hier etwas übersehen oder war Flúgar einfach sprunghaft? Ich zuckte die Schultern und folgte ihm still in mich hinein lächelnd über die kleine Holzbrücke, die über den Fluss führte. Zwei Tage in dieser Stadt - und in dieser Gaststätte - sollten genügen um ausreichend zu essen und zu schlafen, ein heißes Bad zu nehmen... diese Siedlung war ein Segen! Ohne jemanden anzutreffen passierten wir den Steg und erst auf einem der letzten Felder, das nahe bei den Häusern lag, trafen wir zwei alte Herren an, die sich mit der Arbeit auf dem Acker sichtlich schwer taten. Als die zwei Greise uns erblickten, ließen sie plötzlich ihre Werkzeuge fallen und warfen sich demütig auf die Knie, beugten ehrfürchtig die Köpfe bis zum Boden. "Gyousei-sama!" Meine Augen weiteten sich, als mir der Sinn dieser Anrede dämmerte. Gyousei-sama? Der Gyousei-sama? Damit sprachen sie Flúgar an? War ich denn so blind?! Flúgar hielt inne und bedachte die vor ihm im Staub kauernden Gestalten mit einem missgünstigen Blick. Scheinbar konnte er damit nicht allzu viel anfangen, oder es war ihm gleichgültig, auf jeden Fall äußerte er sich nicht dazu. Ich ließ die Zügel des Packpferdes los und brachte mich vor Flúgar, musterte ihn mehrmals von oben bis unten. Wie kamen diese alten Männer nur auf Gyousei-sama...? "Miko-sama, habt vielen Dank, dass Ihr Gyousei-sama zu uns geleitet habt, aber wir waren darauf nicht vorbereitet. Die jungen Männer dieser Stadt sind alle im Krieg, und nun sind nur wir Alten, die Frauen und Kinder noch hier... wir werden uns umgehend um einen angemessenen Empfang für Euch bemühen!" Sie verneigten sich noch einmal so tief wie es nur möglich war und eilten dann in Richtung des Gasthauses davon. Währenddessen warf ich meiner Begleitung einen kritischen Blick zu. "Du bist nicht wirklich ein... Kami, oder?" Eigentlich war es unvorstellbar, aber... Für einen Moment hüllte sich der Dämon in Schweigen, die Augen abwesend auf das riesige Gebirge, das, von Nebelschleiern umgeben, im Hintergrund steil aufragte, fixiert. Dann schüttelte er den Kopf. "Iie, nicht direkt." Verständnislos sah ich ihn an, verschränkte die Arme demonstrativ vor der Brust. "Was meinst du mit nicht direkt? Es steckt wohl doch ein Körnchen Wahrheit darin, hm?" Flúgar schaute wieder in die Ferne. "Ihr Menschen seid eine seltsame Rasse... ohne Glauben könnt ihr nicht existieren, und gleichzeitig verurteilt ihr den eines anderen. In dieser Gegend verehrt man den Clan meines Großvaters als Kami, wobei das nicht auf ihn, sondern auf meinen Vater zurückfällt." Ein Hauch von Bitterkeit sprach aus seiner Stimme, die Verächtlichkeit, mit der er das Wort Vater aussprach, stimmte mich nachdenklich. Hieß das, sein Vater war der wahre Kami? Ein richtiger Kami in dem Sinne, dass er die Menschen hier beschützte? "Gyousei-sama ist also... dein Vater?" Flúgar der Sohn eines Kami? Zumindest schien er mir die Ansichten seines Vaters nicht zu teilen, es missfiel ihm merklich, dass man diesen hier verehrte. Bedeutete dies, dass sein Vater die Menschen nicht verachtete? "...ja." ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Gyousei - Morgenstern Kami - shintôistische Götter ***>>> Kapitel 18: >"Nach all den Strapazen und Mühen, die man im Leben auf sich nimmt, folgt auch irgendwann eine Ruhepause, eine kurze Zeit der Entspannung. Jedes Individuum nutzt diese nach seinem Belieben, hängt seinen Gedanken nach, beugt sich dem Drängen seiner Neugier..." *» Chikan Kapitel 18: *~Chikan~* ---------------------- "Nur der Faule betrachtet die Pause als erstrebenswerten Lebenszustand. Der schaffende Mensch hingegen nutzt sie als Quelle für neue Leistungskraft. Und seine Entspannung zieht er aus dem Resultat, das die Seele mit Glück erfüllt." – Sigrun Hopfensperger Kapitel 18 - Chikan -Entspannung- *Bringt uns Ruhe und Entspannung nicht nur wieder zu dem Gedankengang, zu den Fragen zurück, die wir im Eifer des Gefechts verdrängten? Zurück zu Fragen, nach deren Antwort der wir uns so sehr sehnen? Oder zurück zu Gedankengängen, die nicht vollendet werden können? Stürzt uns dieser Zustand der Gelassenheit nicht in innerliche Unruhe und widersprüchliche Thesen? Verstrickt es uns nicht immer tiefer in Verzweiflung, die wir unlängst vergaßen, und Neugier, die nicht sein sollte?* ּ›~ • ~‹ּ "Wunderbar..." Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte sich Midoriko mit den Unterarmen auf den schmalen Rand des mit heißem Wasser gefüllten Holzpotts, bettete ihr Kinn darauf und schloss die Augen. Wie lange war es her, dass sie ein so angenehmes, entspannendes Bad genommen hatte? Das warme Nass lockerte ihre Muskeln, und der wohlige Geruch der Wasserzusätze verschafften ihr einen vollkommen klaren Kopf. Es war traumhaft... "Miko-sama, ist auch alles nach Eurem Belieben?" Die Stimme des jungen Mädchens kam vom Gang her, doch die Priesterin nahm es nicht so wirklich wahr, versank zusehends mehr in ihre eigenen Gedanken. Der Frage folgte bald ein leises Kichern, und das Dienstmädchen schob die Shouji einen Spalt breit auf. "Das Essen ist so gut wie fertig, Miko-sama, Ihr solltet Euer Bad bald beenden. Ich werde Euch Kuri schicken, damit sie Euch beim Ankleiden hilft." Sie verbeugte sich höflich, ehe sie die Schiebetür wieder leise schloss und sich auf den Weg zur Küche machte. Diese Reisenden waren ein merkwürdiges Gespann, aber gleichzeitig eine willkommene Abwechslung für die Mädchen in diesem Gasthof. Seitdem alle jungen Männer der Umgebung eingezogen und in den Krieg geschickt worden waren, herrschte eine gewisse Langeweile vor, gegen die kein Kraut gewachsen zu sein schien. Doch die Ankunft der jungen Priesterin und dem vermeintlichen Kami, sowie dem kleinen Katzendämon, schien die Lebensgeister und den Fleiß der Dienstmädchen neu entfacht zu haben. Sie, Sakura, und ihre Schwester Kuri hatten das Glück, diesen Gästen zugeteilt worden zu sein, und das bedeutete für sie beide eine große Ehre. Wer konnte schon von sich behaupten, dass er über kurze Zeit einer Miko und einem Kami gedient hatte? Sakura lächelte in sich hinein, traf in der Küche die letzten Vorbereitungen für das Essen der Besucher. Deren Vorlieben hatten sie zunächst ein wenig verwirrt - während die einen das Fleisch von vornherein gänzlich ausschlugen, verlangten es die anderen ungewürzt und roh... aber was tat man nicht alles für die Kundschaft? Flúgar konnte die Schritte der Zimmermädchen und des Wirtspaares von denen Midorikos problemlos am Klang unterscheiden, und so regte er sich überhaupt nicht, als die Miko schließlich ohne Ankündigung die Tür des Zimmers aufschob und eintrat. Das Mädchen mit den gründlich zusammengefassten, kastanienbraunen Haaren, das sie begleitet hatte, verneigte sich noch einmal ausgiebig, bevor es zurück in die Küche zu seiner Schwester eilte. Flúgar saß auf der Veranda und beobachtete zusammen mit Kaneko den Garten, der von halbhohen Steinlaternen beleuchtet wurde. Das Wasser eines Teiches plätscherte leise über einen flachen Stein, und im sanft in der Nachtbrise wiegenden Gras zirpten die Zikaden. Der Geruch von Nussöl, Milch und Honig füllte den Raum, verleitete Flúgar dazu, sich doch einmal ansatzweise umzudrehen und Midoriko einen Augenblick lang wortlos anzuschauen. Sie trug nicht, wie sonst üblich, ihre Priesterroben, sondern einen rosafarbenen Baumwollkimono mit weißem Kirschblütenmustern und einem schmalen, kirschroten Obi, der ihre doch sehr feminine Figur zur Geltung brachte, die sonst durch die weite Kleidung und die Rüstung unterging. Das helle Rosa stand ihr gut, und erstmals wurde ihm richtig bewusst, dass Midoriko, entgegen ihrem Kleidungsstil und ihrer sehr eigenen Art, auch eine Frau war. "Eine wundervolle Nacht..." Die junge Frau ging neben dem Dämon in die Hocke und blickte in den Himmel. Außer den kleinen Lichtpunkten der Sterne, die das samtene Firmament überzogen und den knisternden, orangegelben Flammen der Laternen, die diesem entgegenzüngelten, erhellte nichts diese stockfinstere Nacht. Es war Neumond. Die junge Priesterin sah ihren Begleiter prüfend von der Seite an, vermeinte auch bei ihm eine gewisse Entspannung zu erkennen. Dann wandte sie sich ab, begab sich wieder ins Innere des Zimmers und betrachtete die aufwendig bemalten, mit kostbarer Seide bespannten Wandschirme, deren Motive ihr unsagbar gut gefielen. "Sag mal..." Fasziniert verfolgte sie jede einzelne der dargestellten Szenen, die immerwährend eine majestätische Gestalt mit edler Kleidung und langen, in unzähligen Blauschattierungen liegenden Haaren umfassten. Scheinbar hatte man diese besondere Person schon vor einiger Zeit hier verewigt, und deren Präsenz ähnelte der von Flúgar ungemein... "Ist das dein... ist das Gyousei-sama?" Der Angesprochene verharrte in seiner Position, nickte in seiner Abwesenheit. Sie hatte wohl bemerkt, dass Flúgar die Erwähnung seines Vaters missfiel, anscheinend stand hinter ihrer Beziehung kein gutes Verhältnis, sonst würde er sich in dieser Hinsicht anders betragen. Die meisten Männer erzählten mit Stolz von ihren Vätern und dem Handwerk, dass diese ausübten, aber Flúgar stellte sich nicht in diese Reihe. Es war eigenartig... Erneut bewunderte sie die Zeichnungen, die nicht immer einen Mann in erhabenen Gewändern, sondern auf manchen Bildern auch einen riesigen Drachen mit blau-weißer Färbung und zwei Flügelpaaren zeigten. Lag Yumeji mit ihrer Prognose richtig? War Flúgar wirklich ein Drache? ... konnte sie so einfach danach fragen? Es erschien ihr etwas dreist, aber ihr Interesse war geweckt, und mehr, als keine Antwort geben, konnte Flúgar schlussendlich nicht. ...oder? "Hatte Yumeji Recht?" Er wandte den Kopf leicht in ihre Richtung, gab einen missverständlichen Laut von sich, über dessen Bedeutung sie sich nicht sofort klar wurde. "Mit was?" Unsicher blickte sie zurück auf die Wandschirme, suchte einen Ansatzpunkt für die Frage, die sie ihm so unbedingt stellen wollte. Warum fiel ihr das nur so schwer? "Nun, sie meinte, du würdest der gleichen Rasse wie Shiosai angehören..." Ihm entfuhr unverkannt ein verächtliches Schnauben. "Sei vorsichtig mit dem, was du sagst, Miko." Ein gefährlicher Unterton schwankte in seinen Worten, ließ Midoriko die Luft anhalten. Hatte sie ihn verärgert? Oder gar mit ihrer Aussage beleidigt? "Wag es nicht, mich mit diesem niederträchtigen Verräter auf eine Stufe zu stellen." Die Miko unterdrückte einen Protestlaut, und ein fester Ausdruck erfasste ihre Gesichtszüge. "Woher soll ich solche Dinge wissen? Ich kannte ihn nicht, ich weiß nichts über die Gründe eurer Differenzen, geschweige denn, dass ich etwas über dich weiß! Ich habe keine Ahnung, wer du eigentlich bist..." Noch immer lehnte Flúgar schweigend im Rahmen der Shouji, den Blick in die dunkle Ferne, schier auf einen bestimmten Punkt im Nichts gerichtet. Was ging nur in seinem Kopf vor? "Möglicherweise ist es besser so." Midoriko schüttelte den Kopf, ließ kaum merklich ein leises "Iie." verlauten, ehe sie sich von ihm abwandte und sich auf einem der Tatami, die in der Mitte des Raumes ausgelegt waren, niederließ. "Warum?" Überrascht sah sie auf. "Warum interessiert es dich, ob ich lebe oder sterbe? Warum interessiert es dich, wer ich bin? Du bist ein Mensch - es sollte dir gleichgültig sein, du solltest mich für meine reine Existenz verachten... warum?" Seufzend erhob sich die junge Frau wieder, setzte sich neben ihrer eindeutig schwierig zu händelnden Begleitung auf die Veranda und starrte eine Weile, versunken in die eigenen Gedanken, in den Nachthimmel. "Die Antwort ist..." Langsam drehte sie den Kopf zur Seite, ein schwaches, aber dennoch ehrliches Lächeln auf den blassen Lippen. "... ich weiß es nicht!" Der Dämon schaute sie mit gewissem Unverständnis in den Augen an. Ein Mensch, der keinen Grund für sein Handeln hervorzubringen hatte? Nein, unmöglich... er vermutete, dass sie aus dem Bauch heraus entschieden und auf ihr Gefühl gehört hatte, denn nur sehr wenige Vertreter ihrer Spezies machten bei Entscheidungen solcherlei Grades wirklich Gebrauch von ihren rationalen Überlegungen. "Ich glaube, es war kein Zufall, dass sich unsere Wege gekreuzt haben. Es sollte so geschehen, aus welchem Grund auch immer, das bleibt sich gleich, und... um ehrlich zu sein, ich bereue es nicht!" Zusammen schlossen Midoriko und Flúgar die letzte Mahlzeit dieses Tages ab, allmählich rückte die Mitternachtsstunde näher, aber die Priesterin fand keinen Schlaf. Ihr Nachtlager ließ nichts zu wünschen übrig, und im Grunde spürte sie auch die Müdigkeit ihres Körpers, jedoch erschien ihr das letzte Gespräch mit Flúgar nicht als beendet. Soweit sie es mitbekommen hatte, saß er wieder draußen, hatte aber die Tür zugeschoben, denn vereinzelte kalte Böen zogen den riesigen Gebirgszug hinab und kühlten das Tal auf eine für einen Menschen nicht unbedingt angenehme Temperatur herunter. Vorsichtig tastete sie sich durch das dunkle Zimmer, an den Wänden entlang bis zu der Schiebetür, die auf die Holzveranda und in den Garten führte. Bedächtig schob sie die Tür gerade so weit auf, dass sie hindurch passte und trat ins Freie. Suchend blickte sie um sich, jedoch in der tiefen Schwärze der vorangeschrittenen Nacht gelang es ihren Augen nicht, mehr als vage Umrisse auszumachen, denn das Feuer in den Steinlaternen war unlängst erloschen. "Flúgar?" Es war nicht nötig laut zu sprechen, denn er hörte sie ohnehin. Ein eisiger Windzug brachte sie zum Frösteln, und veranlasste sie kurz dazu darüber nachzudenken, ob sie nicht doch wieder zurück ins Haus gehen sollte. "Geh rein, wenn es dir hier zu kalt ist." Midoriko ging behutsam seiner Stimme nach, rieb sich die Oberarme, um die aufkommende Kälte aus ihrem Körper zu vertreiben. "Ich kann ohnehin nicht schlafen." Sie setzte sich auf den Rand der Veranda, sodass ihre bloßen Füße die Spitzen der Grashalme berührten. Vom Teich her, der genau vor ihr liegen musste, hörte man das Quaken eines Frosches. Ansonsten war es still. "Was für ein Dämon bist du wirklich, Flúgar?" Leider war es ihr nicht möglich, ihren Gesprächspartner in der Finsternis der Nacht zu erkennen, und genaugenommen behagte es ihr nicht zu wissen, dass er sie sehr wohl sah, aber sie ihn nicht. "Eine Leistung erfordert eine Gegenleistung; als Mensch solltest du das verinnerlicht haben." Sie schmunzelte. Scheinbar wusste er doch nicht allzu viel über die Menschen, oder er war wenig herumgekommen, zumindest ließ er einen Aspekt vollkommen außer Acht. "Ich bin eine Priesterin, ich werde für das, was ich tue nicht entlohnt, und darum geht es mir eigentlich auch nicht... außerdem: du weißt, dass ich ein Mensch bin, und ich wüsste nichts, was dich interessieren könnte." Flúgar atmete hörbar aus, und sie vermeinte dem ein Seufzen zu entnehmen. "Ich habe dir eine Frage gestellt." Spielte er auf das an, was er sie vor dem Abendessen gefragt hatte? Eine Antwort zu finden, erschien ihr schwierig, er stellte keine einfachen Fragen, so wie sie es tat. Die Sache stellte sich komplizierter dar, als er wahrscheinlich ahnte. Ein wenig ratlos zuckte sie die Schultern, schaute in seine Richtung. "Kein Wesen hat den Tod verdient, und das ist unabhängig von dem, was es in seinem Leben bereits getan hat. Am Anfang habe ich dich nur aus Mitleid nicht alleine zurückgelassen, aber jetzt..." Die junge Frau spürte den Blick des Dämons nur zu deutlich, jetzt führte wohl nichts mehr an einer klaren Aussage ihrerseits vorbei. "... du bist mir nicht mehr gleichgültig, und irgendwie liegt mir zwischenzeitlich etwas an dir..." Von ihm kam zunächst keine Reaktion, und während er schwieg, betrachtete sie verlegen ihre Füße, versuchte die einvernehmende Stille auf irgendeine Weise zu überbrücken. "Ich bin ein Loftsdreki." Verwundert blickte sie auf, denn es erstaunte sie doch, dass er ihr so rasch mit einer Gegenleistung in Form einer Antwort entgegenkam. "Loftsdreki? Dreki für Drache, und Loft für...?" Midoriko legte nachdenklich einen Finger an die Lippen. "...das Element der Luft." Sie rief sich Flúgars Erscheinungsbild in Erinnerung, dachte an die Zeichnungen auf den Wandschirmen... "Du siehst nicht unbedingt wie ein Drache aus..." Midoriko war unsicher, ob sie weiter sprechen sollte. Sie wollte nicht, dass er es als Beleidigung auffasste, denn es sollte keineswegs etwas dergleichen sein. Es war vielmehr eine Tatsache, die sie sich nicht selbst erklären konnte. Ein Drache, der wie ein Mensch aussah? "Dieser Körper entspricht nun mal nicht meiner wahren Gestalt." Sie nickte leicht, mehr für sich selbst als sonst jemanden. Sie war mit dieser Auskunft zunächst zufrieden, aber gleichzeitig fiel ihr wieder etwas ein. Erneut wandte sie sich an Flúgar. "Also warst du es." Hätte die Priesterin die Möglichkeit gehabt, ihr Gegenüber anzuschauen, dann wäre ihr nicht entgangen, dass er den Kopf schief legte und ihr einen fragenden Blick zuwarf; eine Gestik, die ungemein typisch für ihn war, wenn er etwas nicht verstand. "Du hast diesen grünen Drachen getötet, den ich vor unserer Begegnung entdeckt habe... aber wozu?" Der Loftsdreki wusste, worauf sie hinauswollte, gab unwillkürlich ein leises Grummeln von sich, wenn er an diesen törichten Eitursdreki dachte. "Er hat die Territoriumsgrenzen verletzt." Das klang so, als würde sie sich mit einem Tier über sein erkämpftes Jagdrevier unterhalten. Aus solch einem simplen Grund hatte der andere Drache sterben müssen? Was für ein unnötiges Opfer... Eine ganze Weile verblieb es still, die Priesterin beobachtete den Himmel, am ganzen Leibe aufgrund der Kälte des Windes zitternd. Ich empfand es als angenehm, jedoch brachten die eisigen Böen, die zuvor die mit Schnee bedeckten Bergkuppen überquert hatten, nicht nur erfreuliche Nachricht mit sich. Für den Moment hielten sie sich noch im Verborgenen, aber ich spürte ihre Präsenz; die weißen Raben meines Vaters... wollte er den stupiden Versuch unternehmen, mich zu überwachen? Mein Blick wandte sich wieder der Menschenfrau zu, die weiterhin regungslos auf der Veranda saß und hinauf zu den Sternen blickte. Dann schaute sie in meine Richtung. "Du hast ein bestimmtes Ziel, oder? Erst ans Meer, jetzt in die Berge..." Sie überdachte ihre eigenen Worte, suchte mit den Augen nach den Umrissen des riesigen Gebirges, das über diesem Tal emporragte. "Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun." Richtig lag sie wohl, aber ich war nicht wegen Skýdis am Meer gewesen. Die Vatnsdrekar hätten ihr Heiligtum, die Lanze Sui No Rinrou, niemals aufgegeben, und auf eine Auseinandersetzung in der Größenordnung waren die Loftsdrekar nicht vorbereitet. Vielleicht war Afis Clan kampferfahrener und entschlossener, aber Uminaris Gefolge war in der absoluten Überzahl, es bestanden nur geringe Aussichten auf einen Sieg für uns, wenn es tatsächlich zu einer Konfrontation kommen sollte. Das war keine beruhigende Erkenntnis... Shiosai hatte durch sein eigenes Verschulden durch mich den Tod gefunden, obwohl mir seine wahren Hintergründe nicht geläufig waren. Diese interessierten mich auch nicht im Geringsten, es blieb sich letztendlich gleich. "Was hast du in den Bergen vor?" Sie bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick, begab sich in eine stehende Position. Scheinbar wurde ihr endlich bewusst, dass es für einen Menschen hier draußen zu kalt war. Warum war sie um diese Zeit bei solchen Temperaturen überhaupt ins Freie gekommen? Ihrer Frage gehörte eine schlichte Antwort an... "Skýdis." Ich musste sie unbedingt reparieren lassen, und aus diesem Grund nahm ich auch die Begegnung mit diesem einfältigen Schmied auf mich. Zugegeben, ich kannte ihn nur vom Sehen, aber sein Verhalten sprach Bände... anfangs hatte ich das Können dieses zerstreuten Vollidioten angezweifelt, aber Skýdis war ohne Wenn und Aber ein Meisterstück. Ich konnte nur für ihn hoffen, dass er sie wieder in Ordnung brachte, denn ansonsten hatte Toutousai ausgedient. "Gute Nacht." Mittlerweile stand sie halbwegs in der Tür, warf mir noch einen letzten Blick zu, ehe sie wieder ins Innere des Hauses verschwand, die Shouji leise schloss und zu ihrem Nachtlager zurückkehrte. Es dauerte nicht lange, bis ihre Atemzüge tief und gleichmäßig wurden, bis sie schlief. Auf seine eigene Art und Weise beruhigte mich die momentane Situation vollkommen, die Umstände zeugten von uneingeschränktem Vertrauen. Sie vertraute mir... Mir war noch immer schleierhaft, was ich von diesen Gegebenheiten denken sollte, ich befand mich in einer abnormen Lage. Woher kam ihre Überzeugung, dass sie in meiner Nähe sicher war? Ein Mensch, der einem Dämon vertraute? Wie war ich nur hier hineingeraten? Das konnte kein gutes Ende finden, meine Erfahrung belehrte mich eines Besseren; ich würde diese Frau nie wieder aus meinem Gedächtnis bekommen, es war zu spät... Súnnanvindurs Späher waren nicht mehr fern - die weißen Raben, die im Auftrag meines Vaters als seine Augen und Ohren das gesamte Territorium des Clans auskundschafteten, näherten sich beständig... aber soweit ich es zu jenem Zeitpunkt wahrnahm, war das Alphatier der Sippe unter ihnen, und dieses weigerte sich seit Afis Tod strikt dagegen, dem Oberhaupt der Loftsdrekar zu gehorchen. Aber warum kam er dann zu mir? Ob er schlechte Neuigkeiten mit sich brachte? Das seichte Rauschen ihrer silbrigen Schwingen erstarb, als sie sich auf den dünnen Äste eines jungen Sakura niederließen und mit ihren schwarzen Augen die Bewegungen des ranghöchsten Tieres verfolgten, das vor mir auf der Veranda landete. Es drehte den Kopf zur Seite, musterte mich einen Moment ehe es schließlich näher kam und auf meine Schulter hüpfte. Die Raben hatten einen weiten Weg hinter sich; sie kamen vom Festland, und jetzt wusste ich auch, wer sie wirklich geschickt hatte... Ísvængur... Die Botschaft war keine erfreuliche; Unruhen an den Grenzgebieten breiteten sich aus, und ernstzunehmende Gerüchte kursierten nicht nur im Westen. Man musste damit rechnen, dass die Situation erneut eskalieren würde... ob es dieses Mal erneut mit solch fatalen Folgen zu rechnen war? ּ›~ • ~‹ּ Flúgar hielt still und ließ die Priesterin gewähren, die ein abschließendes Mal den Zustand der Wunde prüfte, die er sich im Kampf gegen Shiosai zugezogen hatte. Sie war verheilt und bereitete ihm keine Schmerzen mehr, aber er wusste seit geraumer Zeit, dass sich das Gewebe nicht vollständig regenerieren würde; es würde eine erkennbare Narbe zurückbleiben. Diesen Umstand vermochte er sich selbst nicht zu erklären, und es stimmte ihn nachdenklich, denn eigentlich war eine Entwicklung in diese Richtung undenkbar, ausgeschlossen. Im Grunde war es eine Verletzung gewesen, wie jede andere auch, die er in seinem Leben bereits davongetragen hatte. Also warum diese Reaktion? Er verstand es nicht, es war kein unterbewusster Reflex aufgetreten, und sein Körper wäre auf jeden Fall im Stande gewesen, die Wunde restlos zu heilen. Warum? Er kam allmählich zu dem Schluss, dass dieser Fakt nichts mit seiner körperlichen Verfassung und seinen Regenerationsfähigkeiten zu tun haben konnte, der Anlass war an einer anderen Stelle zu suchen. Welche jedoch war die richtige, die entscheidende? Lag es an der Waffe, die der Vatnsdreki gegen ihn eingesetzt hatte, Sui No Rinrou? An seinem Gegner, Shiosai? Den zu diesem Zeitpunkt gegenwärtigen Umständen? Oder musste er die Antwort vielleicht sogar bei sich selbst finden? Midoriko bemerkte seine Abwesenheit, ein leichter Seitenblick genügte. Es war jedoch nichts Außergewöhnliches, das der Loftsdreki eine ganze Weile schwieg und an einem ganz anderen Ort zu sein schien. Hinzu fügte sich noch, dass dieser Raum eine spezielle Anspannung in ihm auslöste, es war ihm sichtlich unangenehm hier zu sein, er fühlte sich in dieser Umgebung schlichtweg nicht wohl. Trotz dessen blieb er absolut ruhig und beherrscht, gab ihr jeglichen Freiraum bei ihrer letzten, gründlichen Überprüfung, die sie sich wünschen konnte. Der Bluterguss unter der Haut war gänzlich verschwunden, und letztlich sah man bloß noch einen blassen, ungleichmäßig gezackten Stern, der genau im Zentrum der verheilten Verwundung prangte. Und es würde sicherlich so verbleiben, mit dieser Narbe musste er sich wohl oder übel abfinden. Die junge Frau seufzte, verteilte eine fast farblose Salbe auf dem leicht veränderten Gewebe der Vernarbung. Die vorherrschende Stille wurde langsam drückend, und es behagte ihr immer weniger, Worte unausgesprochen verhallen zu lassen, zu vergessen, nur die bleibenden Überreste seiner Verletzung zu betrachten und sich in den Sinn zu rufen, wie es dazu gekommen war. Aber über was sollte sie mit ihm reden? Sie sah auf, begegnete einem der mit kostbarer Seide bespannten, aufwändig bemalten und verzierten Wandschirme, der Gyousei-sama und einen stattlichen Mann mittleren Alters - wahrscheinlich das Dorfoberhaupt dieser Ära - zeigte. Ob das vielleicht ein Ansatzpunkt war? Sie mussten ihn nicht auf seinen Vater ansprechen oder über seine Familie reden... "Ich habe meinen Vater nie kennen gelernt, mir bot sich nie die Gelegenheit dazu. Er starb bevor ich geboren wurde und ich weiß nur so viel über ihn, wie mir meine Mutter immer erzählt hat." Midoriko hielt inne, drängte die Wehmut und den Kummer, die in ihr aufzusteigen drohten, zurück. Durch die offene Schiebetür blickte sie über die Holzveranda hinweg in den Garten und beobachtete eine der metallisch blau und grün schimmernden Libellen, die elegant über die Wasseroberfläche des Teiches kreisten und auf der Stelle zu schweben schienen. "Sie sagte immer, er sei ein starker und mutiger Krieger gewesen, aber gleichzeitig voller Barmherzigkeit und Güte. Er setzte sich für die schwachen Menschen ein, ohne sich davon etwas zu versprechen. Er war nicht wie die anderen Menschen, die von Egoismus und Gier besessen waren, deren Oberflächlichkeit und Unehrlichkeit ihr ganzes Wesen prägten..." Flúgar hörte ihr aufmerksam zu, nahm die Bitterkeit in ihren Worten nur zu deutlich wahr. Was sollte er von der Aussage der Priesterin halten, dass die Menschen egoistisch, verlogen und gierig waren...? Hatte sie den wahren Charakter ihres eigenen Volkes erkannt? Stand dahinter die Erkenntnis, die sich nach kurzer Zeit im Grunde unübersehbar auftat? "Meine Mutter schwärmte ihr ganzes Leben von ihm, und es war offensichtlich, dass sie seinen Tod nie ertragen hatte... ich glaube, sie starb nicht an ihren körperlichen Leiden, sondern an ihrem gebrochenen Herzen, der Agonie ihrer Seele..." Vollkommen unbewusst verlagerte sie ihre Position von Flúgars linker Flanke hinter seinen Rücken und fuhr durch sein langes, seidiges Haar, das bis weit hinab auf den Tatami fiel und sich dort zu den Spitzen hin in leichte Wellen legte. Aus einer alten Gewohnheit heraus ordnete sie sorgsam die einzelnen Strähnen und löste bedacht die Verwirrungen, die sich - wie sie aus eigener Erfahrung wusste - gern rasch in langen Haaren einbrachten, und selbst nur sehr schwierig wieder heraus zu bekommen waren. Manchmal entpuppte sich die hübsche Pracht nämlich als äußerst unpraktisch, zeitraubend und nervenaufreibend. "Nach dem Tod meiner Mutter hat sich meine ältere Schwester, Soreiyu, um mich gekümmert. Zugegeben, wir waren sehr unterschiedlich, aber Mutters plötzliches Ableben hat uns zusammengebracht... zumindest für einige Jahre." Flúgar konnte nicht leugnen, dass er mochte, was sie tat, denn selbst brachte er kaum einmal die Geduld auf, sich ernsthaft um die minimalen Irrungen in seinem Haar zu bemühen. Ansonsten war es Blævar, der sich dieser teilweise komplizierten Belanglosigkeit gerne annahm, aber wenn die Priesterin sich freiwillig dazu bereiterklärte, sollte es ihm Recht sein; er sah keinen Anlass es ihr zu untersagen. "Die Gesellschaft formte Soreiyu zu dem, was sie einen normalen Menschen nennen, einer Person, der Geld und Einfluss, das eigene Wohl, wichtiger waren als alles andere... ich konnte einfach nicht bleiben, ich musste gehen, das Ideal meiner Mutter konnte und kann ich nicht vergessen." War ihre Mutter wirklich... anders gewesen? Er kannte die wesentlichen Charakterzüge der Menschen sehr genau, und bis dato war ihm noch nie einer von ihnen untergekommen, der wahrhaft ehrlich und uneigennützig war. Gab es solche Ausnahmen? Die Priesterin war anders, sie hob sich sehr eindeutig von der aufwallenden Masse dieses Volkes ab... war sie die Sonderheit, die in der gewaltigen Menge von Menschen einfach so unterging? Diese eine Einmaligkeit, deren Existenz er bis jetzt immer bestritten hatte? ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Shouji - Schiebetür Tatami - Reisstrohmatte Ísvængur - Eisflügel ***>>> Kapitel 19: >"In der Atmosphäre von Entspannung und Vertrauen fällt ein feiner Lichtstrahl ins Dunkel, doch jene Tür wird rasch wieder geschlossen. Ein Unbekannter taucht auf, und es hat den Anschein, als würde er den undurchsichtigen Loftsdreki tatsächlich von früher kennen..." *» Bandalag Kapitel 19: *~Bandalag~* ------------------------ "Engere Bande schlingt um zwei verwandte Seelen die Freundschaft, einen Bund, worin sich spiegelt die Harmonie Gottes und des Unendlichen." – Bernhard Brach Kapitel 19 - Bandalag -Bund- *Sind die Knüpfungen der Fäden des Schicksals wirklich unergründlich? Führen uns nicht jene zusammen, auch wenn über unzählige Ecken und Enden, Irrungen und Wirrungen, die sich durch unser Umfeld ergeben? Und ist der, der dann vor uns steht, ein so gänzlich Unbekannter? Oder vergeht diese Fremde rasch, womöglich sofort, weil man auf gewisse Weise mit eben dieser Person verbunden ist - wenn auch durch einen Dritten, bei dem die Schicksalsfäden letztlich zusammenlaufen?* ּ›~ • ~‹ּ "Hast du Geschwister?" Midoriko schob einen Teil seiner Haare über seine rechte Schulter, und hielt kurz inne, als ihr ein wesentlicher Unterschied in deren Färbung auffiel; sie war nicht durchgängig so gemustert, wie ihr Anblick vermuten ließ. Bloß die Deckhaare waren weiß, alle darunter befindlichen waren dunkler, gingen fließend in die verschiedensten Blau- und Grautöne über und entfachten etwas wie Faszination und vielleicht auch ein wenig Neid, aufgrund der Einfarbigkeit und Schlichtheit ihrer eigenen Haare im Vergleich, in ihr. Der Loftsdreki nickte leicht. Warum erzählte die Miko ihm auf eine so selbstverständliche Art von ihrer Familie, von dem Tod ihrer Eltern und der Beziehung zu ihrer Schwester? Versuchte sie auf diesem Wege möglicherweise etwas über sein Umfeld in Erfahrung zu bringen? Aber die Menschenfrau stockte gelegentlich und es fiel ihr zuweilen schwer, ihre Erinnerungen in klare Worte zu fassen, nicht weiter auf ihre eigenen Emotionen einzugehen und gefasst zu sprechen - es machte ihr Mühe, sich zu den Geschehnissen aus ihrer Kindheit zu äußern. Und dennoch eröffnete sie ihm diese persönlichen Eindrücke und Ereignisse als wäre er ihr jahrelang ein loyaler Vertrauter gewesen. Midoriko war kein Mensch, der mit leichtem Herzen durch das Leben ging und sich an ihrem bloßen Dasein erfreute; sie zeigte es nur eben nicht sehr offen... Scheinbar musste man keine hunderte von Jahren alt sein um wegen vergangener Tage zu leiden und zu trauern - für Flúgar war ein Menschenleben nichts weiter als ein flüchtiger Augenblick in dem seinen. Er hatte es für nicht sehr wahrscheinlich gehalten, dass Menschen unter der Vergangenheit leiden konnten, die nicht einmal ein Jahrhundert zurücklag. Menschen waren schwach und nicht sehr widerstandsfähig, vermutlich hing es damit zusammen, dass sie selbst in einem so dermaßen kurzen Leben großen Kummer und Leid empfanden. Oder war diese Frau, die so anders war als alle anderen Menschen, einfach zerbrechlicher als ihre Artgenossen? Flúgar wusste, dass es alles andere als ein Segen oder ein Privileg war, sich von der groben Materie abzuheben, anders zu sein. Es ergaben sich keinerlei Vorteile, es war lediglich eine Qual, mit der man sich abfinden musste, die einen fast zum Leben verurteilte. Er hatte seinen eigenen Erfahrungen machen und sich damit auseinandersetzen müssen, und es war keine leichte Prozedur gewesen, aus diesem Abgrund wieder emporzusteigen. Zumal er nicht über Zeit nachdenken musste, er würde nicht sterben, sondern ewig leben... ihre Lebensspanne dagegen war stark begrenzt, eine Tatsache, die viel Menschen belastete und in Verzweiflung stürzte... "Tveir." Er kam auf ihre Frage zurück, und schob diese verwirrenden Überlegungen erst einmal beiseite, er würde später noch einmal darüber nachdenken, wenn nichts mehr im Raum stand, das Bedarf an Erklärungen aufwies. Die Miko jedoch war redlich irritiert von dem, was er eben von sich gegeben hatte, blinzelte einige Male in Unverständnis, bevor sie nachhakte. "Wie bitte?" Flúgar wurde es in dieser Sekunde schlagartig bewusst, dass er mal wieder nicht unbedingt aufmerksam gewesen war und seine Konzentration etwas Anderem als der Antwort auf ihre beiläufige Frage gegolten hatte. In seinem Wohlsein war er erneut in seine Muttersprache verfallen und hatte es nicht einmal bemerkt. Es herrschte eine Weile Stille, und Midoriko vermeinte zu erkennen, dass der Loftsdreki leicht den Kopf senkte und den Boden fixierte. Scheinbar war es ihm peinlich, aber sie hatte ohnehin nicht verstanden, was er gesagt hatte. "Ich habe zwei Brüder, auch wenn mein Vater das anders beurteilt." Sein Japanisch klang anfangs etwas brüchig, pendelte sich aber wieder auf seinen Normalzustand ein; ihm fiel es schwer eine andere Sprache zu sprechen und sich darauf zu konzentrieren, wenn in seiner vollen Entspanntheit nur ein winziges Bisschen dazu fehlte, dass er im nächsten Augenblick wegdöste. Midoriko runzelte die Stirn, entschied sich dafür, die Sache zu hinterfragen, obwohl sie unsicher war, ob sich das als gute Idee erweisen würde. "Wie kann dein Vater bei so einer Sache anderer Meinung sein? Ist es unklar, ob es sein Sohn ist?" Sie konnte ihre Neugier kaum unterdrücken, denn seine Aussage an sich hatte schon etwas gehabt, das zum Nachfragen nahezu verleitet hatte. In ihr breitete sich Erleichterung aus... es war absolut kein Fehler gewesen, Flúgar von ihrer Familie zu erzählen. Es war schwer gewesen, ja, aber es hatte ihr gut getan, und er zeigte nun keine eindeutige Abneigung ein wenig über sich preiszugeben. Sie war froh, dass sie es getan hatte, sie bereute es nicht... "Das ist unbestritten, aber er hat ihn nicht anerkannt." Es war leicht herauszuhören, dass Flúgar seinem Vater diesen Zug in keinem Fall verzieh, was auch immer dieses ,nicht anerkannt' bedeutete. Bei diesem Thema bewegte sie sich auf dünnem Eis, es konnte heikel werden, und das merkte sie nur zu deutlich. Die Priesterin setzte sich zurück, betrachtete den reglos verweilenden Dämon, ehe sie zu einer Erwiderung ansetzte. "Gab es einen plausiblen Grund dafür?" Der Angesprochene fuhr sich - schier prüfend - durch die langen Haare, setzte sich langsam auf. Schließlich erhob er sich und ging einen Schritt in Richtung der Veranda. "Er ist ein voreheliches, nicht von seiner rechtmäßigen Gefährtin stammendes Kind, und Súnnanvindur hat ihm selbst den Namen verweigert. Von seinem Rang, seiner Heimat und seiner Familie ganz zu schweigen..." Damit verließ er den Raum. Ich sah ihm eine Weile nach, versunken in meine eigenen Gedanken über diese Angelegenheit; es schien eine von Flúgars Angewohnheiten zu sein, die Konversation abrupt zu beenden - oder eher abzubrechen - wenn ihm der Kernpunkt der Unterhaltung nicht mehr behagte. Eine Eigenheit, die ich nicht unbedingt guthieß, aber ich konnte auch nichts dagegen ausrichten. Wenn er nicht mit mir reden wollte, sollte es in Ordnung sein, immerhin war es seine Entscheidung, wann er sich mit wem über was unterhielt. ... zumindest wich er mir nicht mehr ganz so aus, ging zum Teil gänzlich auf meine Fragen ein und gab eine klare Antwort. Er hatte also zwei Brüder - und einer davon war anscheinend ein Halbbruder aus einer anderen Verbindung. Und dieser fremdartige Name? War das der tatsächliche Name seines Vaters? Súnnanvindur? Dass es sich bei 'Gyousei' nur um einen Titel, der sich unter den Menschen verbreitet hatte, handelte, hatte ich mir bereits gedacht, denn allzu geläufig war dieser Ausdruck nicht, man hörte ihn zwar hier und da, aber nur in gewissen Gegenden und vergleichsweise selten. Ich seufzte leise, stand schließlich auch auf und rief Kaneko zu mir. Gemeinsam verließen wir das Wirtshaus, um ein wenig frische Luft zu schnappen, vielleicht das Dorf zu erkunden und einige Kräuter in der Nähe des Waldes zu sammeln. Es war ein milder Tag mit lauem Wind, der das hier üppig wachsende Shinobu-Gras sanft in seine Richtung bog und sich in den nadelbewährten Ästen der Tannen verfing, die sich auf der bergzugewandten Seite des Dorfes befanden. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, war es kurz nach Mittag, und während die Insekten und Vögel bereits in ihr geschäftiges Treiben verfallen waren, kamen die Dorfleute erst jetzt aus ihren Häusern um wieder an die Arbeit zu gehen. Als ich noch einmal einen Blick über die Schulter auf das Gasthaus des Städtchens warf, fiel mir plötzlich eine kleine, hagere Gestalt mit hochgesteckten, vom Alter grau gefärbten Haar ins Auge, die wild mit den Armen in der Luft herumfuchtelte und in einer beeindruckenden Lautstärke einen Gruß in Richtung der Wirtschaft rief. Es gab verrückte Leute auf dieser Welt... ich schüttelte den Kopf, wollte mich gerade abwenden, als ich erkannte, dass sie nicht einer beliebigen Fantasiegestalt winkte, sondern ihr Verhalten eindeutig der Person zugedacht war, die das auffällige Verhalten der Greisin für den Augenblick geflissentlich ignorierte. Die Gestalt saß auf dem Dach des aus dunklem Holz gefertigten Hauses, und ihre Haltung allein genügte bereits, um mir zu verraten, um wen es sich handelte... Was hatte das zu bedeuten? Kannte die Alte ihn etwa - und umgekehrt? Oder war diese ernstlich dem Wahnsinn verfallen und ihre verquere Wahrnehmung spielte ihr vor, sie kannte ihn? Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen, setzte mich augenblicklich in Bewegung und ging zurück. Diese alte Frau war mir nicht geheuer, aber trotz dessen wollte ich nicht allzu unhöflich erscheinen. Flúgar zu befragen war in dieser Situation reine Zeitverschwendung. "Entschuldigung, Obaasan?" Der Förmlichkeit halber deutete ich eine Verbeugung an, sie tat es mir gleich und brachte mir kurzzeitig ihre Aufmerksamkeit entgegen. Ihr Blick wurde prüfend, und mit einem kritischen Ausdruck im Gesicht begann sie mich einmal mit gemäßigten Schritten zu umkreisen, mich vom Scheitel bis zur Sohle genauestens zu mustern. Dann legte sie, schier nachdenklich, eine Hand ans Kinn. Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. "Hm..." Dann drehte sie sich ruckartig um und nahm ihre Tätigkeit von eben wieder auf, würdigte mich keines Blickes mehr. "Huhu, schöner Mann, mein Liebling! Ich wusste, dass wir uns wieder sehen würden!" Perplex starrte ich sie an, ich war baff. Liebling? Sie nannte Flúgar ihren Liebling?! Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, mein missbilligender Blick glitt an ihr ab als wäre er vollkommen nichtig, und Flúgar schien absolut nichts aus der Ruhe bringen zu können. Er ignorierte mich genauso wie die wahnsinnige Alte, die kurzerhand die Hände vor ihr von Verlegenheit gerötetes Gesicht schlug und ihm abermals etliche Kosenamen entgegenbrachte. Allmählich wurde es mir zu bunt... "Kennst du diese... eigentümliche Großmutter?" Ich presste die Zähne zusammen, durchgeknallte Schabracke hielt ich zwar für angebracht, aber ich zog es vor, mich noch eine Weile zurückzuhalten. Diese ganze Sache konnte nur eine dumme Verwechslung sein... Urplötzlich fuhr die Greisin herum, funkelte mich verengten Augen ärgerlich an. "Großmutter?!" Eine ihrer Augenbrauen wanderte verdächtig in die Höhe, ihre Stimme hielt sie gleichermaßen ruhig und leise. Unsicher erwiderte ich ihren Blick, kam mir gegen diese alte Frau reichlich hilflos vor. Wie sollte ich aus dieser misslichen Lage nun wieder herauskommen? "Hat dir nie jemand wenigstens ein bisschen Anstand und Respekt gelehrt, Kindchen? Du solltest eine Dame erkennen, wenn du sie siehst und dementsprechend behandeln! Außerdem..." Sie erhob mahnend den Zeigefinger, als würde sie einem kleinen Kind eine Strafpredigt halten, dass es in Zukunft nicht mehr wagen sollte, ihr nicht die Wahrheit zu erzählen. "... bin ich weder verheiratet, noch habe ich Kinder; ich habe mich mein Leben lang für meinen Liebsten aufgespart!" Ihr Tonfall wurde theatralisch und mit einem feuchten Glänzen in den Augen und leicht geröteten Wangen wandte sie sich wieder an Flúgar, faltete die alten Hände vor ihrem Herzen und rief ihm die süßesten Betitelungen zu, die ihn aber - wie es zu erwarten gewesen war - völlig ungerührt ließen. Das kalte "Iie.", das er bald darauf von sich gab, überhörte die Alte einfach, und versuchte weiterhin, ihren ,lange vermissten Liebsten' davon zu überzeugen, doch das Dach dieser Baracke zu verlassen und sie in ihr bescheidenes Heim zu begleiten. Ich stand fassungslos daneben, begriff immer noch nicht ganz, was hier vor sich ging. Flúgar musste es ähnlich ergehen, aber im Gegensatz zu mir merkte man es ihm nicht unbedingt an. Ratlos blickte ich zu ihm empor. "Bist du dir auch sicher?" Leichter Unglaube lag in meinen Worten, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass diese verrückte Oma ihn grundlos so hartnäckig belästigte, und soweit ich es einzuschätzen vermochte, log sie tatsächlich nicht. "Absolut." Er regte sich weiterhin nicht, doch dafür hielt die alte Frau inne und beobachtete mich kurze Zeit grimmig aus den Augenwinkeln, ehe sie sich erneut zu mir umwandte. "Du bist mit ihm vertraut, nicht wahr, Liebchen?" Die Forschheit und Neugier, die in ihren Zügen und ihrer Frage lag, verleiteten mich zur Vorsicht; ich war mir nicht sicher, was sie damit bezweckte. Ich nickte behutsam. Ein Schatten von Skepsis ergriff sich ihrer Züge, verschwand aber rasch wieder und ein Lächeln breitete sich auf den alten Lippen aus. "Man nennt mich Okashisa. Und wer bist du, mein Herzchen?" Um meine Fassung bemüht, unterließ ich ein Zähneknirschen und erzwang einen etwas freundlicheren Gesichtsausdruck als zuvor, verbeugte mich ansatzweise. Wenn man sie schon bei solch einem Namen nannte... "Ich heiße Midoriko, Okashisa-baasan." Sie überlegte einen Moment, bevor sie sich leicht bückte und ihren Gehstock aufhob, mich dann aufforderte ihr zu folgen. Zögerlich ging ich dem nach, erreichte mit ihr zusammen ihre Behausung und staunte nicht schlecht, als sie mich nicht dorthin, sondern zu einem kleinen Pavillon führte, der etwas weiter abseits, nahe des Flusses, lag. Man hörte dessen leises Rauschen, ein kleiner Momiji warf seinen Schatten über den kleinen Garten, den man dort angelegt hatte, und auf dem unzählige, wunderschöne Kiku wuchsen. "Ein schöner Ort für einen Teepavillon, nicht wahr? Ich werde eben das Wasser aufsetzen gehen. Setz dich nur, Mädchen." Es dauerte eine Weile bis sie mit der Teekanne und drei Trinkschalen zurückkehrte, zusätzlich noch einen Krug Reiswein heranbrachte. Wie hatte die Greisin es nur bemerken können, dass er uns gefolgt war? Etwas wie Misstrauen fing an sich in meinem Inneren zu entwickeln. Ob sie doch nicht so harmlos und verrückt war, wie es den Anschein machte? Da mich Flúgar nicht aus den Augen ließ und uns selbst diese kleine Distanz über gefolgt war, verstärkte und bestätigte es nur meinen Verdacht, dass mit dieser Dame etwas nicht in Ordnung sein konnte. Langsam setzte Okashisa sich nieder, strich ihr verblichenes, einstig wohl tiefgrünes Gewand glatt und füllte zwei Schalen mit Tee auf. "Wie man unschwer sieht, bin ich nicht aus diesem Land. Ich mag schon lange hier sein, aber meine Heimat liegt fast am anderen Ende der Welt..." Sie schaute in die Ferne, von Sehnsucht ergriffen und verharrte in ihrer Position. Dass sie nicht aus diesem Land stammte, war mir fast klar gewesen. Ihre Augen waren ungewöhnlich hell, und obwohl sie ein gutes, fließendes Japanisch sprach, war das Klangmuster unverkennbar das einer Ausländerin. "Ich war noch ein furchtbar junges Ding, als ich ihm begegnete, aber ich verfiel ihm sofort... da meine Eltern früh starben und meine Brüder im Krieg fielen oder spurlos verschwanden, war ich auf mich alleine gestellt und versuchte so gut es ging über die Runden zu kommen." Sie legte eine Hand an die Wange und schloss kurz, in Erinnerungen schwelgend, die Augen. Aber der Eifer des Erzählens hatte sie gepackt und sie führte ihre Erzählung sogleich weiter aus. "Es war ein heißer Sommernachmittag und ich war auf dem Weg zum Fluss, um meine Kleidung zu waschen und Wasser zu holen, als mich aus heiterem Himmel ein Ungetüm von einem Dämon angriff. Ein gräuliches Biest mit einem endlos langen, gewundenem Körper, und dem Kopf eines Drachen. Er hatte sich gerade dort eingenistet und fühlte sich durch mich so gestört, dass er kurzerhand versuchte seine Fänge in meinen Körper zu schlagen. Ich hatte schon mit meinem Leben abgeschlossen, und fiel vor Angst in eine Ohnmacht, aus der ich erst gegen Abend wieder erwachte." Ihre Wangen färbten sich purpurn, sie kicherte leise. "Als ich die Augen öffnete, blickte ich geradewegs in sein makelloses Antlitz, und sofort verlor ich mich in seinen weißen, klaren Augen. Er hatte die ganze Zeit lang neben mir gewacht, und er war auch derjenige, der den Dämon getötet hatte. Meine Dankbarkeit war grenzenlos und ich schenkte ihm schließlich jene Nacht, da ich nichts anderes von Wert besaß..." Unbewusst schaute ich in Flúgars Richtung. Sie hatte ihm jene Nacht geschenkt, weil er ihr Leben gerettet hatte? Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg... Flúgar hatte mich mehr als einmal beschützt oder gar vor dem Tode bewahrt; hieß das, ich war ihm in jener Größenordnung etwas schuldig? "Seitdem denke ich nur noch an ihn, und es gibt keinen anderen Mann in meinem Leben. Aber ich habe ihn bis jetzt nicht wiedergetroffen, und vorhin traf mich fast der Schlag, als ich deine Begleitung erspähte. Die zwei sehen sich zum Verwechseln ähnlich - aber er ist es unglücklicherweise nicht..." Ihr entfuhr ein tiefes Seufzen, dann sah sie auf. Flúgar stand an einer der fünf weißen Stützen, die das Dach des Pavillons hielten, und bedachte die Alte mit einem neutralen Blick. "Wo hast du ihn getroffen?" Okashisa lief merklich ein wohliger Schauer über den Rücken, als der Loftsdreki seine Stimme erhob und sich an sie richtete. "Auf dem Festland, weit im Westen, in der Nähe der Stadt Rom." Flúgar schien die Antwort nicht zu gefallen, murmelte unverständlich vor sich hin. Ob er wusste, wem diese alte Frau dort begegnet war? Ich war mir fast sicher, dass er die Umstände durchschaute, sein Ausdruck und sein Betragen verrieten so Einiges. Sie goss ihm Sake in die übrige Schale, während ich einen kleinen Schluck Tee nahm und mich fragte, aus welchem Grund Okashisa so plötzlich ihre Meinung geändert und mir diese Geschichte offenbart hatte. Womöglich war sie eine einsame, alte Frau, die sich ab und an nach etwas Gesellschaft und einer Unterhaltung sehnte. "So, und was ist das mit euch beiden für eine Sache? Habt ihr eine Affäre?" Langsam stellte ich meine Schale vor mir ab, runzelte leicht die Stirn. "Sieht es danach aus?" Eigentlich sollte es eine rhetorische Frage sein, aber das listige Leuchten in den alten, hellgrauen Augen gab mir etwas anderes zu verstehen und insgeheim war ich froh darüber, dass Flúgar dieses Zeichen nicht so richtig zu deuten wusste. Mittlerweile saß selbst er auf den hölzernen Dielen des kleinen Teehauses und betrachtete den Sake in der Schale, den er noch nicht angerührt hatte. Möglicherweise missfiel ihm der alkoholische Geruch des Gebräus, oder er mied das Teufelszeug nach der Angelegenheit mit Yumeji und dem Kräuterschnaps... "Was hat euch denn in diese karge Gegend verschlagen? Die Landschaft hat ihren Reiz, aber der ist rau, und für ein zartes Mädchen wie dich kein angemessener Ort." Es dauerte eine Weile bis ich etwas erwiderte, allerdings immer noch unsicher, wie viel ich ihr bedenkenlos mitteilen sollte. Meine Augen schweiften zu dem in feinen Nebel gehüllten Gebirgszug. "Wir sind auf dem Weg in die Berge, um dort etwas zu erledigen." Während ich sprach, fügte sie ihrem Tee einen ordentlichen Schuss Sake zu, nippte an dem Gemisch, und nickte zufrieden. "Zu Pferd? Ihr beide? Ihr seht nicht so aus als wüsstet ihr, was euch erwartet. Ich habe im Hochsommer einen der niedrigsten Pässe gewählt, und selbst dieser war im Grunde unzugänglich." Sie schüttelte abwesend den Kopf. An Inazuma hatte ich wirklich noch nicht gedacht, ihn mitzunehmen war wahrlich ein Ding der Unmöglichkeit. Aber was sollte ich mit ihm machen? Ihn hier einfach zurückzulassen war keine gute Lösung... betrübt hob ich den Kopf, blickte zu Flúgar, der gerade das Schälchen Sake in einem Zug leerte. "Ihr lasst euch da auf etwas ein... ich werde euch nicht davon abbringen können, aber wahrt eure Obacht und seid mit warmer Kleidung nicht sparsam. Dort oben herrscht etwas Schlimmeres als Eiseskälte." Auch sie trank ihren Tee mit einem Schluck aus und schenkte sich und dem Loftsdreki Reiswein nach. Dann schaute sie mich fragend an, aber ich verneinte mit einem Kopfschütteln. "Warum bist du uns gegenüber so vertrauensselig?" Okashisa zuckte zunächst die Schultern, legte die rechte Hand an ihr Kinn und dachte einen Moment darüber nach. Sie schloss die Augen, und ein Ausdruck von Ernsthaftigkeit und purer Wahrheitstreue vernahm ihre alten Züge ein. "Weil ihr zwei etwas Besonderes seid, und ich nach meiner schicksalhaften Begegnung ein feineres Gespür, was die Menschen angeht, erlangt habe. Mit Sicherheit ist das auch sein Verdienst, obschon ich nicht zu sagen weiß, wie er das angestellt hat." Die Augen der Alten glitzerten feucht, und eine Anwandlung von Sehnsucht und quälender Pein zogen schattenartig über ihr Gesicht. Ich spürte, dass es Zeit war zu gehen. Ohne einen ausführlichen Abschied verließen wir den weißen Teepavillon und ließen die greise Frau mit ihren Erinnerungen alleine... ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] tveir - zwei Súnnanvindur - Südwind ***>>>Kapitel 20: >"Mitten im Zwielicht der Nacht, zwischen Regen und Wind, fordert die Unachtsamkeit des Schlafes ihren Tribut. Während den einen die Panik über den Rand seiner Beherrschung treibt, stürzt es den anderen in einem Strudel aus steter Unruhe und Sorge. Der Keim des gegenseitigen Vertrauens beginnt scheinbar langsam zu sprossen..." *» Aijaku Kapitel 20: *~Aijaku~* ---------------------- "Zuneigung zu empfangen, ist eine machtvolle Glücksquelle, der Mensch aber, der sie fordert, wird sie nicht erlangen." – Bertrand Russell Kapitel 20 - Aijaku -Zuneigung- *Welche Gefühle sind es, die wirklich eine Bindung zwischen zwei Individuen schaffen? Ist es Vertrauen? Zuneigung? Geborgenheit? Wann, und vor allem wie zeigt sich, ob sein Gegenüber diese Empfindungen auch erwidert? Gibt es eine solche eindeutige Situation, einen so klaren Zeitpunkt, der eine unverkennbare Antwort darauf liefert? Oder sind dies alles nur Illusionen, denen wir erlegen sind? Täuschungen, die unser gesamtes Leben beeinflussen und nachhaltig prägen?* ּ›~ • ~‹ּ Es ward tiefe Nacht, als Flúgar plötzlich aufschreckte. Von draußen drang das heftige Prasseln eines schweren Regens und die widerhallenden Donnerschläge eines Gewitters an sein Ohr, gelegentlich erhellten über den verhangenen Nachthimmel zuckende Blitze den Raum. Der Wind pfiff geräuschvoll durch die dicht beblätterten Baumkronen. Was ihn geweckt hatte, wusste er nicht, doch er spürte ein sonderbares Unbehagen in sich hochkommen. Etwas stimmte nicht. Langsam schlug der Loftsdreki die dünne Zudecke beiseite und erhob sich, schritt zu der Schiebetür, die auf die Veranda führte und zog diese auf. Er trat hinaus auf die Holzbohlen, blickte in die Richtung, in der das Gemach der Priesterin lag. Der Fakt, dass dessen Shouji ebenfalls offen stand, beunruhigte ihn. Ein flüchtiger Blick auf ihre Bettstätte genügte; Midoriko war nicht hier. Unruhe stieg in ihm auf, denn im Inneren des Wirtshauses hielt sie sich nicht mehr auf. Er hörte sie nicht, und der Regen verwusch ihren Geruch. Das klägliche Miauen ihrer dämonischen Begleiterin ließ ihn aufsehen. Kaneko stand vor ihm, triefend nass und nervös mit ihren Schweifen zuckend. Schier hilfesuchend starrten ihre roten Augen ihn durchdringend an. Ohne weitere Überlegungen anzustellen, sprang er mit einem weiten Satz auf das gegenüberliegende Dach eines größeren Hauses, verschaffte sich einen Überblick. Kaneko hingegen setzte ihre Suche in der Nähe des Flusses fort. Die Dunkelheit stellte kein Problem für seine Augen dar, doch durch den dichten Regenvorhand vermochte er kaum irgendetwas in weiterer Ferne zu erkennen. Ein leiser Fluch löste sich von seinen Lippen, ehe er sich abermals umsah und mit voller Konzentration versuchte, auch nur einen Hauch ihres Geruchs in der Luft zu erhaschen. Trotz der verhältnismäßig geringen Menge Sake, die er am Mittag zu sich genommen hatte, war er bei der Rückkehr in das Gasthaus bald schon in einen bleiernen Schlaf gefallen, der ihn für jedes Geräusch und jeden Geruch unsensibel hatte werden lassen. Ansonsten wäre es ihm niemals entgangen, dass Midoriko nicht sicher in ihrem Zimmer weilte. Flúgars Kehle entwich ein vages Knurren. Die Erzählung der alten Schabracke hatten ihn doch mehr eingenommen, als er sich es eingestanden hatte; er war sich sicher, dass sie jemandem begegnet war, den auch er nur allzu gut kannte. Bei ihrem nächsten Aufeinandertreffen würde er ihn zur Rede stellen... sich mit einem Menschenweib in dieser Weise abzugeben, selbst wenn es nur für eine einzige Nacht sein sollte, war eine Schande... Er suchte vergeblich, in der Stadt war sie nicht mehr. Wo konnte sie nur hin sein? Ratlosigkeit begann seinen Verstand zu befallen und seine Hilflosigkeit, weil er sie weder hören noch wittern konnte, ließen ihn fast wahnsinnig werden. Sein Gespür war in diesem Fall ebenfalls unnütz, zu seinem Verdruss konnte er sie zu jenem Zeitpunkt nicht einmal ansatzweise ausmachen. Der Loftsdreki hielt auf dem Steg, der über den Fluss führte, inne. Unter ihm rauschte das Wasser tosend zwischen den massiven Holzpfeilern hindurch, von oben ging unaufhörlich ein heftiger Schauer hernieder. Der Regen wusch restlos alle Spuren weg, die ihm hätten weiterhelfen können; er fühlte sich machtlos, und er hasste dieses Empfinden. Was sollte er nur tun? Wenn er wartete, bis es aufklarte, konnte es schon zu spät sein, denn dies war wahrhaftig eine raue Gegend. Bis jetzt waren die Dämonen ihnen fern geblieben, aber nur, weil sie so unmittelbar in seiner Nähe gewesen war und offensichtlich unter seinem Schutz stand... mehr oder weniger... Ob er nach ihr rufen sollte? Flúgar schaute zum Wald hinüber, der unter den Sichtverhältnissen bloß eine graue, unförmige Masse darstellte, in der selbst er rein gar nichts erfassen konnte. Mit weiten Sätzen und wachen Sinnen durchquerte er den dichten Forst, auf jeden noch so kleinen Reiz, den ihm seine Umwelt lieferte, reagierend. Er konnte es sich einfach nicht leisten einen Anhaltspunkt, und mochte er noch so klein sein, zu übersehen. Seine Angespanntheit und äußerste Nervosität wusste er mittlerweile nicht mehr zu verbergen, und wer sich ihm auch immer in den Weg stellen sollte - und würde dies auch unbeabsichtigt geschehen - würde seiner damit ansteigenden Aggressivität zum Opfer fallen. Mit seiner Geduld war er unlängst am Ende, und innerlich wuchs das Verlangen in ihm, maßlos zu fluchen. Ein weitverzweigter Blitzschlag zog über den dunklen Himmel, und fast gleichzeitig ertönte ein dunkler Donnergroll, der durch den gesamten Wald dröhnte. Etwas jedoch brachte Flúgar zum Innehalten. Hatte er soeben ihre Stimme vernommen oder war es bloß Einbildung gewesen? Spielte ihm sein überfordertes Hirn solch morbide Streiche? Sich noch immer umschauend, versuchte er sich zu beruhigen, seinen Zustand in den Griff zu bekommen. Im Grunde war sein Verhalten lächerlich, vor allem vor sich selbst, aber merkwürdigerweise kümmerte ihn das keineswegs. Seine Gedanken waren alleinig bei der Priesterin, bei Midoriko... sie vertraute ihm, und er musste sich zugeben, dass er ihr ebenfalls vertraute. Auf diese Art und Weise konnte, wollte er sie einfach nicht enttäuschen; als sie aus Kakougen No Kyou aufgebrochen und in der Ebene in das Unwetter geraten waren, hatte er sehr wohl bemerkt, dass ihr das Gewitter alles andere als geheuer gewesen war. Er hatte ihre Angst riechen können, damals selbst durch den Regen hindurch, und nur deshalb war er zu ihr zurückgegangen. Menschen waren schwach und zerbrechlich; wenn man nicht genügend auf sie Acht gab, vergingen sie vor einem im Angesicht ihrer Ängste - und die hegten sie alle. Flúgar schloss die Augen, konzentrierte sich. Er würde nicht aufgeben, und wenn es ihn die ganze Nacht kosten würde. Das war kein Verlust, im Gegensatz zu ihr... Was zur Hölle dachte er da nur? Seit er sie getroffen hatte, lief mit einem Mal alles anders, und ohne, dass er es merkte, schien sie etwas an, oder besser in ihm zu verändern. Was das im Speziellen war, wusste er nicht zu benennen, doch er spürte sehr deutlich, dass sich bis zu dem Punkt, an dem er jetzt stand, etwas gehörig gewandelt hatte. Er hasste sie nicht, obwohl sie ein Mensch war, und obwohl sie anfangs ernsthaft versucht hatte ihn zu töten, trug er es ihr nicht nach, obschon er es nicht vergessen hatte. Was wohl Súnnanvindur dazu sagen würde? Mit absoluter Sicherheit würde der es nicht gutheißen, denn er wollte zwar eine Allianz mit den Menschen schließen, wendete sich aber strikt gegen jede Art von Beziehung zwischen den Mitgliedern seines Clans und den Menschen. Eine von ihnen hatte er gar verstoßen, weil sie einen Menschen geliebt und ein Kind mit ihm gezeugt hatte, ganz gleich ihrem Status im Clan... Ohne sich wahrhaftig etwas davon zu versprechen, hob Flúgar erneut die Nase in den Wind und witterte angestrengt mit gesenkten Lidern. Das, was er in diesem Augenblick wahrnahm, veranlasste ihn zur Hektik. Er roch Blut, frisches Blut. Zwar nur schwach, aber eindeutig, und er war sich vollkommen sicher, dass es nur von einer Person stammen konnte. Midoriko. Hastig wandte er sich um und folgte der vagen Witterung tiefer in den Wald. Der Dämon konnte sich nicht erklären, was in ihm vorging. Sein Herz schlug der Situation gemäß viel zu schnell, sein Atem schloss ich dem an. Was war mit ihm los? Er räumte ein, dass es nicht viele Geschöpfe gab, um die er sich ernsthaft sorgte, doch so wie in diesen Momenten war es ihm noch nie ergangen. Aber es rüttelte unverkennbar an seiner Beherrschung und das verhieß unglücklicherweise überhaupt nichts Gutes, es war einfach zu viel davon. Auf einer kleinen Lichtung blieb er stehen, prüfte seinen Standort und die Luft, schaute sich unschlüssig um. Er vermeinte ein leises, unscheinbares Wimmern zu hören, betrat vorsichtig wieder den Wald und blickte sich suchend um. Der seltsam dunkler erscheinende Flecken in seinem Sichtfeld, zog seine volle Aufmerksamkeit auf sich und als er sich näherte, sagte ihm sein Gefühl, dass er richtig lag. Vor ihm tat sich eine nicht allzu tiefe Grube auf, deren Grund mit tödlichen Holzspießen, die ungerührt gen dem von Wolken verdeckten, schwarzen Himmel ragten, ausgelegt war. Es war ziemlich offensichtlich, dass dies eine Wildfalle war, doch die Gestalt, die ganz am Rande in der Ecke kauerte, bestätigte, dass sich manchmal auch andere Wesen dorthin verirrten und womöglich sogar den Tod fanden. Vorsichtig trat der Loftsdreki zwischen die todbringenden, spitzen Holzpfähle herab in die Fallgrube und ging neben der Person, die er nun ganz eindeutig an ihrem Geruch identifizieren konnte, einseitig in die Knie. Sie zitterte, hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen und wimmerte zuweilen unerträglich vor sich hin. Ihre Haut war blass, ihre Atmung panisch. Der Geruch von Angstschweiß durchzog die Luft. Den Schmerz, der von ihrem rechten Bein ausgehen musste, fühlte sie scheinbar nicht, denn sie verharrte weiterhin reglos und machte keine Anstalten, sich irgendwie von dieser Pein zu befreien. Flúgar wurde die Lage rasch verständlich, aber er kam ihr nur mit gewissem Zögern noch näher, und es dauerte eine Weile, bis er seine Scheu überwand, sie berührte, um ihren rechten Unterschenkel von den zwei dünnen Spießen zu lösen, die sich geradeso durch das Fleisch gebohrt hatten. "Midoriko..." Die junge Frau reagierte nicht auf ihn, antwortete nicht. Behutsam hob er das Mädchen auf seine Arme, stieg mit ihr zusammen aus der Falle und legte sie unter einem nahebei stehenden Baum auf den Boden nieder, inspizierte die zwei tiefen Wundmale an ihrem Bein. Es blutete recht stark, aber es waren keine Verletzungen, die ihr Leben ernstlich bedrohen konnten. Um zu sich selbst ehrlich zu sein, wusste er sich nicht unbedingt einen Rat, was er nun tun sollte, also entschied er sich für das, was er auch für einen verletzten Artgenossen getan hätte. Er schob den störenden Stoff beiseite und neigte den Kopf hinab, leckte das Blut von ihrer Haut und säuberte so die Wunde. Was Menschen betraf, besaß er kein sehr großes Wissen, und schon gar nicht, wenn sie verletzt waren; er verhielt sich, wie es sein Instinkt ihm anriet. Dann setzte er sich neben sie, winkelte sein rechtes Bein leicht an, um ihre Beine darüber zu legen; das war etwas, das er von seinem Vater gelernt hatte, und wofür er ihm insgeheim dankbar war. Schon damals hatte sich diese Methode als nützlich, als lebensrettend erwiesen, denn so manch einer seiner verstorbenen Kampfgefährten hatten aufgrund eines Schocks nicht überlebt. Hinsichtlich der Blutung tastete er mit der rechten Hand in der Leistenbeuge nach der Hauptschlagader, übte so lange, bis der Blutstrom letztendlich versiegte, leicht Druck darauf aus. Menschen waren anfälliger, sensibler in dieser Hinsicht, und deswegen wollte er auf keinen Fall ein Risiko eingehen. Jetzt, wo er sie gefunden hatte, würde er nicht zulassen, dass sie so einfach unter seinen Augen hinwegstarb. Als sich ihr Zustand ein wenig verbesserte, ihr Atem und ihr Herzschlag sich etwas beruhigt hatten, stand er auf, den nahezu leblosen Leib der Priesterin in den Armen und trug sie zurück in die Stadt, zurück in das Wirtshaus. Sie sprach noch immer nicht, obwohl sie zumindest halbwegs bei Bewusstsein war, krampfte bloß ihre Hände in den Stoff seines Haoris, um den einzigen Halt, der sich ihr darbot, nicht zu verlieren. Ihr Anblick war erbärmlich, sie war ausgezehrt von der Anstrengung, ihr Gesicht fahl und ihr Blick getrübt. Ihr Körper war kalt, vom nicht enden wollenden Regen durchnässt. Selbst wenn er es gewollt hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, ihr auch nur ein wenig Wärme zu spenden - seine Körpertemperatur passte sich der Umgebung an, und somit kühlte er sie schlimmstenfalls noch weiter aus. Angesichts dessen beeilte er sich, sie zurückzubringen und empfand eine regelrechte Erleichterung, als er endlich auf der Veranda vor ihrem Gastzimmer stand. Er verhielt sich leise, bettete sie behutsam auf ihrem Lager und kniete sich neben sie. Im Gegensatz zu der ihren, war seine Kleidung nicht schonungslos dem kühlen Nass zum Opfer gefallen, denn das außergewöhnliche Gewebe hielt das Wasser fern und ließ es abperlen. Der Stoff menschlicher Kleidung hingegen sog sich begierig voll und trocknete auch nur beschwerlich. Die Tür nach draußen hatte er geschlossen, doch es nahm eine ganze Weile in Anspruch, bis im Raum wieder eine höhere Temperatur herrschte. Auf diese Art würde es zu lange dauern, bis ihr Gewand getrocknet war. Menschen mochten die Nässe ebenso wenig wie die Kälte, und beides schadete ihnen, also blieb ihm im Grunde nichts Anderes übrig, als sie ihrer nassen Bekleidung zu entledigen. Er hatte keinen Anspruch darauf, sie unbekleidet zu sehen, jedoch hielt er es nicht für angebracht, sie wissentlich krank werden zu lassen und entschloss sich deshalb für ihre Gesundheit und gegen ihre Rechte. Flúgar konnte sich dem nicht erwehren zuzugeben, dass er ihre zierliche Gestalt hübsch fand, vielleicht sogar mehr als das. Beinahe zärtlich, und nicht aus reiner Zweckmäßigkeit, strich er ihr langes, regennasses Haar zur Seite. Eine Zeit lang weilte sein Blick auf ihrem nunmehr bloßen Körper, prägte sich unbewusst jede Einzelheit ein. Vieles hätte er dafür gegeben, Midoriko gänzlich besitzen zu dürfen. Besonders in diesem Moment, in dem er ihre berauschende Witterung so deutlich wahrnahm; unwillkürlich entfuhr ihm ein tiefer Laut, dessen Klang selbst für ihn ein unbekannter war. Aber es ging nicht, das wusste er nur zu gut. Es lag ihm fern, Schmach über seine Familie zu bringen und sich mit einer Menschenfrau einzulassen. Zudem war sie unberührt, kein Mann hatte sich ihrer bis jetzt angenommen. Vermutlich führte sie ein enthaltsames Leben, denn normalerweise waren Frauen in ihrem Alter längst verheiratet und hatten Kinder. Flúgar drängte seine aufkommende Begierde zurück; er zog seinen Haori aus, bedeckte damit ihre Blöße, legte noch die Zudecke ihrer Bettstatt und die seiner darüber. Auf dem Weg zurück hatte die Miko bereits das Bewusstsein verloren, und das Gefühl, etwas gegen ihren Willen unternommen zu haben, behagte ihm gar nicht. Wahrscheinlich würde er morgen, wenn sie wieder erwachte, eine gehörige Abfuhr erteilt bekommen, die sich ihm gegenüber noch nicht viele zu äußern getraut hatten. Sie wusste nichts von seinem wahren Rang, und schon deswegen würde sie sich wohl nicht zurückhalten. Innerlich war er froh darüber, dass sie ihn nicht wie etwas Besonderes behandelte, sondern wie einen gewöhnlichen Begleiter. Ein letztes Mal für diese Nacht schaute er in ihr Gesicht, das allmählich wieder Farbe annahm, und lehnte sich schließlich an die Wand, schloss die Augen. Diesmal würde er wachsam bleiben und auf sie aufpassen, damit sie nicht noch einmal wegen seiner Unaufmerksamkeit in Gefahr geriet. Im Morgengrauen verstummte der Regen, und durch die abziehenden Wolken brach das junge Licht der Sonne, brachte Helligkeit in die von Nebel verhangene Landschaft. Auch im Haus wurde es langsam hell, draußen krähte einer der Hähne als würde er den angebrochenen Morgen verkünden und im Inneren brach die geschäftige Betriebsamkeit der Wirtsleute aus, die bereits am Tage zuvor geherrscht hatte. Eine leise Regung ging durch den Körper der Priesterin. Flúgar beobachtete sie, und die Augen des Nekoyoukai, der erst einige Stunden zuvor wieder zurückgekehrt war, fixierten ihre Herrin. Diese gab ein unverständliches Murmeln von sich, suchte mit der linken Hand tastend nach ihrer kleinen Begleiterin, mit der sie sonst immer ihr Bettlager teilte. Sie seufzte kaum vernehmbar, öffnete schläfrig ihre Augen und drehte den Kopf zur Seite. Zu mehr als einem verwirrten Blinzeln war sie nicht im Stande, als sie sich gewahr wurde, dass Flúgar direkt neben ihr kniete und ihr unverkannt ihren Blick erwiderte. Ihre Erinnerungen an die letzte Nacht waren brüchig und unklar, allerdings wusste sie, dass die Panik sie übermannt hatte, und sie sicherlich wieder in eine prekäre Situation gelangt war. Sie meinte sich zu entsinnen, dass sie seine Nähe gespürt und seine Stimme gehört hatte. Selbst wenn sie sich täuschen sollte, es blieb sich gleich. Ein schwaches Lächeln bildete sich auf ihren Lippen. "Jetzt weiß ich, was die Alte meinte..." Unmerklich zog Flúgar die Augenbrauen ein wenig zusammen, legte den Kopf schief. Von was redete sie? Hatte sie sich womöglich gestern den Kopf gestoßen? "Ist schon in Ordnung, das brauchst du nicht zu verstehen." Ein Hauch von Amüsement schwang im Klang ihrer Worte, und Midoriko musste sich ein unterschwelliges Kichern untersagen, da sie Flúgar nicht verärgern wollte, denn offenbar verstand er ihre Anspielung nicht. Es war die pure Wahrheit gewesen, in solchen Augen konnte man sich nur verlieren... "Hast du Schmerzen?" Sie verneinte ohne nachzudenken, hätte diesen Moment am liebsten mit aller Macht für immer festgehalten, jedoch war ihr bewusst, dass dies unmöglich war. Lag etwas wie Sorge in seinem Tonfall? Sie mochte das neckische Lächeln nicht so schnell verloren gehen lassen, blickte ihn weiterhin an. "An was denkst du gerade?" Flúgar brach den Augenkontakt ab, sah zur Seite. "Das willst du nicht wissen." Ihr Ausdruck wurde fordernd, und sie brauchte nicht lange, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. "Wenn ich es tatsächlich nicht wollte, hätte ich nicht gefragt." Sie schmunzelte, als er sie aus den Augenwinkeln heraus betrachtete. Scheinbar war er sich nicht ganz sicher, ob er es ihr sagen konnte oder es sollte. Midoriko verlieh ihrer Aussage mehr Nachdruck, indem sie ein fragendes "Und?" dahinter setzte. "Samfarir." Ungehalten rutschte ihr eine von Verständnislosigkeit zeugende Tonsilbe heraus, was ihr augenblicklich peinlich war und dazu führte, dass sie recht betreten dreinschaute. "Ihr Menschen seid so prüde, dass ich das Wort in eurer Sprache nicht einmal kenne." Die Miko legte einen Finger an die Unterlippe, überlegte für einen kurzen Augenblick. "Du könntest es mir erklären." Der Loftsdreki zögerte nicht lange, stützte sich mit der rechten Hand auf den Holzdielen ab und beugte sich leicht über sie, sodass sein langes Haar bis auf ihren von Decken verhüllten Körper herabfiel. "Jemandem, der in Enthaltsamkeit lebt, würde eine Erklärung nicht weiterhelfen." Mit einem Mal färbten sich ihre Wangen tiefrot und eine Welle von ungezügelter Scham wog über sie hinweg. Verlegen wandte sie ihr Gesicht ab und verbarg es halbwegs unter ihren Zudecken. Flúgar zuckte die Schultern, atmete hörbar aus. "Ich sagte doch, dass du es nicht wissen willst." Midoriko vergrub ihr von dunkler Schamesröte ergriffenes Gesicht in den Laken, versuchte vergeblich, die verräterische Färbung wieder abklingen zu lassen, indem sie sich beruhigte und an etwas Anderes dachte. Völlig zusammenhangslos schlug Flúgar während dessen vorsichtig einen Teil der Decken beiseite und legte ihr rechtes Bein frei, kontrollierte behutsam den Zustand der beiden Wunden an ihrem Unterschenkel. Sie hatte Glück gehabt, dass die zugespitzten Holzpfeiler nicht vergiftet oder anderweitig präpariert worden waren, denn sonst hätte er nicht viel für sie tun können, und sie wäre entweder am Gift oder einer später auftretenden Infektion gestorben. Die Priesterin stellte ihr rechtes Bein auf, winkelte es sachte an, um dem Loftsdreki ein wenig behilflich zu sein, zog die Decken noch ein Stück weiter zur Seite. Wenn sie schon zu verlegen war um mit ihm zu sprechen, musste sie es ihm nicht noch erschweren, sich um ihre Verwundungen zu kümmern. Midoriko freute sich über seine Fürsorge, obwohl sie sich nicht so ganz erklären konnte, woher diese rührte. "Das solltest du nicht tun." Verwundert sah sie auf, warf ihm einen fragenden Blick zu. "Du gibst mehr von dir preis als dir mit Sicherheit lieb ist." Eine Art Erstaunen kam über sie; ihr wollte einfach nicht verständlich werden, was er damit meinte. Und warum schaute er sie nicht mehr an? Sie setzte sich auf, und ein flüchtiger Blick an sich herunter sorgte für die Erkenntnis ihrerseits. Das zarte Rot ihrer Wangen vertiefte sich erneut und ihr gelang es nicht mehr, den spitzen Aufschrei zu unterdrücken, der sich situationsgemäß in ihrer Kehle formte. Hektisch raffte sie die Decken zusammen und drückte sie vor ihre blanke Brust, bedeckte jedes noch so kleine Fleckchen Haut, das sie vorher schier willig gezeigt hatte. Entgeistert starrte sie Flúgar an, der sie nicht aufgrund ihrer Situation etwas genervt anblickte, sondern eher, weil ihm ihr schriller Aufschrei in den Ohren schmerzte. "Hast du mich...?!" Ihr Atem raste, das Ganze schockierte sie doch mehr als er angenommen hatte. Trotzdem war er sich keiner Schuld bewusst, er hatte nicht eigennützig gehandelt, er war um ihr Wohlsein besorgt gewesen und hatte dementsprechend reagiert. Was hätte er sonst tun sollen? Der Dämon nickte schweigend. "Denkst du deshalb an... was hast du getan?" Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln, Enttäuschung und Verzweiflung sprachen aus ihren fassungslos geflüsterten Worten. Sie zog ihre Beine enger an sich, presste die Zudecken an ihren Oberkörper. Was hatte Flúgar mit ihr angestellt? Hatte er ihr im Endeffekt etwas angetan, das nicht wieder gutzumachen war? "Ich habe dich nicht angerührt, und so charakterlos, dass ich über ein bewusstloses Mädchen herfalle, bin ich wahrhaftig nicht. So viel Ehrgefühl solltest du mir zutrauen. Doch Vertrauen scheint für dich etwas Anderes zu bedeuten als für mich." Der Tonfall in seiner Stimme gab Midoriko sehr eindeutig zu verstehen, dass sie ihn gerade ziemlich beleidigt haben musste. Es tat ihr leid, aber nach dem, was er ihr vorhin als Antwort gegeben hatte und ihren gegenwärtigen Lage... was hätte sie sich sonst daraus zusammenreimen sollen? Rasch packte sie ihn am Ärmel seines Untergewandes und hinderte ihn somit am Aufstehen. Verschämt fixierte sie den Boden. "Verzeih mir bitte... ich..." Flúgar schaute sie nicht einmal mehr im Ansatz an, anscheinend hatte sie ihn recht heftig gekränkt. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, würde sie ihm so etwas nicht zutrauen, niemals. Aber in ihrer Panik hatte sie nicht mehr denken können, und das, was sie laut ausgesprochen hatte, war nicht frontal auf ihn gerichtet gewesen... zumindest nicht so, wie er es aufgefasst hatte. Sie bereute ihre Worte, senkte schuldbewusst den Kopf. "Wir sind quitt... ich hab dich im Dorf der Dämonenjäger..." Eine Weile verblieb es still, sie hüllten sich beiderseits in tiefes Schweigen, und in Gedanken waren sich beide einig, dass sie diesen Vorfall nicht weiter besprechen sollten - es war besser darüber hinwegzusehen. Die Stille fand ein Ende, als es im Magen der Priesterin verdächtig rumorte. Sie errötete, sah etwas beschämt zu Boden, versuchte sich auf andere Gedanken zu bringen. Zu ihrer Überraschung legte Flúgar mit einer sanften Gestik seine Hand auf ihren Bauch, und ein etwas verwirrter Ausdruck schlich sich auf seine Züge. Ein Kichern konnte sie sich nun nicht mehr untersagen. "Keine Sorge..." Bedächtig berührte sie seine Hand mit ihrer. "Ich bin bloß hungrig, weiter nichts." ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 21: >"In den Bergen weht ein eisiger Wind, der kein Erbarmen kennt und die in den Tod reißt, die sich gegen die letale Kälte nicht zu wehren wissen. Inmitten von Schnee und Eis lauern Gefahren, denen selbst ein mächtiger Dämon nicht gewachsen ist. Zu viel Stolz kann in solch einer Situation fatal sein..." *» Stolt Kapitel 21: *~Stolt~* --------------------- "Wer stolz ist, verzehrt sich selbst; Stolz ist sein eigner Spiegel, seine eigne Trompete, seine eigne Chronik!" – Shakespeare Kapitel 21 - Stolt -Stolz- *Welche unserer Eigenarten wird es letztendlich sein, die uns in den unvermeidlichen Tod treibt? Wird es unsere Verbissenheit sein? Unsere Angst? Unsere Naivität und Dummheit? Oder aber wird es unser Stolz sein, der uns zum Schluss ins Verderben reißt? Jener Stolz, der uns verbissen, naiv und dumm werden lässt, obwohl wir uns vor nicht mehr ängstigen als dem Verlust des eigenen Lebens?* ּ›~ • ~‹ּ Natürlich hatte es nicht lange auf sich warten lassen, bis die beiden Dienstmädchen und die Wirtin persönlich vor der Schiebetür meines Zimmers standen und sich ausgiebig nach meinem Wohlbefinden erkundigten. Ich beteuerte, dass mit mir soweit alles in Ordnung war und konnte sich schließlich dazu überreden, sich um das Frühstück und etwas Reiseproviant zu bemühen, damit ich mit meiner Begleitung möglichst bald aufbrechen konnte. Die zwei Tage waren um, und auch, wenn Flúgar mir wegen dem Vorfall der letzten Nacht ein wenig mehr Spielraum zugestanden hätte, wollte ich unseren Aufenthalt nicht weiter unnötig in die Länge ziehen. Ich verstand ohnehin nicht, warum er mir die Zeit hier zugebilligt hatte, ohne Aufforderung oder Nachfrage meinerseits. Jede Verzögerung bedeutete für ihn doch bloß, dass sich für ihn eine noch längere Wartezeit ergab, bis sein Schwert endlich repariert werden konnte. Oder lagen die Dinge auf einmal anders? Hatte er womöglich das Gefühl, dass Skýdis nicht mehr zu retten war? Dem Rat der alten Okashisa folgend, kleidete ich mich ohne Sparsamkeit aufkommen zu lassen an, bedankte mich aufs Herzlichste bei den Wirtsleuten, die nicht einmal nach einer Bezahlung für unseren Aufenthalt fragten. Kurz vor Mittag waren alle Vorbereitungen abgeschlossen, und ich schritt gerade zu Flúgar herüber, als sich gemächlichen Schrittes eine gebückte, wohlbekannte Gestalt näherte. Okashisa. Sie lächelte zufrieden, hielt Inazuma an seinem Zaum. Sie winkte mich zu sich herüber, drückte mir eher nebensächlich etwas in die Hand und musterte anschließend noch einmal mich und den Loftsdreki gründlich von oben bis unten. "Ich wünsche euch alles Glück, das man haben kann. Das Pferd wird es gut haben, und ich hoffe, du kannst etwas mit dieser kleinen Gegenleistung anfangen." Sie schenkte mir ein hintergründiges Lächeln, dessen Bedeutung ich nicht zu erraten wusste, und tätschelte dem großen Rappen die Flanke. "Lass uns gehen!" Ich wandte mich an Flúgar, bemerkte seinen abwartenden Ausdruck, auf den ich mir zunächst keinen Reim machen konnte. Hatte ich etwas vergessen? Oder schaute er mich so an, weil ich mit der Alten unsere Zeit vertrödelte? "Komm her." Hm? Was hatte er vor? Ich näherte mich ihm nur langsam, sah ihn skeptisch an, als er sich umdrehte und vor mir halbseitig in die Knie ging. Zuerst begriff ich nicht, was er von mir wollte, doch dann fragte ich mich, ob er das ernst meinen konnte. Wollte er mich wirklich tragen? Zögerlich trat ich an ihn heran, erwartete einen heftigen Ruck, aber seine Bewegungen waren geschmeidig, fließend, und ich spürte so gut wie nichts, als er aufstand. Behände legte ich meine Hände auf seine Schultern, sandte einen fragenden Blick an Kaneko, die wiederum auf meiner Schulter saß. Diese miaute heiser, kuschelte sich enger an mich. Auch sie hatte in der vergangenen Nacht lange nach mir gesucht, und da sie Kälte und Wasser absolut nicht vertrug, schien sie nun eine Art Erkältung zu haben, die sich insbesondere auf ihre Feuerkräfte auswirkte. Wählte er deshalb diese Option? Weil Kaneko sich nicht verwandeln und mich somit nicht tragen konnte? "Halt dich fest." Glücklicherweise tat ich unterbewusst, was er so nüchtern von mir verlangte, denn ansonsten hätte ich bereits nach seinem ersten, schwungvollen Satz den Halt verloren oder vor Schreck losgelassen. Ich rätselte noch immer, aus welchem Grund er mich nun wirklich freiwillig auf seinem Rücken trug, zusammen mit dem Proviant und einigen anderen kleinen Dingen, die mir die Leute aus dem Gasthaus mitgegeben hatten. Außerdem trug ich meine Rüstung unter seinem Haori, den er mir stillschweigend für diese Exkursion geliehen hatte. "Bin ich dir nicht zu schwer?" Ich gab mir Mühe, meine Stimme etwas zu dämpfen, denn bei dieser Nähe musste ich nicht lauter sprechen als nötig. Wenn ich mir allerdings die Lautstärke meines Aufschreis ins Gedächtnis rief... ein Wunder, dass er keinen Gehörschaden davongetragen hatte. "Iie." In weiten Sprüngen ließ Flúgar das Städtchen rasch hinter sich und bewegte sich geradewegs auf das in Nebel und Dunstschleiern liegende Gebirge zu, das mit jedem weiteren Näherkommen größer und bedrohlicher vor uns emporzuragen schien. Es wurde beständig kühler, und ich konnte der Greisin nur zustimmen, dass warme Kleidung etwas war, an dem man hier nicht sparen sollte. Die Landschaft rauschte an mir vorbei wie das Wasser eines zügig strömenden Flusses, und meinen anfänglichen Bedenken zum Trotz, nahmen mein Magen und der Rest meines Körpers das stetige Auf und Ab, dass sich aus Flúgars weiten Sprüngen ergab, nicht weiter übel. Seltsamerweise fühlte ich mich in meiner Position vollkommen sicher, fast schon geborgen; Flúgar würde mich nicht loslassen und etwaige gefährliche Manöver so ausführen, sodass ich nicht zu Schaden kommen würde. Ich vertraute ihm. Die dichten, tiefgrünen Nadelwälder, die sich bis jetzt ausgedehnt unter uns erstreckt hatten, endeten abrupt, und die Klippen auf dieser Seite des Gebirges taten sich steil und schroff vor uns auf, die kleinen Felsvorsprünge waren kaum zu erkennen und lagen weit auseinander. Die Felswände waren so abschüssig, dass es fast senkrecht in die Höhe ging, doch trotz der widrigen Umstände schien Flúgar keinerlei Schwierigkeiten zu haben in Bruchteilen von Sekunden einen weiteren Vorsprung in der Mauer aus massivem Gestein zu entdecken und punktgenau darauf zu landen, um sich erneut abzustoßen. Im Nu bewältigte er dieses vermeintliche Hindernis, und weit unter uns, durch den feinen Nebel hindurch, erkannte man ein mit Schnee bedecktes Tal, dessen weitläufige Flächen mit Nadelgehölzen bewachsen waren, und durch das sich in weiten Bögen ein zugefrorener Fluss schlängelte. In dieser Kälte konnten sicherlich keine Menschen leben, und selbst Tiere hatten es hier oben schwer - der Schnee und das Eis hatten etwas an sich, dass es unnatürlich wirken ließ. Was, konnte ich nicht sagen, aber mein Gefühl war eindeutig. Das Klima hier war nicht normal... aber von wem oder was wurde es beeinflusst? Ich schloss die Augen, lehnte meinen Kopf an Flúgars Rücken und konzentrierte mich. Etwas trieb hier oben sein Unwesen, und ich spürte es deutlich... Seufzend verharrte ich so eine Weile, ehe ich wieder aufsah, vermisste augenblicklich das weiche Gefühl seines Haars an meiner Wange und den leichten Geruch, der ihm anhaftete... aber sein Körper war so eisig wie die Luft um mich herum, wie die vereiste Landschaft unter uns... Mit einem Mal erstarrte ich. Bildete ich mir das nur ein, oder...? Es kam näher, und das mit einer Geschwindigkeit, die mir mehr als bedrohlich vorkam. Flúgar jedoch blieb ruhig. Nahm er es nicht wahr? Oder ging keine weitere Gefahr von diesen fremden Energien aus? "Spürst du das?" Er schreckte sichtlich zusammen, als ich ihn ansprach, und just in diesem Moment ertönte ein aggressiver, heiserer Schrei, der sich unverkennbar gegen uns richtete und dessen Verursacher - meiner Meinung nach - nur ein Vogel gewesen sein konnte. Auf das, als was es sich schließlich herausstellte, war ich nicht gefasst gewesen; es war ein Vogel, aber er war gigantisch, mindestens doppelt so groß wie ein Pferd. Sein Gefieder war schneeweiß, und seine Schwingen glänzten wie Eiszapfen in der Sonne, die langen Schwanzfedern zogen eine Spur von feinsten Schneekristallen hinter sich her. Der Hals war kurz, aber sein bulliger Kopf und der kräftige Schnabel, zusammen mit den langen Klauen an seinen Beinen, erweckten in mir den Eindruck, dass bei diesem Biest äußerste Vorsicht geboten war. In seinen Augen waren wir ungebetene Besucher, die ohne Einladung in sein Territorium eingedrungen waren, und die es zu vertreiben oder gar zu töten galt. Sein erster Angriff verfehlte uns nur haarscharf, mit einer ruckartigen Reflexbewegung schaffte Flúgar es gerade noch so, uns aus seiner Fluglinie herauszubringen und der Begegnung mit seinen scharfen Klauen zu entgehen. Der Eisvogel machte Kehrt, seine Augen glühten kurzweilig rot und der hellblaue Federkamm auf seinem Kopf stellte sich auf, als er abermals auf uns herabstieß, dieses Mal jedoch versuchte, mit seinem Schnabel einen Treffer zu landen. Erneut musste der Loftsdreki ausweichen, aber diesmal fuhr er danach augenblicklich herum, benutzte den monströsen Leib des Ungetüms um sich daran abzustoßen und wieder an Höhe zu gewinnen. Verärgert ließ der Vogel ein langgezogenes Kreischen ertönen, fasste uns wieder in seinem Blickfeld und startete einen neuen Versuch uns zu attackieren. Ich spürte Flúgars plötzliche Anspannung; er machte sich zum Kontern bereit und würde jetzt keinen Gedanken mehr an ein Ausweichmanöver verschwenden. Mein Griff verkrampfte sich, ich klammerte mich buchstäblich an ihn, als ich der Wucht gewahr wurde, die Flúgar in den Hieb mit der rechten Hand legte. Seine Klauen schnitten durch den linken Flügel des Dämonenvogels, doch die riesige Schwinge verblieb letztendlich unversehrt, regenerierte sich mit Hilfe der eigens erschaffenen Eiskristalle. Hieß das, Flúgar konnte nichts gegen dieses Vieh ausrichten? Der Eisyoukai verringerte die Distanz, stürzte sich, die Krallen an seinen Beinen ausgestreckt, in unsere Richtung. Die Attacke schlug fehl, lief ins Leere, und der weiße Vogel geriet scheinbar jetzt erst richtig in Kampfeslust. In geringer Entfernung hielt er inne, und seine Augen leuchteten wieder glutrot, während er heftig mit den Flügeln schlug. Eine Salve faustgroßer Eissplitter löste sich aus seinem Gefieder, schoss drohend auf uns zu. Flúgar gelang es einen Großteil der gefährlichen Eisbrocken abzuwehren, ließ jedoch den Vogeldämon dabei ein wenig außer Acht, sodass der diesen unaufmerksamen Moment ausnutzte und wieder zum direkten Angriff überging, auf die Flanke seines Gegners zielend. Der Loftsdreki bemerkte ihn, doch die Zeit war zu knapp bemessen um uns beide völlig aus der Gefahrenzone zu bringen; und er entschied sich natürlich für das, was ihn selbst gefährdete... Flúgar wandte sich dem Vogel zu, dessen Klauen mich somit verfehlten, ihn jedoch am rechten Arm erwischten. Ich hielt einen Aufschrei zurück, betrachtete entsetzt die tiefen Striemen an seinem Unterarm, aus denen das Blut unaufhaltsam hervorquoll. Gegen dieses Monstrum würde er nicht gewinnen können, wenn dieses - wie nicht anders zu erwarten - jedes Mal wieder in der Lage war, seinen Körper mit Schnee und Eis zu regenerieren, er konnte ihm einfach keinen genügenden Schaden zufügen... mit einem Mal hatte ich die Lösung: ich würde den Dämon läutern, dann hätten wir nichts mehr vor ihm zu befürchten. Absichtlich unternahm er nicht einmal mehr den Versuch zu verhindern, dass er auf dem Boden aufkam, setzte sanft zwischen ein paar Tannen auf dem von einer dichten Schneedecke überlagerten Boden auf. Blut färbte sein Untergewand rot, tropfte lautlos auf das reine Weiß des Schnees. Er setzte mich ab, suchte am Himmel nach seinem Gegner. "Bitte Flúgar, lass mich das erledigen. Wenn ich ihn läutere..." Mit einer Handbewegung untersagte er mir jedes weitere Wort. Nagte es an seinem Stolz, dass dieses Biest so zäh war und im Grunde unbesiegbar schien? Ich senkte stumm den Kopf... ich würde nicht auf ihn hören, würde mich ihm wissentlich widersetzen, und das tun, was ich für richtig erachtete. Schon jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil er wegen mir verletzt war. "Misch dich nicht ein." Damit war er zwischen den Bäumen verschwunden, und kurz darauf erschall wieder das angriffslustige Schreien des Eisvogels. Warum wollte er sich nicht helfen lassen? Wie konnte man nur so stur sein? Warum verhielt er sich in solch einer Situation wie ein Idiot? Mir brauchte er doch nichts zu beweisen, also warum...? Mein Atem stockte. War es möglich, dass Flúgar mich zu beschützen versuchte? Dass er nicht wollte, dass mir irgendetwas zustieß? Immerhin hatte er für meine Sicherheit einen Treffer in Kauf genommen ohne lange darüber Nachzudenken... Ich musste ihm helfen. Meine Konzentration sammelnd, schloss ich die Augen, führte meine Hände vor meiner Brust zusammen, trat innerlich der totalen Ruhe entgegen. Die zwei Kontrahenten waren nicht sehr weit von mir entfernt, ich spürte sie beide. Ich musste präzise sein, ansonsten würde ich vielleicht Flúgar mit meiner Läuterung treffen, obwohl ich daran zweifelte, dass es anders ausgehen würde als das letzte Mal. Die Energie wallte auf, bündelte sich, ich fasste mein Ziel... just in diesem Moment brach der Vogelyoukai durch die Bäume vor mir, spreizte drohend die Flügel und fixierte mich mit den Augen. Natürlich hatte er mich wahrnehmen können, genau genommen hatte ich es darauf angelegt und besser hätte sich das Biest nicht positionieren können... Ich steckte all meine Kraft in diesen Angriff, und ließ den Energien ihren Lauf, erlaubte ihnen zu fließen. "Shinkon No Kori!" Ein helles Licht verschlang den feindlichen Dämon für einige Augenblicke, strahlte durch die Reflektion auf dem Schnee so grell, dass ich den Arm schützend für meine Augen hielt, mich auf mein Gespür verließ. Die Läuterung war geglückt, und als ich die Augen schließlich wieder öffnete, war der Eisyoukai verschwunden, doch vermeinte ich am Horizont seine langen Schwanzfedern zu erkennen, zwischen denen die schüchtern hinter den Wolken hervorblinzelnde Sonne einen blassen Regenbogen spannte... ּ›~ • ~‹ּ Es dauerte eine ganze Weile, bis Flúgar wieder in Sichtweite auftauchte. Er war nicht unbedingt weit weg gewesen, trotzdem hatte Midoriko nicht im Geringsten die Lust verspürt, ihm zu folgen. Sie konnte sich denken, was er die ganze Zeit über getrieben hatte, und diese Überlegung bestätigte sich, als sie ihn, zwei nahestehende Tannen und einige Matsu passierend, erblickte. Er war jagen gewesen, hatte seine Wut und seinen Frust an einem oder auch mehreren unschuldigen Tieren ausgelassen. Er würdigte die Priesterin keines Blickes, lehnte sich an den breiten Stamm eines großen Sugi, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Sein abweisendes Verhalten bestätigte ihr nur weiterhin, dass er ihr wegen dieser Einmischung böse war, sich gar beleidigt fühlte. Der Loftsdreki war ein Krieger, und als solcher war es eine schändliche Sache, wenn eine Frau ihm half. Zudem war er nicht einmal ein Mensch, sondern ein Youkai, und von einer Menschenfrau Hilfe zu erhalten, obwohl er ihr unmissverständlich befohlen hatte sich nicht einzumischen, musste ihn maßlos verärgern. Und das tat es offenbar auch. Midoriko bereute ihr Eingreifen nicht, aber es tat ihr leid, Flúgar auf diese Art verletzt zu haben, ihn in seiner Ehre, seinen Stolz als Krieger mehr oder weniger beschämt zu haben. Immerhin hatte sie den Eisvogel in die Knie gezwungen, ihn geläutert und damit harmlos werden lassen, während er sich gegen so einen Gegner schwer getan hatte. Sie war nicht sicher, ob Flúgar überhaupt eine Aussicht auf einen Sieg gehabt hatte. Aber wie sollte sie jetzt reagieren? Er zeigte ihr unverkennbar die kalte Schulter, ignorierte sie geflissentlich, jedoch das Problem war damit nicht aus der Welt. So konnte es nicht weitergehen, denn diese Situation war absolut keine Lösung, und so weit sie die Sache verstanden hatte, waren sie hierher gekommen, um Flúgars Schwert reparieren zu lassen. Wenn er sich so anstellte, würde er dies nur weiterhin aufschieben, und das war sicherlich nicht das, was er damit beabsichtigte. Als sie sich ihm zögerlich näherte, und schließlich fast neben ihm stand, fiel ihr sein abwesender, konzentrierter Ausdruck auf. Ob er eine ungewöhnliche Präsenz spürte? Das Youki eines mächtigen Dämons? Oder aber versuchte er bloß Midorikos Aufmerksamkeit von sich auf etwas, das gar nicht existierte, umzulenken? "Flúgar...?" Vorsichtig berührte sie ihn am Arm, darauf bedacht, ihn weder zu verschrecken noch seine Verletzung mit einzubeziehen. Fragend musterte sie sein Gesicht, wartete geduldig auf eine Reaktion. "Sei still." Sie hatte gerade dazu ansetzen wollen, sich zu entschuldigen, doch er gebot ihr Schweigen, verharrte weiterhin regungslos. Leichter Missmut stieg in ihr hoch, was bildete er sich eigentlich ein? Sie gedachte sich zu entschuldigen, ihm nach seinem Befinden zu fragen und er wehrte sie so eiskalt ab. Was sollte das? "Dieses Youki..." Midorikos Blick schweifte in die Ferne. Youki? Der Vogelyoukai konnte es nicht sein, denn durch die Läuterung waren die dunklen Energien gewichen, und von einem Youki war nicht mehr zu sprechen. Was meinte er bloß? "Wir gehen." Der Loftsdreki löste sich aus seiner Erstarrung, blickte sie fordernd an. Verwirrt gab sie diesen Blick zurück. "Und was ist mit deiner Wunde?" So allmählich wurde sie seinem Verhalten überdrüssig; warum benahm er sich nur so eigenartig? Und aus welchem Grund rückte er nicht einfach heraus mit der Sprache und erzählte ihr, was los war? "Dafür ist keine Zeit." Die junge Priesterin zog die Augenbrauen zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust; ihre Züge vernahmen flüchtige Verärgerung und Skepsis ein. Es war also keine Zeit, sich um seine Verwundung zu kümmern, aber es war genügend Zeit vorhanden, dass er seinen Zorn abreagieren ging und hier vor sich hin schmollte...? Ehe sie dem noch etwas entgegensetzen konnte, hatte sich Flúgar der Sache angenommen und viel mehr, als sich festzuhalten, damit sie nicht herunter fiel, vermochte sie für den Augenblick nicht zu tun. Sie ärgerte sich über dieses Betragen, er verhielt sich wie ein verzogener Bengel, bei dem immer alles nach seinem Willen allein ablief. Wenn sie einigermaßen Halt gefunden hätte, würde sie ihn zur Rede stellen, denn zurzeit konnte er ihr nicht wirklich aus dem Weg gehen. Der Tag neigte sich seinem Ende zu, und klammheimlich legte sich die Dämmerung über das von hohen Gipfeln und verschneiten Tälern geprägte Gebirge. Die Sonne stand tief, bedrohlich rot und orange flackernd am Horizont, verschwand zur Hälfte bereits hinter einem der hohen Bergspitzen. Es kühlte weiterhin herunter, und Midoriko spürte, wie die Kälte allmählich in ihren Körper kroch, ihre Müdigkeit überzugreifen drohte. Das Zusammentreffen mit dem Schneevogel war kräftezehrender gewesen, als sie zunächst angenommen hatte - zumindest für sie. Flúgar schien sich nicht weiter an seiner Wunde zu stören, setzte unbeirrt seinen Weg durch abgrundtiefe Schluchten, über steile Felswände und von riesigen Gesteinsbrocken und Geröll verschüttete, schmale Buchtungen fort. Die Priesterin hatte die Hoffnung, dass sie heute noch an jenem bestimmten Ort ankommen würden, aufgegeben, doch als über dem nächsten Bergkamm eine dunkle Rauchwolke in Sicht kam, schöpfte sie neue Zuversicht. Der schwarze Qualm musste von einem Feuer herrühren, und dort, wo ein Feuer brannte, war es warm. Sie kamen der Quelle der dicken schwarzen Wolke beständig näher, und als Flúgar schließlich das letzte Stück des hohen Kamms mit einem gewaltigen Satz übersprang, erkannte Midoriko in der kargen, ansonsten leeren Talmulde ein riesiges Gebäude, das von ihrem hohen Aussichtspunkt wie eine geöffnete, rote Blüte aussah. Die große, aus karmesinfarbenen Steinen gefertigte Kuppel wurde von unzähligen kleineren derselben Art umgeben, elfenbeinfarbene, leicht gekrümmte und zu den Enden hin spitzzulaufende Pfeiler stützten den massigen Komplex. Vier Torbögen - einer für jede Himmelsrichtung - zeichneten die am weitesten außen gelegenen Kuppeln, bildeten den Zugang zum Inneren des blumenförmigen Gebildes. Der schwarze Rauch entstieg einem halbhohen, stark verrußten Schornstein, der aus dem Mittelpunkt des zentralen Kuppelgewölbes aufragte. Die junge Frau ertappte sich bei ihrem beinahe fassungslosen Staunen; wo waren sie hier? Und was war das für eine prachtvolle Baute? Flúgar war wegen seinem Schwert, Skýdis, hier... ob dies hier der Ort war, wo man sie geschmiedet hatte? Hauste hier etwa der Schmied von Skýdis? "Atemberaubend..." Sie konnte sich kaum zurückhalten, und ungeduldig wartete sie darauf, dass der Loftsdreki endlich auf dem Boden aufsetzte und sie dieses faszinierende Bauwerk näher und ausführlicher begutachten konnte. Als Flúgars Füße den Boden berührten, sprang sie sogleich auf, Kaneko mit ihr, und lief auf die vor ihnen liegende Außenwand zu, legte vorsichtig eine Hand auf den roten, lauwarmen Stein. Dann trat sie einige Schritte zurück, betrachtete das vor ihr emporragende Kunstwerk noch einmal eindringlich. Sie runzelte die Stirn. "Und das ist eine Schmiede?" Midoriko warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, gerade noch rechtzeitig, denn Flúgar war so gut wie aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Eilig schloss sie wieder zu ihm auf, blieb jedoch ein wenig hinter ihm zurück; sie wollte nichts respektlos erscheinen - zum ersten - und zum zweiten wollte sie ihn nicht noch weiterhin verärgern. Sie folgte ihm schweigend zu einem der reichlich mit eigenartigen Schriftzeichen und fremdartigen Symbolen verzierten Tore, blieb in einiger Entfernung zurück - sie ahnte, was jetzt passieren würde. Und die Priesterin behielt Recht, zuckte mit einem atemlosen Keuchen leicht zusammen, als er die beiden massiven, mit Metall verstärkten Torflügel so ohne Weiteres aufstieß - das verdächtige, heftige Geräusch von berstendem Eisen störte ihn dabei wenig und bestätigte Midorikos Vermutung, dass jene Pforte abgeschlossen oder verriegelt gewesen sein musste. Ein Schwall heißer Luft drang aus dem Inneren des Gebäudes, und der goldgelbe Schimmer von erhitztem Stahl leuchtete Flúgar, Midoriko und Kaneko entgegen. "Was zur...?!" ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 22: >"Wo Rauch ist, dort brennt für gewöhnlich auch ein Feuer. Die erbarmungslosen Flammen, die ihren Ursprung in der Hölle zu finden scheinen, reißen alles Leben mit sich in einen schrecklichen Tod - und alles, was bleibt, ist nichts als Asche..." *» Kemuri Kapitel 22: *~Kemuri~* ---------------------- "Wo Rauch ist, muss auch Feuer sein." – Deutsches Sprichwort Kapitel 22 - Kemuri -Rauch- *Sind Erinnerungen, die mit starken Gefühlen - Liebe, Sehnsucht, Trauer, Hass - verbunden sind, nicht für jeden von uns unvergesslich? Machen uns jene Erfahrung, ob gut oder schlecht, nicht zu dem, was wir in diesem Moment sind? Oder aber ist der herbe Geschmack der Verbitterung etwas, das keine Präsenz in unseren Gedanken haben sollte? Und was wäre, wenn sie wirklich in Vergessenheit gerieten? Wären wir dann noch diejenigen, die wir zu sein glaubten?* ּ›~ • ~‹ּ Flúgar trat ohne zu zögern ein, und die Worte, die den dort Anwesenden durch den Sinn gingen, verblieben unausgesprochen, als sie die Köpfe in Richtung des Eingangs wandten und ihnen gewiss wurde, wer ihnen einen Besuch abstattete. Einige warfen sich sofort vor ihm auf die Knie, die Übrigen neigten rasch ehrfürchtig ihre Häupter gen Boden, und Midoriko konnte keinen unter ihnen erblicken, der es auch nur ein einziges Mal wagte aufzusehen. Schüchtern folgte sie ihrer Begleitung bis zur Mitte des Raumes, hielt sich absichtlich in seiner unmittelbaren Nähe; diese Leute waren keine Menschen, und dieser Umstand verursachte ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend. "Wo ist Toutousai?" Es dauerte eine ganze Weile, bis sich einer der Umstehenden verhalten räusperte, die Hand hob, und offensichtlich in die Richtung zeigte, in der dieser Toutousai zu finden war. Der Kuppelkomplex wies in seinen Übergängen hier im Inneren nur noch Bögen ohne Torflügel als Verbindung auf, durch die man in den nächstgelegenen Saal gelangen konnte; Flúgar war wenig beeindruckt von dem dadurch entstehenden Labyrinth, dem Wirrwarr von gleichaussehenden Durchgängen, die, jeder für sich, in einen noch konfuser wirkenden Raum führten. Die Priesterin verlor rasch die Orientierung und verließ sich auf ihre Begleitung, der der Weg scheinbar vertraut war. Sie passierten den nächsten Zugang und betraten einen Gebäudeteil, der mindestens dreimal größer als alle vorherigen Räume war; in dessen Mitte befand sich ein riesiger, metallener Ofen von dunkler Farbe, der bis zum Kuppeldach hinführte, und wahrscheinlich das Gegenstück zu dem Schornstein bildete, der auf dem Dach saß. Auf dem Boden verliefen eigentümliche Rinnen, durch die sich zuweilen eine grellorange leuchtende, zähflüssige Masse ihren Weg bahnte. Sie alle führten in die Mitte zu der Ofenvorrichtung hin, unter der sich bei diesen Gegebenheiten ein ganzes Becken voll mit dem flüssigen Gestein verstecken musste. Das plötzlich erklingende, metallische Scheppern aus dem Raum direkt vor ihnen, brachte sie beide zum Aufsehen. "Verschwinde und wage es nicht dich hier jemals wieder blicken zu lassen, du verdorbenes, gewissenloses Scheusal! Raus aus meiner Schmiede, und lass deine blutbesudelten Finger von der Kunst des Schmiedehandwerks!!" Ein weiterer Gegenstand traf scheppernd auf den gepflasterten Boden, und keinen Wimpernschlag später huschte im höchsten Eiltempo eine in ihrer Haltung geduckte Person an ihnen vorbei, die unverkennbar die Flucht angetreten hatte. Aus dem Bogen auf der gegenüberliegenden Seite des kreisrunden Saals trat nun eine Gestalt, feuerte dem Flüchtenden noch einen mittelgroßen Schmiedehammer hinterher, und brüllte Zeter und Mordio in einer Lautstärke, die selbst den Ohren eines Menschen schmerzte. Midoriko hielt sich eben diese zu, musterte den fluchenden Greis, der drohend mit der rechten Faust in der Luft fuchtelte. Auf sie machte er keinen gefährlichen Eindruck, obschon ihr bewusst war, dass es sich auch bei ihm um einen Dämon handelte. Das Gesicht des alten Youkai war mager, die Augen im Grunde zu groß dafür, die ergrauenden Haare zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Er kam ihr so... schrullig vor, und seine weite, in blau und schwarz gestreifte Kleidung verstärkten ihren Eindruck nur noch weiter. "Toutousai." Ungläubig drehte sie den Kopf zu Flúgar, sah dann wieder zu dem greisen Dämon. Das sollte er sein? Toutousai? Der Schmied von Flúgar Schwert, Skýdis? Dieser alte Zausel?! "Was?? Wie...?! Ahhhhhhh!!!" Der vermeintliche Schmied fuhr herum, sprang erschrocken einen Satz zurück, als er sie endlich entdeckte und kippte schließlich nach hinten weg. Er kam nur langsam wieder hoch, keuchte angestrengt, presste die linke Hand auf seine Brust. Dann schaute er sich um, als hätte er etwas verloren, kratzte sich am Kopf, deutete anschließend mit dem rechten Zeigefinger auf Flúgar. "Kenn ich dich nicht irgendwoher?" Es hatte den Anschein, als würde er ernsthaft über seine eigene Frage nachdenken, aber nach einer Weile stand er einfach auf, klopfte sich den nicht vorhandenen Staub von seiner Bekleidung und wandte ihnen den Rücken zu, verschwand wieder im Türrahmen. Aus der Richtung des Loftsdreki grummelte es leise. Dieser Schmied wusste wohl tatsächlich nicht, wen er hier gerade so respektlos im Regen stehen gelassen hatte. Ob das ein gutes Ende finden konnte? Auf einmal erschien er wieder im Kuppelsaal, mit einer langen Zange ein fertig gestelltes Katana weit möglichst von sich fernhaltend, als wäre es giftig oder siedend heiß. Doch keines von beidem war der Fall. Er näherte sich dem Ofen, öffnete eine der verrosteten Luken und warf das Schwert samt Zange in den brodelnden Lavakessel. "Dieser Kaijinbou..." Der Schmied schüttelte den Kopf, schlug die Eisenklappe harsch zu und murmelte vor sich hin. "Heutzutage ist auch auf keinen mehr Verlass..." Urplötzlich hielt er inne, drehte sich in die Richtung der Menschenfrau und des Dämons, die großen runden Augen zu kleinen Schlitzen verengt. Misstrauisch blickte er besonders die junge Miko an, legte die Stirn in noch tiefere Falten. "Und was wollt ihr? Wollt ihr auch noch ein Schwert bei mir in Auftrag geben? Oder am besten gleich mehrere?? Wo bin ich denn hier bloß gelandet?! Komme ich etwa ständig zu euch und gebe eine Bestellung auf, die am besten sofort fertig sein soll?? Tu ich das?! Ohhh, Kami-sama, was ist nur mit dieser Welt passiert..." Toutousai legte einen Arm über sein Gesicht und verbarg es somit hinter dem weiten Ärmel seines dünnen Haoris. "Toutousai!" Der grollende Unterton in Flúgars Stimme mochte Midoriko so gar nicht gefallen; dieser senile Schmied trieb ihn bestenfalls zur Weißglut, und dann würde von der schönen Schmiede wohl nicht mehr viel übrig bleiben - geschweige denn von dem Schmied selbst. "Bist du total verblödet oder was ist mit dir los? Wie konntest du ihr das nur antun..." Es war wirklich eine Geduldsprobe - selbst für mich. Dieser Schmied war die Krönung all dessen, was ich bis jetzt erlebt hatte; wie lange er schon heulte, wusste ich nicht einmal mehr, aber das, was er dabei von sich gab, würde er früher oder später bereuen. Flúgars Laune wurde beständig schlechter. "Mein Meisterstück... was hast du nur damit angestellt, du übergroßer Schlangensäugling?" Übergroßer Schlangensäugling...? Toutousai ritt sich selbst immer tiefer in die Misere hinein; kannte er Flúgar etwa doch nicht und verspielte gerade nichtswissend sein Leben? Wie konnte man nur so... vollkommen blöde agieren? Der Loftsdreki knurrte bedrohlich, der Schmied schien das jedoch gar nicht wahrzunehmen. Mir wollte einfach nicht klar werden, wie man sich so offensichtlich bescheuert verhalten konnte, wie dieser Typ hier. Resignierend schüttelte ich den Kopf, seufzte leise. Es hatte keinen Sinn. "Kannst du es reparieren, Toutousai-san?" Völlig aus seinem Kontext gerissen, schaute dieser auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und betrachtete eindringlich die Klinge des Katanas. Nachdenklich legte er eine Hand ans Kinn, fuhr mit einem Finger über die unübersehbare Kerbe. "Vielleicht... vielleicht auch nicht..." Eine ganze Weile geschah nichts, Toutousai starrte ins Leere, Flúgar schwieg, und ich kam mir reichlich überflüssig vor. Was ging im Kopf des Schmiedes wohl vor sich? Überlegte er tatsächlich, wie er Skýdis reparieren könnte oder aber überdachte er bloß seinen bereits vorhin erarbeiteten Fluchtplan, der bei Flúgars momentaner Gemütsverfassung ohnehin fehlschlagen würde? Der Alte drehte den Kopf in meine Richtung, durchbohrte mich förmlich mit seinem eindringlichen Blick; mir selbst war nicht wohl bei der Sache. Was wollte er denn von mir? "Ohhhh... wie schön...." Völlig zusammenhangslos streckte er die Hand nach mir aus. Ich befürchtete das Schlimmste, denn das Allerletzte, was ich jetzt brauchte, war ein seniler Greis, der nichts Besseres zu tun hatte, als zu grapschen. Instinktiv wich ich zurück, und das gerade noch rechtzeitig, denn keinen Augenblick später landete der Schmied bereits mit dem Gesicht voran auf dem harten Steinpflaster. "Rühr sie nicht an." Der Loftsdreki stand hinter ihm, und insofern ich die Lage zu beurteilen wusste, hatte er diesem perversen Greis Skýdis weiße Schwertscheide kräftig über den Hinterkopf gezogen. Ächzend rappelte sich der alte Schmied wieder auf, rieb sich leise fluchend die schmerzende Stelle an seinem Kopf. Dann wandte er sich zu Flúgar um, und zeterte ungehalten los. "Ich meine doch nicht deine Freundin, du Idiot, sondern den Kristallsplitter, den sie bei sich hat! Was denkst du denn von mir, he?" Erleichtert atmete ich aus, Toutousai war also doch keiner von dieser Sorte... Kristallsplitter? Das Kleinod, das die alte Okashisa mir für Inazuma gegeben hatte? Woher wusste der Schmied davon? Ich zog den Splitter aus meinem spärlichen Reisegepäck hervor, blickte Toutousai misstrauisch an. Wie hatte er das wissen können? Und was wollte er eigentlich damit anfangen? Der greise Dämon lehnte sich vor, nahm den Splitter von meiner Handfläche und beäugte diesen eine ganze Zeit lang ohne ein Wort darüber zu verlieren. Ich war nicht ganz sicher, ob er nun ernsthaft darüber nachdachte oder ob es wieder nur so schien... "Ich denke... hmm, da dürfte etwas zu machen sein..." Er murmelte unverständlich vor sich hin, schenkte weder mir noch Flúgar in irgendeiner Weise weiterhin Aufmerksamkeit. Letzterer schien sich mit der momentanen Situation zufrieden zu geben, hielt es daher augenscheinlich nicht mehr für nötig, noch einen Augenblick länger hier zu verweilen. Ich blieb. Was sollte ich ihm folgen? Mit Sicherheit war er immer noch beleidigt und würde mich ohnehin ignorieren, links liegen lassen. Ein leises Seufzen kam über meine Lippen; und was sollte ich jetzt tun? "Hast du Kummer, Mädchen?" Toutousai sah mich nicht an, saß mit dem Rücken zu mir und beschäftigte sich ausgiebig mit Skýdis und dem Kristallsplitter. Ich hielt einen weiteren Seufzer zurück. "Deine Worte haben Flúgars Laune nicht gerade verbessert..." Der Alte nickte leicht, legte das Schwert des Loftsdreki in die grellorange und feurigrot schwelende Glut. "Er war schon immer ein wenig... nun ja, kompliziert." Schon immer? Ich schaute auf, bohrte dem Dämon meinen Blick förmlich in den Rücken. Sollte das heißen, Toutousai kannte Flúgar doch und wusste, wie schwierig es mit ihm zuweilen sein konnte? "Du kennst ihn?" Der Angesprochene wand sich um, setzte sich mir gegenüber. "Flüchtig, würde ich sagen... aber als sein Vater damals dieses Schwert bei mir in Auftrag gab, habe ich so Einiges von diesem über ihn erfahren. Schwieriger Charakter, der keine Autoritäten akzeptiert und sich Befehlen widersetzt; stur, eigenwillig, unabhängig... ein nicht zu bändigender Wildfang, der seine Lebenserfahrung vorzugsweise durch Risiken in Kämpfen und heftigen Auseinandersetzungen sucht... und das ist eben etwas, das Minamikaze nicht gutheißen kann." Ich blinzelte, blickte ihn fragend an. Wusste der Alte tatsächlich so viel über Flúgar? Aber warum provozierte er ihn dann absichtlich...? "Minamikaze?" Toutousai nahm seinen Schmiedehammer zur Hand, drehte sich wieder zu seinem Glutofen um, und begutachtete die glühende Klinge des Katanas mit einem prüfenden Blick, nickte beiläufig. "Sein Vater. So wie ich das mitbekommen habe, sind aufgrund solcher Streifzüge schon herbe Verluste in der Familie aufgetreten... ich sage dir, das war seinerzeit keine schöne Geschichte, das reinste Blutbad... ach, und all das nur wegen diesem vermaledeiten Schwert!" "Hat einer von euch Flúgar gesehen?" Suchend schaute ich mich um, aber weit und breit gab es keine Spur von dem Loftsdreki. Wo war er nur hingegangen, nachdem er Toutousais Werkstatt vorhin so abrupt verlassen hatte? "Ihr meint Flúgar-sama, Miko-sama?" Erstaunt über die Anrede blickte ich auf, und sah einem verhältnismäßig jung erscheinenden Dämon ins Gesicht, dessen kecker Ausdruck mich ein wenig stutzig machte. Ob ich jemandem wie ihm trauen konnte? Aber was blieb mir Anderes übrig? Ich nickte leicht. "Er ist schon eine ganze Weile fort... um ihn einzuholen ist es sicher zu spät, also warum bleibt Ihr nicht hier, bis das Schwert repariert ist?" Unbewusst runzelte ich die Stirn, warf ihm einen fast gleichgültigen Blick zu. Jemanden wie Flúgar konnte man nicht so einfach alleine machen lassen, was ihm gerade einfiel... "Ich denke, es ist besser, wenn ich ihm nachgehe... in drei Tagen sind wir spätestens zurück." Damit ließ ich ihn stehen, eilte mit raschen Schritten aus der Schmiede. Wo konnte Flúgar denn nur so plötzlich hin sein? Und warum hatte er mich so offensichtlich hier gelassen? Aber das passte zu ihm, dieses Verhalten war absolut typisch... ּ›~ • ~‹ּ Die Nacht war vergangen, und die Sonne stieg im Osten langsam immer höher am Himmel auf, als Kaneko endlich eine etwas frischere Spur von Flúgars Witterung erhaschen konnte. Unter Midoriko und ihrer halbwegs genesenen Gefährtin erstreckte sich wieder ein undurchdringlich scheinender und nicht enden wollender Nadelwald, der jahrhundertlang ungehindert gewuchert haben musste, denn selbst, wenn Kanekos flammende Pfoten beinahe die Wipfel der hohen Tannen und Föhren berührten, konnte man durch das dichte, sattgrüne Nadelgewirr nicht bis zum Waldboden sehen. Die Priesterin seufzte genervt auf. Die Suche nach diesem verantwortungslosen Drachen hatte sie die ganze Nacht gekostet, und sie hatte für den Moment nicht das Gefühl, als dass sie bald erfolgreich sein würde. Was dachte sich Flúgar bei solchen Alleingängen? Wohl nichts, ansonsten hätte er es sicherlich anders angestellt. Plötzlich hielt der Nekoyoukai inne, blieb in der Luft stehen, und bewegte ihre Herrin so zum Aufblicken. Kurz vor ihnen lag eine riesige, ovale Lichtung, die eher nach einem kahlen, von Menschen geschaffenen Fleck Land aussah, als eine natürliche Schneise im Wald. Der Boden war öde, für Vieh oder Anbau von Pflanzen nicht geeignet; wozu dieser lebensfeindliche Bereich einstmals gut gewesen war, erkannte sie erst, als Kaneko die Höhe verringerte und sanft auf dem Boden aufsetzte. Vor ihnen ging es gut und gerne zwanzig Schrittlängen senkrecht in die Tiefe, es war vielmehr eine Schlucht oder gar ein Tal als eine Lichtung. Der Boden und die Wände bestanden aus massivem Fels, sandfarbenem Gestein, das auf Midoriko nicht gerade den stabilsten Eindruck machte. Es musste ein Sandsteinsteinbruch sein - besser gesagt, es war einmal einer gewesen. Niemand war hier, und die dürftigen Hütten, die man am gegenüberliegenden Waldrand ausmachen konnte, waren zerfallen und längst nicht mehr bewohnt. Neugierig erkundete die junge Frau die Umgebung, lief den Rand der Schlucht ab und sah sich nach möglichen Hinweisen für die Aufgabe des Steinbruches um. Er war keinesfalls erschöpft, und ihr schien es, als könnte sie unten in der Schlucht an einigen gesonderten Felsen noch Werkzeuge zu deren Bearbeitung erspähen. Ob etwas Außergewöhnliches vorgefallen war, das die Arbeiter vertrieben oder sogar getötet hatte? Hinter der nächsten Kurve blieb die Miko plötzlich erstaunt stehen. In der frontal zu ihr befindlichen Felswand war ein riesiges Loch, eine Höhle bei genauerer Betrachtung, die tief unter die Erde führen musste. Und nicht weit von ihr entfernt, gab es einen einigermaßen flachen Abstieg hinunter in die Schlucht. Sollte sie hinunter gehen und die Höhle betreten? Irgendetwas an dieser steinernen Höhlung war seltsam... sie spürte etwas, schwach, aber es war da, und es verlangte ihre gesamte Aufmerksamkeit, ihr Interesse. Sie musste dorthin, sie wollte ihr Gefühl ergründen - warum war ihr selbst unklar, doch in ihr erwachte etwas, das sie förmlich zwang, sich in Bewegung zu versetzen. Wie in Trance machte sie einige Schritte vorwärts, doch plötzlich ließ ein raschelndes Geräusch sie zusammen schrecken und herumfahren. Jemand war auf dem Weg hierher, und er war nicht mehr fern. Wie angewurzelt stand sie da, unfähig, sich zu regen oder etwas zu tun. Nun wurde es ihr langsam aber sicher mulmig zumute, denn dieser jemand kam beständig näher und näher... Mit einem Mal wurde sie unsanft nach hinten gerissen und ins Gebüsch hinter die Bäume gezogen. Es war eindeutig eine Person, die sie hinterrücks gepackt hatte und ihr nun den Mund zu hielt. Seltsamerweise, entgegen ihrer hektischen Vermutung blieb ihre Angst vollkommen aus, und sie leistete keine Gegenwehr, fühlte sich sicher, beschützt. Aber...aus welchem Grund? "Was willst du hier?" Diese Stimme kannte sie, definitiv. Auch, wenn sie sie gegenwärtig in ihrem intensiven dunklen Klang beinahe direkt an ihrem Ohr vernahm, der vage Hauch eines Atems ihren Hals streifte. Ein heißkalter Schauer jagte ihren Rücken hinab, entlockte der Priesterin ein leichtes Zittern, das gemischte Empfinden in ihr hochtrieb, bittersüße Gefühle. Schließlich ging der Moment vorbei, und er ließ von ihr ab, dem gewiss, dass sie keine lauteren Geräusche mehr von sich geben würde. Zudem wusste er, dass diese eigenartigen, in lange weiße Gewänder gehüllten Gestalten jetzt außer Hörweite waren und sie weder ihn noch sie durch Worte entdecken würden. "Ich könnte dich dasselbe fragen." Natürlich war er es, wer auch sonst? Was hatte sie denn erwartet? Flúgar. Aber was tat er hier? Warum war er hierher gekommen? Spürte er ebenfalls diese merkwürdige Anziehung, die von dieser Höhle ausging? "Dieses Youki... es ist das eines Drachen." Midoriko sog die Luft zischend durch Mund und Nase ein, stellte sich ihm gegenüber, und war kurz davor, die Hände in die Hüften zu stemmen, und ihm in aller Deutlichkeit klar zu machen, was sie davon hielt. "Und deshalb bist du hierher gekommen? Weil du wieder einen Drachen töten willst, der die Reviergrenzen missachtet hat? Das ist doch wirklich nicht zu fassen..." Sie sparte sich weitere Schimpftiraden. Er würde ihr ohnehin nicht zuhören, und auf sie zu hören, kam bei ihm schon rein aus Prinzip nicht infrage. Kopfschüttelnd wandte sie sich zum Gehen um, dieser Loftsdreki dachte wirklich so simpel wie ein Tier! Wieso war sie ihm überhaupt nachgegangen? War sie doch so naiv? "Nein. Es ist ein anderes als gestern, und dieses kenne ich..." Flúgars Blick verfinsterte sich drastisch, und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er in die Richtung des ehemaligen Steinbruchs blickte. Dennoch hielt er das Aufflackern seiner Aura zurück. "Du kennst es? Ist es jemand aus deiner... Sippschaft?" Sein Ausdruck veränderte sich leicht, seine Züge wurden hart, und ein kehliges Knurren drang nun bis zu ihr. "Dieses Mal entkommt er mir nicht... dieses Mal werde ich dem Leben dieses ehrlosen Eldursdreki ein Ende setzen!" Eldursdreki? Wie viele offene Rechnungen hatte er denn noch? Diesmal jedoch würde ich ihn nicht so unbesonnen gewähren lassen, denn ich wollte bei Weitem nicht, dass es auch nur zu einer ähnlichen Situation kommen würde, wie das letzte Mal - die Sache mit Shiosai. Darauf konnte ich getrost verzichten, und deshalb würde ich die Sache gleich vom Keim auf ersticken. "Ich bitte dich, beruhige dich erst einmal wieder. Bitte, Flúgar, ich will nicht, dass dir so etwas zustößt wie das letzte Mal..." Sicher sorgte ich mich um ihn, wie sollte ich denn sonst reagieren? Ich hatte Angst um ihn, er war mir nicht gleichgültig... "Soll ich Afis Mörder die Gelegenheit bieten noch einmal zu fliehen?" Wieder dieser Ausdruck... Afi... und dieser wurde ermordet? Er wollte keine Antwort, es war eindeutig eine rhetorische Frage. Ich seufzte lautlos; er verstand nicht, was ich meinte. Natürlich hatte ich kein Recht darauf, ihn von seiner Rache abzubringen oder es zu versuchen - meiner gegensätzlichen Meinung zu diesem Thema zum Trotz. Hastig schüttelte ich den Kopf, ließ dabei allerdings seinen Blick nicht los. Nicht noch einmal... es musste doch einen Weg geben, ihn zurückzuhalten! Beschwichtigend hob ich die Hände, trat einen Schritt auf ihn zu. "So meine ich das nicht. Ich möchte nur, dass du die Umstände überdenkst und dich nicht provozieren lässt. Irgendetwas stimmt hier nicht... du kannst deine Aura verbergen; heißt das nicht, dass er das auch kann? Und ist es dann nicht vollkommen leichtsinnig von ihm, es in dem Revier deiner Sippe nicht zu tun?" Für mich erschien das Ganze wie ein abgechartertes Spiel. Jemand versuchte offenbar, Flúgar in einen Hinterhalt zu locken, und dazu zog er alle Register. Der Gegenspieler des Loftsdreki würde mit allen Mitteln kämpfen, das war glasklar. Mir kam es so offensichtlich vor, aber ihm...? Seine Meine schlug ins Nachdenkliche um. Anscheinend war ihm der Gedanke tatsächlich noch nicht gekommen. Nach und nach erschien ein schwer zu deutender Ausdruck auf seinem Gesicht, den ich so noch nie bei ihm gesehen hatte. Dann wandte er sich von mir ab, drehte mir den Rücken zu, und die Angst, dass er entgegen dem, was ich ihm gerade gesagt hatte, doch ging, spülte über mich hinweg wie eine Flutwelle über eine Sandbank. Hastig ergriff ich den Ärmel seines Haori, und erst da bemerkte ich, dass er sich nicht mehr bewegte, nicht die Absicht hatte, sich kopfüber ins Ungewisse zu stürzen. "Spürst du es?" Seine Stimme schlug einen mir unbekannten Ton an, klang kehliger als sonst. Mir war, als würde etwas wie Resignation in ihr mitschwingen - womöglich täuschte ich mich gehörig. "Meinst du das Youki? Ja, sicher tue ich das..." Diese Situation gefiel mir von Sekunde zu Sekunde weniger. Hier ging es nicht um eine beliebige Belanglosigkeit, die Angelegenheit mit dem hiesig spürbaren Youki nahm Flúgar nicht auf die leichte Schulter. Afi... Seine Ermordung musste den Loftsdreki sehr geschmerzt haben, und hatte in seinem Innersten Wunden gerissen, deren Narben für mich jetzt sichtbar wurden. Flúgar würde sich niemals umstimmen lassen, das wurde mir bewusst, doch auch dadurch würde er nicht über seinen Schmerz hinwegkommen. Mir wurde bei dieser Vorstellung schwer ums Herz. Er litt. Und er wusste, dass ich es bemerkt hatte... "Was spürst du?" Unwillkürlich fasste ich ihn mit der Hand am Arm; nun verstand ich, warum er mich nicht ansah, aber ich wollte nicht, dass er sich alleine gelassen fühlte. Vielleicht war es ihm kein Trost, aber er sollte wissen, dass ich hier war, dass wenigstens ich ihm, soweit ich es vermochte, Beistand leistete. Egal, auf welche Weise. Seine Frage hallte erneut durch meinen Kopf. Was ich spürte...? Ich sammelte meine Konzentration, schloss die Augen. Es war mehr, als ein gewöhnliches Youki, viel mehr... selbst hinter diesem zunächst unscheinbaren Bruchteil stand eine Macht, die mir heillose Angst einflößte. Wer um alles in der Welt konnte bloß eine Aura wie diese ausstrahlen? Ein Schaudern durchlief meinen Leib. "Ich spüre... Hitze, die Hitze eines infernalischen Feuers... Flammen, die alles verzehren und bis zum Himmel aufschlagen, unbändig sind... Rauch, der jedes Leben erstickt... und dann, nichts, Schwärze..." Mir war, als würde ich mitten in einem undurchdringlichen Ring des Feuermeers stehen, und es gab keinen Ausweg. Der beißende Rauch nahm mir die Sicht und den Atem, erstickte den Schrei, der meiner Kehle zu entrinnen versuchte. Meine Augen tränten, ich schlang die Arme um meinen Körper, denn die Hitze würde mir in wenigen Augenblicken die Haut bei lebendigem Leib verbrennen... Keuchend öffnete ich die Augen, sank auf die Knie. Meine Hände zitterten, mein Körper bebte. Es dauerte, bis ich mich wieder fing, und nur langsam, vorsichtig hob ich den Kopf, und suchte Flúgars Blick. Er wich mir nicht mehr aus, aber es löste sich bloß noch ein Wort von seinen Lippen. "...Asche." ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 23: >"Gefahr ist im Verzug, doch es misslingt, die nötige Macht für eine Abwendung dessen aufzubringen. Ein Hinterhalt, der Mensch und Dämon in eine Lage ohne Aussicht stürzt, und die Kalkulationen der Feuerfänge zu bestätigen scheint - jedoch entscheidet am Ende der eiserne Wille, nicht das Schicksal..." *» Valkreppa Kapitel 23: *~Valkreppa~* ------------------------- "Dinge sich selbst zu überlassen, führt vom Regen in die Traufe." – Murphys Gesetz Kapitel 23 - Valkreppa -Dilemma- *Was genau ist es, das an einer Tat schlussendlich zählt? Kann man ihren Wert an den resultierenden Umständen messen? Oder sollte man den Schwerpunkt auf die Wertung der Absichten legen, die zu dieser Aktion hinführten? Hat jemand, der unabsichtlich eine Katastrophe heraufbeschwört, die entstehende, schwerlastige Schuld zu tragen oder nicht? Und ist es gerechtfertigt, eine Person zu verurteilen, nur weil sie nach bestem Gewissen handelte, ohne zu wissen, was für fatale Konsequenzen dies haben würde?* ּ›~ • ~‹ּ Den Rest des Tages über verbrachte Flúgar mit Schweigen. Einem perfekten Schweigen, das mir rasch so unerträglich wurde, dass ich in meiner Verzweiflung begann mit Kaneko zu sprechen. Sicher, sie konnte mir keine Antwort in Worten zurückgeben, doch sie hörte zu, und ich hatte das Gefühl, dass sie zumindest einen Teil von dem, was ich ihr erzählte, auch verstand. Wir hatten uns zwischenzeitlich ein wenig weiter in den Wald hinein begeben, und folgten einem kleinen Pfädchen, dass sich geschickt durch die Bäume und Sträucher hindurch wand, also unter Umständen ein Weg, den die Steinbrucharbeiter genutzt hatten. Flúgar war zurückgefallen und gab sich keine Mühe aufzuholen. Er war mit seinen Gedanken an einem völlig anderen Ort, vergaß das, was um ihn herum geschah und achtete nicht mehr darauf. Diese Sache ging ihm nahe, belastete ihn. Ich wusste nicht ob, und wenn wie ich ihm helfen konnte, doch so wie ich ihn kannte würde er ohnehin ablehnen. Und das, obwohl er möglicherweise durchaus nach jemandem suchte, der bei ihm war und ihm so einen Teil der Last abzunehmen. Vor der nächsten Biegung verlangsamte ich meine Schritte, wartete, bis er allmählich wieder aufschloss, ehe ich weiterlief. Ich ließ ihn nicht außer Sichtweite kommen, denn immer noch fürchtete ich, dass er dann einfach verschwinden würde um blindlings seinen Rachegelüsten nachzugehen; und dieses Risiko war mir eindeutig zu hoch. Wenn Flúgar danach sinnte, den Eigentümer jenes schrecklichen Youkis zu töten... wie würde es ausgehen, wenn man bedachte, wie er aus dem Kampf mit Shiosai hervorgegangen war? Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Das wollte ich mir nicht einmal ausmalen... Als ich wieder nach vorne sah, erblickte ich auf einer flachen Anhöhe eine Hütte, die im Gegensatz zu den anderen in diesem Umkreis, noch einen bewohnbaren Eindruck machte. Kaneko reckte schnuppernd die Nase in die Luft, unruhig zuckten ihre schwarzgespitzten Schweife hin und her. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf, und mit einem Mal wirkte der Nekoyoukai doppelt so pelzig wie zuvor. Sie fauchte leise, bereit, sich bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr zu verwandeln. Ich schaute mich um, konnte allerdings nichts Verdächtiges entdecken oder erfühlen. Es konnte immerhin sein, dass selbst Kaneko sich einmal irrte und grundlos Alarm schlug; ich verstand ihren Unmut nicht. Daher achtete ich nicht weiter darauf und ging bis zur Hütte, klopfte an den aus dunklem Holz gefertigten Rahmen des Eingangs. "Hallo?" Zögerlich schob ich die Reisstrohmatte zur Seite und blickte ins Innere der kleinen Behausung. Es war geräumig gehalten, die Glut an der Feuerstelle schwelte noch, und an den Wänden unter den verschlossenen Fenstern standen kleine Weihrauchschalen. Ein angenehmer Geruch strömte mir entgegen. Nach alldem zu urteilen lebte hier tatsächlich noch jemand. "Hallo? Ist da wer?" Ein wenig lauter wiederholte ich meine Frage, verstummte aber sofort, als ich ein leises Hüsteln aus der hintersten Ecke des Raumes hörte. Dort richtete sich nun eine zunächst unerkenntliche Gestalt auf, drehte den Oberkörper halbwegs in meine Richtung. "Wer da? ...Reisende? Sucht ihr einen Platz zur Rast?" Ich überlegte einen Moment, nickte dann aber doch. Eine Pause würde uns allen sicherlich nicht schaden. Und wenn ich Flúgars Zustand bedachte... ich schüttelte hastig den Kopf, daran wollte ich gar nicht denken... "Kommt nur herein, und leistet mir ein wenig Gesellschaft. Sonst ist ja niemand hier..." Der alte Mann setzte sich vor die Feuerstelle, legte trockenes Reisig nach und bat darum, dass wir uns ebenfalls niederließen. Ich kam seiner Bitte höflich nach, während Kaneko sich fortwährend dagegen sträubte, die Hütte zu betreten und Flúgar sich ohne Eile bloß langsam annäherte. Den Einfall hier, im Haus eines Menschen, kurz zu verweilen und Atem zu schöpfen, fand wohl nicht seine Zustimmung. Aber zurzeit beschäftigten... nein, eher quälten ihn andere Gedanken. Bedauerlicherweise... Etwas Anderes kam mir in den Sinn, und ich hob ruckartig den Kopf, fixierte mein Gegenüber. "Verzeihung, Ojiisan, könntet ihr mir eine Auskunft geben?" Der Angesprochene musterte mich eindringlich, besah sich anschließend auch ausführliche die beiden Youkai, also Kaneko und Flúgar, die jetzt letztendlich auch die kleine Behausung betreten hatten und nun deutlich als meine Begleitung zu verstehen waren. Der Katzendämon grummelte noch immer leise, war Flúgar jedoch bis ins Haus gefolgt. Was sollte ich davon halten? Vertraute sie ihm mehr als mir? Oder war das mehr eine Begebenheit im Punkte Dämoneninstinkt? Da war sie bei mir wahrlich an der falschen Adresse... "Selbstverständlich, Miko-sama, wie könnte ich Euch einen Dienst verweigern?" Er klang für mich ehrlich, aber auf einmal beschlich mich ein schlechtes Gefühl... Der Alte verbarg etwas, doch auf die vorherrschende Distanz blieb mir weiterhin unklar, um was es sich dabei handelte. Möglicherweise war es absolut unwichtig, und im Grunde sollte ich froh sein, dass sich mir sein wahres Sein im Moment nicht aufdrängte. "Wisst ihr zufällig, was mit dem Steinbruch geschehen ist? Mir scheint, als wäre er noch längst nicht erschöpft, aber die Arbeiter sind fort." Das zerfurchte Gesicht des grauhaarigen Mannes war zunächst ausdruckslos, doch dann schaute er auf, und ich vermeinte in seinen Augen ein seltsames Aufleuchten zu entdecken. Ein durchtriebenes Glimmen, das mich schaudern ließ. War es in jenem Augenblick wirklich eine gute Sache, dass mir seine wahren Absichten verborgen blieben? "Was denkt ihr, was passiert ist, Miko-sama?" Die Art, wie er sprach, missfiel mir immer deutlicher. Dieser Greis wurde mir unheimlich, etwas stimmte hier nicht, und nun offenbarte es sich. Wieso hatte ich gezögert und mein flaues Gefühl ignoriert? Plötzlich erstarb der Laut, den Kaneko dauerhaft von sich geben hatte, und ein dumpfes Geräusch brachte mich zum Herumfahren. Sie lag regungslos am Boden, reagierte weder auf ihren Namen noch auf Berührungen. Was war hier los? War Kanekos Verhalten etwa doch gerechtfertigt gewesen? Mit einem Mal wurde es mir bewusst - was hatte ich nur angerichtet...? Eher am Rande, aus den Augenwinkeln heraus, bekam ich mit, wie Flúgar, genau wie der Nekoyoukai, einfach zusammenbrach, schlagartig das Bewusstsein verlor und somit unerreichbar für mich wurde. Ein Anflug von Panik überkam mich augenblicklich, und mehr, als den ergrauten Mann fassungslos anzustarren, brachte ich nicht fertig. Was um alles in der Welt ging hier vor meinen Augen vor sich? Und wie hatte ich das nur übersehen können? Was hatte ich getan? Wie hatte ich nur so blind sein können? Was sollte ich denn jetzt nur tun? Tränen der Verzweiflung stiegen mir in die Augen, ich war ratlos und nicht mehr im Stande zu handeln. In mir herrschte Panik und Zerrissenheit, ich machte mir schreckliche Vorwürfe, schalt mich selbst für meine Dummheit, suchte fieberhaft nach einem Ausweg für diese hoffnungslos erscheinende Lage. Aber es war sinnlos, mein überforderter Verstand förderte nichts mehr zu Tage, dass mir oder den anderen beiden im Geringsten hätte helfen können. Mir war, als würde die Welt über mir hereinbrechen und die Trümmer des Himmels fielen zielsicher auf den Flecken Erde zu, auf dem ich stand. Eine Kollision war unvermeidlich, und ich hatte selbst Schuld, weil ich mich nicht rührte und ihnen so nicht auswich... Das Letzte, was ich durch den Schleier meiner eigenen Bestürzung und Angst wahrnahm, bevor alles finster wurde, waren unzählige, in lange Gewänder gehüllte Gestalten, deren leere Augen und Gesichter ins Nichts blickten, und deren Aufmerksamkeit weder mir noch Kaneko galt... ּ›~ • ~‹ּ Es dauerte eine schiere Ewigkeit, bis sich Flúgar den nebeligen Tiefen seines Dämmerzustandes zu entreißen vermochte, und wieder einigermaßen zu Bewusstsein kam. Er fühlte sich schwach und ausnahmslos ausgelaugt. Entgegen dem konnte er sich jedoch nicht erinnern, dass er sich übermäßig angestrengt oder verausgabt hätte, bevor man ihn gegen seinen Willen gewaltsam in jenen eigenartigen Dämmerschlaf gestoßen hatte. Jetzt wusste er, was in ihm dieses befremdliche, widerstrebende Gefühl ausgelöst hatte... die Weihrauchschalen. Die Benommenheit, die ihn zuerst befallen hatte, war unglaublich schnell dazu übergegangen ihn vollkommen wehrlos werden zu lassen. Wo war er nur? Seine Nase sagte ihm, dass er sich an einem feuchten, modrigen Ort befand; es roch nach Wasser, Schimmelpilzen, Flechten und Moos. Auch der Geruch von unzähligen verschiedenen Lebewesen lag in der stehenden Luft. Menschen, Tiere, Dämonen... Nur langsam öffnete er die Augen, hob müde die Lider und blickte einer massiven, von hellgrün gefiederten Kletterpflanzen überwucherten Felswand entgegen, die steil nach oben vor ihm aufragte. Winzige Wassertröpfchen perlten stetig an dem frischen Grün herab, sammelte sich am Boden zu kleinen Pfützen, die sich an der Kante des Gesteins miteinander verbanden. Das Geräusch von zu Boden fallenden Wassertropfen mischte sich mit dem Knistern von Feuer. In der Nähe brannten mehrere kleine Flammen, Fackeln, die ihr spärliches Licht kaum bis zu ihm warfen. Eine Art Zwielicht beherrschte den Raum, verursachte zuckende Halbschatten, die wie irre Gestalten an den Wänden auf und ab tanzten. Ihm mochte es einfach nicht gelingen, einzuschätzen, was genau vorgefallen war und wie sich seine Situation gestaltete; nur, dass sie in keinem Fall gut für ihn sein konnte... "Bist du wach?" Die sanft klingende Stimme einer Frau durchschnitt die leise Melodie der Höhle, verursachte in Flúgar eine Art Kurzschlussreaktion. Überall, unter jeden Umständen hätte er diese Person wiedererkannt... Sein Körper spannte sich bis auf das Äußerste an, der Loftsdreki presste die Zähne aufeinander und mobilisierte die allerletzten Kraftreserven, die er noch vorzuweisen hatte. Aber wie sehr er sich auch bemühte, es blieb sinnlos. Nicht ein Wort verließ seine Lippen, sein Leib rührte sich nicht; seine Lungen gehorchten einfach nicht, und trieben nur gerade so viel Sauerstoff in sein Blut, wie er zum Überleben in einer Art tiefem Koma brauchen würde. "Huh, wie gemein von mir. Entschuldige, du kannst ja nicht antworten." Sie lehnte sich leicht nach vorne, stützte die von weißem Stoff verhüllten Unterarme auf eine Reihe von querliegenden Gitterstäben. Für sie war es ein reines Vergnügen, den stolzen Loftsdreki so mittellos zu sehen. "Du machst einen ziemlich erbärmlichen Eindruck, weißt du das?" Ein Lächeln verzog erneut die rosigen Lippen, als sie ihr Opfer eingehend betrachtete, zusah, wie er seine stille Auseinandersetzung mit seinem eigenen Körper ausfocht. Er hatte keine Chance, es war sinnlos, doch es war eben dieser naive Starrsinn, der sie amüsierte. Jemanden wie ihn zur Aufgabe zu zwingen, seinen Willen zu brechen, musste süßer schmecken als jede Rache, die sie an ihm nehmen konnte. Sie würde dieses Ziel erreichen und in einen Hochgenuss kommen, den sie so rasch nicht mehr vergessen würde. Darauf sollte es hinauslaufen. Allein das war alle Strapazen wert, die sie auf sich genommen hatte... "Bist du soweit bei Verstand, dass du dich an mich erinnerst, Flúgar?" Ansonsten wäre es reine Zeitverschwendung mit ihm zu sprechen. Ohnehin würde er das Bewusstsein nicht mehr lange halten können, denn die spezielle Kräutersaftmischung in den Weihrauchschalen, die auch hier im Raum aufgestellt worden waren, verfehlte ihre Wirkung nicht. Bedächtig hob die Frau die Arme, streifte sich die Kapuze vom Kopf. Flúgar lag auf der falschen Seite, um sie sehen zu können, aber dieses Antlitz würde er niemals vergessen. Ihre eher zart erscheinenden Züge wurden von dem wilden, unbändigen Ausdruck, der auf ihnen lag, förmlich geschluckt. Tiefrote Haare, die sich im Ansatz schwarz färbten, rahmten dieses Gesicht ein, und die stechenden Augen, deren Farbe die von flüssigem Silber war, schienen Funken zu sprühen, gleichgültig, was sich in ihnen selbst verbarg. Er erinnerte sich gut. "...Aska..." Sie schmunzelte, als ihr Gefangener von einem heftigen Hustenkrampf geschüttelt wurde, und die Anspannung, die seine Muskeln beherrschte, aus ihm wich. "Richtig. Und ich werde mich gemäß dem, was du mir angetan hast, bei dir revanchieren. Darauf kannst du dich verlassen." Als sie ihn mit einem abschließenden Blick bedachte, wurde der Ausdruck in ihren Augen stahlhart, und wie von selbst legte sich ihre Hand dabei auf die linke Hälfte ihres Gesichtes. Drei längliche Narben, die nur von einem Krallenhieb stammen konnten, verliefen von ihrer Stirn über das linke Auge bis hinab zu ihrer Wange. Natürlich war es sein Verschulden, ebenso das Erblinden ihres linken Auges. Aber diese Entstellung war nicht der Hauptgrund für diesen Rachefeldzug, damit hätte sie möglicherweise weiterleben können, ohne ihn dafür bis aufs Blut zu hassen. Es steckte mehr dahinter; Flúgar hatte ihren Bruder getötet, und das würde er zutiefst bereuen... Begleitet von einem leisen Stöhnen schlug Midoriko die Augen auf, brachte ihren Körper automatisch in eine aufrechte Position. Ächzend befühlte sie mir der rechten Hand ihren Hinterkopf, besah sich eher nebenbei ihre unmittelbare Umgebung. Ihr Kopf schmerzte höllisch, es war dunkel, und der harte Untergrund, auf dem sie bis eben gelegen hatte, war eiskalt. Aber es war auch sonst nicht wärmer an diesem Ort, und als sie zur Decke empor schaute, bewahrheiteten sich ihre ärgsten Befürchtungen. Sie musste in der Höhle sein, die sie zuvor im Steinbruch entdeckt hatte. Die Gitterstäbe zu ihrer Linken bewiesen, dass sie eine Gefangene, und somit dem ausgesetzt war, der sie hier festhielt. Doch wer war das? Ein Gedanke schoss ihr blitzartig durch den Kopf, und sie blickte sich hektisch um. Kaneko war nicht hier, ebenso wenig wie Flúgar. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie auch kein anderes Wesen, sei es nun Mensch oder Dämon, sehen. Nicht sehen... aber spüren! Die Auren, die ihr sehr nahe waren, mussten die Wächter sein, und das waren allesamt Youkai. Midoriko dachte nach. Derjenige, der sie hier hatte einsperren lassen, kannte sie offensichtlich sehr schlecht oder gar nicht. Die Wachen würde sie mit einem einzigen Shinkon No Kori läutern und so ausschalten können... Schritte hallten durch die finstere Schwärze der endlos wirkenden Gänge, ließen die Priesterin in ihren Überlegungen abrupt inne halten. Denn die Person, die sich ihr so beständig näherte, war zweifellos die, deren wild flammendes Youki sie schon einmal gespürt hatte. Midoriko richtete sich auf, den Blick fest und entschlossen auf den Punkt gerichtet, wo sie das Auftauchen des Dämons vermutete. "Sieh mal einer an, du bist auch schon wieder bei Sinnen. Hast du gut geschlafen, Mensch?" Aus dem dunklen Schattenvorhang trat eine ganz in weiße, weite Gewänder gehüllte Person, die von zwei unerkenntlichen Gestalten begleitet wurde, die in ihrer äußeren Hand jeweils eine Lanze hielten. Ihre Stimme war weich, und melodische, ihr Tonfall jedoch eindeutig. Midoriko unterdrückte ein Zähneknirschen. Wieso sagte sie auch? "Wo ist er? Und was soll das hier?" Die fremde Frau kicherte unscheinbar, hielt sich die Hand vor den Mund und brach schließlich in schallendes Gelächter aus. "Das wirst du schon noch sehen, Schätzchen. Aber ich habe auch eine Frage an dich. Was für eine Beziehung hast du zu Flúgar? Wenn du nach ihm fragst, warst du doch nicht zufällig mit in der Hütte." Die Schwarzhaarige presste die Lippen aufeinander, fluchte lautlos. Das hörte sich nicht gut an, mit Sicherheit hätte sie besser geschwiegen - für ihr und Flúgars Wohl. Mit einer betonten Gestik wandte sie den Kopf zur Seite ab. "Stur, was? Aber das soll mich nicht weiter kümmern. Alleine die Tatsache, dass du bei ihm warst - und mir scheint, das bist du schon länger - reicht mir als Beweis für eure Zusammenarbeit. Wenn ich dich so vor mir sehe, gibst du sicherlich ein gutes Opfer für Hikage ab." Sie schmunzelte, warf Midoriko einen herausfordernden Blick aus ihren metallisch aufblitzenden Augen zu. Dann drehte sie sich zum Gehen um, blieb unerwartet noch einmal stehen. "Ach, noch etwas: da ihr zwei keine Gelegenheit zum Reden mehr haben werdet, soll ich ihm etwas ausrichten? Ich meine, es wäre doch ganz schön, wenn er die letzten Worte seiner Partnerin hören kann, wenn er der Opferung morgen Nacht beiwohnt, oder? Hm, ihm werde ich keinen so raschen Tod gönnen..." Als würde sie darüber nachdenken, tippte sie sich abwesend gegen die Unterlippe, hob abschließend wie zum Spott die Hand zum Abschied und entfernte sich mit gemächlichen Schritten. "Sag ihm, dass der Wille und das Herz entscheidet - nicht das Schicksal." Die Priesterin hob den Blick, und fixierte die Frau mit einem undurchdringlichen Ausdruck in den Augen. In ihr wuchs der unbändige Wille, sich nicht dem zu ergeben, was dieser Dämon ihr über die nächste Zukunft mitteilte. Dem Schicksal würde sie sich nicht mehr unterordnen. "Merk dir eines, Dämon, selbst die mächtigste Flamme wird kläglich ersticken, wenn man ihr die Luftzufuhr abschneidet." Fassungslosigkeit und Wut zogen über die schattengleichen Züge der Fremden, und ein verärgertes Funkeln ergriff ihre Augen. Verunsichert sahen ihre Diener zu ihr auf. "Aska-sama?" Die Angesprochene ballte die linke Hand zur Faust und ihr Körper hüllte sich in grellorange aufschlagende Flammen. Ihr besorgter Untertan zur Rechten verschwand in der plötzlichen Feuersbrunst einer gewaltigen Stichflamme, und zurück blieb nur ein Häufchen Asche. Den Begriff ,wutentbrannt' definierte sie wohl ein wenig anders als man es für gewöhnlich tat... "Für dich Kazanbai-sama, verstanden?!" Ihre Stimme zitterte vor Zorn, und der Wächter, der noch neben ihr stand, fiel flehentlich um Verzeihung bittend auf die Knie. Als die beiden letztendlich doch in der Dunkelheit des unterirdischen Ganges verschwanden, atmete Midoriko erleichtert auf. Mit dieser Aska - oder Kazanbai - war nicht zu spaßen, hitziges Temperament war für diesen Ausbruch schon keine Bezeichnung mehr. Aber... Sie stockte. Aska war eindeutig die, der man dieses fürchterliche Youki zuordnen konnte, dass sie im Wald gespürt hatte. Hieß das etwa, dass Flúgar sich an ihr rächen wollte? War diese Frau die Mörderin von Flúgars Afi? Doch aus welchem Grund hegte sie denn dann so einen Groll gegen ihn? Es musste mehr vorgefallen sein, als die Ermordung eines Loftsdreki, so viel stand fest. Aber wie sollte sie sich dieses Hintergrundwissen aneignen? Selbst wenn sie Flúgar hier unten irgendwie finden könnte, würde er nicht mit der Sprache herausrücken. Und auf ein Gespräch mit dieser funkensprühenden Cholerikerin Aska konnte sie getrost verzichten. Die junge Miko seufzte, betrachtete missmutig die massiven Eisenstäbe, die sie hier gefangen hielten. Ihr Blick schweifte nach oben, und mit einem Mal fasste sie bei sich ein Vorhaben. Zwischen der letzten Reihe von quergelegten Eisenstäben und der Höhlendecke war zwar nicht viel Platz, aber ohne ihre Rüstung würde sie geradeso hindurchpassen. Außerdem wusste sie bereits, wie sie dort hinauf kommen würde; an dem Gitter würde sie nicht hochklettern können, aber die Felswand auf der rechten Seite war so zerfurcht, dass sie dort höchstwahrscheinlich genug Halt finden würde. Ob ihr Konzept in die Tat umsetzbar war, wusste sie nicht, doch sie musste es versuchen, eine andere Lösung wollte ihr nicht in den Sinn kommen. Die Priesterin schluckte hart, sie würde es angehen, und ihr Bestes geben! Zuerst musste sie die Wachen aus dem Weg räumen. Tiefen Atem schöpfend ließ sie sich im Schneidersitz in der Mitte ihres Gefängnisses nieder, sprach unverständliche Worte, die ihr halfen sich zu konzentrieren. Langsam, aber beständig, wallte die reine Macht ihrer selbst in ihr auf, verlangte danach, freigesetzt zu werden, um sich einen eigenen Weg zu bahnen. Midoriko jedoch lenkte die Wirbel der Energieströme präzise in bestimmte Richtungen, sie durfte keine der Wachposten verfehlen, denn würde dies eintreffen, war es eine vergebliche Anstrengung. Die dunkelbraunen Augen der Priesterin öffneten sich, und sie verzog keine Miene, als sie der schwer zu bändigende Energie freien Lauf ließ, und sich diese, in einem grellen weißen Licht nach außen hin äußerte. Angespannt wartete sie ab, bis sich auch die letzte dämonische Aura in der Reinheit ihrer Kraft einfach verlor. Dann sprang sie auf, und erst jetzt wurde ihr in voller Intensität bewusst, wie sehr sie sich verausgabt hatte. Schwankend gelangte sie bis zu der ausgewählten Felswand, unterdrückte den in ihr aufkommenden Schwindel und die Übelkeit. Für eine Pause hatte sie keine Zeit, sie musste sich beeilen, und das nicht nur, weil sich ihr ansonsten recht gutes Gefühl für Zeit als nutzlos entpuppte; irgendwann würden sie ihren Ausbruch bemerken, das stand fest. Achtlos entledigte sie sich ihrer Rüstung und warf sie beiseite, erklomm mit höchster Anstrengung die schroffe Steinwand. Trotz der zahlreichen Missversuche, wenn sie abrutschte oder gar zurück zu Boden fiel, gab sie nicht auf. Immerzu setzte sie erneut an, denn wenn sie es tatsächlich schaffen wollte, dann stellte sich ihr nichts in den Weg, nicht einmal die Schwäche ihres Körpers. Durchgeschwitzt und nur noch nach Luft keuchend, erreichte sie endlich den höchsten Punkt des Metallgitters, fasste die rostige Kante mit den zerschundenen Händen. Sie hielt eisern an ihrem Ziel fest, zog den Rest ihres Leibes nach und zwängte sich durch die schmale Lücke zwischen Fels und Gitter. Sie schaute auf den Boden der anderen Seite hinab, und die Kraftlosigkeit übermannte sie, wodurch sie den Halt verlor und schonungslos auf den harten Boden stürzte... ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 24: >"In den Tiefen der Finsternis haust die Kreatur der Dunkelheit, ein Gefangener, der sein Leben in Bewegungslosigkeit fristet, und es gilt zu bedenken, dass der Feind deines Feindes dein Freund ist. Feuer und Wasser stehen in einer Allianz zueinander, und zusammen ist ihnen an ein und demselben Ziel gelegen..." *» Renritsu Kapitel 24: *~Renritsu~* ------------------------ "Wenn die wahre Vollkommenheit in der Vereinigung vermeintlicher Gegensätze besteht, dann sterben wir im Leben und leben im Tod." – Helga Schäferling Kapitel 24 - Renritsu -Zusammenschluss- *Müssen Gegensätze sich immer voneinander abstoßen, sich gegenseitig ausschließen? Neutralisieren sie sich in jedem Fall, sodass nichts Wahrnehmbares zurückbleibt? Ergibt jedoch Schwarz und Weiß nicht Grau? Wird aus Licht und Dunkelheit nicht dämmeriges Zwielicht? Und ist es nicht viel eher so, dass konträre Dinge einander anziehen, und essentiell für die Existenz des jeweiligen Gegenpols sind?* ּ›~ • ~‹ּ Wieder dieses Gefühl... Ich spürte wieder diese Anziehung, diese Kraft, die mir den unaufhaltsamen Trieb aufzwang, sich ihr zu nähern. Mir war, als würde jemand nach mir rufen, und er sprach mich unverkennbar mit meinem Namen an. Wer rief da nach mir? Und warum? Schwach hob ich die Augenlider, kam nur äußerst schwerfällig auf die Beine. Ich war vollkommen orientierungslos, wusste nicht, wo ich mich befand, oder wo genau ich hinging. Nur eins war mir bewusst, und das war wichtig; ich musste dort hin, um jeden Preis. Doch es währte nicht allzu lange und bald durchzuckte ein anderer Gedanke meinen im trüben Dunst liegenden Verstand. Flúgar... was hatte diese Aska mit ihm vor? Und vor allem, wo war er bloß? Ich musste ihn unbedingt finden, und zudem drängte sich mir die Frage nach Kanekos Verbleib auf. Ob Aska sie auch für die Opferung aufsparte? Unsicher taumelte ich weiter, einen beliebigen, dämmrigen Gang hinunter, weiterhin meinem eindringlichen Empfinden folgend. Ich hoffte inständig, dass mir mein Zustand keine Täuschung vorspielte und mich nicht geradewegs in die Hände von Askas Leuten schickte. Dann würden meine Bemühungen alle ins Leere laufen, der Feuerdämon würde mich als Opfer darbringen und Flúgar... mir fiel ein, dass ich nicht einmal wusste, was sie mit ihm vorhatte, aber wenn sie ihn so dermaßen hasste, dann würde sie ihn mindestens durch die Hölle jagen. Ich wollte mir nicht in meinen kühnsten Träumen ausmalen, was sie alles mit ihm anstellen könnte. Urplötzlich tat sich ein Widerstand vor meinem Fuß aus, und ich kippte nach vorne, prallte auf einen glatten Vorsprung, ehe ich ein ganzes Stück in die Tiefe fiel und wieder unsanft auf dem Boden aufschlug. "Shimatta..." Normalerweise war fluchen nicht meine Art, aber im Moment fühlte ich mich mies, und etwas Anderes, um meinen Frust abzubauen, mochte mir nicht in den Sinn kommen. Heute schien nicht ganz mein Tag zu sein. "Eine Menschenfrau?" Erschrocken fuhr ich hoch, riss die Augen auf, konnte aber niemanden entdecken. Doch ich konnte bei meinem Leben schwören, dass ich soeben die Stimme eines Mannes vernommen hatte, und das unheimlich nahe. Mühsam richtete ich mich wieder auf, versuchte in der vorherrschenden Finsternis etwas zu erkennen, tastete mich vorwärts. Ich vermeinte, in der Ferne etwas golden glimmen zu sehen. Vielleicht war es mir möglich von dort aus irgendetwas hier zu erspähen, denn dieser Ort war im wahrsten Sinne des Wortes zappenduster. "Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht erschrecken. Darf man fragen, was du hier machst?" Ein Schauer lief meine Wirbelsäule hinab, mein Körper begann zu zittern. Jemand war hier, und nun spürte ich ihn auch. "Wer ist da?" Ängstlich drückte ich mich flach mit dem Rücken an die Wand hinter mir, versuchte krampfhaft blinzelnd meine Sicht zu verbessern, aber es half alles nichts. Die Umgebung verblieb für mich uneinsichtlich, mir wurde mit einem Mal kälter, und mein Hirn riet mir dazu, so rasch wie möglich von hier zu verschwinden. "Wie unhöflich von mir, entschuldige bitte. Skuggi ist mein Name - auch wenn die, die hier ein und ausgehen mich Hikage nennen." Hikage? Hatte Aska diesen Namen vorhin nicht auch erwähnt? Für einen Moment in meine Gedanken versunken, hob ich den Kopf, schrak erneut zusammen, als ich hoch oben, unweit der Höhlendecke, das unverkennbare, amethystfarbene Auge eines Youkai erblickte. Durch meinen Kopf schallte ein missfälliges Schnauben. "Aska... was hast du mit der zu schaffen?" Die Verachtung, die in seiner Stimme lag, als er den Namen des Feuerdämons aussprach, ließ mich aufhorchen und meine Entdeckung in den Hintergrund schieben. Anscheinend mochte er sie mindestens so gerne wie ich. Moment... ich hatte doch eben gar nichts gesagt... "Ich kann deine Gedanken sehen, aber ohne Erlaubnis bleibe ich an der Oberfläche, sodass deine Erinnerungen und Gefühle nicht sichtbar für mich werden." Skuggi, hm? Also brauchte ich nicht laut zu reden? Und dieses schier körperlos existierende Auge gehörte zu ihm? "Absolut korrekt." Und was tat er hier? So alleine in dieser pechschwarzen Höhle, in der man nicht einmal die eigene Hand vor Augen sah...? "Aska hat mich hier versiegelt. Sie hat vor einiger Zeit eine Art eigenen Glauben gegründet, und benutzt mich quasi als den zugehörigen Gott und opfert unter diesem Vorwand sinnlos die Leute, die ihr in die Quere kommen." Er wurde also auch hier festgehalten, und mich hatte sie ihm in der morgigen Nacht opfern wollen... Ich seufzte. Wenn er hier nicht herauskam, dann würde ich es wohl auch nicht schaffen. Flúgar... wie sollte ich ihn nur finden und hier herausholen? "Ein Loftsdreki? Hier? Na das wird ja immer bunter... ja, du hast Recht, ich werde wohl niemals wieder hier herauskommen. Die Dunkelheit macht mir nichts aus, aber ich kann mich nicht ein Stück rühren. Das goldene Licht, das du gesehen hast, ist ein Sonnenstein. Er blockiert meine Kraft und hält mich hier fest." Womöglich hatte ich alleine keine Aussichten auf Erfolg, doch wenn Skuggi mir behilflich war, dann bestand noch Hoffnung. Damit fasste ich meinen Entschluss, straffte meine Haltung. Ungelenk stolperte ich über den unebenen Boden, als Ziel den Goldschimmer vor Augen, den ich selbst auf diese Distanz ganz eindeutig wahrnehmen konnte. "Sollte es dir tatsächlich gelingen, das Siegel zu brechen... nun, dann stehe ich in deiner Schuld, und ich werde dir helfen. Du hast mein Wort - und wie du weißt, hält ein Drache seine Versprechen!" Es war nicht die Feierlichkeit des Tones in dem er sprach, sondern eher ein einzelnes Wort zwischen den anderen, das fortwährend vor meinem inneren Auge stehen blieb und keine Anstalten machte wieder zu verschwinden... Drache? Abermals drehte ich den Kopf und schaute mich um, konnte aber immer noch nichts ausmachen. Verärgert verschränkte ich die Arme vor der Brust. "Was dachtest du denn, Miko? Ein Schattendrache, wenn du es genau wissen willst." Amüsement schwankte in seinen Worten, und der Laut, den ich zu hören glaubte, hatte etwas von einem menschlichen Lachen. Etwas, das ich von Flúgar noch niemals vernommen hatte, und irgendwie missfiel mir das... "Aber sag mal, weißt du wenigstens, wer Aska ist? Außerdem solltest du wissen, dass sie nicht allein agiert, jemand unterstützt sie, ein Vatnsdreki..." Was...?! Ungläubig starrte ich in die unendliche Schwärze. Vatnsdreki? Doch nicht etwa einer wie Shiosai? Natürlich... Aska war der Eldursdreki, von dem Flúgar gesprochen hatte, nun ergab alles einen Sinn. Wie hatte ich die ganze Zeit über nur so begriffsstutzig sein können? ... wie sollte ich gegen zwei Drachen ankommen? Und das, wenn das Youki des einen bereits so immens war, dass es mich fast in die Panik trieb? "Jetzt sieh mal nicht gleich schwarz. Mit deinem Freund sind wir schließlich zu dritt, und ich wage zu bezweifeln, dass auch nur einer von uns gegen dich ankommt. Dieser Schwall purer Energie... das warst du, nicht wahr?" Ich nickte stumm. Hatte er Recht? Ehrlich gesagt, hatte ich nicht den Hauch einer Ahnung... Mittlerweile stand ich vor dem leuchtenden Stein, genoss die leichte Wärme, die von ihm ausging. Da ich mein Schwert nicht bei mir hatte, musste ich hier wohl anders verfahren und auf eine primitivere Waffe zurückgreifen. Rasch hatte ich einen Felsbrocken in der angemessenen Größe gefunden, und holte damit so viel Schwung wie ich konnte, bevor ich ihn mit all meiner Kraft direkt auf den Sonnenstein niederfahren ließ. Die silberfarbene Fassung blitzte kurz unheilvoll auf, als das Siegel in tausende Stücke zersprang, doch dann verlosch ihr Glanz, und das Glimmen in den Bruchstücken erstarb. "Skuggi?" Die Erde unter meinen Füßen bebte leicht, und von den Wänden bröckelte der Fels ab, Staub und Gesteinssplitter rieselten in einem feinen Regen von der Decke. Dann gab sich es wieder, nun war es stockfinster, und ich fühlte mich wie ein blinder Maulwurf an der Oberfläche, hilflos. Umso mehr schreckte ich auf, als ich eine warme Hand auf meiner Schulter spürte, die angenehme Stimme des Drachen jetzt nahe bei meinem Ohr vernahm. "Ich danke dir, Miko, und wie versprochen, werde ich dir helfen, mit deinem Freund hier herauszukommen." Ein müdes Lächeln vernahm meine Lippen ein. "Nenn mich ruhig Midoriko." Wütend schritt der Eldursdreki auf und ab, und auf ihren Beobachter machte sie ebenfalls einen nervösen Eindruck. Aber es war kein schwieriges Unterfangen, Askas Gefühle aufzuwühlen und dermaßen durcheinander zu wirbeln, dass sie zuweilen selbst nicht mehr wusste, wie ihr nun zumute war oder wo ihr der Kopf stand. Doch er ertrug ihre Launen und ihre Sprunghaftigkeit ausdauernd, er konnte gar nicht anders, denn ohne ihre Unterstützung würde die Rache für seine Verlobte für ihn wohl ewig ein Wunschtraum bleiben. "Reg dich ab, Aska." Er hatte bereits aufgegeben zu zählen, wie oft sie an diesem Tag schon aus der Fassung geraten war und dementsprechend ebenfalls, wie viele ihrer Leibdiener sie bereits in die Flammenhölle geschickt hatte. Wenn sie so weitermachte, waren bald keine mehr von ihnen übrig. "Sag mir nicht was ich tun soll, Vatnsdreki!" Eine gewaltige Flammenwand tauchte das geräumige Zimmer für einen kurzen Augenblick in grelles Licht und beißende Hitze. Der Angesprochene winkte gelassen ab, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete schweigsam die vom Ruß des Feuers geschwärzte Decke. Glücklicherweise würden sie dieses Loch bald zurücklassen, und in die wahre Offensive gehen. Das Gefühl der Vorfreude auf das Kommende füllte sein erkaltetes Herz mit Genugtuung. Jedoch nur kurzzeitig, und die Maske der Emotionslosigkeit streifte sich wieder über seine Züge. "Was geht nur in deinem Kopf vor, Rakuchou?" Aska stand direkt über ihn, blickte tief in seine kühlen Augen. Er war das absolute Gegenteil von ihr, etwa wie ein Antipol von unendlicher Gelassenheit und Kälte. Seine Geduld hingegen kannte auch Grenzen, doch er hatte sich im Griff, und ihn zur Weißglut zu reizen war wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Bis jetzt hatte es kaum jemand mit ihr so lange auf so engem Raum ausgehalten - selbst ihre Brüder zogen es vor, ihr etappenweise aus dem Weg zu gehen und sich von ihr fernzuhalten. Ihre Eigenschaft, wie ein brodelnder Vulkan zu sein, der jeden Augenblick ausbrechen konnte, wenn sich nur die geringste Erschütterung ergab, hatte sie früh zur Vorsicht ermahnt. Mit einem Seufzen verlagerte Rakuchou das stützende Gewicht aus seinen Unterarmen weiter nach oben, mit dem Ergebnis, dass er nun gänzlich rücklings auf seinem Lager ruhte, und Aska noch immer halbwegs über ihm kniete. Es war eine unhöfliche Angewohnheit des Vatnsdreki sich auf ähnliche Art und Weise Fragen zu entziehen, die ihm unangenehm oder einfach lästig waren. Und der weibliche Eldursdreki stellte viele Fragen, oftmals vollkommen ohne Kontext warf sie sie ihm an den Kopf und bestand auf eine Antwort, die ihr passend erschien. So würde sie auch diesmal nicht locker lassen, bis sie irgendetwas Vernünftiges aus ihm heraus bekam, das war ihm durchaus bewusst. Doch er hatte Gefallen daran gefunden, ihre Neugier ins Unermessliche zu steigern und zu sehen, was ihr als Nächstes einfiel, um ihn endlich zum Reden zu bringen. Da er ihre Stimmung aufgrund ihrer Wechselhaftigkeit heute kaum zu deuten vermochte, hatte dieses Spiel einen besonderen Reiz. Ja, er spielte mir ihr - nur war das etwas, das sie nicht verstand und Rakuchou war insgeheim heilfroh darüber, dass sie so etwas nie ahnen würde. Unvermittelt spürte er einen Teil ihres Gewichtes auf dem Bauch, ihre Hände auf seiner Brust. Zwar kam ihm Aska ab und an etwas dümmlich vor, aber sie war ausgenommen kreativ und einfallsreich, wenn sie nach etwas sinnte. Ein Charakterzug, der ihm gefiel, und es geschah selten, dass sie ihn mit ihrer teilweise sehr kindlichen Art nervte. "Was soll das werden?" Sein abweisendes Verhalten fand bei ihr keine Annahme, sie ignorierte es geflissentlich, wenn er ihr aufs Deutlichste klar machte, dass sie unerwünscht war oder dass er nicht mit ihr sprechen wollte. Daher geriet ihr derzeitiges Tun auch nicht einmal ansatzweise ins Wanken, und sie fuhr unbesonnen mit dem fort, was sie sich heute ausgedacht hatte. Immerhin war Rakuchou auch nur ein Mann, und an erst mal an einem gewissen Punkt angekommen, würde er ihr alles erzählen, was sie wissen wollte. Diese Grenze gab es bei jedem einzelnen, und man musste ihr zugestehen, dass sie ziemlich talentiert darin war, sie zu finden. Es war nicht zu leugnen, dass sie hübsch war und einen sehr femininen Körper besaß; zumeist dauerte es nicht sehr lange, bis ihr die Männer buchstäblich verfielen. Das Problem mit ihnen war bloß, dass sie sich immer rasch mit ihnen langweilte, und ein Streit mit anschließender Eskalation vorauszusehen war. Wer den Kürzeren zog, war in Askas Fall klar, gegen die sengende Hitze ihrer Flammen war kein Kraut gewachsen... Aber Rakuchou war anders. Er überraschte sie im Grunde ständig, und sein kaltschnäuziges Verhalten trieb sie nur noch mehr dazu an, ihn erobern und für sich haben zu wollen. Für sie spielte die Barriere, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Clans, zwischen ihnen stand, keine Rolle. Sie empfand es nicht als falsch, sich vorsätzlich keinen anderen Eldursdreki als Gefährten zu suchen. Ein neckisches Lächeln zog schattenhaft über ihre lockeren Züge. "Das verrate ich dir, wenn du die Augen schließt." Genau genommen mochte er es nicht, wenn man ihm Befehle erteilte oder ihm Vorschriften machte, wie er sich verhalten sollte, bei Aska jedoch konnte die Sache interessante Ausmaße annehmen. Und nur deshalb ließ er sich ohne Murren darauf ein und kam dem, was sie von ihm verlangte, nach. Der Vatnsdreki spürte, dass sie ihren Schwerpunkt verschob, sich etwas nach hinten, mehr auf sein Becken setzte, und ihre Finger sich behände einen Weg durch den Stoff seines Haoris bahnten. Anscheinend machte es ihr nichts aus, dass er - im Vergleich zu ihr - keine Körperwärme ausstrahlte, seine Haut aus diesem Grund kalt blieb. Ihre zärtlichen Berührungen erzeugten in ihm nicht direkt das Gefühl von Hitze, eher ein gegensätzliches Prickeln, das er nicht unbedingt unangenehm nennen konnte. Schon sehr lange war ihm auf diese Weise niemand mehr nahe gekommen, und der für ihn fast unbegreifliche Fakt, dass Aska die zahlreichen weißen Narben, die seinen gesamten Leib brandmarkten, nicht einmal zu merken schien, irritierte ihn. Oder aber sie tat es - und es störte sie nicht. Ihr hitziger Atem streifte seine Wange, während ihre warmen Handflächen nun unter seiner Kleidung weiter über seinen Oberkörper wanderten. Ein wollüstiger Laut drang aus ihrer Kehle, und hätte Rakuchou sie sehen können, wäre ihm ihr lasziver Blick unter den vollen Wimpern ihrer halb geschlossenen Augen nicht entgangen. Weiche Lippen berührten sein Kinn, bedeckten schließlich die seinen und baten fast scheu um einen Kuss. Er hätte seufzen mögen, aber somit hätte er nur das getan, worauf sie hinauswollte. Es erschien wie eine beiläufige Geste, als er sich ihr entzog, indem er den Kopf leicht zur Seite drehte. Aska konnte sich einem Grinsen nicht erwehren. Genau damit hatte sie von Anfang an gerechnet. Sie ließ von seinem Hals ab, rutschte noch ein ganzes Stück weiter nach hinten und strich mit den Fingern betont langsam über seinen Bauchnabel und die Partie darunter, ehe sie sich an dem seidenen Knoten seines Obi zu schaffen machte... ּ›~ • ~‹ּ Skuggi horchte angespannt, witterte mit geschlossenen Augen in der dumpfen, abgestandenen Höhlenluft. Eine Weile würden sie in dieser abgelegenen Grotte sicher vor Aska und ihren Dienern sein, doch sobald die Vorbereitungen für die herannahende Opferung ihrem Höhepunkt entgegenliefen, würden sie sich ein anderes Versteck suchen müssen. Sein Blick streifte den entspannten Leib der Priesterin. Während einer kurzen Rast war sie sogleich in einen tiefen Schlaf gefallen, und er hielt es im Moment für unnötig, sie wieder zu wecken. Wenn sie sich ausruhte und ihre Kräfte regenerierte, hätten sie wahrhaft eine Möglichkeit, dem Ganzen hier lebend zu entrinnen. Er seufzte leise, legte den Kopf gegen die Wand. Wie lange war er hier unten gefangen gewesen? Wie viele Jahrhunderte hatte er seinen durch das Sonnensiegel versteinerten Körper nicht bewegen können? Das Gefühl von Freiheit, das ihn nun durchströmte, hatte er so sehr vermisst, dass er es um ein Haar vergessen hätte. Ob das nicht alles doch nur ein Traum war? Wie aus dem Nichts war die Menschenfrau in die riesige Kammer gestolpert - oder besser gefallen - in der Aska ihn eingesperrt hatte, und ohne große Umschweife oder Überlegungen hatte sie den Sonnenstein zertrümmert und ihn befreit. Wie hatte sie das angestellt? Und was hatte sie sich davon versprochen? Wusste dieser Mensch etwa wirklich, was es bedeutete, einen Drachen zu retten? Ewige Schuld... Aber, etwas an ihr war anders. Er hatte es in ihren Gedanken gespürt, an ihren Worten gehört, und er hatte es gesehen. Im Herzen dieser Miko fanden sich keine schwarzen Makel, sie war tatsächlich eine reine Jungfrau... hatte sie womöglich gar nicht an sich gedacht, als sie das Siegel zerschmetterte? "Flúgar..." Ihr wisperndes Flüstern ließ ihn auf einen anderen Gedanken zurückkommen, den er bereits zuvor gehabt hatte. Was hatte sie mit diesem Loftsdreki namens Flúgar zu schaffen? Waren die beiden Gefährten? Zweifelnd betrachtete er ihr Gesicht, die langen pechschwarzen Haare, rief sich die Gestalt der wahren Form eines Loftsdreki in den Sinn. Ein Drache und eine Priesterin? Er lächelte ungläubig, schüttelte den Kopf. Undenkbar... Schon seit geraumer Zeit saß Aska in Flúgars Gefängnis, unmittelbar neben ihm, und musterte die vom schwachen Feuerschein erhellten, neutral erscheinenden Züge in seinem Gesicht, die ihm der tiefe Schlaf auferlegte. Sie hatte nie bestritten, dass sie den Loftsdreki in seiner eigentümlichen Art anziehend fand. Andererseits hatte sie auch noch nie jemandem erzählt, was sie eigentlich an seinem hübschen Antlitz fand. Aber aus diesem Grund war sie nicht hier, und leider bestanden für sie keine Aussichten mehr darauf, dass sie ihm verzeihen oder gar in die Augen blicken könnte ohne dabei nichts als puren Hass zu empfinden. Er würde für das, was er ihr angetan hatte, büßen, und dabei würde er letztendlich nicht mit dem Leben davon kommen. Behutsam zog sie Flúgars Haupt auf ihre Knie, sodass seine langen Haare wie ein klarer Gebirgsstrom über ihre Oberschenkel fielen, berührte mit den Fingerspitzen zaghaft seine blassen Lippen. Ausgeträumt... Dann holte sie das hervor, was Rakuchou ihr in einem gut verschnürten Leinenbündel mitgegeben hatte, beäugte skeptisch den kleinen Tonkrug, dessen Inhalt wie gewöhnliches Wasser aussah, die drei kreidefarbenen Kugeln, die kaum die doppelte Größe einer Haselnuss aufwiesen. Nach seiner Aussage waren diese Dinge in unvermittelter Verbindung recht gefährlich, aber keinesfalls tödlich; ein Gift, das schleichend durch den Körper kroch und die inneren Organe befiel, ohne jedoch den Betroffenen dabei zu töten. Zudem würde es ihn bei der Opferzeremonie so lange wie nötig wach halten; was hatte es für einen Sinn, seine Freundin Hikage vorzuwerfen, wenn er selbst davon gar nichts registrierte? Aska kicherte leise, als sie ein scharf nach Kräutern riechendes Tüchlein aus ihrem Gewand hervorbrachte, und Flúgar unter die Nase hielt. "Na komm schon, Flúgar... hörst du mich?" Eine lahme Regung ging durch seinen Körper, und nur langsam öffnete er die Augen, begegnete Askas loderndem Blick. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nur beschwerlich einordnen, denn sein Verstand war unbrauchbar, und es war sein bloßer Instinkt, der ihm erlaubte, etwas wahrzunehmen und in der Lage zu sein, mit diesen Eindrücken etwas in Verbindung setzen zu können. Flúgar war sich noch immer ungewiss, wo er sich befand, und was hier überhaupt vor sich ging. Viel ging ihm nicht durch den Sinn, und seine Gedanken irrten schier verloren durch seinen Kopf. Er war wehrlos, sein tauber Leib gehorchte ihm noch immer nicht, und somit war er Aska hilflos ausgesetzt, ganz gleich dem, was sie mit ihm vorhatte. Ihr hintergründiges, durchtriebenes Lächeln sprach derweil Bände... Der Eldursdreki entkorkte die Tonflasche, zwang ihm die Kiefer auseinander, und setzte ihm das Gefäß an die Lippen. Bei ihrem beherzten Griff um seinen Hals konnte er sich nicht einmal mehr weigern zu schlucken, geschweige dessen die geschmacklose Flüssigkeit absichtlich in seine Lunge ablaufen lassen. Niemals würde er sich ihr unterordnen - selbst, wenn das bedeutete, dass er seinem Leben eigenhändig ein Ende setzen müsste. Hartnäckig presste er die Zähne aufeinander, als Aska ihn mit der linken Hand am Kinn packte, mit der rechten nach der ersten der drei murmelgroßen Kugeln griff. Doch Aska war unbarmherzig, drehte ihm mit roher Gewalt den Kopf in ihre Richtung. "Man könnte meinen, ich würde dir bei vollem Bewusstsein die Haut abziehen. Warum stellst du dich so an, hm? Sei ein braver Junge, dann werde ich dich bis zur Opferung in Ruhe schlafen lassen." Flúgars Genick versteifte sich unter der Anspannung, die er darauf auswirkte. Dieses hinterhältige Miststück konnte ihm viel erzählen... außerdem bemerkte er allmählich den verdächtigen Geruch, der von ihr ausging. Mittlerweile mochte er nicht mehr sehr intensiv sein, aber dennoch stark genug, um Flúgars unsensibel gewordene, strapazierte Nerven davon in Kenntnis zu setzen, mit wem sie die letzten Stunden verbracht haben musste. Allein die Vorstellung, die sich bei ihm darauf ergab, trieb eine heftige Übelkeit in ihm hoch. Jegliche erbitterte Gegenwehr, die Flúgar in seinem Zustand noch aufzubringen wusste, scheiterte kläglich, und der weibliche Eldursdreki hatte letztendlich doch erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Dennoch ging sie nicht, verweilte in ihrer eingenommenen Position und stützte ihm beinahe behutsam den Kopf, damit er wenigstens etwas besser atmen konnte. Aber warum? Was bezweckte sie damit? Er spürte ihren Blick nur allzu deutlich, hielt aber selbst die Augen geschlossen. Ihm verlangte es nicht danach, sie anzusehen, denn dadurch würde ihm bloß noch stärker bewusst werden, wie demütigend seine Situation doch war. Mit einer sanften Berührung strich sie ihm durch den Schopf, über die Stirn und an den Schläfen entlang bis zu seiner Wange. Im Augenblick konnte sie sich dem nicht erwehren, bei dem Anblick, den er bot, konnte sie ihn nicht hassen. So sehr sie sich auch danach verzehrte es zu können. Er gab ihr momentan einfach keinen Anlass dazu. Aska seufzte niedergeschlagen, langsam geriet das, was sie sich als Weg für ihr Ziel gesetzt hatte, ins Schwanken. Im Grunde wollte sie ihn nicht tot sehen, ihm nur eine dauerhafte Strafe für sein Tun auferlegen - und ein lebenslanger Freiheitsentzug hätte es für sie getan. Doch da war die Abmachung mit Rakuchou... Bereute sie es, eingewilligt zu haben? Aska biss sich auf die Unterlippe, senkte ihren Blick wieder auf das emotionsleere Gesicht des Loftsdreki. Nun war es bereits zu spät... Flúgar schlug verwirrt die Augen auf, als er dem Verbleib von Askas rechter Hand gewahr wurde, starrte sie finster aus seinen weißen Augen an. Was zum Teufel sollte das? "Das hätte ich wissen müssen... in diesem Zustand ist mit dir wirklich gar nicht mehr anzufangen..." Sie klang enttäuscht, zog ihre Hand von der Innenseite seines Oberschenkels zurück. Es wäre wohl sinnvoller gewesen, wenn sie sich im Vorhinein mit diesem Gedanken beschäftigt und dementsprechend vorgesorgt hätte. Nun ging ihr auch die letzte Chance auf ein richtiges Zusammenkommen mit Flúgar verloren. Dieses verflixte eine Mal... Aska fluchte lautstark. Sie hatte in diesem Bezug andere Pläne gehabt, und nun bewiesen sich diese als nichtig. Was hatte sie getan, das so etwas wieder ihr passierte? Warum ausgerechnet sie? Scheinbar sollte das nicht ihr Tag sein. Ihrer Meinung nach bestand nicht mehr die Möglichkeit, dass noch etwas eintreten konnte, das sie mitunter noch mehr verdross. "Midoriko..." ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 25: >"Extreme Situationen verleiten zu extremen Taten, und diese verbleiben natürlich nicht ohne Konsequenzen. Aufgabe ist das letzte, verzweifelte Mittel, auf das man zurückzugreifen vermag. Die Zustehenden können bloß hilflos zuschauen, wie die Entscheidung ausfällt..." *» Uppsögn Kapitel 25: *~Uppsögn~* ----------------------- "Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren." – Bertolt Brecht Kapitel 25 - Uppsögn -Resignation- *Welcher Weg ist zu wählen, wenn einen die Aussichtslosigkeit der gegenwärtigen Situation gefangen hält? Lautet die Devise fliehen um jeden Preis? Ausharren und nachdenken? Oder aber sollte man den Mittelweg zwischen diesen beiden suchen? Und was ist, wenn man gar keinen Ausweg sieht? Entscheidet denn jeder in solch einer Lage nach seinem Verstand?* ּ›~ • ~‹ּ Eine leichte Erschütterung weckte mich schließlich auf meinem friedlichen Schlummer, und meine Konfusion erreichte neue Höhepunkte, als mir - zu meiner absoluten Überraschung - auffiel, dass mich jemand trug. Um mich herum war alles in die finsterste Tuschenschwärze getaucht, und der Geruch von Nässe und Moder hatte kein bisschen nachgelassen. Demnach befanden wir uns noch immer unter der Erde, in einem der vielen Gänge der großen Höhle, die ich im Steinbruch entdeckt hatte. "Hast du gut geschlafen?" Ein erschrockenes Keuchen entkam meiner Kehle, und es dauerte seine Zeit, bis ich endlich realisierte, wer sich so unmittelbar in meiner Nähe aufhielt. Skuggi. Ich bejahte leise, suchte, von der unterirdischen Kälte der nackten Felsen geschüttelt, engeren Kontakt zu Skuggi, schmiegte mich an seinen warmen Leib. Denn anders als Flúgar sandte er eine angenehme, fast lockende Wärme aus, die mir das Gefühl von Geborgenheit und Schutz vermittelte. Womöglich war mein Eindruck eine Täuschung, und nur eine Folge meiner Benommenheit, die ich unter diesen Umständen kaum abzuschütteln vermochte, aber immerhin war es mir in gewisser Weise ein Trost, etwas, an dem ich in meiner innerlichen Verlorenheit festhalten konnte. Flúgar... was sollte ich nur tun? Ich hatte keinen Anhaltspunkt, nicht einmal eine vage Ahnung, nichts. Wie bloß sollte ich ihn in diesem Labyrinth, in dem jede Ecke wie die vorherige aussah, ausfindig machen? Wie? Verzweiflung begann sich meines Verstandes zu bemächtigen, und allmählich wusste ich weder aus noch ein... "Midoriko..." Die Äußerung des Drachen ließ mich zusammenfahren, und ich zuckte merklich zusammen, als er mich ansprach. Zögerlich spähte ich über seine Schulter, blickte in die schwarze Leere der Dunkelheit. "Habe ich lange geschlafen?" Ich rieb mir die Augen, unterdrückte ein ausgiebiges Gähnen, und versuchte meine noch immer bestehende Müdigkeit zu verdrängen. So, wie ich mich fühlte, konnte ich höchstens zwei oder drei Stunden mit Schlafen zugebracht haben. "Ziemlich lange... Askas Diener bereiten schon die Opferung vor. Wir müssen und beeilen. Bis jetzt haben sie anscheinend noch nicht bemerkt, dass du nicht mehr dort bist." Für einen Moment beherrschte mich die Fassungslosigkeit, doch ich fing mich wieder, festigte unbewusst den Griff um Skuggis breite Schultern. "Bitte?! Sie bereiten die Zeremonie vor...? Wie spät ist es denn?" Der Angesprochene entgegnete mir eine Weile nichts, und meine Hoffnung war beinahe zerschmolzen wie Eisblumen in der Sonne, als er wieder die Stimme erhob. "Draußen dürfte es dämmern, und zwar zur Nacht hin. Uns bleibt wirklich nicht mehr viel Zeit..." Er klang angespannt, seine Worte verrieten die Dringlichkeit der Lage und die Zeitnot, in die wir langsam hineingerieten; selbst seine Ruhe ebbte sichtlich ab. Ich war bemüht, mich von solchen Empfindungen abzuschotten, und versucht, sie zu ignorieren. Ohne einen klaren Verstand würde ich scheitern, ich musste mich zusammenreißen und meine Konzentration wahren. Denn das war womöglich Flúgars einzige Aussicht zu überleben. "Sag, gehört das hier zu dir?" Mit verwirrter Miene betrachtete ich das kleine, pelzige Etwas, das auf Skuggis Handfläche gelegen hatten, nun aufsprang und geruhsam schnurrte... "Kaneko-chan!" Der Nekoyoukai miaute freudig, und fügte sich geduldig meiner etwas übereilten Begrüßung. Erleichterung und ein ungemeines Gefühl der Freude und des Glücks wallten in meinem Körper auf, klangen jedoch genauso rasch wieder ab und erkalteten. Noch war die Angelegenheit nicht ausgestanden. "Sie kam mir auf halbem Wege entgegen. Bei ihrem Verhalten dachte ich mir, dass sie dich kennt..." Ein heiteres Lächeln zog schattengleich über meine Lippen, als ich durch das weiche Fell des Katzendämons strich und begann, ihm den Nacken zu kraulen. Allein Kanekos Reaktion darauf, allein der Klang ihres Schnurrens entfachte in mir ein seliges Gefühl. Ich schöpfte neuen Mut. Mit Skuggi und Kaneko an meiner Seite würde es mir gelingen, da war ich mir vollkommen sicher! Der Rest lag bei Flúgar; er musste noch ein wenig durchhalten... und obgleich ich bereits mehr als ein Mal erlebt hatte, dass der Loftsdreki unglaublich hart im Nehmen war, machte ich mir furchtbare Sorgen um ihn. Laut Skuggi war es nicht bloß Aska, die ihren Rachedurst zu stillen gesuchte... wenn dieser Vatnsdreki auch nur halb so besessen von seinem Hass war wie Shiosai, bestand kaum noch Hoffnung, dass ich Flúgar jemals wieder lebendig zu Gesicht bekam. Aber... Aska wusste, dass ich ihn kannte, und erst nachdem ich ihr den ersten Verdacht bestätigt hatte, war ihr die Idee mit der Opferung gekommen. Bei dem Eindruck, den ich von ihr gewonnen hatte, war sie sicherlich ziemlich sadistisch veranlagt, also würde sie Flúgar bestimmt nicht vor der Zeremonie sterben lassen oder selbst töten. Was hätte mein Tod für einen Sinn - für Aska und ihren Gehilfen - wenn Flúgar dem nicht persönlich beiwohnte? Keinen. Sein Youki mochte mir verborgen bleiben, ich spürte ihn nicht, aber er lebte, dafür hätte ich mit meinem Leben bürgen können. Wo dieses Gefühl herrührte, war mir unklar, aber es war da, und es war stark. Stärker als meine Angst, stärker als meine Sorge, stärker als mein rationales Denken... ּ›~ • ~‹ּ Ich musste ein weiteres Mal eingenickt sein, denn als ich erwachte, lehnte ich an der vorderen Flanke der großen Feuerkatze, die sich mit ihrer Atmung spürbar hob und senkte. Entgegen Kanekos Anwesenheit, glänzte Skuggi mit dauerhafter Abwesenheit. Er war nicht zugegen, aber wo konnte er sein? Dieses unendlich wirkende Meer der Finsternis, das mich und den Nekoyoukai einhüllte, das die gesamte Umgebung unerkenntlich machte, belastete zusehends mein Gemüt und drückte meine Stimmung. Trotz Kanekos Nähe fühlte ich mich einsam, auf gewisse Art verloren. Auf mich gestellt würde ich aus diesem steinernen Irrgarten nie wieder herausfinden, und ich zweifelte, ob es der Dämonenkatze glücken würde. Hieß das in unverblümten Worten, dass ich hier bleiben und sterben musste, wenn Skuggi nicht zurückkehrte? Iie, ich konnte nicht hier verweilen... ich musste Flúgar suchen, gleichgültig, ob der Drache wieder zu mir stoßen würde oder nicht. Davon durfte ich mich nicht beeinflussen lassen; selbst wenn ich alleine gehen musste, würde ich es tun. Für ihn, für Flúgar... zumindest das war ich ihm schuldig! Ich gestand mir ein, dass ich ihn vermisste, und obschon wir nun wahrlich noch keine lange Zeit voneinander getrennt waren, fehlte er mir. Was ich genau misste, wusste ich nicht zu benennen, aber eine unangenehme Leere klaffte wie eine breite Schlucht in meinem Inneren und dehnte sich stetig, unaufhaltsam aus. Mir behagte dieses Empfinden ganz und gar nicht... Vorsichtig stand ich auf, vergrub die Finger in Kanekos dichtem Fell und schwang mich auf ihren Rücken. Mit einem leisen Schnalzen leitete ich sie zum Vorwärtsgehen an, bedeutete ihr dem Verlauf des Ganges zu folgen. Ihre Schritte waren bedacht, ab und an hielt sie inne oder stieß mit den Pfoten gegen lose Geröllbrocken, die wahllos auf dem Boden verteilt lagen. Scheinbar benutzten Aska und ihre Untergebenen diesen Abschnitt ihres unterirdischen Versteckes nicht, demnach leuchtete mir ein, warum Skuggi uns hierher geführt hatte. Hier würde uns der Eldursdreki erst einmal nicht aufspüren können. Wie lange wir uns so fortbewegten, konnte ich bei bestem Willen nicht sagen, doch irgendwann drang ein schwacher Lichtschein bis zu uns vor, zeigte uns so das Ende des gewundenen Felstunnels. Kurz davor blieb meine Gefährtin plötzlich wie vom Donner gerührt stehen, stellte in höchster Aufmerksamkeit die Ohren nach vor, die Haare in ihrem Genick sträubten sich. Zeitgleich stockte mir der Atem. Vor uns lag ein riesiges, weiträumiges Gewölbe aus schiefergrauem Gestein, das nur von vereinzelten, massiven Säulen gestützt wurde, und auf mich keinen sehr stabilen Anschein machte. Die Pfeiler wirkten wie abgeschliffen, teilweise an den rundlichen Seiten ausgehöhlt. Ich vermutete, dass diese Höhle zu früheren Zeiten einmal unter Wasser gestanden hatte, und dieses verantwortlich für die außergewöhnlichen Felsformationen war. Skurrile Skulpturen aus Stein ragten aus dem Boden empor oder hingen von der Decke hinab, die karge, ausgeschwemmte Fläche unter dem Vorsprung, auf dem Kaneko und ich standen, teilte sich in zwei Ebenen, von denen sich die eine etwa zwölf Schrittlängen über der anderen auftat. Vor diesem plateauähnlichen Gebilde befanden sich mehrere kleine und mittelgroße Teiche, deren Tiefe ich nicht zu schätzen wagte; zu ihrer Mitte hin verfärbte sich das türkisfarbene Wasser schwarzblau, und diese Untiefen hatten etwas Bedrohliches an sich, das ich nicht so recht einzusortieren wusste. Die ungestalte Gefahr macht mich nervös; etwas hielt sich dort im Verborgenen, und ich vermeinte mich daran zu erinnern... Mein Blick schweifte durch die gigantische Saalhalle, über den ehemals rein alabasterfarbenen Opferaltar, über die grotesken Staturen zu den Gestalten, die sich auf dem erhöhten Plateau befanden. Stumm formten meine Lippen die Worte der Fassungslosigkeit, kein Ton entrang sich meiner Kehle. Träumte ich? "Flúgar..." Meine Hände, nein, mein ganzer Leib zitterte, meine Knie fühlten sich weich wie Butter an, und hätte mich nicht jemand zurückgehalten, und meine Stimme dadurch gedämpft, dass er mir den Mund zuhielt, hätte ich den Namen des Loftsdreki aus Leibeskräften durch den gesamten Saal geschrieen. "Shht, sei leise, oder willst du, dass sie uns bemerken?" Instinktiv schüttelte ich den Kopf, und Skuggi zog seine Hand zurück, wich einige Schritte von mir weg, was mir den Halt raubte und mich kraftlos auf die Knie sinken ließ. Dort unten war er, Flúgar, kniete, gezwungen durch seine Fesseln - Eisenketten, die eng um seine Handgelenke saßen und ihm die Arme wohl recht schmerzhaft nach oben zogen - kurz vor dem steilen Überhang über den Wasserlöchern. Außer seinem Hakama trug er nichts mehr am Leib, und soweit ich es aus dieser Entfernung beurteilen konnte, sah er im Allgemeinen ziemlich zerschunden aus. Größere Wunden konnte ich nicht entdecken, aber er war bei weitem nicht unversehrt. Vermutlich war er bewusstlos, denn er regte sich nicht, sein Kopf war bis auf die Brust gesunken, und er verharrte genau in dieser unbequemen Lage. Eine der beiden Personen, die nahe bei ihm waren, trat nun näher, rammte ihm unwirsch das rechte Knie in den Rücken, was mich erschrocken zusammenzucken ließ. Was sollte das? Ob sie miteinander redeten oder aber schwiegen, war von hier oben unmöglich festzustellen, sie waren sich jedoch einig, was den Umgang mit ihrem wehrlosen Gefangenen betraf. Ihr Verhalten gegenüber Flúgar wurde immer gewalttätiger, sodass ich die Augen zusammenkniff um diesem Anblick zu entgehen, und eine halbe Unendlichkeit schien zu vergehen, ehe sich an den Muskeln des Loftsdreki endlich eine vage Regung abzeichnete. Erst dann ließen sie von ihm ab, und die zweite Gestalt, die sich in weiße Gewänder gehüllt hatte, näherte sich ihm. Aska. Unsanft packte sie ihn unter dem Kinn, zwang ihm den Kopf in ihre Richtung. Flúgar leistete keinen Widerstand, es erfolgte keine Resonanz seinerseits auf ihre eindeutige Misshandlung und Demütigungen, die sie ihm auferlegte. Er bewegte sich im Grunde überhaupt nicht, ertrug gegenwehrlos ihr Tun, dem in dieser Situation jeder Anlass fehlte. Das, was ich erblickte, brach mir fast das Herz, und eine unangenehme Übelkeit schlug mir auf den Magen. Was hatten sie ihm nur angetan, dass er sich dem so gar nicht entgegensetzte? Oder hatten sie etwas mit ihm angestellt, dass er sich eben nicht mehr verteidigen konnte? Ich musste doch etwas unternehmen können, irgendetwas... Skuggi fasste mich am Arm, schüttelte verneinend den Kopf, als ich ihm einen flehentlichen Blick zuwarf. Meine Sicht verklärte sich, verschwamm wie von Regen getrübt, und nur mit Mühe und viel Selbstbeherrschung behielt ich ein Aufschluchzen in mir selbst verwahrt. Ich fühlte mich so machtlos, nutzlos, verzweifelt... Flúgar hatte sich entschieden, sein Vorhaben war eine beschlossene Sache. Er würde sich weder Aska unterwerfen noch sich freiwillig weiter ihren und Rakuchous Erniedrigungen ergeben; er würde den einzigen Ausweg, der sich für ihn ergab, nutzen. Sein blockiertes Denkvermögen stellte ihn vor eine Wahl, die ihm in seiner Lage nicht sehr schwer fiel. Ihm war es lieber, dem Ganzen eigenhändig ein Ende zu setzen als sich von dem rachelüsternen Drachengespann langsam zu Tode foltern zu lassen, und somit alles zu verlieren, was er im Moment noch besaß. Seinen eigenen Willen und seinen Stolz würde er ihnen um nichts in der Welt preisgeben, und damit zog er es vor, sich seine Ehre selbst zu nehmen... Unwillkürlich musste er an die Priesterin denken, Midoriko. Seine Lebensschuld bei ihr würde nie versiegen, und er empfand es als ungerecht und verantwortungslos, sich dieser so zu entziehen, aber die Aussicht darauf, seine Seele einzubüßen und niemals in Frieden ruhen zu können, erschien ihm Strafe genug. Er würde so enden wie Afi, und alle Drachen vor ihm, die gestorben waren... seine Seele würde sich auflösen, zu rastlosen Windgeister werden, die ewig darauf verdammt waren ziellos umherzuirren und keine Ruhe zu finden. Er hegte keine Angst vor dem Tod, oder dem Augenblick des Sterbens, er fürchtete bloß seine Folgen. In dieser Hinsicht beneidete er die Menschen, diese simplen Kreaturen, die nach einem kurzen Leben dahinschieden, ihren Körper zurückließen und als pure Seelen ins Jenseits einkehrten. Als Drache war es ihm nicht einmal vergönnt, ins Jenseits eingehen zu dürfen, er würde weiterhin auf dieser Welt wandeln müssen, als Geist, den ohnehin kaum ein Wesen zur Kenntnis nahm. Um diesen Preis wohnte ihm ein ewiges Leben inne... "Hörst du zu, Flúgar?" Askas Griff wurde fester, der Loftsdreki presste die Zähne aufeinander und öffnete andeutungsweise die Augen. Er musste seine Kräfte sparen, denn er hatte bloß einen Versuch, sich aus diesem Alptraum zu befreien... "Deine Freundin hat mir ihre letzten Worte auf den Weg gegeben, willst du sie hören?" Ein süffisantes Lächeln umspielte ihren wohlgeformten Mund, und ihre in tödlichen Klauen endenden Finger strichen beinahe zärtlich über seine Wange, ritzten feine Striemen in die dünne Haut. Seine Freundin...? Von wem sprach sie? Etwa von Midoriko?! Die unweigerliche Veränderung, die seine Züge ergriff, schien den Eldursdreki zufrieden zu stimmen. Befriedigt blickte sie ihn an, legte die Arme um seine bloßen Schultern, schmiegte sich eng an seine Halsbeuge, sodass ihre vollen Lippen beinahe sein linkes Ohr berührten. "Hör gut zu, Flúgar, denn ich werde es nicht wiederholen... ,Gegen das Schicksal wirst du mit deinem Willen und deinem Herzen niemals ankommen' - das ist ihre Botschaft an dich." Der Körper des Loftsdreki verkrampfte sich, und er wusste sich das abfällige Schnauben, das ihm entfuhr, nicht zu untersagen. Er glaubte ihr nicht, Aska log. Das klang so überhaupt nicht nach Midoriko... "Quäl dich nicht selbst, mein Hübscher, sie wird hier und jetzt vor deinen Augen für Hikage geopfert werden." Flúgar konnte dem nichts entgegenbringen, Askas Worte ließen ihn aus allen Wolken fallen, vernahmen den kläglichen Teil seines Verstandes ein, der unter jenen Bedingungen noch funktionierte. Sie wollten Midoriko töten? Aus welchem Grund? Weil sie bei ihm gewesen war? Weil sie etwas mit ihm zu tun gehabt hatte? Die Erkenntnis rüttelte an seiner Fassung, Unsicherheit keimte in ihm auf. Er konnte sie doch nicht sterben lassen und kurz darauf sein eigenes Leben beenden... aber wie galt es jetzt für ihn, sich zu entscheiden? Was wog schwerer? Genau genommen standen zwei Möglichkeiten offen: die erste, dass er zuließ, dass sie Midoriko opferten und er sich danach selbst tötete, und die zweite, dass er seine letzte Kraft dazu nutzte, um Midoriko zu befreien, und er sich dann den Torturen von Aska und Rakuchou so lange fügen musste, wie es ihnen beliebte... Seine Zukunft gestaltete sich in jedem Fall nicht rosig, aber sollte er bewusst den grausameren Weg einschlagen, um jemand anderen zu retten? Jemanden...? Nein, Midoriko war nicht bloß jemand... sie hatte nicht gezögert, nicht zu anfangs, als sie ihn selbst beinahe in den Tod geschickt hatte, und nicht, als er in die todbringende Falle aus Stahlfäden der Dämonenraupen geraten war. Sie hatte nicht lange überlegt, sie hatte gehandelt, ohne an die Konsequenzen für sich selbst zu denken. Selbstlos... Die Priesterin setzte ihr volles Vertrauen in ihn, und wenn er ehrlich war, wollte er sie nicht enttäuschen. Auch nicht, wenn das für ihn bedeutete, dass er seine Freiheit, seine Ehre als Loftsdreki und alles andere aufgeben musste. Midoriko... Flúgar spürte Askas sengenden Atem auf der Haut, ihre Hände in seinem Nacken. Aus seinen halbgeöffneten Augen begegnete er ihrem silbergrauen, Überlegenheit demonstrierenden Blick, der sich eindringlich an seinen haftete. Mit einer beiläufigen Bewegung streifte sie sich die weiße Kapuze von ihrem Kopf, legte diesen leicht schief und vereinigte ihre Lippen mit den seinen zu einem flüchtigen Kuss. Ruckartig riss der Loftsdreki sich los, verzog angeekelt die sonst so undurchdringlich steinerne Miene. Was wollte Aska nun wirklich von ihm? Allmählich ergriffen die Zweifel, die schon zuvor in ihm hochgetrieben waren, die Vorherrschaft in seinen Gedanken. Ein stummes Schaudern schüttelte ihn innerlich, wenn er darüber sann, was womöglich Askas wahre Absichten mit ihm waren. Dazu hatte sie doch diesen verächtlichen Vatnsdreki hier - was wollte sie dann mit ihm? Die niederen Triebe des weiblichen Eldursdreki waren anscheinend besonders stark ausgeprägt, und ihr schwebte es vor, sie an ihm auszuleben... Ein derber Schlag ins Gesicht holte Flúgar in die Realität zurück. Aska stand vor ihm, und die köchelnde Wut über seine eindeutige Ablehnung war nicht zu übersehen. "Undankbarer Mistkerl!" Ihre metallenen Augen funkelten vor Zorn, verärgert bleckte sie die weißen Fangzähne. Mit einem harschen Tritt in die Magengrube, wandte sie sich schließlich von ihm ab, beachtete das schwere, schmerzverzerrte Aufkeuchen, das sie ihm damit entlockte, keineswegs. Völlig zusammenhangslos klatschte sie zweimal laut in die Hände, bedeckte die dunkelroten Haare wieder mit der Leinenkapuze, ließ auf diese Weise ihr Gesicht in den Schatten verschwinden. "Lasst die Opferzeremonie beginnen!" Niemand rührte sich, und eine betretene Stille beherrschte die gesamte Gewölbehalle. Eine ganze Weile verging, ehe sich einer von Askas vielen Dienern unschlüssig mit den Händen ringend auf die Knie warf und demütig das Haupt bis auf den Boden neigte. Nervosität begann den Raum zu füllen, der Geruch von Angstschweiß wurde intensiver. "Kazanbai-sama, wir... es hat sich ein, nun ja, es gibt ein kleines... Problem..." Der schmächtige Leib des Dämons bebte vor Angst, und seine Stimme schwankte zwischen beinahe hysterisch und vollkommen ausdruckslos. Derweil hob der weibliche Eldursdreki fragend eine Augenbraue, bedachte ihren aufgelösten Untergebenen mit einem strikten Blick, der keine Widerworte oder Ausschmückungen mehr zuließ. "Kazanbai-sama... der Mensch, den ihr als Opfer auserkoren hattet... sie, sie ist fort..." Askas Gesichtszüge verfinsterten sich verdächtig, und ein heller Feuerschein, der die Luft flimmern ließ, bildete sich rings um sie herum. Die Rothaarige ballte die Fäuste, ihr Atem beschleunigte sich von selbst, und ihre Augen erfasste ein rötliches Glühen. "Was sagst du da? Willst du mir etwa erzählen, dass ihr das Menschenweib entkommen lassen habt?!" Ihre Stimme war ruhig, zu ruhig. Heftiger Groll und tiefste Erbitterung brodelten gefährlich in ihr, und ihr nächster Gefühlsausbruch stand kurz bevor. Rakuchou lächelte kalt, und trat wissend einen Schritt zurück. Aska würde ihrer Entrüstung sehr bald Luft machen, und dann saß hier womöglich kein Stein mehr auf dem anderen. "J-ja, Herrin..." Schuldbewusst drückte sich der niedere Youkai noch mehr an den Boden, kniff in stummer Erwartung seiner Strafe die Augen zusammen. Für diesen Fehler würde er mit dem Leben bezahlen, Aska machte keine Ausnahmen... In diesem Moment eile ein weiterer Diener herbei, kniete sich hastig neben dem ersten in den Staub. "Aska-sama, es gibt schlechte Neuigkeiten!" Die Angesprochene atmete hörbar durch, eine Antwort jedoch blieb aus. "Hikage-sama... wie soll ich sagen... er konnte fliehen, er ist weg." Askas Geduld war erschöpft, und mit einem Mal brach all der angestaute Zorn aus ihr heraus. Ohne Vorwarnung fegte ein lodernder Feuersturm durch den Steinsäulengetragenen Saal, riss alles und jeden mit sich in den Flammentod, was ihm in die Quere kam. Dicker schwarzer Rauch stieg zur Decke auf, schlug sich dort am Gestein als rußfarbene Flecken nieder. "Was ist nur los mit euch allen? Bin ich denn nur von unfähigen Vollidioten umgeben?!" Außer Rakuchou und Flúgar, die unbehelligt geblieben waren, war niemand mehr anwesend, der ihr unkontrolliertes Schreien und Toben hörte, doch den impulsiven Feuerdrachen interessierte das überhaupt nicht, und lebte sich so nach Herzenslust in seiner entfachten Weißglut aus. Währenddessen rumorte es bedenklich in Flúgars Eingeweiden, und ein ziehender Schmerz breitete sich von seinem Magen über sämtliche andere Organe aus, sodass die Wogen der Pein, die durch seine Nervenbahnen jagten, jedes erneute Mal noch weiter anschwollen. Übelkeit und ein furchtbares Schwindelgefühl machten sich schleichend bemerkbar. Flúgar konnte sich dagegen nicht behaupten, stöhnte gequält auf, als die krampfartig auftretenden Anfälle in immer kürzer werdenden Zeitspannen wiederkehrten. Aus welchem Grund ging es ihm plötzlich so schrecklich miserabel? Hatte er irgendetwas getan, das er besser unterlassen hätte? Zumindest war Midoriko in Sicherheit, sie hatte offensichtlich fliehen können und befand sich hoffentlich in der Zwischenzeit weit genug entfernt von diesem Ort, irgendwo, wo Aska sie nicht ausfindig machen konnte. Ein bitteres Lächeln vernahm die blassen Lippen des Loftsdreki ein. Jetzt musste er sich nicht weiter um Midorikos Wohlergehen sorgen, er konnte sich darauf konzentrieren, seine anfänglichen Überlegungen zu realisieren. Es gab schlichtweg keinen Grund mehr zu zögern. Flúgars Atemzüge wurden tiefer, aber ebenfalls ungleichmäßiger. Ein letztes Mal zog er seine vollkommene Konzentration heran, mobilisierte die jämmerlichen Überreste seiner enorm abgeschwächten Kräfte. Nun lag es einzig an ihm, ob er fähig war die Sache durchzuziehen oder nicht. Gelang es ihm tatsächlich, würde er nichts bereuen... Mit aller Macht, die er noch aufzubringen wusste, und dem Einsatz seines vollen Körpergewichtes stemmte er sich gegen seine eisernen Kettenfesseln, übte einen solch überbelastenden Druck auf deren Glieder aus, dass sich das eine, schon von vornherein angeschlagene aus dem festen Verband löste und der Gliederstrang riss. Der Rost hatte auch keinen Halt vor diesem Eisen gemacht, und durch Flúgars leichte Beihilfe war der Vorgang erheblich beschleunigt worden. Zu seinen Gunsten. Er kippte sofort nach vorne über, sein nun fast vollends entkräfteter Leib war gegen die Gewalt der Schwerkraft, die ihn geradewegs in die Tiefe zerrte, absolut machtlos. Ungehindert stürzte er die senkrechte Felswand hinab, und der harte Aufprall, den ihm der Sturz bescherte, trieb ihm nicht nur die Luft aus den Lungen sondern auch beinahe das Bewusstsein aus dem Körper. Nach Atem ringend schüttelte er die nun losen Fesseln von seinen aufgerissenen Handgelenken, griff blindlings nach einem der flachen Steine, die um den kleinen Teich vor ihm herum angeordnet waren, der ihm an der Kante halbwegs scharf genug erschien, um eine nicht allzu weit unter der Haut verborgene Schlagader zu durchtrennen. Mühselig streckte er den seinen linken, durch den Aufschlag taub gewordenen Unterarm vor, platzierte die provisorische Klinge des Steins an den Pulsadern seines gefühllosen Handgelenks. Bis dato hatte er Aska und Rakuchou außer Acht gelassen, hatte nicht im Ansatz realisiert, wie sie auf seine überstürzte Aktion reagierten. Im Grunde war es ihm gleichgültig, aber als ihn plötzlich jemand mit aller Gewalt den Arm in die Höhe riss und ihn unsanft in die nächstgelegene Ecke schleuderte, wurde ihm der Fehler in seiner Rechnung schlagartig bewusst. Das grässliche Geräusch, das Flúgar nach der Kollision mit der steinernen Wand unaufhörlich in den Ohren summte, war das splitternde Bersten seiner Knochen. Welche genau es erwischt hatte, konnte er nicht mehr sagen. Es blieb sich ohnehin gleich... "Lass es bleiben, Loftsdreki. So viel Mumm hast du sowieso nicht!" Der Vatnsdreki starrte ihn missbilligend an. Flúgar senkte die Lider, schloss die Augen, festigte den Griff um den Stein, den er noch immer mit den Fingern seiner rechten Hand umfasste. Er spürte, wie seine Kraft versiegte, schleppend aber bestimmt aus ihm wich... eine schwache Barriere war das Letzte, das er noch zustande brachte, bevor er sich selbst einen tiefen Schnitt zufügte, der die zarten Gefäße seiner Schlagadern am linken Handgelenk zerriss. Die Barriere würde ausreichen, um ihn die wenigen Augenblicke zu schützen, die ihm noch blieben. Er konnte fühlen, wie sein Körper den Kampf aufgab... ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 26: >"Ungeahnte Ereignisse treten ein, der Verlauf der Dinge beginnt sich zu verschieben. Mit den aufwallenden Fluten des Wassers erhebt sich ein allzu vertraut erscheinender Unbekannter, der dem Kommenden eine neue Gestalt verleiht. Ob dies als positiv oder negativ zu sehen ist, liegt allein im Auge des einzelnen Betrachters..." *» Jiboujiki Kapitel 26: *~Jiboujiki~* ------------------------- "Aus den Trümmern unserer Verzweiflung bauen wir unseren Charakter." – Ralph Waldo Emerson Kapitel 26 – Jiboujiki -Verzweiflung- *Wie reagieren wir, wenn unsere schlimmsten Alpträume Wirklichkeit werden? Artet es in ein verbissenes Ringen um das eigene Leben aus? Oder brechen wir einfach unter der Last zusammen, die auf unseren Schultern lastet? Wie geht es weiter, wenn alles um einen herum plötzlich zerbricht und die Scherben jeden Weg blockieren, den wir gehen könnten? Gehen wir an Ort und Stelle zugrunde, oder kämpfen wir bis zum bitteren Ende?* ּ›~ • ~‹ּ „FLÚGAR!!!“ Midorikos Schrei hallte zwischen den Säulen des unterirdischen Felsgewölbes wieder, und gleichermaßen erstaunt wie erschrocken, fuhren Aska und Rakuchou synchron herum. Fast im gleichen Moment bebte die Erde unter einer heftigen Erschütterung, und das Rauschen und Tosen von unvorstellbaren Wassermassen steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. Das kalte Wasser aus den Teichen stieg beständig an, ein reißender, sich stetig vergrößernder Strudel entstand, der über die Abgrenzungen trat und alles mit einer unsichtbaren Kraft in die Tiefe zog. Dann teilte sich das Wasser, und aus weiß schäumenden, wirbelnden Fluten erhob sich der kolossale Schädel eines indigoblauen Drachens. Das riesige Tier öffnete seinen Schlund und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, dessen Schall alleine einige Felsbrocken zu Geröll zertrümmerte. So weit sie es zu sehen vermochte, besaß dieses Ungetüm keine Flügel, nur Flossen - wie ein Fisch, und sein langer geschuppter Leib erinnerte sie mehr an eine Schlange als an einen Drachen; zugegeben, eine überaus große, schwimmende Schlange mit beeindruckend langen Zähnen… Aber wo war Flúgar? Das Wasser hatte längst den Boden geflutet, von dem Luftdrachen fehlte jede Spur. Die Schwarzhaarige schrie sich die Seele aus dem Leib, bis ihre Tränen erstickte Stimme ihr nicht mehr gehorchte. Flúgar konnte doch nicht… Mit einem energischen Kopfschütteln verbannte sie diesen Gedanken aus ihrem Hirn. Noch bevor sie darüber nachdenken konnte, was sie jetzt nur machen sollte, wurde sie hinterrücks von Skuggi gepackt und von ihm zurück in den dunklen Gang gezerrt, aus dem sie gekommen waren. Die Priesterin wehrte sich verbissen gegen ihn, er jedoch hob sie auf seine Arme und bahnte sich schnellstmöglich einen Weg zurück zur Oberfläche. Immer weiter stieg der Wasserpegel, und die wahre Kraft des nassen Elements offenbarte sich. Die runden Pfeiler knickten seitwärts ein wie welke Grashalme, und die tobende See verschlang alles an Staub und Felsbrocken, das krachend aus der Höhlendecke brach und lautstark in die brausenden Untiefen eintauchte. Grober Sand und Gesteinssplitter rieselten von der Gewölbekuppel herab, und langsam hielt der Drache, der all dies kontrolliert herbeigeführt hatte, es für besser, wieder unterzutauchen und die Grotte zu verlassen. Klatschend schlugen die hohen Wellen über seinem mächtigen blauen Leib zusammen, als er diesen zurück unter die Oberfläche drückte. Er hatte eingreifen müssen, denn ansonsten wäre wohl nichts mehr zu retten gewesen. Nicht nur, dass dieser törichte Loftsdreki wirklich Ernst machte und sie die Pulsadern aufschlitzte, nein, diese Menschenfrau musste sich auch noch bei Aska und Rakuchou verraten. Die zwei passten wahrlich zusammen wie Pech und Schwefel… Graziös manövrierte er sich mit Hilfe seiner Flossen und seinem Rückensegel bis hinunter zum Grund der überschwemmten Höhle, und er brauchte nicht sehr lange, um das zu finden, nach dem er gesucht hatte. Zu seiner Erleichterung war es noch nicht zu spät, und der letzte Funken Leben des Loftsdreki war noch nicht erloschen. Rakuchou war geflohen, gemeinsam mit dem Eldursdreki. Er hatte Recht behalten, seinem Bruder nicht zu vertrauen, denn schon längere Zeit war ihm aufgefallen, dass sich dieser sonderbar benahm. Allerdings hatte er nicht erwartet, dass Rakuchou so weit gehen würde und sich mit Aska verbündete. Obwohl… in seiner Not fraß der Teufel Fliegen, sagte man, und er musste einräumen, dass sich die Empfindungen seines Bruders entgegen der Loftsdrekar mit den Jahren nur gefestigt und verstärkt hatten. Und er wollte nicht, dass noch einer seiner Brüder seinen Gefühlen zum Opfer fiel. Nein, noch einmal würde er es nicht mit ansehen, wie die Seele eines Vatnsdreki von seinem Hass und Rachegefühlen konsumiert und zerstört wurde, niemals… ּ›~ • ~‹ּ Ungläubig fixierte ich den von massiven Felsblöcken verschütteten Eingang der Höhlung; der Berg selbst war wieder in Schweigen verfallen, präsentierte sich in seiner neuen, gewaltsam veränderten Form als würde er bereits hunderte von Jahren so existieren. Ich war schockiert, vom Entsetzen gepackt, und unfähig, zu handeln oder nur klar zu denken. In mir tobte ein Orkan von gemischten, bitter-süßen Empfindungen, die sich mir teils aufdrängten, teils versucht schienen, sich möglichst rasch wieder zu verflüchtigen. Mir war nicht bewusst, was ich von alledem halten sollte, ich wollte nicht begreifen, was soeben geschehen war. In meinem Kopf gähnte eine undefinierte Leere, wie ein schwarzes Nichts, das alles in sich hinein sog und unwiderruflich verschlang; ein unheimliches Loch ohne Gestalt, das sich durch meine rationalen Gedankengänge fraß und sie restlos ausmerzte… Ich nahm wohl Notiz davon, dass Skuggi direkt hinter mir stand, mir einen verständnisvollen, mitleidigen Blick schenkte, aber seine Anwesenheit spendete mir keinen Trost, milderte nicht einmal im Geringsten den Schmerz, den der Verlust des Luftdrachens in meinem Herzen verursachte. Es tat weh zu wissen, dass ich ihn im Stich gelassen hatte, und dass er deswegen jetzt… Aber… warum? Was hatte ihn dazu angespornt, sich selbst in den Tod zu stürzen? Was für ein Motiv verbarg sich dahinter? Hatte er etwa gezweifelt, dass ich kommen würde, um ihn zu befreien? Oder war es wieder Aska, die ihre Finger im Spiel und ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt hatte? Noch immer rannen mir salzige Tränen über die Wangen, tropften auf den ockerfarbenen, felsigen Untergrund. Alles erschien mir wie ein Traum, ein bitterböser Alptraum, der mich malträtierte und nächtelang verfolgte, mich nicht mehr erwachen ließ. Doch es war schlimmer als das; es war die Realität, und etwas Geschehenes war nicht mehr rückgängig zu machen, ganz gleichgültig, wie sehr man sich auch danach sehnte. Früher oder später musste ich mich mit diesem Vorfall abfinden, wenn ich daran nicht zugrunde gehen wollte. Blitzartig kam mir meine Mutter in den Sinn… nun verstand ich sie. Jahrelang hatte sie durchlitten, was ich gegenwärtig fühlte, und war schließlich daran zerbrochen. Sollte mir dasselbe widerfahren? Hatte sich das Schicksal mittlerweile so gegen mich verschworen? Oder war es das, was man Leben nannte? Trauer und Verlust begleiteten jeden Menschen, ich stellte keine Ausnahme dar, und blieb demnach auch nicht davon verschont. Aber musste es denn so ausgehen? Musste das Schicksal einem das, was man zaghaft lieb gewann so harsch entreißen? Wie sollte es ab jetzt mit mir weitergehen? Wohin würden meine Wege mich führen? Und was würde ich tun? Mein altes Leben war keine lockende Alternative… zumindest blieb mir Kaneko, meine treue Weggefährtin, die den Platz an meiner Seite hoffentlich niemals verlassen würde. Ich schniefte leise, wischte mir mit dem Ärmel meiner Baykue die Tränen aus dem Gesicht… das konnte doch alles nicht wahr sein, oder? Wo versteckte sich der Sinn hinter solchen Ereignissen? Vielleicht gab es ihn nicht, und… „Warum weint ihr Menschen, wenn ihr traurig seid? Und warum sind es Tränen, die salzig wie das Meer sind, die ihr vergießt? Denkt ihr in eurer einsamen Traurigkeit an den Ozean?“ Der Klang jener fremden Stimme ließ mich zusammenzucken, und als ich den Blick vorsichtig hob, erstarrte ich, hielt den Atem an. Wie hätte ich diesen Anblick jemals vergessen können… Shiosai. Die langen tiefblauen Haare, deren Spitzen weiß wie ein schaumiger Wellenkamm erschienen, die meeresgrünen Augen und die silbergraue, mit Tiefseeschätzen verzierte Kleidung. Mir war, als würde er leibhaftig vor mir stehen, und es bedurfte mir einer eindringlichen Musterung der Gestalt, die noch etwas abseits von uns inne hielt, um zu begreifen, dass es sich nicht um den Vatnsdreki handelte, den ich vor nicht allzu langer Zeit mit Flúgar in Yumejis Wald angetroffen hatte. „Wer bist du?“ Skuggi stellte sich dem Fremden, dem die aufgehende Morgensonne im Rücken stand, entgegen, und sprach ihn nicht gerade in einem höflichen Ton an. Er beschwor den Ärger förmlich herauf. Ich hatte nicht die Lust, und auch nicht die Kraft dazu, etwas dagegen einzuwenden oder zu unternehmen. Sicherlich versuchte der Schattendrache mich nur zu schützen. „Ich stamme aus dem Clan der Vatnsdrekar. Ich bin Uminaris erster Sohn und Erbe. Um es kurz zu halten: Kyouran.“ Die tiefe Stimmlage mit dem leicht rauchigen Tonfall erinnerte mich ebenfalls stark an Shiosai, allerdings schwang im Unterton dieses Vatnsdreki, der sich mit dem Namen Kyouran betitelt hatte, eine eigenartige Sanftheit mit, die bei Shiosai nicht im Ansatz vorhanden gewesen war. Ob die Möglichkeit bestand, dass er mit ihm verwandt war? Andererseits, vielleicht glichen sich die Vatnsdrekar alle in ihrem Aussehen, sodass es den Anschein erweckt, als wären sie alle direkt miteinander blutsverwandt. Kyouran wandte plötzlich den Kopf zur Seite, ging behutsam halbseitig in die Knie. Das schwache Röcheln aus seiner Richtung zog mein Interesse auf sich und ließ mich hellhörig werden. Er war definitiv nicht alleine, jemand war bei ihm. Misstrauisch blickte ich ihn an, blinzelte durch die frühmorgendlichen, goldfarben wirkenden Sonnenstrahlen hindurch, ohne dabei jedoch den gewünschten Effekt zu erzielen. Der Vatnsdreki war nicht unbedingt zimperlich mit seiner Begleitung, zog diese von seinem Rücken weg und legte sie seitlich auf dem unebenen Boden ab. Dann hob Kyouran leicht den Kopf, warf mir einen eindringlichen Blick zu. „Hörst du auf zu weinen, wenn ich dir verrate, wen ich aus dem Wasser gefischt habe?“ Skepsis und Unsicherheit vermischten sich in meinem Ausdruck. Was wollte er von mir? War er etwa auch so wüst und derbe wie Shiosai? Seine Augen waren anders als die von dem Vatnsdreki, den Flúgar getötet hatte, sie strahlten Wärme und einen Hauch von Sanftmut aus, die mich die leise Angst, die in mir aufzukommen drohte, vergessen ließ. Ein innbrünstiges Seufzen war zu vernehmen, als sich Kyouran zögerlich auf dem felsigen Boden niederließ und diesmal recht fordernd dreinschaute. „Könntest du dich jetzt – bitte – hierher bewegen und dich um ihn kümmern? So allmählich vergeht mir die Lust daran diesem Idioten die Schlagader abzudrücken, damit er mir die Klamotten nicht noch mehr versaut…“ Er schüttelte missmutig den Kopf, wartete ungeduldig auf meine Reaktion. Behände erhob ich mich, schritt so schnell wie es meine Verfassung mir noch erlaubte auf ihn zu. Mein Blick haftete sich auf die Gestalt, die neben Kyouran regungslos auf dem Boden lag… „Flúgar…“ Ich brachte keinen Ton mehr heraus, sackte neben ihm auf die Knie, berührte ihn zaghaft an der Schulter. Er war vollkommen durchnässt, seine Atmung war schwer und von Hustenanfällen durchsetzt. Aus der länglichen Wunde an seinem linken Arm sickerte kaum noch Blut, und als ich Kyouran ansah, der Flúgar einen besorgten Seitenblick zugedachte, wusste ich auch, dass das ihm zu verdanken war. Seine Hände und die linke Seite seines silbergrauen Haoris waren blutverschmiert, und im Moment bemühte er sich die Blutung gänzlich zu stillen, indem er einfach die Zufuhr durch den Druck, den er auf die Schlagader ausübte, unterbrach. „Das ist der Drache, der den Einsturz der Höhle verschuldet hat. Trau ihm nicht, Midoriko, er hätte uns um ein Haar genauso ersäuft wie Aska und ihre Gefolgschaft.“ Skuggi behielt sich auf Abstand, ließ den Vatnsdreki nicht mehr aus den Augen. Der Beschuldigte warf dem Schattendrachen einen flüchtigen Blick zu. „Aska lebt – sie ist zusammen mit Rakuchou geflüchtet, ich habe lediglich ihre Anhängerschaft ertränkt. Das hat mich euch nichts zu tun, obwohl ich hinzufügen muss, dass deine Ungehaltenheit mir einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, Mädchen. Mein Bruder ist fort… zumindest habe ich Flúgar finden können.“ Sein Bruder? Dieser Vatnsdreki, der mit Aska unter einer Decke steckte, war Kyourans Bruder? Und ich sollte ihm sein Vorhaben vermasselt haben? Was für ein unangebrachter Kommentar von ihm… Flúgar erging es schlecht und er sprach von Angelegenheiten, denen jetzt wirklich kein Interesse zu widmen war. Ich machte mir ernsthaft Sorgen, strich dem bewusstlosen Loftsdreki einige nasse Strähnen seines Haares aus dem Gesicht. Dann schaute ich mich um, suchte die Umgebung nach einem geeigneten Unterschlupf ab, denn hier, mitten im Steinbruch, wollte ich ihn nicht liegen lassen; schon gar nicht in diesem Zustand. „In der Nähe gibt es eine alte Hütte, reicht das für deine Zwecke aus?“ Ich nickte, beobachtete wortlos, wie Kyouran den Verletzten wieder auf seinen Rücken wuchtete und mir anbot, ihm zu folgen. Kaneko miaute zustimmend, und ich kam seiner unausgesprochenen Anfrage nach. Skuggi hielt sich im Hintergrund, fixierte den Vatnsdreki mit einem verstohlenen Glitzern in den Augen. Er vertraute ihm kein Stück, und zeigte das auch offen. Aber woher rührte sein ablehnendes Verhalten? Erst jetzt fiel mir auf, dass er sich nur im Schatten fortbewegte, jeden noch so kleinen Sonnenfleck aufs Dringlichste vermied. Tageslicht war wohl etwas, das sein Körper nicht vertrug; immerhin war das Siegel, mit dem er festgehalten und gebannt worden war, ein Sonnenstein gewesen. Seine rabenschwarzen Haare reichten nur knapp bis zu den Schultern, und seine Haut war außergewöhnlich blass, seine fremdländische Tracht schlicht und abgetragen. Der wache, amethystfarbene Blick allerdings hatte sich nicht verändert, er war dem gleich, den ich in seiner Gefängniskammer gesehen hatte… „Willst du dich nicht ein wenig beeilen, Wasserdrache? Meiner Meinung nach sieht er ganz schön abgearbeitet aus.“ Wieso tat er das? Er konnte sich glücklich schätzen, dass Kyouran nicht auf seine Provokation einging und ihn zufrieden ließ; diese Stichelei war absolut überflüssig. „Wenn du ihn so unbedingt tragen willst, bitte sehr, aber Flúgar ist nicht gerade ein Leichtgewicht.“ Rasch erreichten wir die dürftige Holzbehausung, die leicht verwittert und von den Jahren ihrer Existenz gezeichnet einsam und verlassen auf einer kleinen Lichtung stand. Moose und Flechten wuchsen im Schatten der alten Bäume, zwischen denen sich plätschernd ein kleiner Bach seinen Weg bahnte. Weiche, langblättrige Gräser säumten die mächtigen Stämme, und hier und da entdeckte man in den dichten Büscheln die breite Hutkrempe eines Pilzes. Es war ein guter Ort für einen - hoffentlich nicht allzu langen - Aufenthalt, den Kyouran da vorgeschlagen hatte. Trotzdem erschien mir das ein wenig seltsam, denn immerhin befanden wir uns, soweit ich das verstanden hatte, im Revier der Loftsdrekar, Flúgars Sippe, und die duldeten, wenn ich mir das Verhalten des Exemplars, das ich kannte, in Erinnerung rief, keine anderen Drachen in ihrem Territorium. Wie konnte es also sein, dass er sich hier auskannte? Ich hatte bis jetzt keinen schlechten Eindruck von ihm, und folglich auch keinen Grund ihm zu misstrauen. Sicher, er war ein Vatnsdreki und sein Äußeres glich dem von Shiosai ungemein, aber das ergab keinen Anlass für mich, Vorurteile und Argwohn gegen ihn zu hegen. Es lag mir fern, jemanden von Vornherein zu verurteilen. Ohne Umschweife betrat der Drache mit den dunkelblauen Haaren die Hütte, legte den besinnungslosen Flúgar dort achtsam auf einer eingestaubten Strohmatratze ab und wandte sich dann an mich. „Kommst du mit ihm alleine zurecht?“ Ich setzte mich neben Flúgar auf den Holzboden, musterte seinen von Schürfwunden, Kratzern und blauen Flecken übersäten Leib. Ausgenommen der Schnittwunde am linken Arm, die er sich selbst zugefügt hatte, wies er keine weiteren gefährlichen Verletzungen auf, und im Ganzen betrachtet war er wohl noch glimpflich davongekommen. „Könntest du für mich ein paar Kräuter sammeln gehen?“ Mein fragender Blick galt ihm, und nach einem kurzen Zögern deutete er ein Nicken an. „Wenn du mir genau beschreiben kannst, was du brauchst. Waldpflanzen sind nicht das, mit dem ich mich bisher beschäftigt habe.“ Etwas wie Verlegenheit beschlich seine Züge, und verlieh seiner Miene einen Ausdruck, der mich innerlich zu einem verschmitzten Grinsen veranlasste. Er bemühte sich ernsthaft, und nur deshalb hatte er mir seine Hilfe angeboten. Wirklich kein Vergleich zu Shiosai… „Das ist nett von dir, aber… warum hilfst du Flúgar?“ Kyouran stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, schloss für einen Moment die Augen, als ob es ihn Überwindung kosten würde, sich zu meiner Frage zu äußern. Hatte ich mich etwa so im Thema vergriffen? „Ich will mit ihm sprechen, und tot taugt er dazu nicht mehr. Und entgegen dem, was ich geglaubt habe, ist Flúgar ein anständiger Kerl… du solltest dich um seinen Unterarm kümmern, ihn schienen, dann heilt der Bruch schneller aus.“ Mit diesen Worten verließ er lautlos die Unterkunft, und ich wurde das Gefühl nicht los, etwas Falsches gesagt zu haben. Ich hoffte, ihn nicht verärgert zu haben, denn das war nicht meine Absicht gewesen. Vielleicht ging mich diese Angelegenheit einfach nichts an, und ich sollte nicht versuchen, meine Nase dort hinein zu stecken. Flúgars Körper fügte sich unwillkürlich einem heimlichen Krampf, der alsbald in einen haltlosen Husten ausartete; ein gedämpfter Schmerzenslaut entrang sich seiner Kehle, ging fließend in ein klägliches Würgen über. Ein dünnes Rinnsal farbloser Flüssigkeit rann ihm aus den Mundwinkeln und über das Kinn, tropfte jählings zu Boden. Die geruchlose Lache dehnte sich zusehend aus, und eine ganze Weile verging, bis der Anfall des Loftsdreki wieder abebbte, sein Husten versiegte. Sachte fuhr ich ihm über den Rücken, wartete ab, ob sich sein Zustand beruhigte. Er tat mir leid, und ich fragte mich inständig, woher diese Menge von flüssigem Zeug kam, die er gerade ausgespuckt hatte - denn um Wasser handelte es sich nicht, so viel konnte ich sagen. „Das gehört dir, oder?“ Skuggis Stimme unterbrach meine Gedanken; er stand unschlüssig in der Tür, mein Reisegepäck in der Hand, das man mir nach der Gefangennahme abgenommen hatte. Ich freute mich, aber wie war er an die Sachen herangekommen? Mir einer einladenden Gestik winkte ich ihn zu mir, bedeutete ihm, sich neben mich zu setzen. So… schüchtern war er mir anfangs nicht erschienen. „Die Anwesenheit dieses Vatnsdreki macht mich nervös. Der ist nicht zufällig hier, Midoriko, vertrau ihm nicht. Wenn Askas Gehilfe wahrhaftig sein Bruder ist-“ Ich schnitt ihm das Wort ab, obschon ich wusste, wie unhöflich es war, ihn mitten im Satz zu unterbrechen. Es war nachzuempfinden, dass er auf die Vatnsdrekar nicht gut zu sprechen war, doch das hier…? War das in Ordnung? „Kennst du ihn?“ Der Schwarzhaarige verneinte tonlos. „Was ist es dann? Hast du Angst?“ Vorab entgegnete er dem nichts, senkte den Kopf und starrte auf die staubige Reisstrohmatte unter ihm. „Ich weiß es nicht… aber ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, und mein Instinkt täuscht mich selten. Was will er hier, im Gebiet der Loftsdrekar? Soweit ich weiß, haben sich die beiden Clans bis aufs Blut befehdet, und dann wagt er sich alleine her? Etwas stimmt da nicht.“ Er war ehrlich, das spürte ich, und im Grunde genommen hatte er Recht… oder? Was sollte ich nur davon halten? Ich musterte Skuggi von der Seite, erfasste seinen angespannten Ausdruck. Ein Seufzen drang aus meinem Munde. „Kyouran ist ein wenig eigenartig, das denke ich auch, aber das hängt mit etwas Anderem zusammen. Ich bin mir nicht sicher, was es ist, aber es hat scheinbar mit Flúgar zu tun.“ Wir verfielen in Schweigen, und ich begann in meinem Gepäck nach etwas Brauchbarem zu suchen, das mir eventuell helfen konnte, den Arm des Loftsdreki zu schienen. Er war gebrochen, dessen hatte ich mich vergewissert, nachdem Kyouran mich darauf aufmerksam gemacht hatte. Es war jedoch nicht bloß sein linker Unterarm, auch ein Großteil seiner Rippen hatte den Sturz nicht heil überstanden und bereiteten ihm Schwierigkeiten beim Atmen; mit Sicherheit hatte er auch innere Verletzungen davongetragen. Da ich weder Verbandsmaterial noch Bandagen bei mir hatte, fiel mir die Entscheidung vergleichsweise leicht, und so machte ich mich daran, den zartrosafarbenen Yukata aus der kleinen Stadt am Fuße des Gebirges, in der wir kurz gerastet hatten, zu zerreißen. ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 27: >“Die Nachwirkungen der letzten Ereignisse bringen Erinnerungen hoch, die niemals in Vergessenheit hätten geraten dürfen. Diese braunen Augen, aus denen nichts als Entschlossenheit und ein eisernen Wille spricht… er kennt diesen Blick nur zu gut, und nun kehrt das Bewusstsein, woher dies rührt, auch wieder zurück…“ *» Minning Kapitel 27: *~Minning~* ----------------------- "Manchmal kann man die Vergangenheit mit den Sinnen festhalten: Die eine riecht nach wohltuender Erinnerung, die andere stinkt zum Himmel." – Ernst R. Hauschka Kapitel 27 – Minning -Erinnerung- *Ist es wahr, dass die Zeit alle Wunden zu heilen vermag? Was jedoch bedeutet es, wenn weiße Narben an jenen einst verletzten Stellen zurückbleiben? Ist es eine stetige Erinnerung an die Vergangenheit? Oder ein Symbol für die Unfähigkeit es zu erfassen? Und was sollen wir tun, wenn uns das Vergangene nicht loslässt und immer wieder einholt? Kämpfen? Es verdrängen? Darauf eingehen…?* ּ›~ • ~‹ּ »Die schweißnassen Flanken des grobschlächtigen, aschfarbenen Pferdes mit der kohlschwarzen Mähne beben vor Anstrengung, seine Nüstern blähen sich in einem kurzen, abgehackten Takt. Schaum trieft aus seinem Maul, und die aufmerksamen Ohren erhaschen jedes noch so ferne Geräusch. Auf seinem Rücken trägt es einen stattlichen Mann in der Blüte seiner Jahre, groß und breitschultrig, gekleidet in Helm und Rüstung in den Farben der Dämonenjäger. Er ist einer von ihnen, und dennoch erscheinen seine Gesichtszüge milde und gütig. Doch seine Gnade gilt nicht den Youkai, die er jagt und tötet, sondern nur seiner eigenen Rasse, den Menschen. Im Hintergrund schlagen die Flammen, die die Häuser der Siedlung bis auf ihre Grundmauern niederbrennen, höher, bis hinauf zum samtenen blauschwarzen Firmament. Es ist Neumond, und kein einziger Stern ziert den blanken Nachthimmel. Rauch steigt auf, es riecht nach verkohltem Fleisch, und panische Angstschreie von Menschen und Tieren hallen durch das verlorene Dorf. Der Hilferuf an die Taijiya erfolgte zu spät, doch dem zum Trotz sind sie gekommen, bringen hartnäckig auch den letzten niederen Dämon zur Strecke, der sich noch in der Nähe aufhält. Geruhsam zieht der Mann sein Schwert, gleitet vom Rücken seines Streitrosses, ohne einen einzigen Augenblick der Unachtsamkeit. Er wird ihn in keinem Fall entkommen lassen, denn dieser Dämon ist anders als das übliche Pack, das ihm beinahe tagtäglich begegnet. Ein Youkai in Menschengestalt, der ihm unverfroren entgegentritt und kalt behauptet, nichts mit den gegenwärtigen Ereignissen zu tun zu haben. Natürlich lügt er, das liegt für den Dämonenjäger auf der Hand, und er vermeint in ihm den Drahtzieher des Überfalls auf das wehrlose Dorf zu sehen. „So viele unschuldige Menschenleben… dafür werde ich dich niederträchtiges Biest in Gestalt eines Menschen dort hinschicken, wo du hergekommen bist. In die Hölle…“ Damit bezieht er Kampfposition, fasst seinen Gegner als Ziel und stürmt mit einem lauten Schrei auf ihn los. Doch der Dämon gibt sich unbeeindruckt, verengt die farblosen Augen zu schmalen Schlitzen. Er gewährt dem törichten Menschen seinen Angriff, fängt jedoch mit einer blitzschnellen Bewegung die Klinge des Schwertes ab und blickt dem zutiefst Bestürzten nachdrücklich in die dunkelbraunen Augen. Unbewusst prägt sich dieser Ausdruck des Schocks unauslöschlich in seinen Verstand ein. Unwirsch reißt der Youkai seine andere Hand empor, und stößt sie dem bis aufs Mark erschütterten Menschen durch die Brust. Der Blick des Mannes wird fahl, und der Ruck, mit dem der Dämon seine blutbefleckten Klauen zurückzieht, reicht aus, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Kraftlos stürzt er zu Boden, und das Letzte, was er wahrnimmt, bevor sein Leben endgültig verlischt, ist der Dämon, der ihm die starren, weißen Augen zuwendet und seine Gestalt in die eines Drachens mit vier riesigen Flügeln wandelt…« ּ›~ • ~‹ּ Gefassten Schrittes wanderte Kyouran durch den sonnendurchfluteten Wald, witterte angestrengt in der Luft und suchte den Boden mit den scharfen Augen ab. Er hatte die Wahrheit gesagt, denn er hatte wahrlich keinen Schimmer von Heilkräutern oder allgemein von Pflanzen, die an Land wuchsen. Woher sollte er so etwas wissen? Beinahe sein ganzes Leben hatte er im Wasser, im Meer verbracht, und ihn zog es auch nicht sonderlich an die Oberfläche oder gar aufs Festland. Einige seiner Geschwister mochten in dieser Beziehung anders denken und handeln, aber für ihn war es schon lange eine klare Sache, dass er trockenen Boden unter den Füßen lieber vermied. Nicht nur, dass einem hier ständig die eigenartigsten Kreaturen über den Weg liefen, nein, es wimmelte von Menschen. Kaum hatte man sich ein ruhiges Plätzchen ausfindig machen können, drangen wieder die nervtötenden Stimmen dieser äußerst lästigen Wesen bis zu einem vor. Und wenn man sie bloß hörte, hatte man Glück, denn wenn man nicht die höchste Form von Vorsicht an den Tag legte, die man sich vorstellen konnte, dann passierte es von einer Sekunde auf die andere, dass man von einem ganzen Tross Dämonenjägern oder Drachentötern umringt war, die nach einer neuen Trophäe lechzten. Das war es einfach nicht wert, Kyouran hatte dem Festland abgeschworen, und um seines Wohlergehens Willen verzichtete er eben auf ausgiebige Sonnenbäder und verweilte auf dem finsteren Grund des Ozeans. Doch selbst dort war es ihm zurzeit unerträglich. Die Stille, die im Palast seines Vaters eingekehrt war, machte ihn fast wahnsinnig. Shiosai war tot, es war unabänderlich, und die Trauer griff um sich, als wäre sie ein Riesentintenfisch mit unzähligen Tentakeln, die er nach seinen Opfern ausstreckte. Dank Flúgar lebte zumindest Suika noch. Aber auch das war nur eine Nebensache, über die er mit dem Loftsdreki sprechen wollte, er war eigentlich aus einem ganz anderen Grund hierher gekommen. Die Sehnsucht nach dieser einen Person zerriss ihn fast und trieb ihn in ihrer Übermacht in die Ruhelosigkeit – und wer außer Flúgar konnte und würde ihm auch die Auskunft geben, wo sich dieser jemand momentan aufhielt? Minamikaze oder ein anderer aus seinem Clan würden ihn ohne groß zu zögern in der Luft zerfetzen, und nach einem Kampf war ihm nun wahrlich nicht zumute. Er fühlte sich ohnehin nicht besonders gut, das war jedoch kein Anlass für ihn, mit offenen Augen Selbstmord zu begehen. Der Vatnsdreki zuckte die Achseln. Womöglich hatte er für dergleichen einfach nicht genug Mumm in den Knochen, aber das kümmerte ihn nicht weiter; ihm verlangte es auf der anderen Seite auch nicht danach. Kyouran hielt inne, prüfte schnuppernd den ihm bekannt erscheinenden Geruch. Sternenminze… wenigstens ein Kraut, das ihm etwas sagte. Schonend fasste er den Stiel des Pflänzchens und zupfte es samt der Wurzel aus der Erde, steckte es in seinen schwarzen Obi. Diese Priesterin… soweit er sich entsinnen konnte, hatte der Schattendrache sie Midoriko genannt. War es tatsächlich Midoriko? Die Miko, die in aller Munde war? Er hatte viele Gerüchte von den Fischerleuten über sie zu Ohren bekommen, und dementsprechend hatte er sie sich auch vorgestellt. Eine skrupellose Menschenfrau, die Dämonen aufs Bitterste verachtete und dementsprechend grausam mit ihnen verfuhr. Angeblich machte sie unerbittlich Jagd auf jeden noch so kleinen Youkai, und ihre feste Entschlossenheit sorgte dafür, dass sie niemals zögerte… Jetzt, wo sie leibhaftig vor ihm gestanden und er sie mit eigenen Augen gesehen hatte, verflüchtigte sich dieses Bild vor seinem Geiste immer mehr. Sie war wesentlich jünger als beschrieben, und ihre Züge waren von Milde und Barmherzigkeit bestimmt. Kyouran glaubte nicht, dass jemand wie sie imstande war, Dämonen in einer Art und Weise abzuschlachten, so dass deren entfernte Verwandte vor Furcht zitterten, wenn nur ihr Name erwähnt wurde. Was sollte er von diesem Mädchen denken? Dieser Blick, als sie Flúgar erkannt hatte… eine Priesterin, die angeblich Dämonen hasste, sorgte sich um einen dieser Rasse? Und wie wohl der Loftsdreki zu ihr stand? Kyouran wurde nachdenklich. Die beiden hatten offensichtlich etwas miteinander zu schaffen… und dieser Umstand verwirrte ihn. Flúgar hasste Menschen, das wusste man sogar als Außenstehender. Aber wie konnte dann so etwas entstehen? Er schüttelte den Kopf, bemühte sich um eine Ablenkung, denn diese widerstrebenden Überlegungen machten ihn konfus. Das vergnügte Grunzen eines Wildschweins klang daher wie liebliche Musik in seinen Ohren… Als Kyouran von seinem Streifzug in den Wald zurückkehrte, taten sich am Horizont düstere Wolkenfronten auf. In samtenem Purpur, durchzogen von dunklem Rot und Blau, türmten sich die unheilvollen Regenwolken immer weiter auf, krochen stetig näher, bis sie schließlich die Sonne verdeckten und die Gegend in trübes Zwielicht tauchten. Ein schneidender Wind rauschte in den Wipfeln der Bäume, rüttelte an den Holzbrettern der kleinen Hütte. Midoriko schrak zusammen, als sich plötzlich die Umrisse des Vatnsdreki im Türrahmen abzeichneten, und ihr erschrockener Blick veränderte sich nicht wesentlich, als sie entdeckte, was sich der Drache über die Schulter geworfen hatte. „Was… hast du denn mit dem Wildschwein vor?“ Die Priesterin unterbrach für einen Moment ihr kontinuierliches Tun, blickte Kyouran an. Der wirkte überrascht von ihrer Reaktion, schulterte stolz seinen erbeuteten Eber. „Hast du keinen Hunger?“ Ihr Ausdruck wurde beinahe fassungslos. Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, auch nur einen Bissen von dem borstigen Tier zu nehmen. „Nein… nein, danke. Ich esse kein Fleisch.“ Das Gegenüber der Schwarzhaarigen runzelte die Stirn, zog die Augenbrauen zusammen. War das ihr Ernst? Irgendwie erschien ihm das befremdlich. „Das meinst du nicht ernst.“ Midoriko nickte leicht, er seufzte. „Man sollte sich wirklich nicht auf Gerüchte verlassen…“ Kopfschüttelnd wandte Kyouran sich ab, setzte sich neben dem Zugang des Holzhäuschens nieder und begann für sich, dass tote Schwein zu zerlegen. Skuggi zu fragen, ob er etwas davon haben wollte, konnte er sich getrost sparen; der Schattendrache warf ihm weiterhin durchgehend scheele Blicke zu. Unterdessen fuhr die Miko in ihrer kleinen Nebenarbeit fort, flocht Flúgars nasse Haarsträhnen zu einem Zopf zusammen. Er regte sich noch immer nicht, und da sie ihn soweit sie es vermochte, versorgt hatte, suchte sie fieberhaft nach einer neuen Beschäftigung, die sie ein wenig auf andere Gedanken brachte. Jetzt, wo Kyouran wieder da war, ergab sich für sie die Möglichkeit, sich ein wenig mit ihm zu unterhalten. Willig schien er in dieser Hinsicht ja zu sein, aber über was sollte sie mit ihm reden? Diesmal würde sie versuchen, sich etwas einfühlsamer zu verhalten, da ihr lebhaft ins Gedächtnis trat, wie er auf ihre letzte Frage reagiert hatte. „Darf ich dich etwas fragen… Kyouran?“ Der Angesprochene blickte auf, stellte das Einnehmen seiner Mahlzeit erst einmal zurück. Mit einem hohlen Gefühl in der Magengegend hoffte er, dass die Priesterin ihn nicht mit zu komplizierten oder langatmigen Fragen aufhalten würde, damit er möglichst bald zum Essen übergehen konnte. „Sicher.“ Höflichkeit jedoch war etwas, auf das sein Vater und die Gesellschaft der Vatnsdrekar an sich viel Wert legten, und daher ließ er sich auch nicht anmerken, wie ungelegen ihm die Anfrage auf ein Gespräch erschien. „Stimmt es, dass der Drachenkönig Ryujin in seinem Palast Ryugu auf dem Grund des Meeres lebt? Da du ein Wasserdrache bist, müsstest du so etwas ja wissen… oder?“ Kyouran grinste, brach schließlich in ein amüsiertes Gelächter aus, das den gesamten Innenraum der Hütte ausfüllte. Ein warmes, melodisches Lachen, das angenehm in ihren Ohren nachklang, und von Ehrlichkeit zeugte, wie kaum etwas anderes. „Ihr Menschen seid wahrlich ein lustiges Volk… aber so Unrecht hast du nicht. Der Palast der Vatnsdrekar, Ryugu, existiert tatsächlich, und er befindet sich auch auf de Meeresboden, doch mein Vater ist weder der Drachenkönig, noch lautet sein Name Ryujin. Er heißt Uminari, und ein Herrscher ist er höchstens über den Clan der Wasserdrachen. Ryujin ist der Name meines Großvaters, aber Drachenkönig … das wäre bei beiden doch etwas hoch gegriffen…“ Midoriko errötete, ließ den Blick verschämt schweifen. Ihr war es peinlich, vor dem Sohn des vermeintlichen Drachenkönigs die Geschichten zu hinterfragen, die sich die Fischer und Seeleute untereinander erzählten, und die mit den Händlern tiefer ins Landesinnere hinein gelangten. Sie hatte die Sage um den Drachenkönig und seine Tochter schon oftmals gehört, und wenn sie jetzt schon einmal einem echten Vatnsdreki begegnete und sich ihr die Gelegenheit bot, etwas Näheres über die Hintergründe in Erfahrung zu bringen, dann sollte sie diese auch nutzen. „Ist es denn wenigstens richtig, dass er die Gezeiten kontrollieren kann?“ Scheu sucht sie seinen Augenkontakt, blinzelte ungläubig, als dieser bloß nickte und sie mit einem warmherzigen Lächeln bedachte. Das matte Stöhnen, das Flúgar plötzlich von sich gab, veranlasste sie augenblicklich zum Herumfahren. Besorgt musterte sie seine verspannte Haltung, die von Unwohlsein geprägten Gesichtszüge. Was war los mit ihm? Ob er Schmerzen hatte? „Er träumt wohl nicht sonderlich gut.“ Midorikos Beunruhigung flaute ein wenig ab, verschwand aber nicht gänzlich. Seltsamerweise hatte sie das drückende Gefühl, dass es bei Flúgar nicht bei einem simplen Alptraum bleiben würde… »Braune Augen, in denen die Entschlossenheit glüht wie das unlöschbare Fegefeuer der Hölle, mitternachtsschwarze Haare, die bis zum Steiß reichen, und dazu die vollkommen gegensätzlichen Züge eines Menschen, der sonst nur mit dem Herzen entscheidet, dessen herausragende Eigenschaften Güte und Barmherzigkeit sind… Der stechende Blick scheint alles zu durchdringen, durch alles durchzusehen, bis bloß noch die Seele verbleibt; ein Blick, der so tief geht, dass es ihm beinahe Schmerzen bereitet. Wie kann ein Mensch nur solche Augen haben? Ein gewöhnlicher Mensch, der bis auf die Seele eines Dämons zu blicken vermag? Unmöglich… und doch, er steht vor ihm, fixiert ihn, legt die Hand auf den Griff seines Schwertes. Er ist ein Mensch, und nicht mehr als das, ein schwächliches, niederes Wesen, das keinerlei Macht besitzt… aber seine Augen, sie sind anders, und sein Blick empfindet er als unangenehm. Ist das die Realität? Ein Mensch, der die Gabe hat, die Wahrheit – und nichts als diese – zu erkennen? Langsam gleitet er vom Rücken seines gewaltigen Rosses, das unruhig auf seinem Gebiss kaut, mit den Hufen auf der rußgeschwärzten Erde scharrt, und zieht sein Schwert, tritt ihm entgegen. Was für ein Narr… denkt er etwa Aussichten auf einen Sieg zu haben? Niemals, nicht solange ein Fünkchen an Leben in ihm weilt. Ein Drache, der durch die Hand eines einzelnen Säugers stirbt? Natürlich tritt das Gegenteil ein, und er tötet den Dämonenjäger, aber wer triumphiert nun wirklich? Dieser Blick… es wird unerträglich für ihn, selbst, als der Mensch zusammenbricht und ihn nur noch aus leeren Augen anstarrt. Letztendlich ist es genau das, was ihn in seine wahre Gestalt und danach in die Flucht treibt…« Ein verzerrtes Keuchen entwich meiner Kehle, und kalter Schweiß bedeckte meine Haut als ich aus meinem Traum hochfuhr und von einem Moment auf den anderen wieder bei Bewusstsein war. Mein gesamter Körper schrie förmlich vor Schmerz, meine Lungen brannten bei jedem Atemzug, und das dumpfe Dröhnen in meinem Kopf intensivierte sich unentwegt. Ein heftiges Schwindelgefühl ergriff mich, verband sich mit der Übelkeit, die von meinem Magen ausging, und in mir wuchs das unstete Gefühl, dass ich mich früher oder später übergeben musste. Doch entgegen dem herrschte eine Leere in meinen Eingeweiden, die mich rasch vom Gegenteil überzeugte. Der Geruch von etwas Vertrautem stieg mir in die Nase, ließ mich müde die Lider heben. Meine Sicht war verschwommen, schwarze und graue Schatten vereinigten sich zu einem unscharfen Bild von vagen Umrissen, mit denen ich gleichermaßen nichts anfangen konnte. „Flúgar… alles in Ordnung?“ Ich fühlte mich furchtbar… nein, es war nichts in Ordnung; wie konnte man nur so eine stupide Frage stellen? Schnell wurde mir bewusst, dass es eine unheimlich schlechte Idee war zu versuchen, sich umzudrehen. Ich musste mir sämtliche Rippen gebrochen haben… Es war Midorikos Blick, der meine Wahrnehmung aufklaren ließ, und in diesem Augenblick durchzuckte mich die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Dieser Blick… das konnte doch unmöglich wahr sein, ich musste mich gehörig täuschen. Aber… nein, niemals hätte ich ihn vergessen oder verwechseln können, es war derselbe, aus den gleichen braunen Augen… Der Dämonenjäger und sie… sie hatten dieselben Augen, denselben Blick, und dieser Umstand war kein Zufall. Das, was ich in meinem Traum gesehen hatte, war keine zwei Jahrzehnte zuvor geschehen… Unweigerlich krampfte sich in mir alles schmerzhaft zusammen; es war meine Schuld, ich hatte ihn getötet. Damals hatte ich keine Gedanken über mögliche Konsequenzen gehegt, schließlich war er nur ein Mensch gewesen, nur ein Mensch… „Hörst du mich?“ Midoriko … Ich deutete ein Nicken an, vermied es, ihr ein weiteres Mal in die Augen zu sehen, ich konnte einfach nicht. Wie hatte ich das nur tun können? Das würde ich niemals entschuldigen oder gar wieder gut machen können, das würde sie mir niemals verzeihen… „Flúgar…?“ Ich spürte ihre Hand unter meinem Kinn, wie sie mich sachte anwies, den Kopf leicht anzuheben und sie anzuschauen. Es hatte keinen Sinn, sich zu sträuben, denn meine Muskeln verweigerten mir geflissentlich den Dienst, und somit blieb mir nichts weiter übrig, als die Augen zu schließen, um ihrem Blick zu entgehen. „Hast du Schmerzen?“ Tonlos ächzend biss ich die Zähne zusammen, als mir vor Schmerz ganz anders wurde, und ein schummriges Gefühl durch meine Glieder lief. Mir war schwarz vor Augen, und auch alle meine anderen Sinne versagten. Das einzige, was ich noch bemerkte, waren Midorikos weiche Fingerkuppen, die sorgenvoll über meine Wange strichen. „Mach den Mund auf.“ Ich zögerte, da mir kein plausibler Grund einfallen mochte, warum ich dem gehorchen sollte. Sie berührte meine Lippen, und der Duft von frischer Minze wurde stärker. Kraftlos gab ich ihrem fortwährenden Drängen nach, akzeptierte, dass sie mir die aufdringlich riechenden Pflanzenblätter in den Mund schob. Matt zerkaute ich diese, schluckte mühsam, wartete auf die mir wohlbekannte Wirkung. „Kannst du mir sagen, wo es weh tut?“ Es dauerte einen Moment, ehe ich genug Atem geschöpft hatte, um bloß einen Versuch unternehmen zu können zu sprechen. „Kopfschmerzen…“ Meine Stimme klang heiser, stockte nach nur einem Wort, und versiegte anschließend vollkommen. Ich fühlte mich elend, und Midorikos Anwesenheit und unmittelbare Nähe linderte diese Empfindung nur minimal. Beinahe zeitgleich wanderten die Fingerspitzen der Priesterin beidseitig von meinen Wangen zur Schläfe, verweilten dort in gemächlich kreisenden Bewegungen, die vorsichtig Druck auf die empfindsame Stelle ausübten. Suchte sie nach etwas wie einem Druckpunkt…? Ich zuckte unweigerlich zusammen, als das schmerzliche Pulsieren in meinem Schädel plötzlich entsetzlich zunahm. Scheinbar war sie geschickter darin, den zentralen Schmerzpunkt zu finden… Bauerntrampel… „Halt still.“ Erinnerungen an ihr sonstiges Feingefühl reizten unnachgiebig meinen Verstand, der mir riet, sich eben davor strengstens zu hüten. Doch die Linderung, die ich in diesem Augenblick erfuhr, entlockte mir sogleich ein wohliges Aufseufzen. Wenn sie es wagte, damit aufzuhören, konnte sie sich auf etwas gefasst machen… So rasch, wie ich eingedöst und dem folgend eingeschlafen sein musste, erwachte ich auch wieder, gewaltsam geschüttelt von grauenvollen Schmerzen in meiner Brust und meinem linken Unterarm; die gebrochenen, teilweise sogar geborstenen Knochen heilten, und das nicht eben in einem angenehmen Prozess. Brüche traten bei Drachen eher selten auf, und in meiner wahren Gestalt hätte es wohl kaum ein Wesen geschafft, mir eine derartige Verletzung zuzufügen. Wie ich diese menschliche Hülle dafür hasste… Ich presste meine Kiefer so fest aufeinander, dass mir das knirschende Geräusch, das dabei entstand, selbst auf leidigste Weise in den Ohren surrte. Meine Muskeln krampften sich zusammen, unbewusst bohrten sich die Klauen meiner unverletzten Hand in die Matratze und das Holz darunter. Es war kaum zu ertragen, und das Atmen fiel mir schrecklich schwer, meine Sinne waren stumpf und ungebräuchlich. Was sie letztendlich aufgeweckt hatte, wusste ich nicht, und in meiner Situation vermochte ich ohnehin nicht viel nachzudenken, doch irgendwann spürte ich eine Regung neben mir, gefolgt von einer sanften Berührung, die nur von Midoriko stammen konnte. Sie legte ihre Handfläche auf meine Stirn, und murmelte unverständlich vor sich hin. Dann drehte sie sich kurz um, und der stille Laut von tropfendem Wasser erinnerte mich an meinen drängenden Durst. Die Priesterin bemühte sich um kalte Umschläge, wie ich am Rande feststellen konnte, umfasste meine versteifte Hand vorsichtig mit ihrer. Hatte ich Fieber und merkte es nicht einmal? Oder halluzinierte ich und bildete es mir nur ein? Mein innerer Trieb zwang mich regelrecht dazu, ihr die restlichen Wassertropfen von der Hand zu lecken, nach etwas Flüssigem zu betteln… auf welches Niveau musste ich mich in dieser Lage bloß herablassen, damit ich endlich etwas zu trinken bekam…? Eine Weile verging, bevor sie realisierte, was ich von ihr wollte, doch dann leistete sie meiner Bitte Folge, und flößte mir geduldig eine ganze Menge Wasser ein, bis ich unmissverständlich ablehnte. Daraufhin stahlen sich ihre Hände in meinen Nacken, ihre Stirn berührte vage die meine. Was sie damit bezweckte, wollte mir nicht so recht in den Kopf gehen, doch als die Kosungen ihrer warmen Finger einen wohltuenden Schauer durch meinen Körper sandten, überfiel mich allmählich ein Gefühl von Entspannung und Wohlbefinden. Ich wusste nicht genau, was sie tat, aber es fühlte sich gut an, oder mehr als das; es war weniger ein Kraulen, als mehr etwas anderes, das ich nicht einordnen konnte… hätte sie das an einer anderen Partie meines Leibes getan, wäre es mir ernsthaft die Überlegung wert gewesen in Erwägung zu ziehen, sie Midoriko-sama zu nennen… Es war mitten in der Nacht, draußen regnete es in Strömen, während ein eisiger Wind klagend durch den Wald heulte und in jede noch so winzige Ritze drang, die das Holz ihm bot. Ich fröstelte, obschon mich im Moment andere Sorgen beschäftigten. Flúgar war wach, und das bereits eine ganze Weile; er zitterte vor Schmerzen, atmete gepresst. Was ihm so dermaßen zusetzte, blieb mir ebenso unklar wie der Grund für mein plötzliches Erwachen. Sicher, das Geräusch, das Flúgar verursachte, indem er die Kiefer übereinander schob, war furchtbar mitanzuhören, aber der schwere Regen, der auf das hölzerne Hüttendach prasselte, erreichte beinahe eine ähnliche Lautstärke. Angestrengt tat ich alles, was mir möglich war, um den Loftsdreki zu beruhigen und zum Sprechen zu bringen, doch seine Reaktionslosigkeit auf meine Worte verriet mir, dass er meine Stimme nicht vernahm. Daher machte ich mich anderweitig bei ihm bemerkbar, streichelte ihn, vergrub meine Hände in seinem Genick. Anfangs zeigte er keine besondere Begeisterung für die liebevolle Massage, die ich ihm zuteil werden ließ, doch seine Meinung schlug um, und seine verkrampften Muskeln lockerten sich merklich, sein Körper begann sich langsam zu entspannen. Seine Haare hatten sich mittlerweile von selbst aus dem Zopf gelöst, und schmiegten sich in seiner außergewöhnlichen Seidigkeit zart an meine Haut. Was hätte ich darum gegeben, diesen Augenblick festzuhalten und nie wieder loszulassen… Die Müdigkeit fiel bald wieder über mich her, lockte mich mit der süßen Erholung und Ruhe des Schlafes. Ich wehrte mich inständig dagegen, kämpfte gegen meine eigene Erschöpfung an, was jedoch dazu führte, dass ich umso schneller wieder einschlummerte. Mit einem Mal war es taghell um mich herum, und ich schreckte unbeherrscht zusammen, als sich dem ein grollender Donnerschlag anschloss, der stetig bedrohlicher klingend immer näher heran kroch. Ich schloss hastig die Augen, drängte die in mir aufkeimende Angst zurück, und hoffte, dass das Gewitter so eilig verschwinden würde, wie es hierher vorgerückt war. Ich rang innerlich mit mir selbst um Kontrolle; wenn ich jetzt in diesen tranceartigen Panikzustand geriet, würde Flúgar nicht in der Lage sein, zu kommen und mich zu retten. Für so etwas fehlte ihm zurzeit einfach die Kraft. Ob Skuggi auf mich aufpassen würde? Oder Kyouran…? Mein Herz pochte in einem rasanten Rhythmus gegen meine Brust, meine Atmung war nur mehr eine anstrengende Mühsal nach genügend Luft… Etwas Weiches streifte zurückhaltend meine Wange, strich durch eine der losen Strähnen meines schwarzen Haares. Es war Flúgar - und scheinbar lag er doch noch wach. Er betrachtete mich aus halbgeschlossenen Augen, die aufgrund des Fiebers glasig und leer wirkten. Dann packte er mich völlig zusammenhangslos an der Hüfte, zog mich so nah zu sich, dass ich das feste Fleisch seines Oberkörpers spüren konnte, sein kühler Atemhauch in meinem Gesicht kribbelte. Meine Angst hatte sich sofort verflüchtigt, und das heimelige Gefühl von Geborgenheit und Schutz wallte in mir auf, sorgte dafür, dass ich mich noch näher an Flúgar kuschelte. Ich genoss es in vollen Zügen, dass er nicht mehr von mir abließ, seine Hand auf meiner Seite ruhte, bis ich wieder einschlief… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 28: >“Oftmals entspricht die Wirklichkeit nicht dem, was man darüber zu glauben weiß. Der eigene, begrenzte Standpunkt ist nicht genug, um sie in ihrem vollen Sein zu erfassen, und so kommt es zu Missverständnissen und falschen Überzeugungen, irregeleiteten Gefühlen, unnötigem Schmerz und Leid…“ *» Aritei Kapitel 28: *~Aritei~* ---------------------- "Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes." – Salvador Dalí Kapitel 28 – Aritei -Wirklichkeit- *Ist der Glaube an eine allumfassende Realität als naiv oder gar stumpfsinnig zu bezeichnen? Hängt es nicht wesentlich vom eigenen Standpunkt und Wissen ab, wie man die Gegebenheiten sieht? Und bleibt deren Deutung nicht auch jedem Einzelnen überlassen? Kann ein Missverständnis, ein falscher Schluss, der demnach gezogen wird, eine Lüge sein? Wenn nicht, ist die Wahrheit nicht zwangsweise eine rein individuelle Sache, die auf niemand anderen als auf sich selbst zutreffend ist…?* ּ›~ • ~‹ּ Kyouran hatte die Nacht über gedöst, die verregneten Stunden der Finsternis mit gründlichem Nachdenken verbracht. Erst jetzt, als die Morgendämmerung einsetzte und der Himmel in einem freundlichen türkis strahlte, fand sich sein volles Bewusstsein für seine Umgebung wieder ein. Sein aufmerksamer Blick glitt durch den in trübes Licht getauchten Raum, und gefror nahezu, als ihm eine markante Besonderheit ins Auge stach. Konnte das wirklich wahr sein? Der Vatnsdreki schluckte hart, blinzelte verwirrt. Aber er träumte nicht, und das, was er sah, entsprach der Wirklichkeit – auch, wenn er es absolut nicht fassen konnte. Hatte er sich so in Flúgar getäuscht? Oder war zwischen den beiden mehr vorgefallen, als er sich jemals hätte vorstellen können? Die Priesterin und der Loftsdreki schliefen beide noch seelenruhig, doch es war viel eher der Anblick, den sie dabei boten, der Kyouran im höchsten Maß verunsicherte und an seinem Verstand zweifeln ließ; sie lagen so eng beieinander, dass Flúgar die Nase in Midorikos Nacken, in ihrem pechschwarzen Haar vergraben hatte, seine rechte Hand in einem lockeren Griff ihre Taille umschloss. Obwohl sie ihm den Rücken zuwandte, und daher etwas teilnahmslos wirkte, prägte ein Ausdruck tiefgründigster Zufriedenheit ihre Gesichtszüge. Es war nicht schwer zu erkennen, dass diese Art von Körperkontakt ihr gefiel, und ganz in ihrem Sinne geschah. Flúgar hatte ihr keinen Zwang auferlegt, und diese Tatsache nötigte ihn beinahe zu einem Lächeln. Sollte es tatsächlich jemandem gelungen sein, die widerspenstige Bestie zu zähmen? Und dabei handelte es sich bei Midoriko um eine Frau, eine menschliche Frau. Ob das eine Fügung des Schicksals war? Wem wäre auch nur im Entferntesten der absurde Gedanke gekommen, dass es eine Menschenfrau sein würde, die den mächtigen Loftsdreki bändigen würde? Niemandem, und Kyouran schon gar nicht. Er hatte Flúgar anders kennen gelernt, von einer Seite, die genau genommen nichts weiter als verabscheuungswürdig war. Vielleicht schätzte der Luftdrache eine gewisse Distanz, bis er entschied, ob er jemandem nun sein Vertrauen schenkte oder ihn weiterhin auf übelste Weise auf Abstand hielt. Als die bleichen Strahlen der Morgensonne durch die Spalten zwischen den maroden Holzbrettern der Baracke sickerten, und das Firmament sich in muschelfarbene Schattierungen hüllte, schüttelte die Priesterin die wiegenden Arme des Schlafes ab, rekelte sich ausgiebig in ihrer verbleibenden Benommenheit, bevor sie die Augen öffnete. Sie war im ersten Moment sichtlich verdutzt, errötete, als sie ihrer Position gewahr wurde. Doch der Ausdruck von peinlicher Berührtheit verflog, und auf ihren Lippen bildete sich ein warmherziges Lächeln, das aus den innersten Schichten ihrer Seele entsprang, und eine Ehrlichkeit ausstrahlte, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte. So lächelte eine Frau niemals jemanden an, der nur ihr Weggefährte oder Freund war… nein, dieses Lächeln, dem die pure Zuneigung innewohnte… Midoriko setzte sich behutsam auf, strich dem schlafenden Dämon durch die Haare; dem Vatnsdreki wurde schwer ums Herz, und eine besondere Art von Bitterkeit tränkte seine Gedanken. Diese Sache würde kein gutes Ende mehr finden, weder für den Drachen noch für den Menschen… „Schlag ihn dir aus dem Kopf, Midoriko-san. Du machst nicht nur dich, sondern vor allem ihn unglücklich… such dir lieber einen unter deinesgleichen, und lass die Finger von ihm. Und ganz nebenbei: Drachen sind keine sehr zärtlichen Liebhaber…“ Die Schwarzhaarige reagierte nicht merklich auf ihn, studierte anstatt dessen Flúgars edles Gesicht, das im Licht des heran brechenden Tages den Anschein erweckte, als hätte man es aus makellosem Marmor gefertigt. „Was meinst du mit… unglücklich?“ Kyouran schloss die Augen, lehnte sich seufzend gegen die rissige Wand. „Gefühle sind nichts für Drachen; zu starke Empfindungen – Wut, Hass, Trauer… Liebe - verzehren ihre Seele und rauben ihnen den Verstand. Hast du den Ausdruck in Shiosais Augen gesehen? Seine Seele war von Rachegelüsten und Hass so zerfressen, dass er zum Schluss nicht mehr bei Sinnen war… seine klaren Momente wurden immer seltener, so dass ich ihn zuletzt selbst nicht wieder erkannt habe, obwohl er mein Bruder war…“ Er verstummte kurz, verbarg in einem langen Atemzug, dass er um seine Fassung ringen musste. Sie hatte also Recht behalten, Kyouran war Shiosais Bruder, und dessen Tod hatte erkennbare Spuren bei diesem hinterlassen; sie empfand Mitleid für Kyouran, obschon sie die ganze Zeit über geahnt hatte, was ihn bekümmerte. „Er wird dich schon jetzt niemals vergessen können, dafür ist es bereits zu spät. Du weißt, dass du irgendwann sterben wirst, Flúgar aber wird ewig leben, und selbst wenn er getötet werden sollte, dann bleibt ihm der Gang ins Jenseits verwehrt. Mir blüht dasselbe, wenn ich mein eigentlich unsterbliches Leben verspiele. Im Gegensatz zu euch Menschen dürfen wir unsere Seele nicht behalten, wenn wir sterben.“ Scheu wandte die junge Miko den Kopf in seine Richtung, und ihre Miene drückte Ungläubigkeit und wissenden Schmerz zugleich aus. „Ihr dürft nicht ins Jenseits einkehren, und verliert eure Seele, wenn ihr sterbt? Warum…?“ Ihre Stimme war leise und ausdruckslos, doch ihre Worte drangen ohne Probleme bis zu dem Wasserdrachen vor. Scheinbar entfachte die Vorstellung vom Tod eines Drachen in ihr ein ähnliches Gefühl wie in ihm; er fürchtete den Tod, und das gestand er sich offen ein. „Ein ewiges Leben hat seinen Preis, es ist nun mal nicht umsonst, unsterblich zu sein. Eine Drachenseele fächert sich in ihre unzählbaren Facetten auf, und diese winzigen Splitter treten dann als rastlose Geister auf, die dazu verdammt sind, niemals Frieden zu finden.“ Ein Netz der Schweigsamkeit wob sich in filigranen Fäden zwischen dem Drachen und der Priesterin, und es entstand eine Ruhe, die nicht nur Midoriko unbehaglich auf dem Herzen lastete. Gegen Mittag lichteten sich die dichten Nebelschwaden, die wie silbrige Schleier knapp über den Boden und zwischen den Bäumen hingen. Winzige Tautropfen glitzerten auf den langen Grashalmen, funkelten im Sonnenlicht wie kostbare Perlen. Midoriko war mit Kaneko im Wald unterwegs, und Skuggi war bereits seit der Abenddämmerung unauffindbar. Dieser Umstand störte Kyouran nicht sonderlich, denn es war nicht unbedingt Sympathie, was er dem Schattendrachen entgegenbrachte; dessen misstrauische Haltung ging ihm auf die Nerven… Der wachsame Blick des Vatnsdreki galt Flúgar, der sich nur schleppend aus dem verstrickten Geflecht des Schlafes empor focht, und es verstrich eine Weile, bis er richtig zu sich kam. Es bewegte sich kaum, misste scheinbar Midoriko, die nun nicht mehr an seiner Seite weilte. „Geht es dir besser?“ Kyouran dämpfte seine Stimme, gab sich Mühe, ehrlich, aber neutral zu klingen. Jeder Ansatz von Mitleid in seinem Ton würde ein Gespräch mit Flúgar von vornherein zu einem Ding der Unmöglichkeit gestalten. „Elender Verräter…“ Zwischen zusammengebissenen Zähnen zischte der Loftsdreki ihn missbilligend an, sprach die zwei Worte mit so herber Verachtung, dass es Kyouran sauer aufstieß. Vielleicht hätte er ihn doch einfach in den eigens kreierten Fluten ertrinken lassen sollen… „Ich möchte bloß mit dir reden, nichts weiter.“ Der Luftdrache mühte sich schwerfällig in eine sitzende Position, stützte sich Halt suchend an die Wand hinter ihm. Missmut und Entschlossenheit überlagerten den Ausdruck von Müdigkeit und Erschöpfung in seinem Gesicht, verbargen jedoch nur dürftig den Schimmer von Schmerz, der noch immer seinen Körper peinigte. „Ich aber nicht mir dir.“ Sein brüchiges Japanisch war so gut wie nicht zu verstehen, obgleich Kyouran seine gesamte Aufmerksamkeit auf Flúgar lenkte. Er brauchte die Zeit von zwei oder drei Herzschlägen, um das, was der Loftsdreki ihm bissig an den Kopf warf, zu entschlüsseln. Ihm entfuhr ein nachdrücklicher Seufzer. „Ich hab dich nicht zu meinem persönlichen Vergnügen aus dem Wasser gezogen… ich bin hier, weil ich mich bei dir bedanken will – dafür, dass du so anständig warst, Shiosais Herz und auch Sui No Rinrou dem Meer zurückzugeben. Um ehrlich zu sein, hätte ich dir das niemals zugetraut…“ Dem Angesprochenen entfuhr ein abfälliger Laut, und in einer markanten Gestik wandte er den Kopf zur Seite. „Spar dir den Atem – der Dank eines Vatnsdreki bedeutet nichts.“ Der älteste Sohn des Wasserdrachenfürsten konnte nicht abstreiten, dass es ihn kränkte, so etwas aus dem Munde eines anderen Drachen zu hören, doch einen Großteil von Flúgars momentanen Aggressionen schob er auf seine gegenwärtige Verletzbarkeit. Er war schwach, und in diesem Zustand nicht einmal ihm gewachsen – er hatte wohl das Gefühl, sich anderweitig verteidigen zu müssen. „Ich verlange nicht von dir, dass du meinen Dank annimmst; es reicht mir durchaus, dich darüber in Kenntnis gesetzt zu haben. Allerdings habe ich eine Frage an dich, die ich als Gegenleistung für dein Leben beantwortet haben möchte: Wo hält sich dein Bruder zurzeit auf?“ Flúgar entgegnete ihm vorerst nichts, musterte schweigsam seinen dick bandagierten, linken Unterarm. Dieser blassrosafarbene Stoff erschien ihm vertraut… „Du bist ein Lügner…“ In der Aussage des Luftdrachen steckte kein Funken von Überzeugung. Kyouran sah apathisch auf den verstaubten Boden. „Beantworte meine Frage, und die Sache hat sich erledigt.“ Der Loftsdreki legte den Kopf in den Nacken, darauf konzentriert, seinen zitternden Atem in den Griff zu bekommen. Vielleicht überdachte er auch das Angebot seines Gegenübers, um die Entscheidung nicht rein aus seiner Spontaneität heraus zu fällen. „Du meinst Ísvængur.“ Kyouran bejahte nickend die trockene Feststellung. „Er ist auf dem Weg hierher, auf der Flugstrecke über den Kontinent.“ Vor Flúgars Augen tanzten bunte Pünktchen, ihm wurde es in der Magengegend mulmig zumute, aber in der Gegenwart des Wasserdrachen erlaubte er sich keine Blöße zu zeigen, ließ sich von diesem nichts anmerken. „Ich gebe zu, dass ich mich geirrt habe, Súnnanvindurson, ich hätte mir nicht anmaßen sollen, die Ehre des Clans der Loftsdrekar in Frage zu stellen. Der Himmel über den Ozeanen steht euch frei, und in Ryugu seid ihr willkommen; Uminari und der Clan hegen keinen Groll gegen euch… nur Rakuchou, er wird euch nie verzeihen können, dass ihr seine Gefährtin getötet habt.“ Die letzten Worte belebten das Interesse des Loftsdreki. Er vermeinte sich an das Mädchen an der Seite des jüngeren Bruders zu erinnern… „Wer war es?“ Der Ältere zuckte bloß die Achseln. „Das wissen wir nicht; sie kam nie aus eurem Gebiet zurück, obwohl sie nur eine unbewaffnete Botin war.“ Flúgar strengte seinen Verstand an; dieser weibliche Vatnsdreki war niemals in ihrem Territorium gewesen, es hatte nie eine Meldung existiert, die diese Anschuldigung bestätigte. Nicht einmal die weißen Raben hatten Kunde von einem Drachenweibchen aus dem Meer gebracht. „Sie ist niemals bei uns eingetroffen, und folglich ist das, was ihr zugestoßen ist, nicht unsere Schuld.“ Seinem Gesprächspartner stand die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben, und eine ganze Zeit lang brachte er keinen Ton über die Lippen. „Aber… “ Kyourans Bestürzung schwand keineswegs, denn er konnte sich partout nicht erklären, was sonst mir ihr geschehen war. Hatte er in all den Jahren, all den Jahrhunderten so absolut falsch gelegen? Und der Hass, den Rakuchou empfand, war nicht im Geringsten gerechtfertigt? Schuldbewusst senkte er den Kopf zu Boden. „Ich möchte mich für das, was Rakuchou dir angetan hat, anstatt seiner bei dir entschuldigen. Er hat dich ohne Grund fast umgebracht… ich habe eine Bitte, Súnnanvindurson: Uminari vergeht fast vor Trauer und Schmerz, und er vermisst Hríðarbylur als wären sie weit mehr als gute Freunde gewesen…“ Flúgar schloss die Augen. „Man wird sehen, was sich ergibt…“ Auf ihrem Weg zu dem kleinen Bach in der Nähe der Holzhütte traf Midoriko unverhofft auf Skuggi, der sich in den schwarzen Schatten eines großen Kaede niedergelassen hatte und desinteressiert auf einem Knochen kaute. „Bist du schon lange hier?“ Der Schattendrache schüttelte den Kopf, wechselte einen für die Miko schwer zu deutenden Blick mit ihr. Die Schwarzhaarige kniete sich an das flache Ufer des kleinen Wasserlaufs und tauchte das weiße Kleidungsstück, das sie zuvor unter dem Arm getragen hatte, unter. Kyouran hatte es ihr für Flúgar gegeben, dem außer seinem Hakama wirklich nichts mehr geblieben war; es war ein guter Rat des Wasserdrachen gewesen, das Untergewand zunächst gründlich zu waschen, denn wenn der sture Loftsdreki riechen würde, wem das Stück Stoff gehörte, würde er es eher vorziehen, halbnackt durch die Landschaft zu wandern. „Willst du mit uns kommen, Skuggi?“ Erst in diesem Moment erkannte die junge Priesterin, dass der Schattendrache lächelte, und eine Glückseligkeit ausstrahlte, die selbst auf sie übergriff. „Nein, eigentlich nicht. Schattendrachen sind Einzelgänger, ich bin gerne alleine und genieße die Natur… kannst du dir vorstellen, wie glücklich ich darüber bin wieder frei zu sein? Andererseits, wenn du forderst, meine Lebensschuld bei dir abzutragen, sieht es anders aus.“ Midoriko blickte ihn eindringlich an, und musste unwillkürlich dem Drang nachgeben, das selige Lächeln des Drachen zu erwidern. „Du hast mir das Leben gerettet, und damit bist du für mich frei von jeder Schuld. Geh, wenn du willst, oder begleite mich und Flúgar – das liegt ganz bei dir.“ Skuggi verschränkte die Arme hinter dem Kopf und gab ein erleichtertes Seufzen von sich. „Ich wollte dich schon die ganze Zeit etwas fragen: Weißt du, was es bedeutet, einem Drachen das Leben zu retten?“ Ein fragender Ausdruck breitete sich über ihr Gesicht, und eine naive Ahnungslosigkeit spiegelte sich in ihren klaren, braunen Augen. Sicher, sie wusste, dass das Schulden bedeutete, aber ihr schien, als würde ihr Gegenüber auf etwas Anderes hinauswollen. „Es sind nicht bloß Schulden, Midoriko, es sind lebenslange Schulden…“ Betrübung senkte sich über das Gemüt der Menschenfrau, und sie vergaß vorerst ihre Arbeit. Einerseits befriedigte sie der Gedanke, Flúgar ihr Leben lang um sich zu haben, aber andererseits hatte sie ihm damit unzerstörbare Fesseln angelegt, die er sich mit Sicherheit selbst von ihr nie wieder abnehmen ließ. Was hatte sie nur angerichtet? Hatte sie ihn mit ihrer im Grunde gut gemeinten Tat lebenslänglich seiner Freiheit beraubt, ihn grundlos verurteilt und gleichermaßen bestraft…? „Besteht ein Drachenleben aus noch etwas anderem als Nachteilen?“ Der Schattendrache runzelte die Stirn, zog die Augenbrauen zusammen. „Wie meinst du das? Du bist ein Mensch – da sehe ich so direkt nichts, das besser wäre.“ Midoriko faltete die Hände in ihrem Schoß, suchte nach einer passenden Formulierung, was jedoch nicht gerade von Erfolg gekrönt war. Außerdem musste sie vor Skuggi nicht allzu förmlich sein. „Zu starke Gefühle lassen euch den Verstand verlieren, wenn ihr sterbt, dürft ihr nicht ins Jenseits und büßt eure Seele ein, und wenn euch jemand das Leben rettet, bekommt ihr lebenslange Schuld aufgebürdet… und das nehmt ihr für ein ewiges Leben in Kauf?“ Sorgsam und auf Gründlichkeit bedacht, wrang die Miko das durchnässte Wäschestück aus, schaute dann wieder zu Skuggi, der sich mit einer Antwort schwer tat. „Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe und was ich bin. Ein Mensch zu sein, der sicherlich kein halbes Jahrhundert alt wird und dessen Körper so schwächlich ist, dass ein Pfeil ausreicht, um tödlichen Schaden anzurichten, wäre für mich in keinem Fall erstrebenswert.“ Die Menschenfrau erhob sich, wandte sich zum Gehen. Sie warf ein abschließendes Mal einen Blick über die Schulter auf den Schattendrachen, schenkte ihm ein einnehmendes Lächeln. „Es ist bedauerlich, dass du uns nicht begleiten willst, aber gut. Ich danke dir für deine Hilfe, und hoffe, dass es dir in Zukunft wohl ergehen wird.“ Damit verbeugte sie sich, und machte sie sich auf den Rückweg, hielt nach einigen Schritten jedoch noch einmal kurz inne. „Ich bin froh darüber, ein Mensch zu sein – und ich würde mit keinem Drachen tauschen wollen, das kannst du mir glauben!“ Skuggi sah ihr noch eine ganze Weile hinterher, fasziniert von Midorikos letzter Bemerkung, die ihm unentwegt durch den Kopf hallte. Ja, er glaubte ihr… Es war ein kurzweiliger Marsch zurück zu der alten Hütte, und nachdem die Priesterin das gewaschene Untergewand zum Trocknen über einen niedrigen Ast ausgebreitet hatte, betrat sie möglichst geräuscharm das notdürftige Quartier. Flúgar war alleine, saß an die Holzwand gelehnt und begutachtete ausgiebig sein linkes Handgelenk und die Hand; der provisorische Verband lag abgewickelt vor ihm auf dem Boden. Der Luftdrache machte keinen gesunden Eindruck auf sie, er war blass, und es war deutlich zu erkennen, dass ihm die linke Hand bei jeder minimalen Bewegung zitterte. Midoriko näherte sich ihm behutsamen Schrittes, kniete vor Flúgar auf einer der vergilbten Reisstrohmatten ab. Zaghaft streckte sie die Hand nach ihm aus, schloss ihre Finger mit höchster Vorsicht um seinen linken Unterarm. „Wie fühlst du dich?“ Der Loftsdreki brummelte halblaut zur Antwort, gewährte ihr das zaghafte, kontrollierende Betasten der bereits verheilten Stelle an seinem Körper. Kein Laut kam über seine Lippen, er ließ die Prozedur ohne Gegenwehr über sich ergehen, verzog nicht einmal die Miene. „Tut das nicht weh?“ Der Drache deutete ein Kopfschütteln an. Midoriko geriet ins Grübeln. Es fühlte sich so an, als wären seine Unterarmknochen verheilt – und das nach einer Nacht? Konnte das sein? Die längliche Schnittwunde über seinen Schlagadern war nur mehr eine weiße Narbe, deren unebene Ränder weiterhin darauf hinwiesen, in welcher Verzweiflung der Schnitt angesetzt und wie unsauber er ausgeführt worden war. „Warum…“ Sie blickte ihm fragend ins Gesicht, musterte besorgt seine angespannten, bleichen Züge. „Was meinst du?“ Flúgar schluckte, strengte sich sichtlich an, seine Konzentration zu sammeln um sich einigermaßen verständlich auszudrücken. Trotzdem brach ein heftiger Akzent seine Worte, verlieh ihnen einen befremdlichen, unmenschlichen Klang. „Warum bist du hier? Warum kümmert es dich, wie ich mich fühle? Warum tust du das für mich? Warum das alles?“ Es nahm eine ganze Weile in Anspruch, bis Midoriko den ungezügelten Wortschwall ausreichend enträtselt hatte, um auch nur ansatzweise zu begreifen, was der Dämon so dringend von ihr wissen wollte. Aber aus welchem Grund steigerte er sich so in diese Sache herein? Er hatte sie schon einmal nach den Beweggründen für ihr Verhalten gefragt, doch sie hatte ihm damals keine klare Auskunft erteilt. Was sollte sie ihm nur sagen? Sie wurde jäh aus ihren Gedankengängen gerissen, als Flúgar sie grob an den Schultern packte, und die Intensität seiner Stimme so bedrohlich anschwoll, dass er sie beinahe anbrüllte. „Antworte mir!“ Die Priesterin schluckte ihre Angst herunter, versuchte sich ihres entgleisten, von Erschrockenheit zeugenden Ausdrucks rasch wieder zu entledigen. Keuchend presste sie die Lippen zusammen, sie musste Ruhe bewahren, wenn sie die Situation nicht noch verschlimmern wollte. Flúgar wand abrupt den Blick ab, löste seinen harschen Griff. Aber die junge Frau wich nicht einmal vor ihm zurück, sondern schlang anstatt dessen ihre Arme um seinen Nacken und umarmte ihn. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Ihr aufgebrachter Atem strich über sein Ohr, über seinen Hals, und ihre Nähe jagte ihm einen heißkalten Schauer über den Rücken. Er schämte sich für das, wozu er sich hatte hinreißen lassen, dafür, dass er für einen Augenblick die Fassung verloren hatte. „Hör auf…“ Der Dämon stieß sie mit sanfter, doch bestimmter Gewalt von sich, entzog sich ihrem Blick und jedem ihrer Kontaktversuche. „Du solltest dich ausruhen, Flúgar. Du siehst nicht gut aus.“ Von seinem Benehmen ganz zu schweigen. Die junge Miko überging die Kälte und Ignoranz, mit der ihr Gegenüber ihr nun begegnete, voll und ganz – so leicht würde sie sich von ihm nicht abschütteln lassen. Mit ihm stimmte etwas nicht, und das war eindeutig. Widerwillig beugte sich der Luftdrache dem Geheiß der Priesterin, ließ sich zurück auf das behelfsmäßige Lager sinken. Er konnte nicht mehr, weder körperlich noch geistig, es war schlichthin zu viel für ihn. Dieser eine Traum peinigte seinen Verstand, er konnte diesen Mann nicht verdrängen, und erst recht nicht vergessen… es war seine Schuld, er hatte ihren Vater getötet, und damit auch das Schicksal ihrer Mutter zu verantworten. Wie sollte er ihr das nur beibringen? Sie würde es ihm niemals verzeihen… „Hast du noch große Schmerzen?“ Midoriko strich ihm zärtlich die Haare aus dem Gesicht, koste mit streichelnden Bewegungen seine bloße Schulter. In Flúgars Kopf herrschte heilloses Durcheinander, und er versuchte, das angenehm prickelnde Gefühl, das von seiner rechten Schulter durch seine Nervenbahnen wog, nicht zu beachten. „Du willst nicht mit mir reden, hm? Ist in Ordnung, du musst nicht. Sag mir Bescheid, wenn ich etwas für dich tun kann.“ Prüfend legte sie ihm die Hand auf die Stirn, und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass er nicht mehr fiebrig war. Ihre eigene Körpertemperatur war zwar kein Maß für die seine, aber mittlerweile war in dieser Beziehung Verlass auf ihr Gespür. „Es ist meine Schuld…“ Die Schwarzhaarige warf ihm einen ratlosen Blick zu. Was meinte er damit? Was war seine Schuld? „Ich habe ihn getötet.“ Ihre Verwirrung wuchs bloß noch weiter an. Schulterzuckend suchte sie den Blickkontakt zu Flúgar, der aber verweigerte sich und blockte jeden ihrer Versuche verbissen ab. „Wen hast du getötet?“ Wenn sie so überlegte, hatte er sicherlich unzählige Leben auf dem Gewissen; woher sollte sie denn nun wissen, wen davon er meinte? Hatte es womöglich etwas mit den Fragen zu tun, die er ihr vor wenigen Minuten gestellt hatte? „Deinen Vater…“ Die Priesterin erstarrte, vergaß für einen Augenblick das Atmen; sie starrte ihn geradewegs an, unfähig, sich auch nur einem ihrer Gedanken bewusst zu werden. Sagte er die Wahrheit? Hatte er den Tod ihres Vaters zu verantworten? Oder war er so konfus, dass er nur noch wirres Zeug von sich gab? „Wie kannst du dir da so sicher sein?“ Ihre Stimme bebte, ebenso wie ihre gesamter Körper, und die Fragen und Annahmen, die sich in ihrem Hirn mehrten, überschlugen sich. Sie wusste mit Flúgars Behauptung nichts anzufangen, und dementsprechend hatte sie auch keinen Schimmer, wie sie sich nun verhalten sollte. „Deine Augen… es sind dieselben wie seine…“ Midoriko schwieg, während der Loftsdreki die Stirn schuldbewusst auf den Boden stützte. Nun hatte er ihr gebeichtet, was er angerichtet hatte… wie würde bloß ihr endgültige Gegenreaktion darauf ausfallen? Er bereute seine Tat, doch jetzt war nichts mehr daran zu ändern. Möglicherweise wäre es besser gewesen, Stillschweigen über diesen Umstand zu wahren… Was sollte er tun? Wenn Midoriko sich aus ihrem Hass heraus von ihm abwendete, dann würden ihn nicht nur diese unehrenhaften Schulden bis in die Ewigkeit verfolgen… sie würde ihn verlassen, niemals wieder in seiner Nähe sein, ihn niemals wieder berühren, niemals wieder anlächeln… Es kostete Flúgar seine gesamte Beherrschung, dem Drang zu widerstehen, die Priesterin einfach zu sich zu ziehen, sie an sich zu drücken und nicht mehr loszulassen - er erkannte darin unglücklicherweise keine Lösung für dieses bedrückende Problem. Verzweiflung sprosste in ihm wie junge Triebe am Ast eines aufblühenden Kirschbaumes, und der Schmerz, den diese verursachte, war schlimmer als jede körperliche Pein, die er jemals empfunden hatte. Ein gequälter, tierischer Laut drang aus seiner Kehle, wurde jedoch sofort von der dominierenden Stille förmlich verschlungen. Es galt nun, die Konsequenzen, die er sich selbst zuzuschreiben hatte, zu tragen… „Menschen sterben nicht ohne Grund, Flúgar, alles geschieht so, wie es soll, und fügt sich dann zu dem, was ein Individuum ausmacht. Wer weiß, ob ich das wäre, was ich heute bin, wenn ich meinen Vater gekannt und meine Mutter nicht gestorben wäre…“ Mit einer betont liebevollen Geste fuhr sie ihm durch die langen bläulichen Haare, bedachte den Dämon mit einem milden Blick. Er bedauerte offensichtlich sein vergangenes Handeln, gegebenenfalls schämte er sich sogar dafür. Natürlich schmerzte sie die Überlegung sehr, dass Flúgar ihrem Vater, und so letztendlich auch ihrer Mutter, den Tod beschieden hatte, aber sie würde nichts erreichen, wenn sie ihn hasste, verabscheute oder sich an ihm rächte. Menschen starben – unter Umständen wäre sie so wie Soreiyu geworden, hätten ihre Eltern längere Zeit gelebt, und das war etwas, das sie sich nicht einmal vorstellen wollte. Am Ende wäre sie zu einem Menschen geworden, der ohne großen Unterschied in der allgemeinen Meute unterging, der sich um nichts scherte als um sich selbst… Zumindest war es ihnen vergönnt, samt ihrer Seele ins Jenseits einzugehen; hätte ihr Vater den Loftsdreki getötet, wären die Folgen fataler gewesen. „Ich kann nicht gutheißen, dass du dir anmaßt, darüber bestimmen zu dürfen, wann das Leben eines Wesens endet, aber ich weiß auch, dass du nicht grundlos tötest. Es ist mir absolut nicht gleichgültig, und ich werde es nicht vergessen, aber… es ändert nichts Entscheidendes an meiner Einstellung zu dir…“ Flúgar wäre nicht in der Lage gewesen in Worte zu fassen, welche Erleichterung ihn in diesem Moment ergriff. Jeder andere Mensch hätte ihm nach einem solchen Geständnis Rache geschworen, wäre auf der Stelle blindlings auf ihn losgestürzt oder hätte ihm zumindest die hasserfülltesten Beschimpfungen an den Kopf geworfen. Midoriko jedoch… Verstohlen betrachtete er sie aus den Augenwinkeln. Ein Mensch, eine Menschenfrau, die es ihm vergab, dass er ihre Eltern in die nächste Welt geschickt hatte…? „Bleibst du…“ Die Priesterin lächelte, wuschelte dem Loftedreki neckisch durch den Schopf. „Idiot, wo soll ich denn hingehen? Sicher bleibe ich.“ ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 29: >“Die Frist ist abgelaufen, der Weg führt zurück in die Kälte des Gebirges. Doch dort, wo das Werk dunkler Energien ersichtlich wird, kehrt sich der Wille des vermeintlich Eigenen entgegen. Ob die Reinigung eines Menschen allerdings das bewirkt, was man sich erhofft, bleibt ungewiss…“ *» Hreinsun Kapitel 29: *~Hreinsun~* ------------------------ "Ruhe ist für die Seele der Anfang der Reinigung." – Basilius der Große Kapitel 29 – Hreinsun -Reinigung- *Wie verhalten wir uns wirklich, wenn es zu einer ernsten Notsituation kommt, die das über lange Zeit lieb gewonnene Eigentum betrifft? Bleiben wir rational und überlegen uns eine Strategie, die zu einer Lösung führt? Kämpfen wir bis zum Letzten darum? Oder ertragen wir stillschweigend, resigniert, den Schmerz des Verlustes? Und was tun wir, wenn jeder neue gescheiterte Versuch unsere Hoffnung zerschmettert? Geben wir irgendwann auf oder vertrauen wir unseren wertvollen Schatz, jegliches Risiko akzeptierend, einem Anderen an? * ּ›~ • ~‹ּ Es erstaunte mich ungemein, wie anhänglich und anschmiegsam sich Flúgar gebärdete, wie nahe er mir kam, und wie wohl er sich dabei offenbar fühlte. Ursprünglich war mir der ansehnliche Loftsdreki in Hinblick auf Körperkontakt scheu und abgeneigt erschienen, doch nun bewies er das glatte Gegenteil. Ob Drachen im Allgemeinen eher berührungsfreudige Lebewesen waren? Er schlief, und das so dicht bei mir, dass ich jeden einzelnen Atemzug vernahm. Ich sah ihn gerne schlafen, genoss jedes Mal aufs Neue den geruhsamen Ausdruck, der sich dann auf seinem Gesicht abzeichnete. Seine Züge hatten etwas Einzigartiges an sich, etwas, von dem ich mich nur schwer loszureißen vermochte. Obwohl seine Schönheit etwas Dämonisches, etwas Animalisches an sich hatte, verlieh sie ihm eine ganz eigene Persönlichkeit, eine besondere Individualität, die mich stetig tiefer in ihren Bann zog. Flúgar war durchaus ein reizvoller Mann, ich konnte nicht leugnen, dass ich Gefallen an seinem muskulösen Körperbau fand, sein Charakter allerdings ließ an mehreren Stellen zu wünschen übrig… Der schlummernde Drache seufzte leise, murmelte unverständliche Worte, schmiegte seine linke Wange enger an meinen Schoß. Manchmal benahm er sich nicht einmal annähernd menschlich. Nun, womöglich war er mir deshalb eine – zuweilen – äußerst willkommene Begeleitung. Ich mochte seine Nähe, auch, wenn seine mit scharfen Klauen bewährte Hand für meinen Geschmack ab und an etwas zu dicht an meine Oberschenkel geriet. Mich würde er damit wohl niemals absichtlich verletzen, aber ihre Tödlichkeit und Effizienz stand außer Frage; ich wollte auch zufällig keine nähere Bekanntschaft mit ihnen machen. Ich schloss die Augen, ließ noch einmal Revue passieren, was in den letzten zwei Tagen geschehen war. Flúgar, Skuggi, Kyouran und auch Shiosai und Aska - allesamt waren sie der Ordnung der Drachen angehörig, und dabei so grundverschieden, dass man sie nicht miteinander in Verbindung bringen würde. Mir waren nur die wesentlichen Differenzen aufgefallen, aber mussten sie nicht auch einige Gemeinsamkeiten haben? Ich rief mir Kyourans wahre Gestalt ins Gedächtnis, die mich viel eher an eine überdimensionierte Wasserschlange erinnerte als an sonst irgendetwas. Wie wohl Flúgar aussah, wenn er sich verwandelte? Sobald der Luftdrache wieder erwachte, mussten wir aufbrechen, denn soweit ich mich entsinnen konnte, dann war Toutousais Arbeit so gut wie abgeschlossen, und es würde Flúgars Stimmung sicherlich etwas anheben, wenn er sein Schwert wieder in den Händen hielt. Ich seufzte, vergrub die Finger in seiner üppigen, seidigweichen Haarmähne, die einzelnen Strähnen flossen förmlich durch meine Hände. Wie konnte ein Mann bloß so wunderschöne Haare haben? Ob er das von seiner Mutter geerbt hatte? Seine Mutter musste eine außergewöhnlich hübsche Frau sein… Die Abendsonne tauchte den Wald in einen sanften rotgoldenen Schimmer, durchflutete das reiche Blätterdach der Bäume und malte tanzende Farbteiche auf den Waldboden, verwandelte den Horizont in ein flammendes Inferno von warmen Farbtönen, das kein Ende zu nehmen wollen schien. Als ich von meiner kurzweiligen Exkursion zurückkehrte, saß Flúgar vor der Holzhütte im Gras, und seine hellen Augen fixierten mich augenblicklich, als ich aus dem Schutz des niedrigen Dickichts und der Bäume trat. Erst als ich mich näherte, bemerkte ich, dass er seine Konzentration wieder etwas anderem zugewandt hatte; was er schließlich genau tat, erkannte ich erst, als ich nur noch einige Schrittlängen von ihm entfernt war. Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Kaneko war bei ihm, ihre Schweife zuckten angespannt hin und her, mit der rechten Vorderpfote angelte sie erfolglos in der Luft. Verbissen versuchte sie, die so verführerisch über ihr schwirrende, bauschige Rispe am Ende des Grashalms mit den Krallen zu erwischen, doch weil eindeutig der Loftsdreki derjenige war, der dort die Fäden zog, gönnte er der Dämonenkatze keinen Erfolg. Wenn ich die beiden so im Licht der untergehenden Sonne betrachtete… es war ein nettes, Entspannung vermittelndes Bild, das sich mir ins Gedächtnis prägte. Ich hatte sie beide gern – und auf keinen von ihnen wollte ich momentan als meinen Weggefährten verzichten. „Warum ärgerst du Kaneko-chan?“ Der Angesprochene hob den Kopf, blickte mich mit einem derartigen Ausdruck von Unschuld in der Miene an, dass ich es kaum glauben konnte. Denn Flúgar war nun absolut nicht als Unschuldslamm einzustufen. Er brach seine Strategie ab, gewährte dem Nekoyoukai seinen wohlverdienten Sieg über den flaumigen Teil des Grashalmes. Ungehemmt stürzte der sich auf die wehrlose Rispe und zerpflückte sie zufrieden mit den spitzen Zähnen. Sein Blick ruhte unverwandt auf mir, dieser Blick aus seinen klaren, tiefgründigen Augen erfüllte mich abermals mit Faszination, einer Art Bewunderung; er wirkte weder oberflächlich noch gleichgültig, und ihn ihm spiegelte sich Erleichterung, Wohlbefinden, Zufriedenheit… Ich setzte mich ohne weiteres Zögern neben ihn, lehnte mich vorsichtig an seine Schulter, ehe ich ihm das getrocknete, säuberlich gefaltete Untergewand, das mir Kyouran für ihn gegeben hatte, auf die Knie legte. Skeptisch musterte er das weiße Baumwollgewand, fuhr prüfend mit den Fingerkuppen über das feine Gewebe. „Wir sollten aufbrechen, es wird langsam Zeit Skýdis abzuholen.“ Flúgar nickte bestätigend, zog mich mit sich auf die Beine. Nachlässig streifte er sich die Kosode des Vatnsdreki über, während ich meine Sachen aus der verwitterten Baracke holte und mich anschließend auf den Rücken der großen Feuerkatze schwang. Mit einem weiten Satz sprang Kaneko in die Luft, gewann zusehends an Höhe, und binnen einiger Augenblicke schwebte sie bereits über den Baumwipfeln, schlug zielstrebig den Rückweg zu Toutousais Schmiede ein. Flúgar hielt das Tempo ohne Probleme konstant, übernahm bald die Führung und überwand mit gewaltigen Sätzen die ersten Ausläufer und Anhöhen des an den Wald angrenzenden Gebirges. Der eisige Wind, der die abfallen Bergkämmen herabstieg, blies mir ins Gesicht, verfing sich in meinen langen Haaren und spielte mit Kanekos beigefarbenem Fell. Drohend ragte das schiefergraue Felsmassiv immer höher vor uns gen Himmel, und am fernen, orange glühenden Horizont kamen allmählich die von Schnee und Eis bedeckten Gipfel zum Vorschein. Es wurde kälter, und ich begann zu frieren. Ich rieb mir die Hände, drängte mich näher an Kanekos warmen Leib. War mir so kalt, weil ich Flúgars Haori dieses Mal nicht trug? Oder hatte die hitzige Begegnung mit dem Eldursdreki Aska mein Temperaturempfinden beeinflusst? Wie sehr hätte ich mir in diesem Moment gewünscht, dass Flúgar mir etwas Wärme spenden könnte… Ich beobachtete ihn lange und eindringlich, lotste ihn schließlich mit einer heranwinkenden Handbewegung zu mir, bedeutete ihm sich auf Kanekos Rücken, zu mir zu setzen. Er zögerte vorerst, skeptisch, was ich wohl von ihm wollte. Doch er leistete meiner bittenden Weisung Folge, brachte sich mit seinem nächsten Sprung nahe genug an die Seite des Katzendämons, um ihren Rücken erlangen zu können. Ich wollte ihn etwas fragen, das mich seit dem Nachmittag beschäftigte, obschon mir beinahe klar war, dass er mir ausweichen und nicht darauf antworten würde. Dennoch wollte ich es wenigstens auf einen Versuch ankommen lassen; mehr als eine wortlose Abfuhr würde mich hoffentlich nicht treffen. „Ich möchte dich etwas fragen, Flúgar… deine Mutter, sie… ist bestimmt eine wunderschöne Frau, oder?“ Der Loftsdreki grummelte leise, und seine Lautäußerung drückte etwas wie Missfallen aus – über was genau, wusste ich nicht. Er rührte sich jedoch nicht vom Fleck, blieb dort hinter ohne den Ansatz einer Regung sitzen. „Blaka ist ein Miststück.“ Blaka…? Mit einer solch deutlichen Aussage hatte ich nicht gerechnet. Es schien, als würde er nicht viel, wenn nicht sogar nichts für seine Mutter übrig haben. Irgendwie stimmte mich dieser Gedanke traurig, denn der harte, feindselige Klang in Flúgar tiefer Stimme sprach Bände über die Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter… „Aber, sie ist doch immerhin deine Mutter, sie hat dich in ihrem Bauch ausgetragen, dich geboren und dir somit das Leben geschenkt…“ Wie konnte man seine Mutter nicht lieben, ihr absolut keinen Respekt zollen, obwohl man ihr so Vieles verdankte? Das wollte mir nicht in den Sinn, überstieg mein Vorstellungsvermögen. Selbst in der verhältnismäßig kurzen Zeit mit meiner Mutter hatte ich eine ganz besondere Bindung zu ihr aufgebaut. „Sie hasst mich. Es war pures Glück, dass sie die Schwangerschaft mit mir überlebt hat.“ Sie war also nicht bereit gewesen, ihr Leben für das ihres Kindes, ihres Sohnes zu geben… nun, wenn man Todesängste ausstand, dachte man am ehesten an sich selber. Oder? Bangte eine Mutter tatsächlich einzig um ihr Leben, wenn es auch um das ihres Nachwuchses ging? „Das glaube ich nicht, keine Mutter könnte ihren Sohn deshalb hassen.“ Flúgar atmete hörbar aus, und die eisige Kälte, die sein Körper unter den gegebenen Bedingungen ausstrahlte, begann auf mich überzugreifen. „Eine Menschenmutter vielleicht – ein Drache trägt es dir nach, wenn du ihn zu töten drohst.“ Ich erinnerte mich an die alles andere als optimalen Umstände unserer ersten Begegnung, und hoffte inständig, dass er meinen gescheiterten Läuterungsversuch nicht als Morddrohung aufgefasst hatte. Wir verfielen in Schweigsamkeit, und nur der beißende Nordwind erzeugte ein pfeifendes Geräusch, wenn er widerhallend durch finstere Höhlungen und über abgeschliffene Felswände brauste, das diese Stille brach. In der Ferne verschwanden die letzten Sonnenstrahlen hinter den schwarz und weiß erscheinenden Bergwipfeln. Flúgar schien mir von der Langeweile getrieben, denn ich spürte unerwartet, dass der Dämon heimlich mit einer dunklen Strähne meines Haares spielte. Mir war nicht bewusst, warum er dies tat, aber ich gewährte es ihm. Ich sah keinen Grund ihn deshalb anzusprechen, es verlangte mir wirklich nicht danach, dass er einstellte oder unterbrach, was er tat… Rasch neigte sich der Flug seinem Ende zu, und im fahlen Silberlicht des zunehmenden Mondes offenbarte sich in nicht allzu großer Entfernung bereits die karmesinrote Kuppelwölbung der Dämonenschmiede. Flúgar witterte in der schneidend kalten Luft, und ein abgründiges Grollen formte sich in seiner Kehle. Etwas stimmte nicht, das befürchtete auch Midoriko, denn auch Kaneko stand unter höchster Anspannung. Was war nur während der kurzen Tage ihrer Abwesenheit geschehen? Mit drastisch angehobener Geschwindigkeit erreichten sie sodann die Schmiede, oder viel mehr das, was von dem einstmals so prachtvollen Gebäude noch vorhanden war. Die große Hauptkuppel war aufgebrochen worden, halbseitig in sich zusammengesunken, und mehrere ihrer kleinen Ebenbilder bestanden bloß noch aus scharlachroten Trümmern, die über die gesamte Talmulde verstreut waren. Klagend säuselte der Wind durch die Ruine der einstmaligen Schmiede, fegte durch die verlassenen Säle, die eingestürzte Eingangshalle. Fassungslos betrachtete die junge Priesterin das Werk der Zerstörung von Kanekos Rücken aus, und ihre Gedanken schweiften zu den vielen Dämonen, die hier gearbeitet hatten. Ob sie bei dem Angriff alle um ihr Leben gebracht worden waren? Die Pfoten des Nekoyoukai schwebten nur noch knapp über den Boden, als die schwarzhaarige Frau von ihr herab glitt, sich vorsichtig dem verfallenen Gebäude näherte. Von den noch aufrecht stehenden Mauern ging keinerlei Wärme mehr aus, und auch sonst hatte die blütengleiche Baute jede Eigenschaft verloren, der ihr einen Hauch von Lebendigkeit geliehen hatte. Flúgar spähte während dessen über den anliegenden flachen Bergkamm, hob die Nase in den seichten Windzug. Er folgte dem penetranten Geruch, und entdeckte schließlich auf dem gegenüberliegenden Hügel Toutousai und einen etwas abseits grasenden Rinderdämon. „Wo ist Skýdis?“ Der Alte schreckte zusammen, ruckte hastig suchend seinen Kopf nach links und rechts. Dann schlug er wieder die Hände über das Gesicht, fing an jammervoll zu schluchzen. Die Miene des Luftdrachen verfinsterte sich, und das kehlige Knurren, das aus seiner Richtung drang, schwoll gefährlich an. Wenn es um Skýdis ging, war der Geduldsfaden des Loftsdreki kurz, zum Zerreißen gespannt, und eben das sollte man nicht provozieren, wenn man sich nicht nach seinem baldigen Ableben sehnte. „Wo ist sie?“ Mit einem punktgenauen Sprung landete er vor Toutousai, packte den greisen Schmied am Hals und zog ihn auf seine Augenhöhe. Der zappelnde Dämon röchelte atemlos, deutete vor Angst zitternd hinter das dämonische Rind. Dort steckte sie im schroffen Fels, die blanke Klinge wieder unversehrt, doch es hatte sich etwas an ihr verändert… Er löste den Griff um die Kehle des Greises, sodass dieser unsanft auf sein Hinterteil plumpste, sich fluchend über die schmerzenden Stellen an seinem Körper rieb. Flúgar trat an sein Schwert heran, streckte zögerlich die Hand danach aus. Doch Skýdis wies ihn ab, blaue Funken stoben ihm knisternd entgegen, und die veränderte, unreine Energie des Katanas kehrte sich strikt gegen sein Youki. „Du wirst sie nie wieder so nutzen können wie zuvor… Kaijinbou, dieser niederträchtige Widerling… er hat sich für seinen Rausschmiss gerächt, indem er Noroshi zerstört, die Schmiede getötet und die Schwerter verflucht und in böses Blut getränkt hat…“ Damit heulte er wieder wie ein Schlosshund, verbarg das Gesicht im kurzen, schwarzen Fell seines Dämonenrindes. Sein erbärmlicher Zustand sorgte dafür, dass er noch einige Jahrhunderte älter auf Midoriko wirkte, als er wahrscheinlich tatsächlich war, aber Kaijinbous Rache schien ihn ins Herz getroffen zu haben, und der Verlust seiner Schmiede schmerzte ihn tief. Die Miko gesellte sich an Flúgars Seite, bedachte ihn mit einem fragenden Blick. Er konnte Skýdis nicht berühren, und somit war sie nun nutzlos für ihn; was sollte er mit einem Schwert, das er nicht führen konnte? „Selbst wenn du Skýdis anfassen könntest, wäre sie in deiner Hand unbrauchbar wie in jeder anderen. Kaijinbou hat einmal eine ordentliche Arbeit abgeliefert, leider…“ Der Dämonenschmied stierte auf den steinernen Grund. „Ich bitte um Entschuldigung. Meine Streitigkeiten mit Kaijinbou hätten sich nicht auf das Schwert beziehen sollen…“ Toutousai neigte das Haupt bis zum Felsboden, doch Flúgars Aufmerksamkeit galt nicht ihm, sondern Skýdis. Sein Ausdruck war apart, für Midoriko nicht zu beschreiben oder zu deuten, unleserlich in seiner Eigenheit. Abermals griff der Loftsdreki nach seinem Katana, bäumte sich mit aller Macht gegen den Bann auf, der sein Eigentum belegt hielt. Der Schmerz brannte von seinen Fingerspitzen durch seinen rechten Arm bis in die Schulter, streute in seinen gesamten Leib aus. Flúgar jedoch war nicht willens Skýdis aufzugeben, niemals. Für Midoriko wurde es rasch offensichtlich, dass sich der Dämon in seiner Verbitterung nur selber Schmerzen zufügte, indem er mit bloßer Hand gegen den Bann ankämpfte. Die unheilvolle Energie, die von der Klinge des Schwertes abgesondert wurde, war stark, und eine potenzielle Gefahr. Mit leiblicher Kraft oder dem Einsatz seines Youkis würde Flúgar nichts ausrichten können – gleichgültig, wie sehr er sich anstrengte. Diese Tatsache war ihm definitiv nicht verborgen geblieben… Sie presste die Lippen aufeinander, musterte Flúgars undurchsichtige, verspannte Züge. Wie lange sollte sie dieser eigens verantworteten Tortur noch tatenlos beiwohnen? Ihn leiden zu sehen war etwas, das sie nicht ertragen konnte. Es tat ihr weh, dass er sich stumm in seinen Qualen wand ohne um Hilfe oder Beistand zu bitten, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Er bestand so sehr auf seinen Stolz, dass er sein Wohlergehen und seine Gesundheit dafür an die Seite schob und vernachlässigte; der Loftsdreki würde eher selbst seinen Tod herbeiführen, als sich seine Ehre oder seinen Stolz von jemand anderem nehmen zu lassen… Ohne eine weitere Überlegung anzustellen, packte sie ihn mit einer flinken Bewegung am Handgelenk, unterband auf diese Weise einen erneuten Versuch seinerseits, Skýdis mit dem Aufgebot all seiner körperlichen Kräfte zu fassen. „Hör auf.“ Die junge Frau schüttelte den Kopf, begegnete ihm mit einem flehentlichen Blick, sein selbstzerstörerisches Vorhaben abzubrechen und in den Wind zu schreiben. Er würde die Lösung des Bannspruchs und somit die Freigabe seines Schwertes nicht erzwingen können – weder mit Gewalt, noch mit sonst einem physischen Mittel, das ihm zur Verfügung stand. Es war ihm sicherlich bewusst, doch scheinbar kümmerte es ihn wenig, denn sie spürte, wie sich unter seinem Widerwillen gegen ihr Eingreifen seine Muskeln anspannten. Die dunkle Aura, die sich Skýdis bemächtigt hatte, und sie nun in unheilvolle Schleierwolken aus böser Energie hüllte, war unverkennbar dämonischer Herkunft, und gegen den Bannfluch eines Youkai, zu dessen Errichtung er seines eigenen Youkis benötigte, sollte Midoriko eigentlich etwas ausrichten können. Ob sie stark genug war, um Flúgars Schwert von dem korrumpierenden Fluch, der schwer auf dessen Klinge lastete, zu befreien? Eine Läuterung, der Einsatz ihrer reinigenden Kräfte musste diese Dämonenergie theoretisch ebenso erfassen und unschädlich machen können wie die gegensätzlich gepolte Aura eines Dämons. Sie festigte den Griff um sein breites Handgelenk, das sie mit den Fingern ihrer rechten Hand nicht einmal zu umfassen vermochte, wechselte mit ihm einen rätselhaften Blick. „Erlaubst du, dass ich es versuche?“ Flúgar fixierte sie, und ihr eigenes Spiegelbild blickte ihr unverwandt aus seinen weißen Augen entgegen, ehe er die Lider senkte und einen halben Schritt nach hinten wich. Midoriko verstand. In gleichmäßigen Böen stieg der Atem der Priesterin in weißen Dunstwölkchen vor ihr auf, kühlte aus und verschwand wieder, während sie ihr Ziel fokussierte. Ihre volle Konzentration sammelnd, brachte sie ihre Finger vor der Brust zusammen, hakte diese bis auf die Zeigefinger ineinander. Mit aller Macht hielt sie die aufwallende Energie noch in sich verwahrt, bündelte sie zu einer einzigen energetischen Masse, mit der sie die böse Aura zu umschließen versuchte, um auch das kleinste Überbleibsel des Fluches zu bannen und aufzuheben. Durch ein letztes Aufgebot mobilisierte sie jede verfügbare Energiequelle in ihrem Körper, führte sie zu Einem zusammen. Dann richtete sie ihren Blick auf Skýdis, ergriff sie mit beiden Händen, und erfüllt von Entschlossenheit und Hingabe ließ sie den Energiestrom fließen, vollzog somit die Läuterung. Zwei dermaßen gewaltige Präsenzen prallten in diesem Moment aufeinander, dass die Erde unter den Füßen der vier Dämonen leicht erbebte, die Spannung in der Luft knisterte. Die finstere Nacht wurde mit einem Mal von einem gleißenden Licht der Reinheit erhellt, das in seiner Aggressivität den Dämonenschmied und den Loftsdreki angriff und sie nicht bloß blendete. Die entgegen gesetzte Macht der Miko wandte sich gegen ihr Youki, kribbelte unangenehm unter der Haut. Eine grelle Lichtkuppel entstand um Midoriko und das Schwert, verschlang Konturen und Umrisse, behinderte die Sicht. Ab und an von blendenden Blitzen in Violett und Schwarz durchzuckt, vergrößerte sich der durchsetzte Kegel ständig. Midorikos Macht war nicht zu unterschätzen, für einen Menschen besaß sie wahrhaftig außergewöhnliche Fähigkeiten. Flúgar konnte sich dem Gefühl nicht erwehren, dass sie nun weitaus machtvoller war als zu Anfang. Einen Läuterungsangriff wie diesen hätte er in seiner damaligen Verfassung nicht überstanden. Doch so rasch diese Makellosigkeit in Energieform aufgekommen war, so abrupt brach sie auch wieder ab, schien sich von einem Augenblick auf den anderen ins Nichts abzuebben und sich zu verflüchtigen. Der Fluss versiegte gänzlich, und um die junge Frau herum wurde alles schwarz, ihre Beine gaben nach, und der Bewusstlosigkeit nahe, spürte sie bloß noch, dass sie jemand oder etwas abfing, bevor sie auf dem Steinboden aufschlagen konnte… Unschlüssig betrachtete der Drache abwechselnd das vor Erschöpfung zusammengebrochene, nun mehr bewusstlose Menschenmädchen, das reglos in seinen Armen lag und sein Schwert, Skýdis, die wie unberührt einige Schrittlängen entfernt im Felsgrund steckte. Hatte die Läuterung wirklich die beabsichtigte Wirkung erzielt? Oder hatte diese Art der Reinigung Skýdis nur auf eine andere Weise unzugänglich für ihn werden lassen? Er wusste es nicht, zweifelte gleichermaßen an beiden Möglichkeiten; er würde es zwangsweise versuchen und somit feststellen müssen… Toutousai blinzelte überfordert, kratzte sich verunsichert am Kopf. „Was war das denn? Und warum kippt die so plötzlich um?“ Der greise Schmied erhielt keine Antwort, und das Erstaunen packte ihn, als Flúgar mit der Besinnungslosen auf dem Arm an Skýdis herantrat, und seine Hand nach ihr ausstreckte. Kein Widerstand tat sich auf, keine verfluchte Barriere vereitelte, dass er sein Eigentum berühren konnte, den Griff zu fassen bekam und das Katana ohne Schwierigkeiten aus dem steinigen Untergrund zog. Skýdis glimmte leicht, und die scharfe Seite der Metallklinge färbte sich magentarot, die stumpfe verblieb unverändert. Etwas war anders… Flúgar spürte Midorikos Kraft, ihre pure Macht in seinem Schwert – nebst der seines Großvaters, der seines Bruders und seiner eigenen. Doch entgegen dem konnte er sie einsetzen, der Wind gehorchte dem Schwert so problemlos wie ihm selbst, und der gegensätzliche Wirbel, den die Energie der Priesterin verursachte, der sich um die des Youkis schlang, intensivierte seine Kontrolle, Skýdis unmittelbaren Einfluss nur noch weiter; ihre Stärke hatte sich dadurch beträchtlich gesteigert… ob Midoriko das gewusst hatte? Schweigsam musterte er die blassen, von Verausgabung geprägten Züge der jungen Miko, hob die metallene Klinge des Schwertes ins Mondlicht. War es tatsächlich das Schicksal gewesen, das dafür gesorgt hatte, dass sich ihre so unterschiedlichen Wege überschnitten? Gehörte dieser Verlauf zu einem höheren Plan, dem übergeordneten Vorhaben einer Instanz, an die er noch niemals viele Gedanken verschwendet hatte? ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 30: >“Umstände ändern sich, die Verschiebung von Konstellationen verursacht oftmals Missstimmungen und Unzufriedenheit. Trennungen sind schmerzlich, doch das Rad des Schicksals dreht sich weiter, begründet bald den Fortlauf der Dinge…“ *» Gekihen Kapitel 30: *~Gekihen~* ----------------------- "Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung." – Heraklit von Ephesus Kapitel 30 – Gekihen -Umbruch- *Sind drastische Wenden in unserem Leben als etwas Gutes oder aber als etwas Schlechtes zu definieren? Wirft uns die plötzliche Veränderung vollkommen aus der Bahn oder zeigt sie uns einen neuen Weg auf, der in unbekannte Gefilde führt? Und was erwartet uns dort? Werden wir etwas kennen lernen, das uns den Fortschritt näher bringt und voran treibt? Oder finden wir uns allein gelassen und verloren in der alles einhüllenden Dunkelheit wieder, die nichts als Verzweiflung und Tod verheißt?* ּ›~ • ~‹ּ Die dunklen Stunden des vergangenen Tages neigten sich dem Ende zu, der Morgen begann allmählich zu grauen, als ein hauchdünner Streifen eines zarten Rosatons an der weit entfernten Horizontlinie erschien. Weiße Wolkenbänke hingen schwer und unbeweglich am aufklarenden Himmel, verdeckten die verblassenden Sterne und das Licht spendende Gestirn der Nacht, das das Gegenstück zur Sonne bildete. Eine leise Regung lief durch den Körper der Priesterin, bewegte Flúgar zu einem kurzen Innehalten. Ihre Finger gruben sich für einen Moment fester in den Stoff der baumwollfarbenen Kosode, und die Schwarzhaarige murmelte unverständlich vor sich hin. Glücklicherweise erwachte sie nicht, und verfiel daraufhin wieder in eine tiefere Phase des Schlafes. Ein beinahe erleichtertes Seufzen entrang sich seiner Brust, denn er hatte nicht beabsichtigt, die Miko zu wecken. Die Gegend wurde langsam flacher, und ausgedehnte Laubwälder erstreckten sich so weit man das Land zu überblicken vermochte. Es wurde lauer, die Temperatur der Luft stieg an; hier, an diesem Ort konnte sie sich besser ausruhen, und er musste nicht darauf achten, ob die Kälte ihr schadete oder gar unerträglich wurde. Menschen suchten von sich aus Wärme, und auch ihre Leiber waren bei Gesundheit und zumutbaren Bedingungen durchgehend gleich warm. Zu große Schwankungen in diesem Bereich setzten ihnen stark zu, schwächte sie und konnten sie sogar töten. Flúgars wachsam wandernder Blick streifte einen dichten, geschützt liegenden Bambushain. Dort würde er sie ruhigen Gewissens absetzen können, dort war sie in Sicherheit… Mit einem kraftvollen Satz übersprang er einen steilen Hang und den undurchdringlichen Wall aus dicken, hellgrünen Bambusrohren, der wie die Schutzmauer einer Stadt angeordnet über die Flanken und den höchsten Punkt des Hügels verlief. Sorgsam witternd stand er nun auf einer kleinen Lichtung; er roch Wasser, ungefährliche Kleintiere und der würzige Duft von Wildkräutern drang an seine Nase. Behutsam legte er die schlafende Menschenfrau auf eine mit weichem Gras bewachsene Stelle am Rande der baumlosen Zone, fixierte die neugierig am Boden schnüffelnde Dämonenkatze. „Pass auf sie auf.“ Damit wandte er sich wieder ab, verschwand mit einem gewaltigen Sprung aus dem Sichtfeld der Feuerkatze und verließ die Sicherheit des versteckten Wäldchens. Mit den Gewohnheiten der Menschen war ich nicht recht vertraut, es hatte mich nie wesentlich interessiert, wie sie ihr Leben über die Runden brachten, und was dafür von Nöten war. Infolge dessen ergaben sich einige Schwierigkeiten für mich, als ich die umliegenden Wälder nach etwas Essbarem für Midoriko durchkämmte. Sie mochte kein Fleisch, gleichgültig von welchem Tier, und das komplizierte die Sache für mich beträchtlich. Die Resistenz der Menschen gegen jegliche Form von Giften war nicht nennenswert, und viele in der Umgebung wachsende Pflanzen und Früchte wurden dadurch ungenießbar für sie. Da sich meine Kenntnis beschränkt hielt, dauerte es bis zur Mittagsstunde, dass ich mich auf den Rückweg begeben konnte. Sie schlief noch immer, als ich schließlich in den Hain zurückkehrte, lehnte an der Seite ihrer dämonischen Begleiterin, die just zu diesem Zweck ihre größere Gestalt angenommen hatte. Deren Ohren zuckten kaum merklich, als sie mich wahrnahm, schnurrte gedämpft, als ich mich ihr und ihrer Herrin geräuschlos näherte, und mich neben dieser auf dem Boden niederließ. Vorsichtig platzierte ich die gesammelten Vorräte, die ich, um ihren Transport zu erleichtern, in dem leichten Untergewand verstaut hatte, vor der Priesterin auf dem Boden, betrachtete sie verstohlen aus den Augenwinkeln. Ob sie wohl träumte? Zumindest lag sie nicht still, wälzte sich behäbig hin und her, räkelte sich zufrieden seufzend, bis sie mehr oder minder mich als Lagerstätte und Anlehnung nutzte. Sie fühlte sich sichtlich wohl dabei, presste sich instinktiv näher an mich, als ich mich aus ihrer Reichweite zu entfernen versuchte. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihre Nähe auf diese erschlichene Art wollte. Sie handelte unterbewusst, und das musste nicht unbedingt viel bedeuten, ich wusste nun einmal nicht, was in ihren Träumen vor sich ging… Gedankenverloren betrachtete ich ihre ebenmäßigen Gesichtszüge, strich ihr die verirrten schwarzen Haarsträhnen aus der Stirn, die auf ihrer hellen Haut einen perfekten Kontrast bildeten. Selbst ich konnte ihre Schönheit nicht leugnen – und das, obwohl sie ein Mensch war, bloß ein Mensch, nicht mehr… aber auch nicht weniger. Dennoch war sie anders als die anderen, unterschied sich von der groben Masse durch ihre außergewöhnliche Begabung, durch ihren besonderen Charakter. Ein Mensch, der über einen Dämon Gnade walten ließ, obgleich dieser gerade eben noch seine Artgenossen abgeschlachtet hatte… Ein perplexes Keuchen löste sich aus meiner Kehle, als Midorikos Hände Domänen erreichten, wo sie offenkundig nicht hingehörten, und im Gegensatz zu dem Zeitpunkt, an dem Aska ihr Glück auf diese Weise herausgefordert hatte, befand ich mich gegenwärtig nicht unter dem Einfluss eigens für diese Angelegenheit kreierter Drogen, die mir den Verstand vernebelten und den Körper desensibilisierten und lähmten. Sollte ich ihr – buchstäblich – freie Hand gewähren? Natürlich sagte mir zu, was sie tat, doch ich zweifelte, ob es in Ordnung war sie in ihrer Besinnungslosigkeit so auszunutzen. Mein Körper schrie nach Erlösung, meine Gelüste und Triebe nach Befriedigung, aber mein Kopf riet mir davon ab, dem Drängen meines Verlangens zu gehorchen und damit nachzugeben. Würde ich denn nicht dadurch Schwäche offenbaren? Ich kam nicht umhin, ihre Präsenz, ihren Geruch, ihre Nähe, ihre Berührung als Genuss zu empfinden… jeder andere hätte von diesem Augenblick an maßlos um sein Leben bangen müssen, denn jede Person, die es auch nur gewagt hätte, mir in ihrer vollkommensten Form der Dreistigkeit einfach in den Schritt zu fassen, wäre augenblicklich mit aufgeschlitztem Torso zu Boden gegangen. Aska würde die Quittung für ihr Handeln noch erhalten… In diesem Augenblick zog sich eine sachte Bewegung durch die Muskeln der Priesterin, noch benommen öffnete sie die Augen, fing meinen Blick mit dem ihrigen ein. Sie begab sich in eine sitzende Position, rieb sich anschließend über das Gesicht und gähnte ausgiebig. Dann heftete sich ihr Blick auf das Bündel zu ihren Füßen, zu dem sie sich sogleich vorbeugte und es erwägend mit den Händen untersuchte. Ihr Ausdruck hellte sich auf, als sie erkannte, was sich unter dem Stoff verbarg. „Ist das alles… für mich?“ Sie schenkte mir ein unvergleichliches Lächeln, wartete, bis ich ein Nicken andeutete, ehe sie die Essensvorräte eilig von ihrer schier nutzlosen Hülle befreite, und daraufhin begann, die Früchte und Wurzeln auf eine ungenierte Weise in sich hinein zu stopfen, dass man hätte meinen können, sie wäre dem Hungertod nur knapp entkommen. Erst, nachdem sie ihr Hungergefühl gestillt und sich restlos satt gegessen hatte, wandte sie sich wieder lächelnd zu mir um, lehnte sich zaghaft an meine Schulter. „Das ist wirklich nett von dir, Flúgar.“ Ich mochte den angenehmen Klang ihrer Stimme, den milden Unterton, der fortwährend darin mitschwang. Meine Konfusion gelangte zu neuen Gipfelpunkten, als sie ihre Arme um mich schlang, ihre Wange an meine Halsbeuge schmiegte, und mir ein ausdrucksstarkes ‚Danke’ ins Ohr wisperte. Dieses eine Wort reichte aus, um mich davon zu überzeugen, dass ihr Verhalten aus ihrem freien Willen resultierte, und ich mich meinem Wohlbehagen und der Genugtuung, die dies in mir entfachte, guten Gewissens hingeben konnte. „Sei bitte ehrlich zu mir, tust du das weil du es willst? Oder fühlst du dich wegen deiner Lebensschuld bei mir dazu gezwungen?“ Was sollte ich ihr nur darauf antworten? Ich wusste es derweil selbst nicht mehr… „Weshalb interessiert dich das?“ Ihre Umarmung wurde inniger, ihr zittriger Atem streifte die sensible Haut an meinem Hals. Wie sollte ich nur auf solch eine Frage reagieren…? „Skuggi hat mich gefragt, ob ich weiß, was es bedeutet einen Drachen zu retten. Ich hatte keine Ahnung, was ich damit anrichten würde… es war nicht meine Absicht, dich anzuketten und an mich zu binden. Verzeih mir…“ Ich schloss die Augen, vergrub die Nase in ihren weichen Haaren. „Vergiss es. Niemand kann die Vergangenheit ändern – meine Schuld besteht.“ Ein bitteres Seufzen löste sich von ihren Lippen. „Das ist es, was ich erwartet habe. Du würdest nicht gehen, selbst wenn ich dir die Ketten der Schuld eigenhändig abnähme… aber nicht aus Treue, oder Sympathie heraus, sondern aus Zwang.“ Zwang…? War es das, was mich momentan bei ihr hielt? Nein, anfangs mochte das zutreffend gewesen sein, aber zwischenzeitlich war es etwas Anderes, etwas, das ich nicht benennen konnte. Sie hatte Recht, selbst mit ihrer ausdrücklichen Erlaubnis würde ich nicht gehen, wobei diese Entscheidung nicht ausschließlich meinem Ehrgefühl unterworfen wäre. „Ich stehe zu dem, was geschehen ist.“ Das entsprach der Wahrheit, doch andererseits beschäftigte mich der Gedanke an sie wesentlich mehr. Ich vertraute ihr, obschon sie ein Mensch war, eine Menschenfrau, die gewiss mächtiger war als ich selbst… „Das bedeutet, du bleibst tatsächlich bei mir… zum einen freue ich mich darüber, weil ich deine Gesellschaft nicht missen möchte, aber zum anderen will ich dich nicht deiner Freiheit berauben, das wäre ungerecht…“ Sie brach ab und verstummte. Sollte ich ihr sagen, dass ich nicht bloß aus meiner Lebensschuld heraus bleiben würde und es auf gewisse Art und Weise auch wollte? Konnte ich das so einfach? „Was ist mit deiner Hand?“ Bevor ich auch nur zu einer Reaktion fähig war, ergriff sie meine rechte Hand und zog sie zu sich, inspizierte eingehend deren Innenfläche. Ich hätte im Grunde damit rechnen müssen… Ein kehliges Knurren entfuhr mir wie von selbst, als ihre Finger auf eine –zu meinem Leidwesen - noch nicht verheilte Stelle trafen und die Berührung eine heftige Schmerzenswelle erzeugte, die brennend durch meinen gesamten Leib wogte. Dieses Trampeltier war entweder sadistisch veranlagt oder in der Hinsicht talentiert, den Punkt herauszufinden, an dem es am schlimmsten schmerzte. Die unscheinbaren Schwielen, die sie unentwegt betastete, stammten von dem starken Schwertbann, der auf Skýdis gelegen und mich ziemlich heftig abgewehrt hatte. Wenn mir dieser Kaijinbou zufällig einmal über den Weg laufen sollte, würde er für diesen verdammten Fluch büßen… Äußerlich war im Grunde nichts von den geringfügigen Verletzungen zu erkennen, und ohnehin waren sie nicht der Rede wert. Also wie konnte sie davon wissen, und warum diese unnötige Besorgnis darüber? „Einen Moment.“ Sie kramte den kirschblütenfarbenen Yukata aus ihrem Reisegepäck, riss einen dreifingerbreiten Streifen von der arg in Mitleidenschaft gezogenen Unterseite aus dem Stoff und wickelte diesen sorgfältig um meine Handfläche. Und was sollte das nun bewirken? Linderung für einen Schmerz, der ohnehin nur entstand, wenn sie ihre Finger nicht von mir lassen konnte? Ob sadistische Ader oder Ungeschick – im Endeffekt kam dasselbe dabei heraus, und ich hegte mittlerweile einigen Respekt vor ihrer Umsorgung, wenn sie sich der Behandlung meiner Verletzungen zuwendete. „Existiert eigentlich der Begriff Fingerspitzengefühl in deinem Sprachgebrauch?“ Womöglich hätte ich besser geschwiegen, denn ihr Ausdruck verdunkelte sich mit einem Mal drastisch, und ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Wie sonst, ohne es auszusprechen, hätte ich ihr verständlich machen sollen, dass sie mir weh tat? „Willst du damit irgendetwas andeuten?“ Ihre Stimme war verdächtig ruhig, doch ihr Tonfall verriet, dass ihr Gemütszustand ein ganz anderer war. Der Druck, den sie auf meine verbundene Hand ausübte, verstärkte sich so dringlich, dass ich dem Aufstöhnen nahe war. Dementsprechend unterdrückte ich einen drohenden Laut, biss die Zähne zusammen. „Bei dir paart sich das Geschick eines Dragoners mit dem Einfühlungsvermögen eines Ochsen.“ Midoriko schnaubte empört, ging ruckartig auf Distanz, und ich vermeinte zu hören, dass sie mich für einen Moment ernsthaft anknurrte; nicht das bedrohliche Knurren eines Tieres oder Dämons, sondern ein menschlicher Abklatsch dessen, der mir fremdartig erschien, aber weder Eindruck schändete noch eine nachhaltige Wirkung bei mir erzielen mochte. „Und du bist der unsensibelste Vollidiot, der mir in meinem Leben jemals begegnet ist!“ Gut, vermutlich war die letzte Bemerkung meinerseits überflüssig gewesen, doch es entsprach wenigstens dem, was ich wirklich dachte. Trotz dessen hätte etwas Zurückhaltung wohl die angemessene Alternative dargestellt… Was bildete sich dieser bescheuerte Kerl überhaupt ein? Ich sorgte mich um ihn, und er dankte mir das, indem er mir einen so derben Spruch an den Kopf warf. Was sollte das? Was bezweckte er damit? So schlecht, dass ich mich nicht mehr an das letzte Mal erinnerte, als er mir so gekommen war, verhielt sich mein Gedächtnis dann auch nicht zu dem seinen. Nach der Angelegenheit mit Shiosai hatte er mich ähnlich beleidigt, und es hatte mich mindestens genauso geärgert wie jetzt. Missmutig kniete ich mich an den Rand des flachen Bachlaufes, der sich leise gurgelnd durch den dichten Bambusvorhang schlängelte, und mit seiner nächsten Biegung bereits aus der Sichtweite entschwand. Es war unbestritten schön hier, die Sonne malte tanzende Halbschatten auf die Oberfläche des Wassers und den kiesigen Boden, und das frische Hellgrün des Bambus zeugte von gesunder Lebendigkeit. Ich seufzte. Diesen Idioten verstand ich einfach nicht, entweder war er verletzt, schwieg sich tot oder er stichelte an mir herum. Warum musste er es mir so schwierig machen? Aus welchem Grund wies er mich immer wieder ab, gerade wenn ich dachte, einen besseren Draht zu ihm zu finden? Tat er das absichtlich? Oder interpretierte ich zu viel in sein Betragen hinein, und seinen unüberlegten Kommentaren war keine größere Beachtung beizumessen? Mir selber konnte ich längst nichts mehr vorschützen, ich mochte den sturen Loftsdreki, und seine etwas rätselhafte Art reizte mich zuweilen mehr als es gut für mich war. Denn dann kreisten meine Gedanken um Begebenheiten, die sich einer Priesterin nicht ziemten, und die Fragen, die sich dabei aufwarfen, musste ich gezwungenermaßen verdrängen… Wie sollte ich nur weiterhin mit ihm umgehen, wenn er sich mir gegenüber so gemein gebärdete? Ich schrak jäh aus meinen Gedanken auf, als ich das plötzliche Aufflammen von Flúgars Youki hinter mir spürte, fuhr hastig herum, und suchte mit einem fatalen Gefühl in der Magengrube die Umgebung mit den Augen ab, achtete penibel auf jedes verdächtige Geräusch. Auch Kaneko spitzte die Ohren, schnüffelte in der Luft angestrengt nach einer bedenklichen Witterung. Aber der Erfolg blieb bei uns beiderseits gleichermaßen aus, und eine kaum erträgliche Unruhe breitete sich über uns aus wie eine schwere Decke. Erst jetzt, als ich mich wieder umwandte, bemerkte ich die hell leuchtende Energiekugel, die über dem breiten Flussbett schwebte, und fortwährend dessen kurvigen Verlauf folgte. Ob das ein feindlich gesinnter Dämon war? Oder gar etwas Schlimmeres? Zielstrebig bewegte sich sie strahlende Kugel immerzu in Richtung des Luftdrachen, der ohne jede Regung auf der Lichtung stand und den Eindruck erweckte, auf etwas Bestimmtes zu warten. Nur auf was? Wusste er etwa, was das hier zu bedeuten hatte? Das aus reiner Kraft bestehende Bündel hielt knapp vor Flúgar inne, begann sich zu verformen, und gab letztendlich den Blick auf eine humane Gestalt preis, die ich so absolut nicht erwartet hatte und deren Betrachtung mir dementsprechend die Luft förmlich aus den Lungenflügeln trieb. Die Ähnlichkeit der beiden war nicht so groß, dass man sie hätte verwechseln können, aber es wurde mehr als deutlich, dass sie mindestens derselben Art zuzuordnen waren; der mir wohlbekannte Drache war kräftiger, von der Statur her breiter und etwa eineinhalb Köpfe größer als sein Gegenüber, das gegen ihn eher schmal, unscheinbar und zerbrechlich wirkte. Ich wagte es mich nicht zu behaupten, dass es sich um ein Mädchen handelte, denn die zarten, beinahe widersprüchlichen Gesichtszüge gewährten keine eindeutigen Rückschlüsse. Stutzig machte mich allerdings das, was die Person so offen um den Hals trug… selbst aus dieser Entfernung erkannte ich, dass der Anhänger, der an einem mäßig langen Lederband hing, das Gegenstück zu dem war, den Flúgar bei sich hatte… Wer um alles in der Welt war das? Und warum gewährte Flúgar, dass sie – oder er - so dicht an ihn herantrat und ihm die Hände einfach auf die Brust legte? Ich fühlte mich reichlich überflüssig, wie das ungebräuchliche fünfte Rad am Wagen, denn das für mich unverständliche Gespräch, das sich rasch zwischen den beiden entwickelte, hielt sich in einem ernsten, vertrauten Tonfall, und war für mich Beweis genug, dass sie sich schon eine ganze Weile kennen mussten. Kaneko miaute leise, sah zu mir hoch, und ich fragte mich, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Ich wollte nicht unhöflich erscheinen, oder Flúgar vor seinem Bekannten blamieren, deshalb schwieg ich zunächst, wartete geduldig ab, bis die Youkai ihre Unterhaltung beendeten, und ein himmelblaues Augenpaar mich kritisch musterte. Flúgars Blick verblieb derweil neutral. Redeten sie über mich? Wenn ja, aus welchem Grund? Und aus welchem Anlass war dieser andere Dämon überhaupt hier aufgetaucht? Mir behagte es nicht, wie der offensichtlich Jüngere mich anblickte, denn aus seinem Blick war weder Gleichgültigkeit noch Toleranz zu lesen. Kurz, er mochte mich nicht, warum auch immer. Sympathie war ebenfalls nicht das rechte Wort für das, was ich gegenüber ihm empfand. „Midoriko.“ Dieser fordernde Klang in Flúgars Stimme verhieß nichts Gutes. Ich fürchtete, dass ich an dem, was er mir gleich sagen würde, ganz und gar keinen Gefallen finden konnte; ich rechnete gewissermaßen mit allem. „Hai?“ Erwartungsvoll schaute ich ihn an, zwang mich innerlich zu einem wenig emotional geprägten Ausdruck. „Südwestlich von hier, am Hang des Orakelberges, liegt ein Tempel. Geh dort hin und warte.“ Ich war fassungslos. Weshalb tat Flúgar das? Warum stieß er mich nun so kalt und indirekt von sich? Hatte ich ihm etwas getan, was ihn dazu veranlasste? Erschüttert starrte ich ihn an, unfähig, auch nur eine Silbe über meine Lippen zu bringen. Was sollte ich ihm in dieser Lage nur entgegnen? Jedes Widerwort meinerseits wäre respektlos und unverschämt gewesen, ich wollte mich nicht unangebracht verhalten, nickte tonlos. Ich konnte nur hoffen, dass ich an diesem Ort nicht vergebens auf ihn wartete… „Schick den Raben, wenn es Probleme gibt.“ Verwundert hob ich den Kopf, betrachtete den großen Raben mit dem weißen Gefieder, das an den Schwingen im Sonnenlicht silbrig schimmerte, der auf Flúgars Unterarm saß. Die Anwesenheit des Vogels bemerkte ich erst jetzt, und ich bildete mir ein, dass er vor einigen Augenblicken noch nicht da gewesen war. Dem wortlosen Befehl des Loftsdreki folgend, flatterte das ungewöhnlich gefärbte Tier mit kräftigen Flügelschlägen auf mich zu, landete sanft auf meiner linken Schulter. „Ich habe verstanden.“ Es klang hohl und unwirklich, doch das kümmerte die beiden Dämonen herzlich wenig. Ungeachtet meiner Reaktion hüllten sich ihre Silhouetten augenblicklich in blendendes Licht, verschwammen, reduzierten sich, bis sie beide nicht mehr als ein kugelförmiges Gebilde darstellten und ohne einen Abschiedgruß im Wirrwarr aus hellgrünen Bambusrohren verschwanden. Und was war mit mir? Sein überstürzter Ausbruch warf mich völlig aus der Bahn; er hatte mich alleine gelassen, ohne Erklärung, ohne ersichtliches Motiv… so miserabel und ungerecht behandelt hatte ich mich lange nicht mehr gefühlt und um mich nicht selbst zu belügen, gestand ich mir ein, dass ich ihm so etwas nicht zugetraut hatte. Scheinbar hatte ich mich in ihm getäuscht, und das nachhaltig. Ich war naiv gewesen zu glauben, dass es einen Youkai interessieren könnte, wie es mir, einer Menschenfrau, erging. Warum sollte er auch? Wieso sollte er sich um einen schwächlichen Menschen sorgen, der ihm ohnehin nur eine Last war? Man konnte sich Vieles einbilden, doch das rechtfertigte nicht, dass ich so blind und taub gewesen war, dass sich der Gedanke in meinem Verstand gefestigt hatte, Flúgar würde bei mir bleiben, Lebensschuld hin oder her. Mir würde niemand aus seiner Sippschaft Glauben schenken… Und wie sollte es weitergehen? Immerhin hatte ich die Wahl; entweder gehorchte ich Flúgar und vertraute darauf, dass er tatsächlich zu mir zurückkam, oder aber ich schlug wieder meine eigenen Wege ein und entschied für mich selbst. Der Rabe auf meiner Schulter gurrte, berührte mit dem Schnabel vorsichtig meine Wange. Wollte er mich in meiner Zerrüttung trösten, mich aufmuntern? Ich seufzte abgrundtief, kniete mich wieder auf den Boden. „Was meinst du, Kaneko-chan? Soll ich zum Tempel gehen…?“ Behutsam streichelte ich durch das beigefarbene Fell des Nekoyoukai, erwiderte den durchdringenden Blick, mit dem sie mich bedachte. Dann miaute sie auffordernd, trat einige Schritte zurück und transformierte im Flammenschein in die pferdegroße Tigerkatze. Hieß das, dass sie sich seiner knappen Anweisung fügen wollte? Ich überlegte, versank für einige Momente abwesend in meine Imagination. Wenn ich ihm gleichgültig war, dann hätte er mir den Raben doch nicht als Boten gegeben, oder? Meine Verwirrung machte mich unsicher, doch es war wohl das Beste, es heraus zu fordern. Die Entscheidung war gefallen, ich würde zum Orakelberg gehen und dort auf ihn warten, so, wie er es mir gesagt hatte. Bis zu diesem Augenblick hatte er mir noch nie eine Lüge untergeschoben, und Ehrlichkeit schätzte ich als eine hohe Tugend. Damit schwang ich mich auf Kanekos Rücken, deutete nach Südwesten, woraufhin diese willig vorwärts sprang und sich mit Feuer umspielten Pfoten in die Lüfte erhob… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 31: >“Während im Unbekannten eine geheime Glut schwelt, eine Intrige ihr Netz durch die jeweils andere webt, findet der Richtungswechsel ein Ziel, das einerseits Fragen aufwirft und nur beschwerlich zu entwirrende Antworten gibt. Der Wert von Prophezeiungen zeigt sich bekanntlich erst, wenn sie eintreffen…“ *» Áttir Kapitel 31: *~Áttir~* --------------------- "Fortschritt besteht nicht darin, dass wir in einer bestimmten Richtung unendlich weiterlaufen, sondern dass wir einen Platz finden, auf dem wir wieder eine Zeit lang stehen bleiben können." – Gilbert Keith Chesterton Kapitel 31 – Áttir -Richtungen- *Wie weit, wie lange führen uns dieselben Pfade als Weggenossen durch das Leben, sodass wir nicht alleine auf unserer Reise verweilen? Trennen sie sich an einer Gabelung, die in zwei gegensätzliche Richtungen mündet, endgültig? Oder begeben wir uns ohne Kenntnis darüber zuweilen auf Irrwege, die uns zurück zum Anfang geleiten? Ist unsere begrenzte Zeit auf Erden nicht das Wandeln auf unsicheren Wegen durch ein mystisches Labyrinth, dessen Wände sich unbemerkt immer wieder verschieben, unser Tod nicht mehr als ein befreiender Austritt aus der Illusion?* ּ›~ • ~‹ּ „Bundori-sama, ich überbringe Euch im Auftrag von Eldsvoði-sama eine Nachricht.“ Der Angesprochene verharrte in seiner unbeweglichen Position, starrte von seinem erhöhten Aussichtspunkt auf die spiegelglatte Meeresoberfläche hinab, die sich vor ihm bis zum Horizont ausdehnte und so weit das Auge reichte auch kein Ende fand. „Sprich.“ Ehrfürchtig verneigte sich der Diener abermals bis auf den steinernen Untergrund, wagte sich nicht einmal einen Versuch zu unternehmen, den Drachenfürsten des Ostens genauer zu mustern. Er konnte nicht leugnen, dass er neugierig war, doch er hing an seinem Leben, und nach den Schauergeschichten zu urteilen, die ihm über Bundori zu Ohren gekommen waren, wollte er sein Glück nicht auf die Probe stellen. „Eldsvoði-sama lässt Euch wissen, dass ihr Eure Vorbereitungen abschließen und Euch bereit zum Aufbrechen machen sollt. Neisti-sama ist eingetroffen und wird gerade eingeweiht; er wird an Eurer Seite stehen.“ Eine Reaktion seitens des Sonnenweberdrachen blieb aus, und der Bote verließ nach einer weiteren, tiefen Verbeugung eilig das Felsplateau an der äußersten Flanke der ein wenig verloren im Ozean liegenden Vulkankette. Der Fürst der östlichen Ländereien war zufrieden mit dem, was er erreicht hatte. Das Oberhaupt der Eldursdrekar vertraute ihm bedingungslos, und schöpfte nicht einmal einen Verdacht, dass er von Anfang an andere Pläne gehabt hatte und ihn nur für seine Zwecke ausnutzte. Eldsvoði war nicht einfältig oder gar dumm, aber seine lasterhafte Neigung, sich öfters in Rauschzustände zu versetzen und auf diese Weise der Realität zu entfliehen, führte dazu, dass Vieles an ihm vorbeiging und er sich nicht darum bemühte, Bundori stetig zu überwachen. Ein Fehler, den er früher oder später bereuen musste. Die langen, in der mittäglichen Sonne rotgolden schimmernden Haare des Drachen in humaner Gestalt wehten sachte in der salzigen Meeresbrise, und ein boshaftes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Die Mühen, die er zum Schein für die Eldursdrekar auf sich genommen hatte, lohnten sich, und er würde endlich das bekommen, was ihm zustand. Er hatte alles so geschickt eingefädelt, dass kaum etwas schief laufen konnte, und wenn doch, dann würden die Betroffenen dafür mit ihrem Leben bezahlen. Zudem bot sich ihm die Gelegenheit, etwas, das er vor einiger Zeit begonnen hatte, zu beenden. Der Herr des Westens würde ihm nicht noch einmal einen Strich durch die Rechnung machen, denn die Angelegenheit mit Sou’unga ließ ihn noch immer säuerlich aufstoßen. Dieses Mal würde er sich allerdings nicht damit begnügen, sich an dem seelischen Leid des räudigen Köters zu weiden, er würde dem Hundesohn eigenhändig die Kehle aufschlitzen. Bis dahin galt es sich noch in Geduld zu üben, denn wenn er aufflog, würden ihn die aggressiven Feuerdrachen in der Luft zerfetzen. Im Grunde war ihm Eldsvoðis vergnügungssüchtiger Clan zuwider; zumeist waren sie träge und faul, so berauscht, dass sie in einen komaartigen Schlaf fielen und sich ihren Halluzinationen hingaben. In ihrer Nüchternheit wurde der Großteil von ihnen reizbar und angriffslustig, und ihre Unberechenbarkeit war bereits mehreren seiner Untergebenen zum Verhängnis geworden. Einen Streit konnte sich der Drachenfürst jedoch nicht leisten, daher hatte er diese Vorfälle als selbstverschuldet abgetan und nicht weiter ausgeführt, innerlich jedoch köchelte er vor Wut über diese Bilanz. Schon mehr als einmal waren in ihm Zweifel aufgestiegen, ob Eldsvoði wahrhaft so ehrlich war, wie er vorgab. Bundori entschied, dass es im Endeffekt gleichgültig war, und sein hinterhältiges Grinsen verbreiterte sich, das kleine, maskenartige Gesicht auf seiner Stirn schmunzelte ebenfalls. Etwas Besseres als der Pakt mit den Eldursdrekar hätte ihm wohl nicht widerfahren können… Für Eldsvoði war das Scheitern seiner jüngeren Schwester keine Überraschung gewesen, und er hatte ihr schon im Vorhinein prophezeit, dass ein Vorhaben wie ihres nicht unbedingt Erfolg versprach. Er hatte Recht behalten, und ihre Niederlage akzeptierend beugte sie sich nun dem Willen ihres älteren Bruders. Dieser maß Gehorsam einen besonderen Wert bei, und seinen Geschwistern war sehr bald nach seiner Erhebung zum Oberhaupt des Clans bewusst geworden, dass man sich besser nicht mit ihm anlegte und seinen Anordnungen Folge leistete. Wer sich als kooperativ erwies, konnte sich leicht einen Weg an die Spitze der strikten Hierarchie bahnen und seinen Einfluss vervielfachen. Wenn man ihn nicht kannte, beschlich einen rasch das Gefühl, Eldsvoði wäre mit Haut und Haar seiner Sucht verfallen, aber dem war nicht so. Der ranghöchste der Feuerdrachen besaß einen wachen Verstand und einen untrügbaren Instinkt, die man beiderseits nicht unterschätzen sollte. Es hatte ebenso wenig einen Sinn ihn anzulügen wie zu versuchen, ihn zu hintergehen. Bis jetzt hatte er noch jeden erwischt, der ihm gegenüber in seiner Loyalität oder Untergebenheit nachlässig gewesen war. Eldsvoði traute Bundori nicht weiter als er ihn sehen konnte, und ihm war klar, dass er äußerste Vorsicht walten lassen musste. Der Eldursdreki hatte nicht vor, auch nur ein winziges Stückchen Land an die Sonnenweberdrachen abzutreten. Soweit würde es noch kommen, dass er mit einem niederen Lindwurm seine Beute teilte. Ihm schwebte etwas anderes vor, denn wenn er Súnnanvindur und seinen lästigen Clan erst einmal vernichtet hatte, würde eine Feuersbrunst über alle Gebiete der Insel fegen, vor der es kein Entrinnen gab. Auf seinen Bruder konnte er sich in dieser Hinsicht guten Gewissens verlassen, Neisti würde ihm keine Schande bringen. Der Jüngere folgte ihm aufs Wort, und von einem wie Bundori ließ er sich sicherlich nicht beschwatzen. Der Drachenfürst des Ostens war nur ein Mittel zum Zweck gewesen, und gewissermaßen brauchte er ihn schon jetzt nicht mehr, war ihm unlängst überdrüssig geworden, doch die Umstände waren ein wenig ungünstig. Eine direkte Konfrontation mit dem Herrn der Hunde konnte er nicht offen befürworten, auf eine Auseinandersetzung dieser Größenordnung waren sie gegenwärtig nicht ausgelegt, und die Konsequenzen sich mit einem so mächtigen Dämon zusätzlich zu verfeinden, waren für ihn als Oberhaupt zurzeit nicht tragbar. Um ihn herum ward es still, die Luft flimmerte vor Hitze. Er konnte das allmähliche Erwachen des Vulkans, das zaghafte Brodeln des Magmas tief unter der Erde, spüren. Nicht mehr lange, und der Feuerberg würde wieder, für das ignoranteste Wesen sichtbar, seine ursprüngliche, wahre Natur offenbaren… „Leiðtogi?“ Sein Blick verfing sich mit dem seines Bruders, Silber traf auf bläulich durchwirktes Gold. „Sei vorsichtig, Neisti, ich verlange nicht von dir, dass du dein Leben gefährdest. Du weißt, was du zu tun hast. Lass Bundori verfahren, wie es ihm beliebt – so lange er dich zufrieden lässt, soll es mir gleich sein. Provoziere ihn nicht. Halte dich von Inu No Taishou fern, und konzentriere dich auf deinen Auftrag.“ Der jüngere Drache bejahte nickend, blickte seinem Bruder aufmerksam ins Gesicht. Dieser stand nun auf, schritt auf Neisti zu und barg behutsam dessen Gesicht in seinen Händen. „Mach dem Clan Ehre, Neisti.“ Eldsvoði küsste ihn erst auf die Stirn, dann auf die Lippen und zog ihn dann in eine brüderliche Umarmung. „Das werde ich, Eldsvoði. Verlass dich auf mich.“ Neisti hielt viel auf seinen Bruder, genoss dessen uneingeschränktes Vertrauen, doch er konnte nicht gutheißen, dass der Ältere seiner Sucht so aktiv betrieb. Selbst konnte er sich davon auch nicht lossagen, aber er schaffte es, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten und bei Sinnen zu bleiben. Wie oft er Eldsvoði besinnungslos in seinen Gemächern aufgefunden hatte, wollte er sich gar nicht in Erinnerung rufen. Er übertrieb es, und das nicht bloß ein klein wenig. Wenn er Pech hatte, würde ihn womöglich dieser fragwürdige Bundori in einem solch schwachen Moment zwischen seine Fänge bekommen und er wollte sich nicht ausmalen, was dann mit ihm geschehen würde… ּ›~ • ~‹ּ Die Nacht brach bereits herein, als mich Flúgars dürftige Richtungsvorgabe schlussendlich an den Fuß des Orakelbergs führte, der finster und bedrohlich im vorherrschenden Dämmerlicht vor mir aufragte. Besorgt schaute ich zum Himmel auf, betrachtete die rundende Scheibe des Mondes, die langsam hinter den schwarzen Umrissen des Berges zum Vorschein kam. Mir war unbehaglich zumute, etwas an diesem Ort war eigenartig. Ich wusste es nicht zu benennen, doch ich spürte eine ungestalte Anomalie, die mich nachdenklich werden ließ. Hier existierte eine besondere Macht, deren Ursprung mich brennend interessieren würde… Ein ungeduldiges Krächzen veranlasste mich zum Aufhorchen. Der weiße Rabe hüpfte ruhelos auf einem dünnen Ast hin und her, ersuchte meine und Kanekos Aufmerksamkeit. Wollte er uns seine Hilfe anbieten und uns den Weg weisen? Der Vogel schlug mit den Flügeln, geleitete uns zu einem schmalen Serpentinenpfad, der sich steil den Berghang empor wand, umsäumt von krumm gewachsenen Bäumen und kniehohen, dörren Sträuchern. Der Weg selbst war staubig, von vereinzelten Felsbrocken und Steinen übersät, schlichthin unwegsames Gelände. Der Aufstieg gestaltete sich daher lang und anstrengend, sodass wir bald eine kurze Rast einlegen mussten, um erst einmal wieder Atem zu holen. Auch die Kräfte der Dämonenkatze schwanden, und sie musste sich zurück in ihre normale Form verwandeln, um ihren Körper nicht überzustrapazieren. Ich nahm sie auf den Arm, und gönnte ihr die wohlverdiente Ruhe. Sie hatte ihr Leistungspensum für heute mehr als erfüllt, indem sie mich die Stunden zuvor auf ihrem Rücken hierher getragen hatte. So dauerte es eben eine schiere Ewigkeit, bis ich die Steigung bewältigte und schließlich zum Tempel gelangte, der von knorrigen alten Eichen und Buchen umringt war, sich versteckt vor der Außenwelt in einem kleinen Laubwäldchen befand. Misstrauisch blickte ich mich um. An jedem zweiten Baum etwa war ein Papiersiegel befestigt, die alle zusammen einen Bannkreis schufen, der sich schützend um und über die Tempelgebäude spannte. Für mich würde er es nicht weiter problematisch sein, diesen so zu beeinflussen, dass ich hindurch kam, doch was wurde dann aus Kaneko? Ich wollte sie nicht zurücklassen, vor allem nicht in einer Gegend, die weder mir noch ihr geläufig war, und in der es möglicherweise von Youkai nur so wimmelte. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als es plötzlich in einem der vertrackten Gebüsche vor mir raschelte, und ein schwacher Lichtschein die Schwärze der Nacht erhellte, sich beständig näherte. „Wer ist dort? Gebt Euch zu erkennen!“ Sehr herzlich wurde man hier anscheinend nicht willkommen geheißen… Andererseits konnte ich es der – der Stimme zufolge eindeutig - weiblichen Person, die wahrscheinlich wie ich eine Schreinjungfrau war, nicht verübeln, dass sie so reagierte. Für gewöhnlich trieb man sich im Dunkeln rein aus Höflichkeit nicht in der Nähe eines heiligen Ortes herum. „Entschuldigt bitte mein unerlaubtes Eindringen, aber ich suche ein Lager für die Nacht. Könnt Ihr mir weiterhelfen?“ Das spärliche Kerzenlicht der Laterne bewegte sich weiterhin auf mich zu, und hinter dem unsichtbaren Bannkreis wurde eine Gestalt sichtbar, die sicheren Schrittes das üppig bewachsene Waldstück durchquerte und erst stehen blieb, als sie nur noch eineinhalb Schrittlängen von mir trennten. „Wer seid Ihr, Miko-sama? Ihr solltet wissen, dass Mononoke auf geheiligtem Grund nichts verloren haben.“ Sie war noch jung, jünger als ich, und nahm ihre Pflicht als Priesterin unheimlich genau. Der Ernst, der in ihrem fast tadelnden Ton nachklang, gefiel mir trotz dessen nicht. „Mein Name ist Midoriko, und ich bin mir durchaus im Klaren darüber, dass es Kaneko nicht erlaubt ist, mir bis zum Tempel zu folgen.“ Ohne ersichtlichen Grund entglitt die Laterne dem Griff der jugendlichen Miko, fiel zu Boden und erlosch augenblicklich. Damit ward es wieder stockduster, und es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an die lichtkargen Umstände gewöhnten. Sie warf sich auf die Knie, neigte das Haupt bis zur Erde. „Bitte verzeiht mein unangebrachtes Benehmen, Midoriko-sama, mir war nicht bewusst, dass Ihr es seid… ich… ich dachte nicht, dass Eki-samas Voraussage so schnell eintreffen würde…“ Eki-sama? Eine Voraussage…? Etwas musste diesem Berg ja seinen Titel eingebracht haben, und Eki-sama war vermutlich das dazugehörige Orakel, dass Pilgern und Wanderern ihre Zukunft vorhersagte. Normalerweise hatte ich nicht viel für solche Leute übrig – die meisten waren Heuchler, Scharlatane, die ihre gutgläubigen Opfer um all ihre Ersparnisse erleichterten und sinnlose Verse erfanden, um unbehelligt davon zu kommen. „Der Sprössling des Grüns der Bäume, der in seiner Seele nichts als die Tugend der Reinheit trägt, durchbricht auf einsam wandelndem Pfade den Schein in der Dunkelheit. die pure Maid in Begleitung der flammenden Kreatur der Finsternis, die lebenslang unter dem Schutz des ewig währenden Windes steht, ersucht nichtsahnend die Weisheit des Orakels. Das waren Eki-samas Worte.“ Ich geriet ins Grübeln. Handelte es sich hier um einen glücklichen Zufall? Oder war Eki-sama wahrhaft ein Orakel, das dieser Bezeichnung würdig war? Die erste Zeile spielte auf meinen Namen an, die zweite auf meine Fähigkeit der Läuterung, und in der vierten war von Kaneko die Rede… Um ganz ehrlich zu sein beschrieb dieser Vers meine derzeitige Lage ganz gut, auch, wenn mir Manches nicht sofort einleuchten mochte. „Midoriko-sama, wenn Ihr mir dann bitte folgen würdet?“ Ich nickte, beobachtete neugierig, wie sie sich an einem der Siegel zu schaffen machte und damit die Barriere für einige Momente schwächte, sodass Kaneko und ich ohne Schwierigkeiten hindurch kamen. Etwas wie Skepsis regte sich in mir, als mir in voller Intensität bewusst wurde, wie stark dieser Bannkreis wirklich war… „Wozu diese Barriere?“ Die junge Priesterin drehte sich nicht um, suchte in der Dunkelheit zwischen den halbhohen Farnen und Büschen nach dem Pfad, den sie zuvor benutzt hatte um zu mir zu gelangen. „In der Nähe des Orakelsberges halten sich viele Dämonen auf, und zurzeit treibt sich hier ein überaus mächtiger herum. Eki-sama wies uns an, die Siegel so drastisch zu verstärken.“ Wieder erwähnte sie diesen Eki-sama… wer verbarg sich nur hinter diesem geheimnisvollen Namen? Ob ich besagte Person noch kennen lernen sollte? Denn ich nahm nichts dergleichen wahr, keine auffälligen Energien, keine außergewöhnlich starke Aura, nichts. Entweder existierte dieser Dämon nicht, oder aber, Eki-sama besaß erstaunliche spirituelle Kräfte, die die meinen noch weit überschritten… Der prunkvolle Tempel, zu dem mich Nikkou geleitete, beherbergte ein ganzes Dutzend blutjunger Priesterinnen, die sich allesamt dem Dienst und der Verehrung Eki-samas verschrieben hatten. Um diese späte Stunde hätte der Großteil von ihnen bereits schlafen sollen, doch die meisten waren noch hellwach, und im Tempelgebäude selbst herrschte emsige Geschäftigkeit. Die Wachskerzen in den Laternen brannten nach Nikkous Auskunft die Nacht über bis zum Morgen, und mindestens zwei der Mädchen waren als Wachposten eingeteilt, was laut der jungen Miko eine Vorsichtsmaßnahme war, um rechtzeitig reagieren zu können, wenn die dunkle Präsenz eines Dämons sich dem Bannkreis näherte. Bis jetzt war es zu keinen Vorfällen gekommen, doch Eki-sama hatte ihnen befohlen, Vorsicht walten zu lassen; der machtvolle Dämon, der durch die umliegenden Wälder streifte, musste ein bedeutender Vertreter seiner Rasse sein, und das wohl nicht umsonst. Ich erntete aufgrund von Kanekos Anwesenheit einige schiefe Blicke, aber als sie erfuhren, dass ich diejenige war, deren Ankunft ihr Orakel vorausgesagt hatte, baten sie, sich auf den Boden werfend, inständig um Verzeihung. Die Mädchen waren jung, daher sah ich es ihnen nach… Nikkou, und eine weitere Priesterin namens Tsubomi eskortierten mich zu dem Raum, den sie auf Geheiß ihrer Führungskraft Kagayaki, die ungefähr so alt war wie ich, mir alleine zur Verfügung stellten. Es war ein bescheidenes, kleines Eckzimmer; schlicht, und ohne überflüssigen Luxus. Die beiden Jüngeren verneigten sich höflich, schoben die Tür halbwegs zu. „Ruht Euch bis zum Morgengrauen aus, Midoriko-sama, denn sobald die Sonne aufgeht, werden wir Euch zu Eki-sama führen.“ Mit diesen Worten verschwanden sie leise miteinander tuschelnd in Richtung der großen Haupthalle. Unschlüssig setzte ich mich auf den ausgelegten Futon, betrachtete die simplen, schmucklosen Zeichnungen von Vögeln und Kirschbäumen auf den Wandschirmen. Ich fühlte mich einsam, obschon der Nekoyoukai sich mit einem tröstenden Schnurren in meinem Schoß zusammenrollte. Ja, ich vermisste Flúgar, und ich konnte nichts dagegen unternehmen. Er war fort, und in mir festigte sich der Verdacht, dass er nicht so schnell zurückkehren würde. Nur zu gerne hätte ich gewusst, warum er so abrupt gehandelt hatte. Denken war nicht unbedingt seine Stärke, dass er seinen Verstand jedoch gar nicht gebrauchte, wollte mir nicht in den Kopf. Sicherlich hatte dieser andere Youkai etwas damit zu tun… Mir fiel es unsäglich schwer, nicht an den Loftsdreki zu denken. Über wen oder was sollte ich mir denn sonst Gedanken machen? Ich wollte nicht alleine sein… war diesem Idioten überhaupt klar, was er mir antat? Dieser anti-emotionale Steinklotz scherte sich einen Dreck um die Empfindungen anderer, also warum sollte es für ihn von Interesse sein, wie ich mich fühlte? Mir entwich ein Seufzen, als ich den Kopf gegen die Wand lehnte. Es fehlte nicht mehr viel, dass ich in Tränen ausbrach, und binnen kurzer Zeit ertappte ich mich bei der Überlegung, ob ich mich mit Kaneko nicht besser an Flúgars Fersen geheftet hätte… Ich war machtlos gegen meine innere Verzweiflung, spürte das penetrante Brennen in meinen Augenwinkeln, das zusehends an drängender wurde und schließlich die Oberhand gewann. Meine Hoffnung, dass mein Warten an diesem Ort irgendwann belohnt werden würde, schwand, rückte immer weiter von mir fort. Warum sollte er hierher kommen? Aus welchem Grund sollte er mich abholen…? Nicht einmal dafür konnte ich ihn verachten oder sogar hassen, es funktionierte einfach nicht, obwohl es auf diese Weise so viel leichter geworden wäre – für uns beide. Auf was lief das alles letztendlich hinaus? War das der Weg, den uns das Schicksal beschieden hatte? Und was war, wenn ich mich damit nicht einverstanden erklärte? Schluchzend biss ich mir auf die Unterlippe, wischte mir mit dem Ärmel meiner Baykue die Tränen aus dem Gesicht. Nein, so konnte und würde es nicht enden, keinesfalls! Dieses Mal würde ich mich mit aller verfügbaren Kraft wehren, mich gegen so einen ungerechten Zug sträuben. Ich ließ es mir nicht länger gefallen, dass das Schicksal mit mir spielte wie der Wind mit einem verdorrten Blatt. Und ebenso hätte ich nicht erlauben dürfen, dass Flúgar mit mir umsprang wie es ihm gerade beliebte. Selbst er durfte das nicht… doch warum konnte ich ihm sogar das nicht nachhaltig übel nehmen? Wenn ich mich genauer entsann, so gelangte ich rasch zu dem Schluss, dass ich in keinem Sinne fähig war, ihm ernsthaft etwas nachzutragen. Auch nachdem er mir gebeichtet hatte, dass er wahrscheinlich meinen Vater getötet hatte, war ich nicht einmal in Erwägung gezogen, ihm deswegen mit Hass zu begegnen oder ihn anderweitig zu behandeln. Er hätte es nicht sagen müssen… aber aus welchem Grund hatte er es dann getan? Dachte er sich vor mir rechtfertigen zu müssen? War ihm das widersinnige Bestreben inne, ehrlich mit mir zu sein? Oder plagte ihn ein schlechtes Gewissen, wenn er mich anschaute und ihn meine Augen an die meines Vaters erinnerten? Ich hatte ihn nie kennen gelernt, und wusste nur das, was meine Mutter mir erzählt hatte. Sie hatte mich nicht belogen, doch ich konnte mir ebenfalls nicht vorstellen, dass Flúgar ihn völlig grundlos ermordet hatte. Das war nun mal nicht seine Art; mein Vater musste ihn zumindest bedroht haben, anders war das Verhalten des Loftsdreki nicht zu erklären. Ob sich dieses Problem seinerseits dadurch erledigt war, dass er mir seine Tat gestanden hatte? Ich war ratlos, blickte auf, und just in diesem Moment realisierte ich das Fehlen des weißen Raben. Das Tier war wie vom Erdboden verschluckt, unauffindbar, und wenn ich mich der letzten Ereignisse jener Nacht entsann, so musste der Vogel zu der Zeit abhanden gekommen sein, als ich Nikkou begegnet war. Unbewusst zuckte ich die Achseln. Vielleicht war es dem Raben auch nicht möglich, die Barriere zu durchdringen… Ich seufzte, schloss die Augen. Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre mir ein erholsamer Schlaf verwehrt geblieben. Müdigkeit und Erschöpfung drohten mich seit geraumer Zeit zu überwältigen, doch ich machte kein Auge zu, wälzte mich unruhig auf meiner Bettstatt umher. Ein paar Mal begrub ich um Haaresbreite Kaneko unter mir, die verärgert fauchte und warnend ihre Krallen ausfuhr. Der Katzendämon war reizbar, wenn es um seine ihm gebührende Ruhepause ging, und wenn man nur ein wenig Grips hatte, billigte man das ohne Einmischung. Ansonsten konnte man sich warm anziehen… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 32: >“Während in den Bergen die rätselhafte Botschaft der Zukunft offenbart wird, kehrt das verlorene Kind in die Arme des besorgten Vaters zurück. Doch die vermeintliche Ruhe dauert nur einen Moment an, wird von etwas Unheilvollem gebrochen, das den ersten Schritt in das Kommende ankündigt…“ *» Batsuro Kapitel 32: *~Batsuro~* ----------------------- "Das menschliche Herz hat eine fatale Neigung, nur etwas Niederschmetterndes Schicksal zu nennen." – Albert Camus Kapitel 32 – Batsuro -Schicksal- *Ist uns der Weg, den wir im Laufe unseres Lebens verfolgen werden, von vornherein vorbestimmt? Können wir wahrhaftig nichts tun, um einen anderen Pfad einzuschlagen der die Richtung zu ändern? Bleibt uns die Eigenverantwortung auf dieser Ebene auf ewig versagt? Oder hat das Schicksal auch alternative Wenden für uns vorgesehen, so dass uns gar nicht bewusst wird, dass wir bloß Schachfiguren auf dem Spielbrett der Zeit sind? Aber ist es nicht letztlich unsere Entscheidung, was wir glauben wollen und was nicht?* ּ›~ • ~‹ּ Ich hatte höchstens eine Stunde mit Dösen zugebracht, als jemand schwungvoll die Schiebetür aufriss und mir ein viel zu lautes „Aufstehen!“ entgegen schmetterte. Eine solche morgendliche Begrüßung hatte ich selten erlebt… was für Sitten waren das denn? Mühselig raffte ich mich auf, strich mir durch die Haare. Solche Methoden zum Wecken von Besuchern zu betreiben, gehörte eindeutig verboten; üblicherweise wurde man in einem seriösen Tempel nicht so behandelt. Aber dieser hier war wohl etwas Besonderes, denn für gewöhnlich waren die Priesterinnen auch nicht so extrem jung. Das Frühstück gestaltete sich knapp, und kaum, dass ich zu essen begonnen hatte, wurde bereits abgeräumt und zur Eile gedrängt. Als sehr ausgewogen hätte ich die spärliche Mahlzeit nicht bezeichnet, denn es war nicht mehr als eine halbe Schale Reis, ein wenig eingelegtes Gemüse und Tee. Von Genuss oder Gemütlichkeit konnte nicht die Rede sein; als würden ihnen die Soldaten des Tennô-heika im Nacken sitzen, riefen sie mich zur Hast auf. Scheinbar hatten die Mädchen in diesem Tempel keine Zeit für nichts… Ich fügte mich dem, widerwillig, aber dennoch schweigsam. Was hätte ich ihnen vorwerfen sollen? Immerhin wollten sie mich zu diesem mysteriösen Eki-sama bringen, dem sie dienten und den sie offensichtlich verehrten. Das an sich war für mich Grund genug, mich wenigstens für eine Weile ihrem hastigen Tun anzupassen. Ehe ich mich versah, befanden wir uns vor dem Tempel. Kagayaki, die älteste der hiesigen Priesterinnen, lief mit raschen Schritten voran, und schlug prompt den Weg in Richtung Berg ein. Hinter dem Gebäudekomplex bogen wir in ein schmales Trampelfädchen ein, das, soweit das Auge vorauszublicken vermochte, an den steilen Felsen entlang stets weiter, bis hoch zum Gipfel führte… Ein Ächzen konnte ich mir nicht verkneifen. Da wollten wir hoch? Das konnte doch nicht wahr sein… der Aufstieg bis zu diesem Ort war mir schon mehr als ein wenig zu viel gewesen. Zudem war ich eben davon noch erschöpft, und gleichermaßen müde, da ich nicht in der Lage gewesen war, die paar Stunden bis Sonnenaufgang zum Schlafen zu nutzen. Ich ballte die rechte Hand zur Faust; ohh, dafür würde Flúgar büßen, das konnte ich ihm schwören. Ob er das gewusst hatte oder nicht, war irrelevant, aber da ich einzig wegen ihm hier war, würde er hierfür auch die Verantwortung tragen müssen. Bis zur erreichbaren Spitze des Berges hatte ich noch reichlich Gelegenheit, mir etwas Entsprechendes zu diesem Thema zu überlegen… Das unfreundliche Grau des Morgens hatte sich in ein klares, hellblaues Firmament gewandelt und die leichten Nebelschwaden hatten sich längst aufgelöst, als wir – Kami-sama sei Dank – endlich unseren Bestimmungsort erreichten. Unterhalb des Berggipfels formte sich aus dem massiven Fels ein Höhleneingang, in dessen runden Bogen, den er beschrieb, die Worte eines alten Rätsels eingraviert und mit dunkelgrüner Farbe verschönert worden waren. ‚Was ist kalt und was ist heiß, was ist hart und was ist weich, was ist eng und was ist weit, was ist rot und was ist Fleisch?’ In der Mitte und zu den Enden hin standen jeweils die zwei goldenen Zeichen für Eki, Orakel. Ich keuchte bloß noch nach Atem, der Schweiß suchte sich selbst unter meiner Kleidung spürbar einen Weg über meine Haut. Mit Sicherheit roch ich wie ein dreckiger, nasser Hund, oder gar schlimmer, doch all das wurde augenblicklich zur Nebensache. Diese Energie, die vom Inneren der Höhle auszuströmen schien… das war es, dass ich bereits am Fuße des Berges hatte spüren können. Jene Anomalie, jene fremde Macht… war das Eki-sama, das Orakel? Wortlos betraten wir die Höhle, die von zart gefärbten Kristallen, die aus eigener Kraft matt glimmten, beleuchtet wurde, und stiegen vorsichtig das steile Gefälle herab. Der Gang grub sich bis tief hinab zum Herzen des Orakelberges, denn es wurde stetig kühler, und endete schließlich in einer kleinen, mäßig hellen Gewölbehalle. Auf der Gegenseite erhob sich ein hölzerner Schrein, und über der Schiebetür prangte in Gold wieder die Bezeichnung Eki. „Sprich, Sprössling des Grüns der Bäume, was ist die Antwort auf des Rätsels Frage.“ Ich fuhr zusammen, betrachtete den Schrein mit einem überforderten Blick, und versuchte, meine Erschrockenheit auf ein erträgliches Maß zu dämmen; die Stimme, die wie die einer älteren Frau klang, war eindeutig von dort gekommen, und genau das beunruhigte mich… sollte ich antworten? Oder war es klüger, nicht darauf einzugehen? Der fordernde Ausdruck, der sich auf den Gesichtern von Kagayaki und Tsubomi abzeichnete, war eine unmissverständliche Aufforderung dazu, des Rätsels Lösung preiszugeben. Unsicher trat ich ein wenig vor, senkte den Kopf leicht gen Boden und spielte verlegen mit einer Haarsträhne. „Das Herz eines Menschen – das ist die Antwort.“ Meine Worte verhallten schier ungehört zwischen den steinernen Wänden, und zunächst geschah nichts. Es ward still in der unterirdischen Halle, und ich wagte es kaum noch zu atmen. Dann, wie von Geisterhand, öffnete sich die Tür des Schreins. Ich wusste, was ich zu tun hatte, aber trotzdem setzte ich mich bloß zögerlich in Bewegung, und hielt noch einmal kurz inne, um mich zu sammeln, ehe ich die sprichwörtliche Höhle des Löwen betrat. Ein karger Lichtschein erhellte den verstaubten Innenraum gerade soweit, dass ich die groben Konturen der Holzbaute, und die schattenhaften Umrisse einer menschlichen Silhouette erkennen konnte. Ich verneigte mich höflich, kniete mich gegenüber der fremden Gestalt auf die nackten Holzbohlen, und blickte vorerst nicht auf. Das war zweifelsohne Eki-sama, und ich zollte ihr den Respekt, der ihr gebührte. „Vier Seelen - Ara-Mitama, Nigi-Mitama, Kushi-Mitama, Saki-Mitama – die sich im menschlichen Herzen zu unserer Seele vereinigen… Mut, die Verbindung zu den Eltern, Weisheit, die Fähigkeit, Liebe walten zu lassen; das Individuum entscheidet über Licht oder Dunkel.“ Die vier Seelen, die im Herzen eines Menschen wohnten, und entweder dem Guten oder dem Bösen verfielen… warum erzählte sie mir das? „Die Entfaltung der Vollkommenheit, die dir bestimmt ist, lässt sich nur durch ihren Gegensatz bewirken, doch bist du hier, damit ich dir den ersten Schritt dorthin zeige. Komm näher.“ Was hatte sie vor? Verhalten rückte ich etwas vor, näherte mich behutsam. Mir war nicht ganz bewusst, ob ich Angst verspüren sollte oder nicht… Die Alte streckte die Hand nach mir aus, berührte mit zwei Fingern zaghaft meine Stirn. Ihre Berührung fühlte sich eigenartig an, jedoch nicht unangenehm, und ein Empfinden von sanft wallender, beinahe streichelnder Energie übermannte mich, und meine Augenlider schlossen sich wie von alleine. „Ara-Mitama, Nigi-Mitama, Kushi-Mitama, Saki-Mitama… Midoriko, die die Tugend der puren Reinheit in ihrer Seele trägt.” Wogen des Wohlbefindens fluteten ausgehend von meiner Stirn ausgehend durch meinen gesamten Leib, ließen mich in einen tranceartigen Zustand verfallen, der nur von dem merklichen Kribbeln unter meiner Haut, an der Stelle, wo mich die Alte berührte, durchzuckt wurde. Das Gefühl verschwand so urplötzlich, wie es in mir aufgelodert war, und mein Gegenüber brachte wieder etwas Distanz zwischen uns. Prüfend rieb ich mir über die Stirn, fand dort zu meiner Überraschung aber nichts vor. Es schmerzte nicht, und wirkte auf mich, als wäre es niemals anders gewesen. Zu was das gut gewesen sein sollte, war mir schleierhaft… hatte es womöglich nicht funktioniert? Eine Weile herrschte Schweigen, das ich meinerseits nicht zu brechen wagte, daher geduldete ich mich, bis sie sich wieder zu Wort meldete. „Eine Vision verhieß mir deine Ankunft, ebenso, wie das, was dir noch widerfahren wird. So lausche nun aufmerksam, Midoriko, und vergiss es nicht: - Ein weißer Unbekannter auf Abwegen, die den deinen zu wählenden gleich sein werden, steht in unmittelbarer Verbindung zu dem, was dir fehlt.“ Eki-sama pausierte einen Augenblick. „- So hütet euch vor dem schwefeligen Atem des Feuers, fürchtet die, die wissen das Licht der Sonne zu nutzen; das Inferno ist bloß ein harmloser Ursprung, und nicht immer ist der Feind deines Feindes ein Freund. - Ein Funke genügt, um etwas zu bewirken, suche nach dem Guten hinter der Fassade des Bösen. Vertrauen in Ehrlichkeit und Güte wird belohnt, und Ignoranz verbrennt die Luft zu schwarzer Asche.“ Erneut verstummte sie, bloß, um gleich darauf wieder von neuem zu beginnen. „- Dem einen bleibt die Jugend ein Leben lang vergönnt, die Schuld daran muss der Dringlichkeit zugewiesen werden. Nur gemeinsam ist das verderbliche Schwarz mächtig, doch der Kampf um den Sieg verzögert sich bis in die Ewigkeit, auf dass zwei unsterbliche Seelen unaufhörlich in Agonie verfallen…“ Der absoluten Verwirrung nahe, echoten die rätselhaften Worte des Orakels abermals durch meinen Verstand, warfen somit bloß weitere Fragen auf, die mir fortan im Kopf herum schwirrten. Ich hatte keine Ahnung davon, was die vier Verse bedeuten oder aussagen sollten, ich wurde aus ihnen einfach nicht schlau. Mir entfleuchte ungewollt ein abgrundtiefer Seufzer, der den gesamten Raum ausfüllte und mich beschämt erröten ließ; so offenkundig musste man seine derzeitige Gefühlslage und Verlorenheit nicht kundtun und darlegen, das geziemte jemandem wie mir nicht. Einige Zeit verstrich, ehe ich mich wieder traute, meinen Blick zu heben und in Eki-samas Richtung zu schauen, und selbst jetzt, wie ich ihr so gegenüber saß, war mir ihre anormale Präsenz allzu gegenwärtig, vernahm meine Überlegungen ein. Ein Mensch, der solch eine Energie aussandte… konnte das möglich sein? Nein, mitnichten. Ich schüttelte den Kopf, fixierte Eki-sama mit den Augen. Diese Aura war nicht die eines menschlichen Wesen, niemals… „Eki-sama, verzeiht, aber Ihr… seid kein Mensch, oder?“ Die vagen Gesichtszüge, die deutlich vom Alter geprägt waren, verzogen sich leicht zu einem schmunzelnden Ausdruck. „Kluges Mädchen. Einstmals war ich einer, nunmehr bin ich ein Medium.“ Sie blickte mich eindringlich an, und das wissende Lächeln wandelte sich in angespannte Konzentration. Ein fragender Ausdruck schlich sich unbemerkt auf mein Gesicht, verflog jedoch wieder, als ich spürte, dass sie meine Hände ergriff und zusammen brachte. Das Aufglühen mehrerer winziger Lichtkugeln durchbrach auf einmal das Halbdunkel des Schreininneren, erregte meine Neugier. Was das wohl werden würde…? Einige Herzschläge danach leuchteten die Lichtpunkte grell auf, nur um sofort wieder abzuklingen und anschließend mit den vorherrschenden, fahlen Verhältnissen zu verschmelzen. Damit überlagerte der Dämmerschein die Situation, umfing diese, und tauchte sie in schummrige Trübe. „Kontrolle ist mit Obacht zu genießen, und man sollte sie gewissenhaft ausüben, denn deiner Unterjochung wird sich jeder zu fügen haben.“ Ich musste nicht nachsehen, um mir die Versicherung zu holen, was sich in meinen Handflächen befand, ich wusste es… Gebetsperlen… ּ›~ • ~‹ּ Mehrere Stunden vergingen, bis Flúgar und sein jüngerer Bruder die geheime Sommerresidenz des Tennô erreichten. Der riesige Gebäudekomplex, der in seiner kostspieligen Pracht nur so strahlte, lag direkt an der Küste, wo steile Felsenklippen das Land vom Wasser abgrenzten. Der hoch angesiedelte Lagepunkt des Schlosses erlaubte einen atemberaubenden Fernblick über den Ozean, sowie eine gute Sicht über das umliegende Gelände, das aufgrund des steinigen Bodens auch nur karg bewachsen war. Eine Mauer so hoch wie drei Mann umsäumte den Sitz des höchsten Shintôpriesters im gesamten Reich, sicherte diesen und hielt die neugierigen Blicke derer fern, die an diesem Ort nichts verloren hatten. Es gab nur ein Tor, das von Soldaten des Tennô, als auch von einigen ausgewählten Kriegern der Loftsdrekar bewacht wurde. Dunkle Banner mit dem Symbol des Kranichs flatterten geräuschvoll in der salzigen Seebrise, passten sich an die Farben der Anlage an, die sich weitestgehend auf Ebenholz und Weiß beschränkten, ab und an von Zinnoberrot, Königsblau oder dem üppigen Grün der hier in bestimmten Bereichen kultivierten Pflanzen unterbrochen wurde. Die Sonne badete das Meer bereits in goldenem Rot und Orange, als die beiden Drachenbrüder an ihrem Bestimmungsort ankamen und ohne viele Worte wechseln zu müssen die Zutrittspforte passierten. Sie folgten dem überdachten Gang, durchquerten auf diesem Wege mehrere Vorhöfe und einen der zahlreichen Schlossgärten, ehe vor ihnen endlich das große Hauptgebäude, das Herz der Residenz, auftauchte. Am oberen Ende der steinernen Treppe vor der eindrucksvollen Baute stand eine Gestalt in kostbaren Seidengewändern, die die beiden voller Ungeduld erwartete. Flúgar wusste, um wen es sich dabei handelte… Während sich der jüngere ausgiebig verneigte, senkte der ältere Loftsdreki nur sachte den Kopf, und jegliche Andeutung einer weiteren, höflichen Geste blieb aus. Sollte er vor seinem Vater auf den Knien im Staub kriechen, wenn er ohnehin zu ihm aufsehen musste? Der gedämpfte Klang von Schritten ließ ihn aufhorchen, und das Ersterben des Geräuschs genau vor ihm machte ihn zusehends nervös. Er mochte Súnnanvindurs unmittelbare Nähe nicht sonderlich, und selten bedeutete dies etwas Gutes für ihn. Bezog er nun wieder Prügel, weil er sich über einen längeren Zeitraum nicht gemeldet hatte und mehr oder minder auffindbar gewesen war? Außer ihnen war niemand auf dem Haupthof, und Súnnanvindur neigte dazu, ihn immer dann zu maßregeln, wenn sie unter sich waren. Ob er das gutheißen oder verurteilen sollte, war Flúgar nicht wirklich bewusst, doch sein Körper versteifte sich bei der Vorstellung, was ihm für seine ausschweifende Exkursion mit Midoriko blühen würde… Aber keine von seinen Befürchtungen bewahrheitete sich, und die Verwirrung ergriff ihn, als er spürte, dass sein Vater ihn in seine Arme zog, ihn väterlich an sich drückte und die Nase in seinem Nacken vergrub. Zu perplex um darauf zu reagieren, versuchte Flúgar, die Situation auf irgendeine Art und Weise einzuordnen, doch sein Verstand versagte ihm den Dienst. Für ihn gab es keine plausible Erklärung für solch ein Verhalten seitens seines Vaters. Andererseits verlangte es ihm nicht nach Gegenwehr, und er konnte nicht leugnen, dass Súnnanvindurs Umarmung etwas hatte, das ein Gefühl des Wohlbefindens in ihm auslöste. Flúgar schloss die Augen. Es existierte kein Grund dafür, sich aufzuregen oder es abzulehnen, auch, wenn er es nicht verstand. Eine Gestik wie diese war ihm mehr wert, als tausend lobende Worte. War es nicht eben diese Art von Umgang, nachdem er sich zuweilen sehnte…? „Fleygur…“ Kaum jemand nannte ihn bei seinem Geburtsnamen, selbst seine Mutter nicht, scheinbar bildete sein Vater in jener Hinsicht die einzige konsequente Ausnahme. Wenn er ehrlich war, dann gefiel ihm der Rufnahme, den er seinem Großvater verdankte, wesentlich besser… Die Stimme des Oberhaupts der Loftsdrekar klang in den Ohren seines älteren Sohnes eigenartig, beinahe befremdlich. Irrte er sich, oder war es tatsächlich Sorge, die in seinem Unterton schwang? Faðir… Flúgar lehnte sich an die imposante Gestalt seines Vaters, genoss seine Lage, schöpfte ein wenig Zuversicht, stets mit dem Wissen im Hinterkopf, dass dieser Augenblick – zu seinem Leidwesen - nicht ewig andauern würde. Er unterdrückte ein Seufzen, als er die Hände seines Gegenübers auf den Schultern spürte, ebenso wie den prüfenden Blick, mit dem man ihn so eindringlich musterte. Kontrolle war etwas, dass er selbst sehr gering schätzte, und was ihn vermuten ließ, dass man ihm nicht vertraute. „Bist du in Ordnung?“ Er nickte langsam, unternahm den Versuch, sich dem Griff seines Vaters zu entziehen. Erfolglos, denn sein plötzlich aufkommender Widerstand veranlasste Súnnanvindur dazu, ihm eben das nicht zu gewähren. Etwas stimmte nicht, und die Tatsache, dass sich an seinem Sohn etwas grundlegend verändert hatte, war ihm durchaus nicht verborgen geblieben. Nicht bloß seine Witterung hatte sich merklich gewandelt und verriet ihn… „Was ist mit deiner Hand?“ Flúgar biss sich auf die Unterlippe, als sich die Finger des Drachenoberhaupts um sein rechtes Handgelenk schlossen und die mit rosafarbenem Stoff umwickelte Hand auf Augenhöhe brachte. Ihm wurde mulmig zumute, und er schluckte schwer. Roch er etwa Midoriko? Wie sollte er ihm das nur erklären? Der Geruch von Menschen war unverkennbar… was würde Súnnanvindur mit ihm anstellen, wenn er das mit Midoriko und ihm herausfand? Und was geschah dann mit ihr? Sein Vater hatte nicht einmal Halt davor gemacht, die ehemalige Gefährtin seines eigenen Bruders aus dem Clan zu verstoßen, als diese sich nach seinem Tod in einen Menschen verliebte… diese Geschichte mochte schon älter sein, Flúgar jedoch fürchtete, dass er mit ihm strikter, harscher verfahren würde; immerhin war er sein Sohn und Erbe. Glimpflich würde er ihn wohl nicht aus dieser Begebenheit herauskommen lassen… Flúgar schwieg. Blævar tat es ihm gleich, versank in seinen eigenen Gedanken. Dieses Menschenmädchen bereitete ihm Kopfzerbrechen. Was hatte sie bei seinem Bruder zu suchen? Und warum duldete er sie bei sich? Es wollte ihm so gar nicht gefallen, dass Flúgar sich selbst ihm gegenüber mit Informationen rar behielt, denn unbedingt viel hatte er ihm nicht verraten. Was sollte das? Wieso verhielt er sich so? Hatte er schlussendlich etwas zu verbergen? Etwas, das er nicht einmal ihm erzählen würde? Was für eine Art Beziehung herrschte wirklich zwischen ihm und dieser Menschenfrau…? Der Nachmittag war lau und mild, durchsetzt von einer warmen Brise, die sich ab und an unter das Zwitschern der Vögel mischte, sich in den Baumkronen verfing und die Blätter zum Rascheln brachte. Nach der Begegnung mit Eki-sama bedurfte es Midoriko nach etwas Abstand, und deshalb hatte sie sich dazu entschlossen, einen kleinen Spaziergang durch den umliegenden Wald zu machen. Kaneko war an ihrer Seite, beobachtete derweil die Umgebung, wachsam nach einer geeigneten Jagdbeute spähend. Die Priesterin schwieg, versuchte ihre Gedanken neu zu ordnen und zu sortieren. Geistesabwesend fuhr sie sich über die Stirn. Zu allem Überfluss waren es nicht nur die Verse des Orakels, das Zeichen, das sie fortan trug oder die Gebetsperlen, die sie von ihr erhalten hatte, die sie beschäftigten. Während ihrer Abwesenheit war im Tempel ein Brief ohne ersichtlichen Absender für sie abgegeben worden, und auch der Bote hatte nicht verlauten lassen, in wessen Auftrag er handelte. Dieser hatte bloß bemerkt, dass der Brief allein für ihre Augen bestimmt und streng geheim zu halten war. Die junge Frau seufzte, betrachtete nachdenklich das Stück gefaltetes Pergament, das sie in der Hand hielt. Es war mit einem Siegel aus rotem Wachs verschlossen, wies jedoch ansonsten keine Auffälligkeit auf. Kein Zeichen, kein Symbol, kein Hinweis auf den Verfasser, nichts. Scheinbar blieb ihr in diesem Fall keine Wahl. Behutsam brach sie die Versiegelung, entfaltete das Blatt und überflog die wenigen Zeilen, die dort geschrieben standen. Die Handschrift war ausgenommen ordentlich und schön, mit dunkelblauer Tusche verfasst. Nein, der Verantwortliche war mit Sicherheit kein einfacher Bürger mit etwas mehr Geld… Es war eine Einladung, so viel ließ der Text verstehen, und als Midorikos braune Augen die Signatur erfassten, als ihr bewusst wurde, wer mit diesem Schreiben ihre Anwesenheit erbat… Schwindel ergriff die junge Frau, und sie musste einen Moment inne halten, um dieses niederdrückende Gefühl abzuschütteln. Der Tennô…? Wie kam jemand in seiner Stellung bloß dazu, ihr eine Einladung zu einer wichtigen Geheimsitzung zu senden? Und um was für eine Art von Konferenz sollte es sich handeln, wenn der oberste Shintôpriester des Reiches ihr Erscheinen wünschte? Warum gerade sie…? Die schwarzhaarige Miko war verwirrt, las die kurzen Zeilen noch einige Male, um zu prüfen, ganz sicher zu gehen, ob sie sich nicht doch getäuscht hatte. Vergebens, denn die Bedeutung des Geschriebenen und des daraus zu folgernden Fazits änderten sich nicht im Geringsten. Ein Schatten von Verzweiflung und Fassungslosigkeit glitt über ihre bleichen Gesichtszüge. Geriet denn jetzt alles aus den Fugen? Konnte das alles noch mit rechten Dingen zugehen? Nach Halt suchend lehnte sie sich an den rauen Stamm des am nächsten stehenden Baumes, schloss für einige Momente die Augen. Was in aller Welt geschah hier nur? In was war sie da bloß hineingeraten? Und vor allem, wie? Wie hatte ihr das passieren können? Midoriko schreckte urplötzlich zusammen, hob den Kopf. Was…? Es war nicht allein der bizarre Klang des Geräuschs, der sie verunsicherte und gleichzeitig alarmierte; ihr Gespür verriet ihr die Präsenz einer bösartigen Aura, des mächtigen Youki eines Dämons, und das unweit von ihrem momentanen Standort. Bis zu jenem Zeitpunkt war ihr die Anwesenheit des Youkai vollkommen verborgen geblieben, sie hatte ihn schlichthin nicht bemerkt. War sie so nachlässig geworden? Kaneko begann zu fauchen, die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf. Irgendetwas stimmte nicht, denn anscheinend hatte auch sie zuvor nichts Verdächtiges wahrgenommen. Unentschlossen blickte die Priesterin in die Richtung, aus der der verräterische Laut gedrungen war. Dort, etwa einhundert Schrittlängen von ihr entfernt, lichtete sich der dichte Wald ein wenig, und bildete vermutlich im weiteren Verlauf eine kleine Lichtung. Sie stockte. Was galt es in diesem Augenblick zu tun? ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 33: >“Die schicksalhafte Begegnung mit der weißen Bestie zeigt ein weiteres mal die vermeintliche Unberechenbarkeit des Lebens auf, das Unvermeidliche nimmt seinen Lauf. Doch entgegen der Furcht und Verzweiflung sollte man bei fremden Mächten, sowie bei den eigenen, Vorsicht walten lassen, um keine unnötige Gefahr zu provozieren…“ *» Samkoma Kapitel 33: *~Samkoma~* ----------------------- "Lasse nie zu, dass du jemandem begegnest, der nicht nach der Begegnung mit dir glücklicher ist." – Mutter Teresa Kapitel 33 - Samkoma -Begegnung- *Wozu dienen die neuen, unvorhergesehenen Bekanntschaften, derer wir unendlich viele im Laufe unseres Lebens schließen? Was bedeuten sie für sich? Gilt aus ihnen eine Lehre zu ziehen, wie etwa aus Erfahrungen – gleich, ob gut oder schlecht? Verhalten sie sich nicht ähnlich? Oder aber sind Bekanntschaften unvermeidlich, ja gar essentiell für uns, da sie der beste Beweis dafür sind, dass wir existieren, nicht einsam durch eine fremde Welt irren?* ּ›~ • ~‹ּ Auch sie konnte sich dem Gefühl der Neugier nicht erwehren, doch zu welchem Preis würde dieses befriedigt? Sollte sie dem nachgeben und das Risiko auf sich nehmen? Oder sollte sie lieber zum Tempel zurückkehren und den hiesigen Priesterinnen Bericht über ihre Entdeckung erstatten? Womöglich handelte es sich um den Dämon, den Nikkou erwähnt hatte, und wenn dieser tatsächlich so machtvoll war, wie die junge Miko angedeutet hatte, dann hatte sie äußerst schlechte Karten. Sie wusste nicht wirklich um die Fähigkeiten der ansässigen Priesterinnen, doch sie bezweifelte, dass diese annähernd genug Macht besaßen, um einen solchen Youkai zu bannen. Allerdings war sie ebenfalls nicht ganz davon überzeugt, dass sie auf sich alleine gestellt viel ausrichten konnte… Bald entstand in ihr ein Wechselbad an Empfindungen, ein Ringen zwischen ihrem klaren Menschenverstand und dem, was ihre Sinne und ihr Bauch ihr sagten. Sie war hin und her gerissen, wurde sich der richtigen Antwort nicht bewusst. Ob richtig, oder aber falsch… war nicht beides reine Definitionssache…? Was war schon richtig… sie hatte nicht die Zeit, sich über solche Fragen den Kopf zu zerbrechen, es galt nun, einen Beschluss zu fassen. Sicher war es eine gewagte Sache, dem Dämon als Einzelperson gegenüberzutreten, aber war das nicht besser, als die Mädchen in Gefahr zu bringen, die keine zwanzig Sommer zählten, und denen es ohnehin an der notwendigen Erfahrung mangelte? Gut, sie musste einräumen, dass sie in dieser Hinsicht Unrecht haben könnte, doch hatte sie das Recht, eben dies herauszufordern? Nein. Einen Zug wie diesen zu verantworten, den Tod unschuldiger Menschen zu verschulden, das war nichts, was Midoriko mit ihrem Gewissen zu vereinbaren mochte. Mit Menschenleben spielte man nicht. Sie würde alleine gehen, sich dem Wagnis stellen. Ob ihre Entscheidung möglicherweise Konsequenzen nach sich zog, denen sie nicht gewachsen war, würde sie bald erfahren. Zumindest würden die Folgen ihres Handelns sie so nur selbst betreffen, und sonst niemanden. Auf höchste Vorsicht bedacht näherte sie sich mit langsamen Schritten der Quelle des dunklen Youki. Versucht - aus Furcht, es könnte sie verraten - dem unkontrollierten Schlagen ihres Herzens sowie ihrer hektischen Atmung Einhalt zu gebieten, schlich sie weiter voran, hielt sich in den Schatten der Schutz vermittelnden Stämme. Das Gelände wurde steiler, und letztendlich musste sie innehalten, als die Erde vor ihr abrupt abfiel, in einen Steilhang überging, der mindestens drei Schrittlängen in die Tiefe führte. Der Abstieg würde sich schwierig gestalten, denn selbst die Wurzeln, die hier und da aus dem Erdreich ragten, boten nicht annähernd genügend Halt. Sie würde sich wohl einen anderen Weg suchen müssen… Unwillkürlich versagte Midoriko der Atem, und eine eisige Kälte, die damit zu drohen schien, sich durch ihre Haut in ihren Körper zu fressen, sich ihrer zu bemächtigen, umfing sie, bedrängte sie wie ein Rudel ausgehungerter, gieriger Wölfe, die sie umkreisten, die Zähne bleckten und nach ihr schnappten. Das geringste Anzeichen von Schwäche, und sie würden nicht länger zögern, ihre eiskalten Fänge unbarmherzig in ihr warmes Fleisch schlagen, sich an ihrem aushauchenden Leben laben… Sie zitterte, die unstete Übelkeit in ihrer Magengegend wuchs. Erst ein einziges Mal hatte sie etwas Vergleichbares erlebt, etwas gespürt, dass ihrer jetzigen Situation ähnelte. Als sie das Dorf der Dämonenjäger, der Drachentöter, betreten hatte, indem Flúgar just zu diesem Zeitpunkt dabei war, dessen Bewohner abzuschlachten… auch dort war dieses Gefühl in ihr empor gekrochen, hatte sie frösteln lassen, Angst aufgewühlt, gegen die sie vollkommen machtlos war. Die Präsenz eines überdurchschnittlich starken Youkai also war es, die diese beängstigende Kälte heraufbeschwor… Die Priesterin wagte es kaum, den Kopf anzuheben und auf die Lichtung hinunter zu spähen, ihren Blick schweifen zu lassen. Der Anblick, der sich ihr darbot, ließ sie augenblicklich erstarren, ihre Muskeln sich weigern, ihren Befehlen zu gehorchen, ihren Verstand aussetzen. Ihr apathischer Blick war wie festgefroren. Auf der Lichtung direkt vor ihr, dort war er, der Dämon; ein Dämon in der Gestalt eines monströsen Hundes, dessen rubinrote Augen sich nur zu deutlich von seinem silbrig glänzenden Fell abhoben. Seine riesige Schnauze war blutverschmiert, und auch die Vorderläufe und seine Brust waren mit der roten Flüssigkeit besprengt. Der im Sonnenlicht noch feucht rosig schimmernde Knochen, der zwischen seinen riesigen Pfoten lag, und den er ausgiebig mit den Zähnen bearbeitete, konnte nicht von einem Reh oder einem Wildschwein stammen, dafür war er zu groß. Doch was hatte der Dämonenhund gerissen…? Ein Tier welchen Ausmaßes musste er getötet haben, um an solch einen Knochen zu gelangen…? Die junge Frau unterdrückte vehement den aufkommenden Würgereiz, presste sich die Hand auf den Mund. Es war keine gute Idee gewesen, alleine hierher zu kommen, um zu schauen, ob sie etwas bewirken konnte. Gegen einen Youkai wie diesen hatte sie nicht den Hauch einer Chance, ausgeschlossen. Müheselig kämpfte sie gegen die Lähmung ihres Körpers an, rang mit sich selbst um Kontrolle. Wenn sie hier weiter so regungslos verharrte, und sich kein Stück rührte, würde der weiße Dämonenhund sie früher oder später wittern, ganz gleich wie leise sie sich verhielt. Er war ein Hund, er musste sie nicht hören, nicht sehen und nicht spüren, um zu wissen, dass sie da war. Ob er ihre Angst riechen konnte? Noch immer steif und ungelenk vor Schreck zwang sie ihren Leib zu einer Bewegung, trat einen halben Schritt zurück. Doch anscheinend sollte ihr das Glück nicht hold sein, denn der trockene Waldboden unter ihren Füßen gab nach, riss sie mit sich den kleinen Abhang hinunter. Ein unsanfter Aufprall wenige Augenblicke darauf bescherte ihr die Vergewisserung, dass sie wieder auf festem Boden weilte. Ein tonloser Fluch löste sich von ihren Lippen, als sie sich ächzend auf die Arme stützte und sich in eine sitzende Position begab. Die Gebetsperlen rollten, schier ihrem eigenen Willen folgend, wahllos durch den Staub. Wieso passierte so etwas eigentlich immer nur ihr? Die kurze Zeit der Überraschung verging, und langsam aber sicher wurde sie sich ihrer Lage gewahr. Angst… wie ein Greifvogel stürzte sie auf Midoriko hernieder, packte sie mit ihren schwarzen Klauen und erlegte ihr ihren eisernen Griff auf. Es war aussichtslos, aus dieser Angelegenheit kam sie nicht lebendig heraus… Ihr gesamter Leib bebte, sie zitterte wie Espenlaub, obwohl ihr Körper wie paralysiert war, und sie wusste selbst nicht, warum sie aufblickte, den Kontakt zu dem Angesicht des Dämons anstrebte. Der riesige Hund schaute in ihre Richtung, hatte den Kopf leicht gedreht und betrachtete sie mit einem eindringlichen Blick. Er hatte von seiner Beschäftigung abgelassen, leckte sich das restliche Blut mit einer beiläufig erscheinenden Geste von den Lefzen. Für die schwarzhaarige Priesterin war eben dies ein Zeichen, dass jeden Gedanken an Zweifel in ihrem Hirn ausmerzte. Natürlich, was wollte diese Bestie ihr sonst damit zu verstehen geben? Jetzt war sie an der Reihe. Sie schluckte hart, blinzelte die Tränen aus ihren Augenwinkeln. Was musste sie doch für einen erbärmlichen Eindruck machen… Selbst von ihrer Position aus konnte sie ihr eigenes Antlitz sehen, dass sich in den roten Augen des hundegleichen Ungetüms widerspiegelte. Sollte es so enden? Würde sie als Mahlzeit für einen Hundedämon ihr Leben lassen? Ohne Vorwarnung wurde die baumlose Schneise auf einmal in gleißendes Licht getaucht, sodass Midoriko geblendet die Augen schließen musste, um die Helligkeit auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Verunsicherung trieb in ihr hoch; was sollte das? Wollte er ihr nicht sofort den Garaus machen? Beiden blieb indes verborgen, dass die Gebetsperlen, die auf dem Untergrund des Waldes verstreut waren, unheilvoll zu leuchten begannen… So rasch wie es erschienen war, verschwand das sonderbare Licht auch wieder, und als die Menschenfrau die Augen öffnete, gewann die Verwirrung in ihr die Oberhand. Der Höllenhund war fort, und anstatt seiner stand nun eine menschlich wirkende Gestalt mitten auf der Lichtung. Es war ein Mann mit silberweißen Haaren, bernsteinfarbenen Augen und einer dunkelblauen Markierung auf jeder Wange. Über der beinahe gänzlich weißen Kleidung trug er eine mit Dornen gespickte, über den Schultern verstärkte Rüstung, und das, was er sich auf den Rücken geschnallt hatte, war mit absoluter Sicherheit eine Waffe. Nur eine einzige Sache störte ihr Bild des perfekten Kriegers… sie wusste es nicht zu benennen, doch es sah aus, wie weiches, weißes Fell, das sich an seine Rüstung, seine Seiten und wohl auch an seinen Rücken schmiegte. Sie ertappte sich bei der Überlegung, wie es sich wohl anfühlte, wenn man es berührte… Ein fragender Ausdruck machte sich auf ihrer Miene breit, und je länger sie ihn anschaute, sein Gesicht, seine Erscheinung musterte, desto mehr vergaß sie ihre Furcht. Die Züge ihres Gegenübers verrieten ebenso wenig Härte wie Blutdurst und Grausamkeit, und obschon ihr bewusst war, dass es sich um einen Dämon handelte, so änderte dies nichts an dem Umstand, dass man aus seinen Augen, aus seinem Gesichtsausdruck… Güte und einen stummen Funken Wärme lesen konnte. Nein, bis jetzt war ihr noch niemals ein Youkai begegnet, der sie mit etwas Derartigem konfrontiert hatte, denn ohnehin fielen ihr nicht gerade viele Dämonen ein, die neben ihrer eigentlichen Form noch über ein humanes Äußeres verfügten. Flúgars Züge waren ebenmäßig, aber zumeist kalt, emotionslos, manchmal erschienen sie ihr auch bitter. Seine Augen ließen gleichermaßen wenig zu, gestanden an Gefühlen kaum etwas ein, was jedoch eher an seiner Art zu begründen war, als an ihrer hellen Färbung. Selbst bei Kyouran war ihr so gut wie keine eindeutige Regung aufgefallen, die man auf eine ehrliche, tiefer greifende Empfindung hätte beziehen können. Er unterschied sich maßgeblich von dem kühlen Loftsdreki, doch in dieser Hinsicht waren sie sich vielleicht gar nicht so unähnlich – auch, wenn Kyourans Wesen ein etwas sanftmütigeres zu sein schien. An die von Hass und Rachegelüsten entstellten Gesichtszüge des Eldursdreki Aska wollte sie sich gar nicht erinnern… Das hier… war es die Realität? Oder bloß ein Traum? Es wirkte so surreal, dass sie es zunächst nicht glauben konnte. Er war ein Youkai, ein Wesen der Dunkelheit, das sich finsterer Mächte bediente, um nach Lust und Laune seinen ganz persönlichen Neigungen auszuleben. Allein die Zugehörigkeit zu jener Rasse schloss doch von vornherein einen Charakterzug wie Barmherzigkeit aus, widersprach sich selbst. Unmöglich, das konnte schlichthin nicht wahr, nicht real sein. Niemals! Wie aus dem Nichts schoss aus heiterem Himmel ein heller Schemen aus dem Gebüsch, Feuer flammte auf, und ein aggressives Brüllen schallte über die Richtung. „Kaneko-chan!“ Kampfbereit hatte sie sich in ihrer pferdegroßen Gestalt vor ihrer Herrin aufgebaut, stellte sich dem weißhaarigen Dämon feindselig entgegen. Doch dieser kümmerte sich wenig um das beherzte Einschreiten des Nekoyoukai, denn er war mit etwas anderem beschäftigt, das seine volle Aufmerksamkeit erforderte. Nachdenklichkeit zeichnete sich in seinen Augen ab, beeinflusste seine Haltung, und sie vermeinte, dass er etwas ratlos dreinschaute. Und schlagartig erkannte sie auch, warum dem so war. Die Gebetsperlen… nein, sie befanden sich wahrhaftig nicht mehr dort, wo sie nach ihrem Absturz hingekugelt waren. Denn nun zierten sie nicht mehr den Waldboden, sondern den Hals des Hundedämons, fügten sich als Zusammenschluss zu einer Kette, die er offensichtlich überfragt genauer in Augenschein nahm. Warum formte sich vor ihrem inneren Auge bloß das Abbild eines jungen Hundes, dem sein Herr das erste Mal ein Halsband anlegte…? Dem Youkai fehlte wohl das Wissen, was ein Rosenkranz wie dieser bedeutete. Ob sie sich dafür glücklich schätzen oder es eher bedauern sollte, würde sie noch früh genug erfahren. Es war keine Absicht gewesen, und trotz dessen musste ein unterbewusster Reflex ihrerseits die schwarzen Kugeln aktiviert haben. Schließlich traf sie sein bernsteinfarbener Blick, aus dem das naive, unschuldige Unverständnis eines Kindes sprach. Die Priesterin war am Ende ihres Lateins; sie fand so gar nichts Dämonisches an ihm, einfach nichts, dass man als ‚böse’ hätte brandmarken können. „Was ist das?“ Seine Stimme war tief, und besaß einen angenehmen Nachklang, der in ihren Ohren beinahe sanft widerhallte. Meine vorherige Angst erschien mir unbegründet, und ich konnte nicht mehr nachvollziehen, wovor ich mich so schrecklich gefürchtet hatte. Die dämonische Aura, die ich gespürt hatte… konnte es überhaupt die seine gewesen sein? Er strahlte keine Bedrohung aus, zumindest für den Moment nicht, was jedoch nicht belegte, dass er ungefährlich war. Mitnichten, ein Unschuldslamm war er sicher nicht, doch er hatte mich verschont, und dieses Verhalten zeugte von nobler Gesinnung, von Anstand und einem gewissen Stolz. Ich war bloß ein Mensch, somit schwächer als er, aber seiner Reaktion nach zu urteilen fand dieses Argument bei ihm keine Geltung. Grundlos tötete er nicht – zu meinem Glück. Nur langsam stand ich auf, achtete auf jedwede Bewegung, als ich an Kanekos Seite trat und meine rechte Hand beschwichtigend auf ihre Schulter legte. Der Katzendämon warf mir einen flüchtigen Seitenblick zu, ehe er gehorsam den großen Kopf senkte und sich zurückverwandelte. Zögerlich wandte ich mich anschließend wieder an dem Hundedämon. Er beobachtete mich fortwährend, seinem von Ruhe und Gelassenheit geprägtem Blick jedoch Stand zu halten, war mir unmöglich. Warum wusste ich selbst nicht. Das Versehen mit dem Rosenkranz bereitete mir ein schlechtes Gewissen. Verlegen starrte ich die Stiefel meines Gegenübers an, spielte mit einer der kohlschwarzen Strähnen meines Haars. Wie fing ich es am besten an? Was sollte ich nur sagen? Entschuldigung…? Das war wenigstens ein Anfang. „Gomen…“ Mehr brachte ich nicht hervor, mehr brauchte es auch wahrlich nicht. Ein unheilvolles Leuchten ergriff die Gebetsperlen, und wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, riss es den ahnungslosen Dämon augenblicklich mit Brachialgewalt zu Boden. Feiner Staub wirbelte in die lauwarme Luft. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, was gerade eben geschehen war. Hatte Eki-sama diesen Vorgang mit ‚Unterjochung’ gemeint? Die Kugeln hatten unmissverständlich auf etwas reagiert. Bloß auf was…? Der unglückliche Youkai richtete sich auf, schüttelte sich wie ein Hund, bevor er mir einen Blick schenkte, der sich von entgleist und überrascht zu vorwurfsvoll wandelte. Ich zuckte die Schultern; es war mir so rätselhaft wie ihm. „Was zur Hölle ist das?!“ Verärgert packte er den schwarzen Rosenkranz, versuchte unnachgiebig, ihn auf jegliche Art und Weise loszuwerden, die ihm in den Sinn kam. Erfolglos, denn die Kette wehrte sich wirksam dagegen, wieder von seinem Hals entfernt zu werden, weigerte sich loszulassen und leuchtete grell auf, wenn sie gegen seinen Willen rebellierte. So, als würde sie ihn für seine Machtlosigkeit verhöhnen… mein Kichern blieb mir im Halse stecken, als ich realisierte, dass das meine Schuld war. „Gomen, ich…“ Abermals fand sich der Weißhaarige auf dem Waldboden wieder, stieß ein verächtliches Schnauben aus. Das vage Knurren, das dem folgte, verhieß definitiv nichts Gutes. Wenn mir mein Leben etwas wert war, musste ich etwas unternehmen. Sofort. Äußerste Anspannung beherrschte meinen Körper, als ich auf ihn zuschritt, mich ihm näherte. Mir durfte kein noch so kleiner Fehler unterlaufen, denn vor der aufwallenden Wut des Hundeyoukai würde mich auch der Rosenkranz nicht ewig schützen können. Zudem würde dessen weiterer Gebrauch seinen Zorn nur noch weiterhin anstacheln, und darauf konnte ich getrost verzichten. Nur knapp eine halbe Schrittlänge Distanz war es, die noch zwischen ihm und mir lag, als ich mich neben ihm auf den Boden kniete. Die Mühe, sich aufzusetzen, hatte er sich dieses Mal gar nicht mehr gemacht. Abwartend ruhte sein Blick auf mir. Ich verneigte mich, schöpfte Atem, doch ehe bloß eine einzige Silbe sich von meinen Lippen löste, spürte ich die Hand es Dämons auf meinem Mund. „Sei still, sag einfach nichts, verstanden?“ Es war eine flüchtige Berührung, und seinen Worten war keine Drohung zu entnehmen. So nickte ich stumm, schloss kurzfristig die Augen. Warum hätte ich etwas anderes tun sollen? Seine Finger stahlen sich unter mein Kinn, strichen zärtlich über meine Wange. „Du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten. Ich werde dir nichts tun, versprochen.“ Er lächelte. „Wie heißt du?“ Ein unvergleichliches Lächeln, das so viel Wärme, so viel Ehrlichkeit vermittelte… „Midoriko.“ Meine Stimme war nur ein leises Flüstern, und ich drehte den Kopf leicht ab, versuchte, die verräterische Röte, die meine Wangen färbte, vor ihm zu verstecken. Was war nur los mit mir? Wieso errötete ich wie ein kleines Mädchen, das gerade seinen ersten Kuss bekommen hatte? Nun, vielleicht, weil es eben diesen Moment in meinem Leben nie gegeben hatte… Aus den Augenwinkeln wanderte mein Blick noch einmal über die Gesamtheit seiner Erscheinung. Ich musste mir eingestehen, dass er von Nahem noch mehr Eindruck auf mich machte, als aus der Ferne. Er war ein außerordentlich hübscher Mann, dem man als Frau wohl nur zu gerne verfiel. Nein, es behielt sich nicht bei seinem Äußeren, ich spürte das Wesen seiner Seele, und dieses glich nicht annähernd dem eines Dämons… „Also, was ist das?“ Ich schrak auf, blinzelte perplex. Er deutete auf die Kette aus matt glänzenden Perlen, die – anders als er – einen zufriedenen Anschein an ihrem neu gefundenen Platz erweckte. „Ein Rosenkranz aus Gebetsperlen, der zur Unterjochung dient. Gomen, ich…“ Zu spät schlug ich die Hände vor den Mund, und ein weiteres Mal riss der Rosenkranz seinen unfreiwilligen Träger schmerzhaft in Richtung des harten Untergrundes. „Es war nicht meine Absicht, Euch unter seinen Bann zu stellen.“ Die Bestürzung auf meinem Gesicht und die Anrede, die ich gebrauchte, amüsierten ihn. Wieder schlich sich dieses markante Lächeln auf seine blassen Lippen, als er sich aufrappelte, mit der Hand abwinkend gestikulierte. „Nimm mir das verflixte Ding ab, und ich vergesse den kleinen Zwischenfall.“ Ich nickte bejahend, schloss behutsam die Finger um die Perlen und entwirrte den Bann, den ich in meinem Unterbewusstsein gewoben haben musste. Sichtlich erleichtert atmete der Youkai auf, als die Bindung zwischen den Kugeln erlosch und sie zurück in meine Handflächen glitten. „Chichi-ue.“ Huh? Ein Kind…? Es hatte dieselben weiß-silbernen Haare, dieselben bernsteinfarbenen Augen… sein gleichgültiger Blick streifte mich nur kurz, bevor es sich seinem Vater zuwendete. „Was ist, Sesshoumaru?“ Ich stutzte. Sesshoumaru? Ein solcher Name für ein Kind…? Nun, immerhin war er der Sohn eines Dämons… Der Angesprochene vergrub die kleinen Finger im weißen Fell seines Vaters, gähnte herzhaft, als der ältere Hundeyoukai ihm durch die Haare fuhr. Ich schmunzelte. Natürlich, der niedliche Kleine war müde, hundemüde. Kaneko rieb sich an meinem Bein, doch die Spannung war noch nicht aus ihr gewichen, sie traute dem Frieden nicht. Schließlich war sie eine Katze, und er ein Hund; was hatte ich erwartet? „Gehört das dir?“ In seinen Augen flackerte Neugier auf, als er das Stück Pergamentpapier, das er vom Boden aufgelesen hatte, in seiner Hand genauer begutachtete, es entfaltete und den Inhalt studierte. Augenblick! War das nicht der Brief, den ich erhalten hatte, die persönliche Einladung des Tennô? „Was für ein eigenartiger Zufall…“ Der Hundedämon schaute auf. „Kennst du den Weg?“ Ich schüttelte den Kopf. Was bezweckte er mit dieser Frage…? Die Erkenntnis traf mich wie ein Bogenschuss, ein meisterhafter Bogenschuss mitten ins Schwarze. Aber was hatte ein Dämon mit dem Tennô zu schaffen? Hatten sie geschäftliche oder politische Verbindungen? Ich wusste nicht, was ich über diese Angelegenheit denken sollte. Spielte er mit mir? Oder meinte er es ernst? Es klang so absurd… all das, was mir in der letzten Zeit widerfahren war, stufte ich bereits als unbegreiflich ein. Mir war, als hätte ich eine andere Welt betreten, eine fremde Welt, die mich an meine Grenzen trieb, sich meinem Vorstellungsvermögen entzog und die ich nicht zu ergründen vermochte. War das hier noch die Realität, die Wirklichkeit, in der ich die Jahre über aufgewachsen war? Selbst ein klarer Verstand half an dieser Stelle nicht mehr weiter. Ich schaffte es einfach nicht, mit diesen Schwierigkeiten richtig umzugehen. Was hätte ich zu jenem Zeitpunkt für etwas Vertrautes gegeben… ein Gesicht, das ich kannte, oder eine Stimme, die mir vertraut war… Flúgar… warum war er ohne ein Wort der Erklärung fort gegangen? Aus welchem Grund hatte er mich allein gelassen? Flúgar… natürlich, im Endeffekt lief alles auf ihn hinaus. Mit ihm hatte alles begonnen. Ihn zu beschuldigen, führte wohl zu weit, doch er trug einen Teil der Schuldenlast. Wäre es besser gewesen, ihn sterben zu lassen? Was wäre gewesen, wenn ich ihn seinem Schicksal überlassen hätte und weiterhin meiner eigenen Wege gegangen wäre? Würde es mir heute anders ergehen? Besser? Oder vielleicht schlechter? Bereute ich es, ihm das Leben gerettet zu haben? ּ›~ • ~‹ּ ***>>> Kapitel 34: >“Niemand würde vermuten, dass sich in der Residenz des mächtigsten Menschen Japans Dämonen befinden, und das ausschließlich; ein humanes Äußeres ist nicht gleichbedeutend mit der Gesinnung. Die Schwierigkeit besteht darin, zu erkennen, wer im Inneren einen Dämon verbirgt und wer nicht…“ *» Tenma Kapitel 34: *~Tenma~* --------------------- "Das Fatale an unserem Glauben ist der Umstand, dass wir im Satan einen Dämon sehen und nicht einen Teil unserer Persönlichkeit." – Werner Mitsch Kapitel 34 – Tenma -Dämon- *Welche Eigenschaft ist es, die den Dämon vom Menschen unterscheidet? Wo gilt die Grenze zwischen diesen beiden Rassen zu ziehen, die sich einerseits unheimlich ähnlich sind, jedoch andererseits nicht gegensätzlicher sein könnten? Existieren nicht auch Ausnahmen, die die jeweiligen Normen widerlegen? Oder verbirgt sich hinter dem vermeintlichen Trugbild das verhasste Antlitz aus den gegnerischen Reihen?* ּ›~ • ~‹ּ Nein, das tat ich nicht. War ich denn solch ein schlechter Mensch geworden? So verdorben, dass ich ersuchte, anderen die Schuld für meine Lebenslage zu geben? Eine dermaßen ungerechte Person, dass ich Flúgar nun den Tod an den Hals wünschte? Nie hatte ich so sein wollen, wie der allgemeine Pöbel, die graue Masse, die aus denen bestand, die guten Gewissens ihrem Egoismus frönten und sich nicht weiter um die scherten, die sie schädigten, die sie verletzten. Diejenigen verstießen, die anders waren als sie. Ohne Gnade, ohne Reue zu empfinden. Stand ich auf verlorenem Posten mit meiner Einstellung? Belegten nicht meine Gedanken, dass ich im Grunde nicht besser war als jeder andere Mensch? Sicherlich nicht, denn ich war – entgegen der Meinung der meisten – auch bloß einer von ihnen. Nicht mehr, nicht weniger. Ein Mensch, und selbst meine Fähigkeiten ließen mich nicht zu etwas anderem werden. Haha-ue… Woraus hattest du all die Zeit die Sicherheit und Kraft geschöpft, an deinen Idealen festzuhalten? Warum hattest du dich dem übermächtigen Druck der Gesellschaft bis zu deinem Todestag nicht gebeugt? Und wieso hielt ich ebenso krampfhaft an deinen Vorstellungen und Werten fest, obwohl es sich doch so viel einfacher gestalten würde, aufzugeben? Unvermittelt zuckte ich zusammen, der Nebel meiner Gedanken lichtete sich in meinem Verstand, und ohne jegliches Zögern, schlug ich - meinem Reflex beherzigend - zu. Stirnrunzelnd betrachtete ich das platte Etwas auf meiner Handfläche. „Ein Floh…?“ Ich unterdrückte den Missmut, der in mir aufwallte. Was assoziierte man gleich nach Treue mit dem Begriff ‚Hund’? Richtig, Flöhe… Und dieses Exemplar war besonders zäh, denn nach meinem beherzten Eingreifen regte es sich immer noch. Ich vermeinte ein leises Ächzen zu hören, als es auf die Beine sprang, und mit einem weiten Satz auf die Schulter des Hundedämons hüpfte. „Oyakata-sama! Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, Euch zu sehen!“ Erschrocken wich ich einen Schritt zurück. Dieses Ungeziefer konnte sprechen?! „Myouga … was war denn nun so dermaßen wichtig, dass du vorhin so schnell weg warst, als es ernst wurde, hm?“ Der Floh fuchtelte wild mit den Ärmchen, geriet sichtlich in Erklärungsnot. „Ich… i-ich habe aufgepasst, dass Sesshoumaru-sama nichts passiert!“ Betont langsam verschränkte der junge Hund die Arme vor der Brust, schloss die Augen. „Er lügt. Er ist genauso feige geflüchtet wie sonst auch.“ Ich seufzte. Eine solch nüchterne Aussage von einem Kind zu hören, hatte ich nicht erwartet. Aus seiner kalten Miene konnte man schließen, wie wenig Verständnis er für einen Feigling aufbrachte, nämlich keines. Die bernsteinfarbenen Augen des Kleinen waren kälter als die seines Vaters, und irgendetwas rief in mir das Gefühl wach, dass die große Ähnlichkeit der beiden auf ebenso zahlreichen Differenzen basierte. „Oyakata-sama, ich…“ Dieser seufzte. „Ich will es nicht hören, Myouga. Für so etwas habe ich heute keine Geduld.“ Mit einer blitzschnellen Bewegung fing er den schwitzenden Floh von seiner Schulter, und warf ihn achtlos hinter sich ins Gebüsch. Dann blickte er mich an. „Können wir gehen?“ ּ›~ • ~‹ּ Midoriko war restlos überwältigt. Kein Laut entrang sich ihrer Kehle, als sie die eindrucksvolle Geheimresidenz des Tennô bestaunte. Der riesige Gebäudekomplex, der selbst die Größe eines weitläufigen Schlosses übertraf und in seiner vollen mittäglichen Pracht vor ihr emporragte, verschlug ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Schweigend folgte sie dem hochgewachsenen Hundedämon durch die überdachten Gänge, prägte sich den Weg, die Abfolge der verschiedenen Höfe und Gärten ein. Denn ihrem Erstaunen zum Trotz vernachlässigte sie nicht ihre Aufmerksamkeit. Dieser Ort bescherte ihr ein unheilvolles Gefühl… Außer den Wachen an jedem Tor, das sie kreuzten und problemlos passierten, begegnete ihnen niemand. Doch bei den Posten handelte es sich nicht ausschließlich um Menschen, wie die Priesterin rasch bemerkte; die Kleidung, die Färbung der Haare und Augen… zweifelsohne, das waren Loftsdrekar – genau wie Flúgar. Aber warum waren sie hier? Und noch etwas war ihr aufgefallen. Es waren nicht nur die Menschen, auch die Drachen verbeugten sich nicht bloß vor ihrem Begleiter, sie gingen vor ihm auf die Knie, neigten ehrfürchtig die Häupter bis zum Boden. Sie trugen allesamt Waffen und Rüstungen, waren Krieger wie er, und dennoch wagte es nicht einer von ihnen aufzublicken, wenn der weißhaarige Youkai an ihnen vorbei schritt. Er war sicherlich mächtiger, als sie ihn eingeschätzt hatte, und besaß mit Sicherheit auch Rang und Namen. Bald darauf überquerten sie einen großen Hof, der so leer und trostlos lag wie die vorangehenden. Auf der Gegenseite erhob sich eine Treppe, die zum Hauptgebäude der gesamten Anlage hoch führte. Diese schien jedoch nicht weiter von Belang, da der Hundeyoukai vor ihr zielstrebig in den etwas versteckt angelegten Seitengang einbog, der nach etlichen Biegungen und Abzweigen einseitig in einem komplizierten Geflecht aus offenen Übungsplätzen und kleinen Parks zur Entspannung mündete. Zur Rechten hin befanden sich die Dojos. Der Dämon hielt abrupt inne, sodass die junge Frau beinahe gegen ihn stieß. Kurzweilig überlegte sie, ob sie die Gelegenheit nicht hätte nutzen sollen um herauszufinden, wie sich das weiße Fell auf seinem Rücken anfühlte, doch sie verwarf den Gedanken so schnell wie er aufgekommen war. So etwas gehörte sich nicht. „Es scheint, als hätte der Tennô eine Schwäche für euch niedere Kreaturen, Mononoke. Komm mir nicht in die Quere, wenn dir dein Leben lieb ist.“ Die fremde, männliche Stimme war stark in ihrem Ausdruck, fest und unnachgiebig. Er näherte sich mit sicheren Schritten, blieb erst unmittelbar vor dem Youkai stehen. Die Züge des Angesprochenen verfinsterten sich. „Schätz dich glücklich, dass ich mir die Finger nicht an einem Idioten wie dir schmutzig mache. Selbst hier könntest du mit deinem dummen Gerede an den Falschen geraten, also hüte deine Zunge.“ Es war keine Drohung im eigentlichen Sinne, sondern eher eine Warnung. Der Fremde schwieg daraufhin, schob sich an seinem Gegenüber vorbei und war merklich überrascht, als er Midoriko erblickte. Er war außerordentlich groß für einen Japaner, sein Körperbau breit und muskulös, aber nicht massig. Er trug zwei Schwerter an der Hüfte, und die Kleidung eines Kämpfers. Seine dunkelgrünen Augen verloren ihren undurchdringlichen, harten Glanz. Kaneko fauchte böswillig, und ohne Vorwarnung hüllte sich ihr Körper in Flammen, gab schließlich ihre wahre Gestalt preis. „Ihr seid nicht gerade in passender Gesellschaft, Miko-sama. Wesen wie diese sind kein Umgang für eine reine Frau wie Euch.“ Midoriko hatte Mühe, den Katzendämon zurückzuhalten, schenkte ihm einen leicht verärgerten Blick. „Ihr solltet Euch um Eure eigenen Angelegenheiten kümmern. Meine Begleitung ist auch meine Entscheidung.“ Er reagierte mit einer höflichen Verbeugung. „Entschuldigt bitte mein anmaßendes Verhalten, Miko-sama.“ Damit setzte er sich wieder in Bewegung, verschwand wortlos hinter der nächsten Ecke. Ein vages Lachen ließ den Verdruss der Schwarzhaarigen verrauchen, und ein wenig irritiert wandte sie sich an den offenbar amüsierten Hundedämon, der ihr mit einer anerkennenden Geste die Schulter tätschelte. „Ich hätte dir ehrlich gesagt nicht so viel Mumm zugetraut. Dass mir eine Priesterin und eine Katze mal sympathisch werden würden… wer hätte das gedacht?“ Sie zögerte. War das ein Kompliment gewesen…? Unweigerlich stieg ihr das Blut in den Kopf, und ein leichter Rotschimmer breitete sich auf ihren Wangen aus. Das Kichern, das im Begriff war, sie zu ergreifen, konnte sie erfolgreich zurückdrängen. Zu peinlich musste sie sich nun wahrhaft nicht benehmen… „Wohin gehen wir eigentlich?“ Von der Neugier beflügelt, besah sie sich die Umgebung genauer, konzentrierte sich. Sie spürte tatsächlich etwas in der Nähe; die Präsenz eines weiteren Dämons, Youki. Es war recht schwach, doch eindeutig vorhanden. Suchte er womöglich nach jemanden? „Das wirst du gleich sehen.“ Schulterzuckend nahm sie diese wenig aufschlussreiche Auskunft hin, seufzte enerviert. Diese Geheimniskrämerei zerrte allmählich an ihrer Geduld und belastete zunehmend ihr Gemüt. Sie hätte es klar bevorzugt, ordentlich über ein Vorhaben informiert zu werden. Ob es eventuell daran scheiterte, dass Flúgar, und auch ihr jetziger Begleiter, Männer waren? Unschlüssig schüttelte sie den Kopf. Letztendlich blieb das Warum gleichgültig, denn es würde rein gar nichts an der Gegenwart ändern. Etwas mehr Verständnis hätte ihr jedoch auch nicht geschadet… Ein wohlbekanntes Geräusch drang an Midorikos Ohren, veranlasste sie zum Aufhorchen. Ja, sie kannte ihn, solch einen charakteristischen Laut vergaß man nicht so leicht, wenn das eigene Leben einmal davon abgehangen hatte. Unweit von ihnen musste jemand mit dem Bogen üben, und die Lautstärke, die den Treffer des Pfeils auf der Zielscheibe bezeugte, verriet die enorme Kraft des Schützen. Hinter der nächsten Ecke, als die Hecken zur Linken niedriger wurden, und die Sicht auf den Übungsplatz der Bogenschützen sich klärte, vermeinte die Priesterin, dass ihr Herz mindestens einen Schlag aussetzte. Sie bemerkte, wie sie blass wurde und zu zittern begann. Flúgar…? Die Spannung im Leib des Schützen war immens, steigerte sich, bis er für die Zeit einiger Augenblicke erstarrte. Es herrschte Stille, ausnahmslos, selbst der Wind schien für einen Moment zu schweigen. Dann aber gab er die Sehne so blitzartig frei, dass die junge Frau die Bewegung nicht einmal wahrnahm, und ehe sie zu einer Reaktion fähig war, bohrte sich der Pfeil bereits tief in das Holz der Schussscheibe. „Ein guter Schuss.“ Der Bogenschütze wandte sich um. Midoriko schluckte hart, unterdrückte krampfhaft ihren ungleichmäßigen Atem, das Rasen ihres Herzens. Diese Ähnlichkeit… seine Züge mochten weicher, seine Haare und Augen etwas dunkler sein, doch viel mehr war es nicht, dass die beiden voneinander unterschied. Kleinigkeiten, nichts weiter… sie bemerkte nicht einmal, dass sie ihn anstarrte. Er wirkte älter als Flúgar, ausgeglichener, und die Milde in seiner Miene raubte seinem edlen Antlitz nichts an Attraktivität… „Nein, war es nicht. Ich bin kein guter Bogenschütze, und selbst in dieser Gestalt, in der meine Augen so viel besser sind, bereiten mir unbewegliche Ziele immer noch große Schwierigkeiten.“ Sein durchgängig vorhandener Akzent war dem von Flúgar gleich, wenn er sich mit dem Sprechen schwer tat… Der Loftsdreki bemühte sich um ein schwaches Lächeln. „Du machst nicht den Eindruck, als ginge es dir gut, Kaze.“ Nachlässig schulterte der Drache seinen Bogen, schloss in sich hinein seufzend die Augen. „Du weißt ganz genau, dass du mich nicht so nennen sollst. Aber du hast Recht, deshalb fehlt mir auch die Konzentration. Ich hatte gestern einen anstrengenden… Disput mit meinem Ältesten. Er verschwindet wochenlang, lässt nichts von sich hören und kriegt jetzt den Mund nicht auf. Irgendetwas stimmt da nicht, denn er weigert sich nicht wie sonst aus Trotz zu reden…“ Den Rest des Satzes sprach er nicht laut aus. Die Anwesenheit der menschlichen Miko war ihm nicht entgangen. Vor ihr musste er nun nicht unbedingt gestehen, dass er mit seinem eigenen Sohn zuweilen maßlos überfordert war. Dieses Kind zeigte ihm nur allzu deutlich seine Grenzen auf… „Kurz gefasst, dein Sohn hat wieder eine super Laune. Lass ihn besser nicht aus den Augen, sonst zerlegt er diesen überheblichen Schwertkämpfer noch in seine Einzelteile.“ Derweil begriff die Menschenfrau schlussendlich, wer hier leibhaftig vor ihr stand. Flúgars Vater, Minamikaze, Súnnanvindur… und Flúgar hielt sich offenbar ebenfalls irgendwo in der Residenz des Tennô auf. Sie blickte auf. Es war nicht allein das sachte Rauschen des Meeres, das ihre Aufmerksamkeit einforderte; auf den schmalen Ästen der jungen Weiden, die hinter der halbhohen Brüstung wuchsen, saßen sie, die weißen Raben. Jeglicher Irrtum war ausgeschlossen. „Unterschätze ihn nicht, Inu No Taishou. Er mag Dämonen verachten und ein böses Mundwerk haben, doch er kann es sich leisten. Einen begabten Schwertkämpfer wie ihn trifft man selten – ganz gleich, ob Mensch oder Dämon.“ Herr der Hunde? War ‚Herr’ in dieser Hinsicht nicht etwas hoch gegriffen? Schließlich war er auch ein Hund… also der Oberhund? Besagter verschränkt die Arme vor der Brust, sein Schmunzeln wurde hämisch. „Inu No Taishou… soll ich dich in Zukunft mit Ryuu No Taishou ansprechen?“ Die Züge des Drachenoberhauptes verklärten sich, und das knappe „Iie.“, das er daraufhin kaum hörbar erwiderte, klang matt und kraftlos. „Man hat wesentlich früher mit deiner Ankunft gerechnet. Die Besprechung ist bereits morgen.“ Der Ernst hatte zwischenzeitlich die Miene des Hundedämons verfinstert, doch als er den Loftsdreki mit den Augen fixierte, konnte man weit mehr als Aufmerksamkeit und Seriosität in ihnen lesen. Mitgefühl, Anteilnahme… Der türkisfarbene Blick, der sich nun mehr auf sie richtete, gefiel Midoriko absolut nicht. Wissend und prüfend zugleich bohrte er sich förmlich in sie. Es war unangenehm, sich ausgeliefert zu fühlen und gegen den eigenen Willen durchschaut zu werden. Die Sachlichkeit in seinem Ausdruck wahrte bloß den Schein… war ihm bewusst, wer sie war? Genügte es ihm sie anzusehen, um herauszufinden, wo Flúgar die ganze Zeit über gewesen war? Ein flaues Gefühl befiel ihre Magengegend, ihr war mulmig zumute. Sie widerstand dem Drang zurückzuweichen, dem unerträglichen Blick des Luftdrachen zu entfliehen. Hatte er einen Verdacht würde sie ihm diesen auf jene Weise nur bestätigen, und sie hatte nicht die Absicht, Flúgar zu verraten… „Ist das diese ominöse Priesterin, von der der Tennô sprach?“ Inu No Taishou nickte beständig. „Das, und unter anderem auch der Grund für meine Verspätung.“ Abermals hallte der metallische Klang aufeinander treffenden Stahls durch die leeren Korridore und Höfe, erfüllte die kühle Luft der heranbrechenden Nacht. Der Himmel war bereits tintenblau, wolkenlos, und die blassen Strahlen des Vollmondes tauchten die Gebäude und Gärten der festungsgleichen Residenz in dämmrige, graue Schatten. Der Wind trug die salzige Botschaft des Meeres umher, strich sanft durch das Laub der jungen Bäume und das Gefieder der weißen Raben. Für einen Augenblick herrschte Stille. Beide Kontrahenten hielten inne, verweilten regungslos. Schweiß rann seine Schläfen, seine Brust hinab, bahnte sich unentwegt verschlungene Pfade über seinen vor Spannung und Anstrengung bebenden Leib. Sein Atem glich bloß noch einem verzerrten Keuchen, drang ihm stoßweise aus Mund und Nase. Auch sein Rivale atmete schwerer, rang mit der Erschöpfung seines Körpers, die zusehends nachdrücklicher wurde. Dennoch nahm er ohne lange Umschweife erneut Angriffsposition ein, musterte seinen Gegenspieler, den die absolute Verausgabung mehr belastete als ihn. Die nächste Offensive würde die Entscheidung bringen und den Kampf beenden. Die bernsteinfarbenen Augen blitzten herausfordernd auf, als er den Griff um das Schwert in seiner Hand festigte, und auf seinen Gegner losstürmte. Wieder kreuzten sich klirrend die Schwertklingen, und für einen Moment verharrten die Krieger in jener Kräfte messenden Position, ehe sie sich abrupt voneinander trennten. Die Verkeilung lösend, erfolgte sogleich ein weiterer Schlag des weißhaarigen Dämons, den sein Konkurrent nur beschwerlich parierte, ins Wanken brachte. Dies bot dem angreifenden Youkai die perfekte Gelegenheit, um den Anderen mit dem leichten Querlegen seiner Klinge und einem letzten Kraftaufwand zu entwaffnen. Die Wucht des Hiebes riss dem geschwächten Kämpfer nicht nur das Katana aus der Hand, es raubte ihm das Gleichgewicht und ließ ihn rücklings unsanft zu Boden gehen. Kaltes Metall streifte vage seine Kehle, besiegelte seine Niederlage. „Sag schon, was ist los mit dir? Dass es dir so mies geht, habe ich bis jetzt nur einmal erlebt, Kaze – und da standen die Dinge für dich sehr viel schlechter als heute.“ Seufzend schob er das Schwert zurück in seine Scheide, setzte sich neben den vollkommen ausgelaugten Luftdrachen, der weiterhin begierig die frische Abendluft in seine schmerzenden Lungen trieb. So verging eine ganze Weile, und versunken im Schweigen, hingen der Hund und der Drache ihren eigenen Gedanken und Erinnerungen nach. Sie erinnerten sich beide nur zu gut daran, wie sie sich damals kennen gelernt hatten. Verluste, Trauer, Angst und Verzweiflung… »Erst im fahlen Licht der Morgendämmerung offenbart sich, was die Nacht davor so sorgsam in ihrer Schwärze verbarg… „Fárviðri, steh auf, bitte! Bróðir!“ Unnachgiebig rüttelt der junge Drache an der Schulter seines älteren Bruders, dessen Gestalt bewegungslos am Boden liegt, ruft seinen Namen, fleht um ein Lebenszeichen. Die Zeit hat er unlängst vergessen, dennoch weicht er nicht. Doch seine bereits heisere Stimme verklingt, niemand erhört sein verzweifeltes Bitten. In Strömen fließen die Tränen seine leichenblassen Wangen hinab, und der schmächtige Leib zittert unter den Folgen des Schocks. Zusammen folgten sie ohne Geheiß oder Anweisung ihres Vaters den Spuren des vermissten Loftsdreki, fanden und stellten ihn nach tagelanger Suche, die unweigerliche Erkenntnis jedoch war bitter. Ihr Artgenosse attackierte sie grundlos, besessen und gesteuert vom bösen Geist des Schwertes, das er trug, und lieferte sich einen harten Zweikampf mit dem älteren der Drachenbrüder. Zuletzt sanken sie beide nieder, blieben liegen – ohne eine Bewegung, ohne eine Reaktion… Sein Bruder beschützte ihn, doch um welchen Preis…? „Geh weg von ihm, Kleiner!“ Aus dem eintönigen Grau der Umgebung löst sich eine weiße Silhouette. Der Schein von flackernder Energie in ihrer Hand erhellt die neutral erscheinenden Gesichtszüge, die emotionslosen Augen, die die Farbe des Bernsteins aufweisen. „Bróðir…“ Es ist bloß noch ein Wispern, das er über die Lippen bringt, denn seine Kraft schwindet langsam aber sicher, lässt sein Schluchzen und Zittern abflauen. Doch der Fremde kommt näher, stößt ihn harsch beiseite. Aufgeben steht nicht zur Debatte, denn plötzlich zeichnet sich auf dem Körper seines Bruders eine Regung ab. Ein Hoffnungsschimmer, den er sich von keinem nehmen lassen wird. „Sou’unga… was hast du nur wieder angerichtet?“ Schier harmlos und unbeteiligt steckt das Schwert einige Schrittlängen entfernt im festen Untergrund. Ungeachtet des aggressiven Knurrens des Jungdrachen setzt der weiße Unbekannte sein Vorhaben in die Tat um, entzündet mit den Energiewallungen in seiner Hand ein Feuer, das den Leib des älteren Luftdrachen zu verschlingen beginnt. Nun gibt es kein Zögern mehr, keine Zurückhaltung… Der blaue Drache stürzt sich auf den weißen Hund, doch der Kampf ist unausgeglichen und kurz. Der Loftsdreki ist unterlegen, muss gezwungenermaßen wieder seine menschliche Form annehmen. Mehr tot als lebendig liegt nun auch er am Boden, gezeichnet von dem Duell gegen den Höllenhund. Die Erde färbt sich tiefrot. Der Sieger jedoch betrachtet seinen vermeintlichen Widersacher, der nicht mehr als ein Kind ist, vereitelt schließlich dessen Versuch, seinem Bruder in den Tod zu folgen… Und Schuld hat nur das vermaledeite Schwert…« Geistesabwesend betrachtete der Loftsdreki den gefährlichen Unheilbringer, das Schwert, das der Hundeyoukai über dem Rücken trug, und von dem er sich nicht einmal im Schlaf trennte. Sou’unga… Dann aber musterte er das friedlich schlummernde Hundekind in Inu No Taishous Schoß. War er jemals so im Einklang mit seinen Söhnen gewesen? Eher nicht… „Ich schaffe das einfach nicht, Meigetsumaru… Fleygurs Verhalten übersteigt meine Fähigkeiten, ich finde keinen vernünftigen Weg mit ihm umzugehen ohne ihn oder mich zu benachteiligen. Er ist Hríðarbylur so beklemmend ähnlich, dass ich ihn kaum ansehen kann… jedes Mal, wenn ich mit ihm spreche, habe ich das Gefühl, mein Vater sitzt vor mir… ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Außerdem setzt Blaka mich unter Druck. Dass es Angelegenheiten gibt, die sie nichts angehen, will sie nicht verstehen.“ Ein herbes Lächeln umspielte die Lippen des Hundedämons, während seine Finger behutsam Sesshoumarus zarte Wange streichelten. „Jeder von uns hat seine eigene Bürde zu tragen, die ihm das Leben schwer macht. Du hast Fleygur, ich habe Sou’unga… wir kommen nicht von ihnen los, unser Leben ist dafür zu eng mit ihnen verknüpft, wir sind verantwortlich für sie. Scheint so, als sollten wir es im Leben nicht zu einfach haben. Mach dir keine Vorwürfe, Súnnanvindur, du wirst deine Antwort irgendwann finden…“ Die Augen des Drachenoberhauptes schweiften zum Himmel hinauf, zu den Sternen, dem hell leuchtenden Vollmond… Urplötzlich schreckte er zusammen, fuhr augenblicklich hoch und wandte den Blick in Richtung des Meeres. „Alles in Ordnung?“ Meigetsumarus Ruhe dauerte nach wie vor an, und er konnte sich das Betragen des Drachen nicht erklären. Selten hatte er Súnnanvindur aufgeregt erlebt, und wenn, dann hatte es einen guten Anlass dafür gegeben. „Der Wind… er riecht nach Asche und Schwefel.“ Asche und Schwefel – die Botschaft des Feuers… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 35: >“Zwei Individuen, die sich in zwei unterschiedlichen Positionen befinden, zwei vollkommen verschiedene Vergangenheiten in sich tragen, und dennoch von einer Sehnsucht, einem Gefühl verbunden werden. Ein Mensch und ein Drache, die den jeweils anderen vermissen…“ *» Kenndir Kapitel 35: *~Kenndir~* ----------------------- "Dem stärksten Willen fehlt oft die Kraft, die einer zarten Emotion selbstverständlich ist." – Elfriede Hablé Kapitel 35 – Kenndir -Empfindungen- *Können Gefühle einer Definition gemäß richtig oder falsch sein? Ist es eine verurteilenswerte Tat, sich ihnen zu fügen und, in jener Ohnmacht des Verstandes, zu handeln? Kann man ein solches Verhalten als gut oder schlecht deklarieren? Und wer legt fest, was richtig oder falsch ist? Gut oder schlecht? Macht nicht der Standpunkt des Betrachtens aus, wie eine Handlung letztendlich zu beurteilen ist?* ּ›~ • ~‹ּ Warmer Dampf stieg in der kühlen Abendluft von den Quellen in den dunklen Himmel auf, verursachte einen seichten Nebel, der über die spiegelglatte Wasseroberfläche, auf der sich das Antlitz des Vollmondes spiegelte, waberte. Eingerahmt von glatten, kalkweißen Felsen war dieser Ort der Entspannung von Wind und unerlaubten Blicken geschützt, eingegrenzt, sodass jeder Badende ungestört seine Ruhe genießen und sich den angenehmen, wohltemperierten Streicheleinheiten des nassen Elementes hingeben konnte. Überwältigt bestaunte Midoriko die merkwürdigen Formationen und Rundungen des Gesteins, das an manchen Stellen den Anschein machte, als hätte ein talentierter Bildhauer sein Werk daran verrichtet, betrachtete eindringlich das atemberaubend schön gelegene Fleckchen Erde, an dem man es sich einfach gut gehen lassen konnte. Ein Lächeln der Glückseligkeit vernahm ihre Lippen ein, als sie die würzig duftende Luft tief in ihre Lungen sog, und unter ihren Fußsohlen das Kitzeln des feinen Kieses, mit dem hier die Wege ausgelegt waren, spürte. Hier ließ wahrhaft nichts zu wünschen übrig, denn selbst die Atmosphäre, die sie lockend und kosend umgab, glänzte in beinahe mehr als vollkommener Perfektion. Das musste man dem Tennô von vornherein zugestehen: er hatte Geschmack. Es mochte sich somit beweisen, dass er Luxus schätzte und daran nicht sparte, doch aus welchem Grunde sollte man nicht davon profitieren, wenn es sich einem anbot? Rasch schlüpfte die Priesterin aus ihren Roben und legte sie auf einem abgeflachten Stein ab, band sich sorgfältig die Haare zusammen, bevor sie an die heiße Quelle herantrat und sich schließlich bis zum Kinn in das einladende Nass niedersinken ließ. In ihrem Verstand machte sich langsam eine wohlige Leere breit, die für den Moment alle überflüssigen Gedanken aus ihrem Kopf vertrieb, sie all ihrer derzeitigen Sorgen und Probleme entledigte. Sie schloss die Augen, und ein befreites Seufzen entrann sich ihrer Brust. Was wollte man mehr? Nichts… ihr war nicht nach Denken zumute, sie wollte dieses gerade eben erst erlangte Wohlbefinden nicht mit einer unpassenden Überlegung verspielen, denn das war es definitiv nicht wert. Dann war es ihr doch wesentlich lieber, sich hier faul im warmen Wasser zu aalen und ein wenig zu dösen. Es würde sich nicht lohnen, denn selbst, wenn sie es auf einen Versuch anlegte, der Endeffekt war ihr bewusst; hier einen klaren Gedanken zu fassen war ein Ding der Unmöglichkeit, und außerdem wollte sie an gewisse Angelegenheiten und Personen keine wertvolle Zeit verschwenden, wenn sie diese eben so zur Erholung nutzen konnte. Seit einer geraumen Weile hatte sie es geahnt, aber ihr Verdacht bestätigte sich erst etwas später. Nun war ihr bewusst, dass er ganz in ihrer Nähe war; auch, wenn er sich ihr nicht zeigte oder anderweitig zu erkennen gab. Dachte er etwa, sie würde ihn nicht bemerken? Nein, so dumm war er nicht. Doch was war es dann? War das mitunter eine Art Spiel seinerseits? Und wenn ja, worauf sollte das letztendlich hinauslaufen? Sich den Kopf darüber zu zerbrechen und ihren Verstand mit Fragen zu martern, auf die sie ohnehin keine Antworten parat hatte, war sinnlos… „Zeig dich. Ich weiß, dass du da bist.“ Ihre Stimme klang neutral, beinahe desinteressiert, seine feinen Ohren verrieten ihm jedoch mehr. Der Anschlag von Härte und Trotz blieb ihm nicht verborgen, und im Grunde missfiel es ihm, dass sie so mit ihm sprach. Seine Silhouette löste sich aus den Halbschatten, die die unzähligen, merkwürdigen Skulpturen des weißen Steins auf den Boden warfen, und das Geräusch seiner federleichten Schritte im Kies drang zu ihr vor, erstarb wieder, als ihr gegenüber inne hielt. „Was willst du hier?“ Er mochte dieses offensive Verhalten ebenso wenig wie ihren kritischen Blick, mit dem sie ihn fixierte. Seine Miene verblieb ungerührt, emotionslos. Die Distanz zwischen ihnen war gering, und Midoriko ertappte sich dabei, wie sie darüber sann, welche Einzelheiten sie an ihm entdecken konnte, die sich verändert hatten. Er trug einen kobaltblauen Haori, und einen Hakama aus Seide, keine Schuhe oder Stiefel; in seine kunstvoll nach hinten arrangierten Haare waren links drei silbrig glänzende Federn eingeflochten, was die edle Wirkung seines Antlitzes noch weiter betonte. „Ich habe dich gewittert.“ Das war alles? Midoriko runzelte die Stirn, wandte den Kopf zur Seite ab. Damit hatte sie nicht gerechnet, und dementsprechend hatte sie sich selbst mehr oder minder ins Aus befördert. Kein Wort kam über ihre Lippen, und eine quälende Hilflosigkeit bemächtigte sich ihrer. Was sollte sie darauf erwidern? „Störe ich dich?“ Die Miko blickte auf, begegnete Flúgars unleserlichem Blick aus seinen hellen Augen. „Nein… nein, tust du nicht…“ Es dauerte einige Augenblicke, bis die schwarzhaarige Frau es schaffte, das Durcheinander in ihrem Gehirn wieder einigermaßen in Ordnung und unter Kontrolle zu bringen. Irgendwie hatte sie sich das herbeigesehnte Aufeinandertreffen mit dem Loftsdreki ganz anders vorgestellt… Eine Regung durchlief Flúgars sonst so unbewegliche Gestalt, und Midoriko errötete augenblicklich, als sie die Situation in ihrer Gesamtheit erfasste. Sie schluckte, versuchte beschämt ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes umzulenken und ihn nicht anzustarren. Das Rot ihrer Wangen vertiefte sich zusehends, als der Dämon seinen Hakama abstreifte, sich danach mit einem raschen Handgriff seines weißen Obis entledigte… Achtlos warf der Drache in humaner Form seine Kleidung beiseite, zerstörte mit einer einzigen Bewegung seiner Hand die vorherige Anordnung seines Haars, und die Federn segelten unbeachtet zu Boden. Seine blasse Haut schimmerte im schwindenden Tageslicht, die wage gewellten Haare flossen geschmeidig über seinen Rücken, die linke Schulter und die Brust; er war muskulös, und jede Partie seines Leibes war wohlgeformt… aber, traf hier der Ausdruck Schönheit zu? Flúgar hatte ihr erzählt, dass dieser menschliche Körper nicht seiner wahren Gestalt entsprach. Bedeutete das, dass das, was sie sah, oder zu sehen glaubte, nur eine Illusion war? Etwas, das so eigentlich nicht existierte? Wortlos glitt der Loftsdreki auf der gegenüberliegenden Seite der Quelle ins Wasser, ungerührt ihres teils verlegenen, teils stierenden Blicks. Es kümmerte ihn nicht, und ohnehin war es ihm schon immer ein Rätsel gewesen, warum sich die meisten Menschen dermaßen vor der Nacktheit schämten. Midoriko war in dieser Hinsicht nicht anders, denn als ihr siedend heiß in den Sinn kam, dass sie die ganze Zeit über bereits unbekleidet war, verschränkte sie die Arme hastig vor der Brust und presste die Beine zusammen. Menschen… er hatte ihre Reaktion erwartet, doch trotz dessen empfand er etwas wie Enttäuschung über diesen Umstand. „Aus welchem Grund hegst du solche Scham vor deinem eigenen Körper?“ Die Priesterin wusste vorerst keine Erwiderung auf seine Frage, denn wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann hatte sie keinen richtigen Anlass für ihr Verhalten vorzubringen… Der Gesichtsausdruck ihres Gegenübers hatte sich grundlegend gewandelt, und sie vermeinte Neugier in seinen Zügen zu erkennen, doch absolut sicher war sie sich nicht; Interesse sprach aus seinem eindringlichen Blick, und ihr wollte partout nicht dämmern, warum er sie auf einmal so anschaute. Er näherte sich ihr bedächtig, und stand kaum noch einen halbe Schrittlänge von ihr entfernt, sodass sie bereits begann, sich gegen die Begrenzung zu drücken, als er die Hand nach ihr ausstreckte, mit den Fingerspitzen zaghaft ihre Stirn berührte. Ihre Verspannung ebbte ab, und ihre Lippen formten ein wissendes Lächeln. Es war ihr ein Leichtes zu erraten, was der Luftdrache wohl in Erfahrung bringen wollte. „Es ist wohl ein Symbol der Reinheit, und danach steht jedes Segment für eine der vier Seelen - Ara-Mitama, Nigi-Mitama, Kushi-Mitama und Saki-Mitama – die in unserem Herzen wohnen und dort unsere Seele bilden.“ Sie verstummte, schloss die Augen. Ihr Gegenüber war kein Mensch, und doch galt das, was sie eben gesagt hatte auch für ihn – ebenso, wie für jedes andere Wesen. Doch ein Gedanke beschäftigte sie… standen die vier Seelen in Flúgars Herzen im Einklang miteinander? War seine Seele rein? Midorikos Scheu schien verflogen, denn sie trat von sich aus noch dichter an ihn heran, und strich ihm die kürzeren Haarsträhnen aus dem Gesicht, berührte das mausgraue Symbol auf seiner Stirn. Gemeinsamkeiten verbanden… „Ich habe mich schon zu Anfang gefragt, was es bedeutet…“ Der helle Blick des Dämons verfing sich mit dem der Menschenfrau – beide erinnerten sich gut an die Situation im fatalen Stahlnetz der Dämonenraupen, wo die Priesterin die Gunst der Stunde genutzt hatte, um das markante Merkmal mit den Fingern nachzuzeichnen. Zugegeben, jetzt erschien ihr dieses Verhalten forsch, beinahe dreist, aber sie bereute es nicht, denn bereits zu jenem Zeitpunkt hatte ihre Faszination und Neugierde alle anderen Gefühle eindeutig überschattet. „Das Zeichen steht für Luft, und somit für das, was ich bin.“ Für das, was er war? Sie verstand nicht, was er meinte. Diese Vorstellung leuchtete ihr nicht ein. Luft…? „Mein Großvater erzählte mir, dass ein Drache die Personifikation seines Elementes ist, die sich von diesem nur durch den Besitz einer Seele unterscheidet.“ …starb der Drache, verlor er seine Seele und der Rest wurde wieder zu dem, was er einstmals gewesen war; eine Wiedervereinigung im Tode… Die Miene des Loftsdreki war nicht gleichgültig, Milde und Bitterkeit wirkten nebeneinander, schufen einen bittersüßen Ausdruck, den ich bei ihm noch nie gesehen hatte. Flúgar lächelte, aber dies so bitter, dass es Midoriko einen Stich versetzte. Mit einem Mal ergriff sie die Ratlosigkeit, und ihr war, als würde der Himmel über ihr kollabieren, in sich zusammenbrechen, sodass die Trümmer im ruhenden Sand Staubwolken aufwirbelten. Die Ruhe der Miko schwand, und all die Sorgen, die Ängste und Befürchtungen, die sich unweigerlich in ihr aufgestaut hatten, drohten sich nach außen zu kehren. „Warum hast du mich alleine gelassen?“ Er hatte ihr heiseres Wispern vernommen, und er fühlte sich schuldig, obgleich es genau genommen keinen Grund dafür gab. Völlig ohne Vorwarnung spürte er keinen Wimpernschlag darauf den nassen Leib der Priesterin direkt an dem seinen, ihre Hände, die über seine Schultern fuhren und in seinem Nacken inne hielten. Sie umarmte ihn, vernachlässigte dabei jeden Umstand, der sie ansonsten davon abgehalten hätte. Die junge Frau lagerte den Kopf gegen seine Brust, lauschte seiner gleichmäßigen Atmung, seinem leicht beschleunigten Herzschlag, was Beweis genug für sie war, dass ihn ihre Gestik nicht kalt ließ. In ihrem Bauch begann es zu kribbeln, und ihr Herzmuskel machte einen plötzlichen Sprung, als sie bemerkte, dass der Dämon ihre Umarmung sachte erwiderte. Zu ihrer Überraschung war sein Körper warm, wie die sanften Böen seines Atems, die ihre Haut streiften… Midoriko fürchtete fast, in der Flut von Geborgenheit und Wärme zu ertrinken… „Ich habe nicht das Recht, dein Leben zu gefährden, indem ich dich zwischen die Fronten stoße – gleichgültig, ob es sich dabei um Menschen, die Loftsdrekar oder die Eldursdrekar handelt.“ Flúgar dämpfte seine Stimme, wodurch diese in noch tieferen Bereichen schwang als sonst, ihre Intensität sich steigerte und sie vermeinte, noch etwas anderes neben der Ehrlichkeit in seinem Ton zu hören. Eldursdrekar? War die Angelegenheit etwa noch nicht ausgestanden…? Midoriko schob den Gedanken beiseite, vergaß ihre Sorgen für einen Moment… was sie wohl gerade für einen Anblick darboten…? Im Vergleich zu ihm wirkte sie klein und zart, nahezu fragil. Sie musste auf Zehenspitzen stehen, um ihm halbwegs auf Augenhöhe begegnen zu können. Rein körperlich würde sie sich gegen ihn nicht behaupten können, was aber ihre Fähigkeiten anbelangte, waren sie wohl gleichwertig, wenn nicht Midorikos pure Macht dem dunklen Youki des Drachen überwog. Eine ganze Weile verharrten sie in dieser Position, genossen die körperliche und geistige Nähe des jeweils anderen. Nicht nur die Menschenfrau hatte unter der Trennung in gewissem Maße gelitten… Flúgar realisierte spät, dass ihm sein Verstand so gut wie abhanden gekommen war, dass er bei bestem Willen nicht klar denken konnte. Der bloße, weiche Körper der Priesterin, der sich so wohlwollend, so willig gegen seinen drängte, vernebelte ihm die Sinne… was für einen Effekt sollte es denn sonst auf ihn haben? Immerhin war er auch nur ein Mann, und laut Blævar erwachten in ihm langsam aber sicher die niederen Triebe, die in ihrer Einfachheit sein Leben ruinieren würden. Warum nur hatte sein Vater Nistandisúgur dieses verdammte Versprechen gegeben… Der Loftsdreki widerstand dem Drang zu fluchen, und zuckte unwillkürlich zusammen, als Súnnanvindurs Stimme aus einer nicht allzu großen Entfernung – vermutlich aus den Schlossgärten – zu ihm vordrang. Auch Midoriko spürte die Regung, die durch seine Muskeln lief. Sie öffnete die Augen, hob den Kopf etwas an um ihn anschauen zu können. „Was ist?“ Der Angesprochene seufzte, bedachte sie mit einem rätselhaften Blick. „Ich muss gehen.“ Etwas wie Bedauern lag in seiner Stimme, als er sich von ihr löste, ihr den Rücken zuwandte und aus dem Wasser stieg. Derweil ließ sie sich wieder tiefer in das heiße Nass sinken, um ihre Blöße zu verdecken. Er hatte nicht einmal den Versuch unternommen, einen richtigen Blick auf ihren nackten Körper zu erhaschen. Sollte das etwa eine ehrenwerte Anwandlung seinerseits sein…? Flúgar machte sich nicht die Mühe, sich anzukleiden, las seine Kleidung vom Boden auf und seine raschen Schritte erweckten in der schwarzhaarigen Miko den Eindruck, als würde sich der Drache beschämt davon stehlen. Hatte sie jemand beobachtet? Oder fürchtete er, erwischt zu werden? Doch dieser Anschein täuschte, wie sie gleich darauf feststellen sollte. Sie hatte ihn nicht gesehen, es war seine Präsenz, die ihn hinter ihr verriet, jedoch wagte sie es nicht, sich zu ihm umzudrehen. Spürbar strich sein Atem über die zarte Haut ihres Halses, sodass ihr ein heißkalter Schauer die Wirbelsäule hinabjagte. Ein Zittern erfasste ihren Leib, und in ihrem Bauch wuchs ein Gefühl, dem sie keine Bezeichnung zuzuordnen wusste. Instinktiv schloss sie die Augen, doch seiner Annäherung folgte keine Berührung… ob sie nun enttäuscht sein sollte? Das Geräusch seiner Schritte entfernte sich, verschwand bald gänzlich. Eher zufällig wanderten Midorikos Hände zu ihrem Haar, das sie vorsorglich zusammengebunden hatte, und ertasteten dort etwas, das sie nicht erwartet hatte; eine Feder… ּ›~ • ~‹ּ Midoriko… Was war nur los mit mir? Verlor ich langsam den Verstand…? Selbst jetzt spürte ich es noch, dieses merkwürdige Gefühl, das sie in mir ausgelöst hatte. Mir war, als könnte ich ihren unverwechselbaren Geruch noch immer wahrnehmen, ihre sanfte Stimme hören, ihre berauschende Nähe direkt an meiner bloßen Haut fühlen. Es war nichts als eine Illusion, eine Täuschung, dessen war ich mir bewusst, doch der Gedanke an sie ließ sich nicht mehr aus meinem Kopf verbannen. Aber warum? Warum wollte mir ihr Anblick, ihr gesamtes Sein, nicht mehr aus dem Sinn weichen? Warum war ich plötzlich so dermaßen fixiert auf sie? Dass ich sie nie wieder vergessen können würde, wusste ich bereits seit geraumer Zeit, ich hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass sie imstande war, mir Geist und Besinnung so nachhaltig zu vernebeln. Woher rührte dieser hohe Einfluss, den sie auf mich hatte? Weil sie eine Frau war…? Ein Mensch, der meine Neugier entfachte, mich gleichermaßen in Verwirrung stürzte. Stundenlang hätte ich mir über sie und ihr Verhalten das Hirn zermatern können, und trotz dessen… Ich mochte sie; und unser eher flüchtiges Aufeinandertreffen in den heißen Quellen hatte ich genossen als wäre mir nie zuvor etwas dergleichen widerfahren. Wie ein geprügelter Hund, der dem ersten Wesen nachlief, das ihn freundlich behandelte. Ganz gleichgültig, warum es ihn streichelte und nicht schlug. Genau dieses Streicheln war es, das ihn davon abhielt, zuzubeißen oder erneut zu flüchten… Jene angenehme und ausfüllende Empfindung, die ich kaum zu beschreiben vermochte, wies in diesem Fall gleichwohl einen herben Beigeschmack auf, der in mir Zweifel und Aggressionen hochtrieb – denn es war nicht allein Súnnanvindur, der mich mit argwöhnischen Blicken bedachte. Scheinbar wollte es mir niemand gönnen, dass ich jemanden gefunden hatte, der in der Lage war, in mir etwas wie Wohlbefinden und Zufriedenheit hervorzurufen. War es, weil sie ein Mensch war? Oder aber weil sie daran gescheitert waren, mir eben dies zu vermitteln? Verdruss über die eigene Unfähigkeit? Wenn nicht, welchen Anlass hatten sie sonst? Wie lächerlich… Fragte ich mich ernsthaft, warum sie sie nicht in jeglichem Kontakt mit mir wissen wollten? Meine Meinung über die Menschen hatte sich nicht verändert, Midoriko bildete die mir einzig bekannte Ausnahme. Hatte ich mich verschätzt? Oder gar getäuscht? Zählte das Individuum mehr, wog es schwerer, als die Allgemeinheit, und sollte man an ihm selbst seinen Wert messen? Bestätigten Ausnahmen wie sie die Regel? Erschöpft stützte ich die Unterarme auf die hölzerne Brüstung, senkte leicht den Kopf. Meine Schläfen schmerzten unter dem Druck, der sich dort augenscheinlich staute, und in meinem Schädel pochte es unerträglich. Es war eine kalte, sternenklare Vollmondnacht, doch auch der kühle Wind versprach mir keine Linderung. Aber warum? Warum geschah das alles? Welchen Grund gab es dafür? Auf eine Situation wie diese hätte ich gut verzichten können… „Flúgar…?“ Unwillkürlich zuckte ich zusammen, untersagte mir ein verstimmtes Seufzen. Blævar… wer auch sonst hätte es gewagt, mir gedankenlos so nahe zu kommen und sich an mich zu lehnen? „Du denkst wieder an sie, hab ich Recht?“ Er zeigte nur zu deutlich, wie sehr es ihm missfiel, dass zwischen Midoriko und mir eine Bindung existierte, die er nicht einzuordnen wusste. Eifersucht hatte von ihm Besitz ergriffen, doch mir schob er keinerlei Schuld daran zu; anstatt dessen projizierte er seinen Unmut, der beinahe Hass glich, auf Midoriko. Er machte sie alleine verantwortlich, und entwickelte die abwegigsten Theorien, was sie denn gegen meinen Willen mit mir angestellt haben könnte und mich somit zum Bleiben gezwungen hatte. Nein, ich hatte ihm nichts gesagt. Es ging ihn schlichtweg nichts an – das brennende Interesse, mit dem er mich zuweilen nervte, ignorierte ich geflissentlich. Ich hatte damit gerechnet, seine Reaktion war für mich verständlich, und vor allem vorhersehbar gewesen. Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte lang hatte ich außer ihm oder Afi nie wirklich jemandem vertraut. Die Gesellschaft anderer hatte ich gemieden, ich hatte mich gegen jede Annäherung gewehrt. Blævar hatte es geschafft, jene Barriere zu überwinden… Natürlich gefiel es ihm nicht, seine Position teilen oder gar abgeben zu müssen, und erst recht nicht an eine Menschenfrau, die er nicht einmal kannte. Grundsätzlich hegte er keine Abneigungen gegen Menschen – Midoriko schien nicht zu eben denen zu zählen… Und Súnnanvindur… ob er mich bereits durchschaut hatte? Ich war mir bei ihm nicht sicher. Im Grunde war er keine undurchsichtige Persönlichkeit, deren Gedanken man nur beschwerlich erriet, dennoch verstand ich ihn nicht. Seine verqueren Ansichten, seine stupide Einstellung… „Bróðir… was ist los mit dir? Habe ich dich verärgert…?“ Indessen legte er vorsichtig den Kopf gegen meine Schulter, ließ seine Hände wohlmeinend über meine Brust und meinen Rücken wandern. Ich hasste ihn für diese Art der Bettelei, und noch viel mehr hasste ich mich dafür, dass ich ihm meistens darauf nachgab. Blævar war leider alles andere als dumm, und er wusste genau, wie er mit mir umgehen musste, um eine Antwort auf seine Fragen zu erhalten. Ich fluchte innerlich, schwieg jedoch. „Ich mache mir Sorgen um dich. Du hast dich… verändert, Flúgar.“ Als ob ich das nicht selbst bemerkt hätte… „Hör auf.“ Seine Finger strichen betont zärtlich über die Narbe, die seit Kurzem meine linke Flanke zierte. Auch darüber hatte ich ihm nichts erzählt, obwohl es eine recht markante und offensichtliche Veränderung war. Vermutlich aber hatte er sie erst vor wenigen Momenten entdeckt, und verharrte deshalb wortlos, denn er drückte sein Mitgefühl und seine Besorgtheit unmissverständlich durch seine Berührungen aus. Diese erreichten bald darauf Bereiche meines Körpers, auf die er als mein Bruder absolut keinen Anspruch hatte. Verbotene Zonen, die nicht für ihn bestimmt waren, und die streng genommen nur meiner Gefährtin und mir zustanden. Als ob Blævar sich um so etwas scheren würde. Es kümmerte ihn herzlich wenig, um ehrlich zu sein, gar nicht, was andere über sein Betragen äußerten oder dachten. Ob unzüchtig, moralisch verwerflich oder verboten… für mich nahm er alles auf sich, die Konsequenzen interessierten ihn nicht. Idiot, verdammter Idiot… Unwirsch wandte ich mich ruckartig zu ihm um, packte ihn an den Armen und presste ihn mit aller Gewalt gegen die Holzbrüstung des Balkons. Er wehrte sich nicht, sein Blick verriet nicht einen Augenblick lang Zweifel. Nicht für die Zeit eines einzigen Wimpernschlages… Blævar… Dieses bedingungslose, uneingeschränkte Vertrauen zu mir, und die Unfähigkeit, mir gegenüber Hass zu empfinden… ich konnte tun und lassen, was ich wollte, seine Gefühle für mich waren unabänderlich. Gleichgültig, wie harsch mein Griff auch sein mochte, wie gewalttätig ich wurde, wie viel Schmerz ich ihm zufügte – ob physisch oder psychisch -, der Ausdruck in seinen Augen wandelte sich nie. Auch jetzt nicht. Willig fügte sich dem Chaos meiner mangelnden Kontrolle, deren Verlust, und bot sich mir förmlich als freies Opfer. Er verleitete mich beinahe dazu, meine Willkür an ihm ausleben und mich an ihm zu vergreifen. Was mich daran verwirrte, war der Fakt, dass Blævar das genussvoll ausschöpfte; wie meine Zuwendung schlussendlich ausfiel, war nichtig, unerheblich… War er wirklich so anders als Midoriko…? Nein. Es gab nur einen wesentlichen Unterschied, nur diesen einen… In der blinden Schwärze meiner Besinnungslosigkeit verließ sie mich nicht, sie verweilte mit mir an diesem dunklen Ort und wies mir den Weg zurück zu meinem wahren Selbst. Midoriko… Er blickte mich direkt an, streckte die Hand nach meiner Wange aus, mit der Sicherheit, dass ich es ihm nicht verwehren würde. Mit meinem Tun bestätigte ich ihn, und ich vermeinte, die Genugtuung, die ihn dem folgend erfasste, körperlich zu fühlen. Blævar lächelte. Unverhohlen, und ehrlich - aber dermaßen deplatziert, dass ich allmählich von ihm abließ. Ich spielte ihm mit offenen Karten zu, dessen war ich mir bewusst. Wieder war es ihm gelungen, und ohne weiter darüber nachzudenken, zog ich ihn zu mir… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 36: >“So licht und klar die Gegebenheiten auch erscheinen mögen, die Schatten, die sich dahinter verbergen sind allgegenwärtig, finster wie eine mondlose Nacht. Jede Medaille hat zwei Seiten – mit den Menschen verhält es sich nicht anders. Für den, der zu wenig weiß, wird es im Endeffekt ebenso gefährlich wie für den, der zu viel weiß…“ *» Meian Kapitel 36: *~Meian~* --------------------- "Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten." – Johann Wolfgang von Goethe Kapitel 36 – Meian -Schatten- *Erscheinen die Dinge auf den ersten Blick immer anders, als sie in Wahrheit sind? Sehen unsere Augen eine Welt, die aus nichts als Illusionen besteht, die auf diese Art und Weise wahrgenommen überhaupt nicht existiert? Gewinnen wir somit einen vollkommen falschen Eindruck von unserem Leben? Und was geschieht, wenn wir der Wirklichkeit auf die Spur kommen? Glauben wir nicht doch eher unseren Sinnen als unserem Verstand, der es meisterhaft versteht, uns zu täuschen?* ּ›~ • ~‹ּ Das blasse Licht des Mondes fiel durch den halbgeöffneten Shouji in den Raum, hüllte diesen in eine farblose, weiche Sanftheit, die der Wind mit seinen hauchzarten Böen behutsam streichelte. Stille umfing die Residenz des Tennô. Nachdenklich hob ich den Blick gen Himmel, betrachtete die unzähligen Sterne, deren unablässiges Funkeln das dunkle Firmament zierte; meine Fingerspitzen verweilten regungslos auf der weißen Feder… Wie lange war es her, dass sich Flúgars und meine Wege überschnitten hatten? Wie viele Tage lag jene schicksalhafte Begegnung zurück? Wie viele Wochen waren seitdem vergangen? Ich wusste es nicht. Doch in diesem Moment befiel mich seit einer schieren Ewigkeit wieder das erdrückende Gefühl der Einsamkeit. Für einen gewissen Zeitraum hatte ich tatsächlich vergessen, wie schmerzhaft es sein konnte, alleine zu sein. Die Nähe, die zwischen ihm und mir entstanden war, trug das Ihre dazu bei, dass sich die Qual, die an meinem Verstand und meinem Herzen nagte, weiterhin verstärkte. War die Anwesenheit des Loftsdreki zu einer Selbstverständlichkeit für mich geworden? Hatte ich mich so sehr daran gewöhnt, dass er bei mir war, an meiner Seite stand? Nach dem Tod meiner Mutter und dem unvermeidlichen Bruch mit meiner Schwester drei Sommer später, hatte ich kaum mehr als höfliche Zuwendung erfahren. Von Zuneigung, von Wärme keine Spur, obwohl ich mich gerade danach gesehnt hatte. Womöglich hätte mich diese schleichende Kälte irgendwann erfrieren lassen… Ich schluckte hart; bedeutete das…? War die ganze Angelegenheit von Anfang an falsch verlaufen? Ja, nun verstand ich. Nicht ich hatte Flúgar vor dem Tode bewahrt, er hatte mich aus dem eisigen Sog der Gesellschaft gezogen und meine Seele davor gerettet, in Starre und Agonie zu verfallen. Es war an mir, dankbar zu sein, nicht umgekehrt. Nicht er hatte Schulden, sondern ich. All die Strapazen, die er auf sich genommen hatte, die lebensgefährlichen Situationen und schweren Verletzungen, für die letztendlich ich verantwortlich war… Warum war mir das Offensichtliche entgangen? Hatte ich es nicht sehen wollen? Oder war es mir einfach nicht bewusst gewesen? Mein unüberlegtes Handeln hatte ihn in Schwierigkeiten gebracht, die ich meinem schlimmsten Feind nicht gewünscht hätte. Wie hatte ich – guten Gewissens – so etwas nur tun können? Ein guter Mensch war ich wahrlich nicht. Betrübt senkte ich den Kopf, schloss die Augen. Erst in diesem Moment bemerkte ich das leise Meeresrauschen, dessen Melodie für mich der eines Schlummerliedes glich, das einen geruhsam in den Schlaf wiegte. Aber ich musste mit Flúgar sprechen – vorher würde ich keine Ruhe finden, geschweige denn schlafen können… Ein zaghaftes Klopfen an der Zimmertür holte mich schließlich aus meinen ruhelosen Gedanken, ließ mich verwundert aufsehen. Es war sicherlich weit nach Mitternacht, wer konnte das sein? Flúgar war es mit Sicherheit nicht, denn Höflichkeit gehörte nicht unbedingt zu seinen Stärken. Angeklopft hätte der nicht. Eher zögerlich als bestimmt erhob ich mich, näherte mich mit langsamen Schritten der Schiebetür. Das leise Geräusch erklang abermals. „Miko-sama?“ Das schüchterne Flüstern vertrieb meine Bedenken. Vermutlich handelte es sich nur um eine Kammerzofe, die sich nach meinem Wohlbefinden erkundigen sollte. Durch diese Feststellung erleichtert, zog ich den Shouji auf. Der schwache Schein einer Kerze, die sie bei sich trug, erhellte die jungen, beinahe kindlichen Züge der Dienerin, die sofort ehrfürchtig den Kopf neigte. „Verzeiht bitte die Störung, Miko-sama, der Tennô wünscht Euch zu sprechen.“ Skeptisch runzelte ich die Stirn. Der Tennô bat mich um diese Uhrzeit zu einem Gespräch? Warum? Irgendetwas daran erschien mir eigenartig. Aus welchem Grund hatte er nicht früher die Forderung nach einer Unterhaltung gestellt? Und über was wollte er bloß mit mir reden? Wollte er mir vielleicht etwas von höherer Wichtigkeit mitteilen? In mir trieben allmählich Zweifel hoch, ob hinter dieser Anfrage nicht womöglich etwas anderes verbarg, als es nun den Anschein erwecken sollte. Doch ich schwieg, behielt meine Gedanken für mich. Mir lag es fern, fremden Leuten Unterstellungen anzudichten oder über sie zu urteilen. So folgte ich wortlos dem Dienstmädchen, versuchte, mir den Weg durch zahlreiche Flure und Treppen bestmöglich einzuprägen. Die Residenz des Tennô war gigantisch, und bereits in diesem einen Gebäude fand ich mich nicht zurecht. Ohne eine Führung wäre ich wohl nicht einmal in der Lage gewesen, zu einem Ausgang zu gelangen. Bis wir schlussendlich unser Ziel, den privaten Trakt des Tennô, der einen gesamten Gebäudeflügel einnahm, erreichten, hatte ich meinen Orientierung bereits gänzlich verloren und den hoffnungslosen Versuch aufgegeben, mir den Rückweg merken zu wollen. Es funktionierte einfach nicht, sinnlos]. Das Mädchen blieb stehen, kniete neben einer der zahlreichen Schiebetüren ab, und bedeutete mir zu warten. Erst jetzt wurde ich meiner eigenen Nervosität gewahr, dem leichten Zittern meiner Hände, dem raschen Schlagen meines Herzens. Ich konnte es mir nicht leisten, auch nur den Ansatz eines schlechten Eindrucks zu hinterlassen. Gleich, wenn ich jene Tür passierte, würde ich dem wohl einflussreichsten Mensch im gesamten Reich gegenübersitzen – und das, obwohl ich eine Frau war, nur eine Frau. Gebührte mir diese Ehre? Gab es nicht andere, die es viel eher verdient hatten, wenigstens einmal in ihrem Leben mit dem Tennô zu sprechen? Ich atmete tief durch, ordnete meine Gedanken. Für einen unspektakulären Rückzug war es schon zu spät. Zudem ziemte sich solche eine Unhöflichkeit gegenüber einer hochgestellten Person nicht, und eine Alternative bot sich mir in diesem Fall nicht an. So nahm ich all meinen Mut zusammen, erteilte der Kammerdienerin mit einem stummen Nicken die Erlaubnis, den Tennô über mein Einverständnis und Hiersein zu informieren. Eine Weile verging, ehe man mich letztendlich hereinbat. Schweigsamkeit beherrschte den spärlich beleuchteten Raum, als ich mit respektvoll gesenktem Haupt eintrat, sogleich auf die Knie ging und mich tief verbeugte. Außer mir spürte ich nur drei andere Präsenzen, wovon eine sicherlich die des Tennô-heika war. Doch wer hielt sich noch in diesem Zimmer auf? War es nicht eine Aufforderung zum Gespräch mit mir gewesen? „Setzt Euch auf, Miko-sama.“ Ich gehorchte, wagte es aber auch weiterhin nicht, meinen Blick zu heben. Natürlich war ich neugierig, aber ich wahrte meine Selbstbeherrschung, schenkte diesem Drang keinerlei Beachtung. In letzter Zeit mochte ich nicht oft in gehobener Gesellschaft gewesen sein, der Anstand jedoch, den man mich gelehrt hatte, würde ich nie vergessen oder gar vernachlässigen. Wenn ich etwas von meiner Mutter, und danach von Soreiyu, gelernt hatte, dann, wie man sich der Situation entsprechend benahm. „Euer Kommen zu später Stunde erfreut mich, Miko-sama.“ Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass die massige Gestalt, die ich nur schemenhaft zu erkennen vermochte, eine Verneigung andeutete, mich gründlich musterte. Ich hingegen rührte mich nicht, und so lange er keine direkte Frage an mich richtete, war es mir nicht erlaubt die Stimme zu erheben. Der leichte Hauch eines exotischen Dufts erfüllte die Luft, vermischte sich mit der kühlen Nachtluft, die allmählich durch die offene Tür der Veranda sickerte. „Miko-sama, unsere allgemeine Lage dürfte sich in Eure Kenntnis fügen. Schlachten und Hungersnöte raffen das Leben dahin, die Schwachen und Toten bieten den Kreaturen der Dunkelheit eine perfekte Grundlage, und ihr Bestand ist unlängst eine Bedrohung. Einhalt gebieten dem nur einige – Mönche, Krieger. Der Erfolg verhält sich mäßig. Unglücklicherweise, denn diese Epidemie breitet sich auf Ausmaße, die nachhaltigen Schaden verschulden wird.“ Mir fiel es schwer, seinen Worten zu folgen. Woran mein Verständnis zu scheitern drohte – ob es meine Müdigkeit oder seine Formulierungen waren - wusste ich allerdings nicht. Ich verstand nicht recht, was er mir mit alldem sagen wollte. Offensichtlich war bloß, dass es etwas mit der ungemeinen Vermehrung der Dämonen zu tun hatte, die das Reich im Moment erfuhr. Mir war dieser Umstand bekannt, ich hatte das Leid vieler Menschen mit eigenen Augen gesehen. Ihn jedoch schien weniger das Volk zu interessieren… „Die Zeit, ein Exempel zu statuieren, ist wahrlich reif. Wenn der niedere Abschaum der Dunkelheit erfährt, dass sogar die mächtigsten Repräsentanten ihrer Rasse der Übermacht der Menschen erliegen, so werden sie mit einer weiteren Herausforderung zögern.“ Worauf wollte er hinaus? Eine erschreckende Ahnung beschlich mich, setzte sich langsam aber sicher in meinem Verstand fest, und mein Misstrauen ihm gegenüber wuchs. Was meinte er mit ‚ein Exempel statuieren’? Hatte er es auf einen außergewöhnlich starken Youkai abgesehen? Aber das… konnte es denn sein, dass er auf Flúgars Vater und Inu No Taishou anspielte? Wollte er etwa…?! „Gewiss seid ihr Euch Eurer Pflichten bewusst, Miko-sama. Ich erlege Euch keinen Zwang auf, Euer Ethos wird Euch die richtige Entscheidung treffen lassen.“ Er drängte mich in die Enge, verwehrte mir jede Ausweichmöglichkeit und versperrte alle Fluchtwege. Ein Ablehnen meinerseits würde keine Akzeptanz bei ihm finden, und er wusste, dass ich das Wagnis eines Widerspruches vor ihm nie eingehen würde. Verdammt, wieso hatte ich seine Absichten nicht früher durchschaut? Ohne meine Hilfe würde er sein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen können, er wollte bloß meine Fähigkeiten für seine Zwecke benutzen… ich hätte es sehen müssen, warum nur hatte ich es nicht bemerkt? Urplötzlich schrak ich zusammen. Waren womöglich das seine spirituellen Kräfte? Sich und sein wahres Sein im Verborgenen zu halten? Schon als ich diesen Raum betreten hatte, war es mir aufgefallen. Seine menschliche Aura konnte ich fühlen, doch nichts darüber hinaus. Das reichte als Erklärung vollkommen aus, und mir wurde blitzartig klar, warum die beiden Dämonen so blindlings in ihr Verderben zu tappen schienen. Nun begriff ich, sie konnten es ebenso wenig wahrnehmen wie ich. Ich musste etwas unternehmen, und zwar so schnell wie möglich. Ja, ich war restlos enttäuscht, das hatte ich nicht erwartet, nicht einmal in Erwägung gezogen. Der höchste Shintôpriester des gesamten Reiches… welch eine Schande. Seine Sorge galt nicht den Menschen, die litten und starben, sein Blick war starr auf die Dämonen fixiert, die er für das momentane Geschehen verantwortlich machte. Dabei lag die Schuld letztlich nicht bei ihnen – ihre Anzahl schwoll so dermaßen rasch an, weil die Schwäche der Menschen ihnen leichtes Spiel gewährte. Und um genau diese Schwäche ging es, denn sie resultierte aus den unzähligen Schlachten und Kleinkriegen, den Seuchen und Hungersnöten, die die Leute heimsuchten. Dagegen tat niemand etwas, die Adligen scherten sich nicht um die Bauern, Dörfler und Städter, die dem Tod oder der Finsternis zum Opfer fielen… Die Gleichgültigkeit der Hochrangigen in der Gesellschaft tötete die, die den untergeordneten Schichten angehörten. Sie kümmerten sich nicht darum, schwelgten in ihrem Reichtum und genossen ihre Macht, ohne sie für etwas Gutes zu gebrauchen. Der Tennô bildete keine Ausnahme. Nicht allein seine Worte, die Residenz, in der wir uns befanden, auch die Umrisse, die von seinem Körper wahrzunehmen waren, belegten dies weiterhin. Korpulent war eine maßlose Untertreibung… während anderorts Kinder verhungerten, mästete er sich selbst mit erlesenen Speisen und fremdländischen Lebensmitteln. Dieser Mann widerte mich an. Ich mochte die Allgemeinheit meiden, ihre Moral und Ansichten ablehnen, und zuweilen verachtete ich sie auch für ihre Taten, doch ich hasste sie nicht, das hatte ich niemals, und ich schätzte nicht einen einzigen von ihnen so gering, dass ich ihm den Tod wünschte. „Eine gestirnlose Nacht wäre zu bevorzugen gewesen, das Licht des vollen Mondes bestärkt die Mächte der schwarzen Wesen – der Zeitpunkt erscheint ungünstig gewählt. Warten jedoch hätte fatale Folgen, der Exorzismus muss baldigst erfolgen. Miko-sama, Eure Dienste werden eine angemessene Abfindung bedingen, der natürlich Folge geleistet werden wird. Was immer Euer Begehr ist, es wird Euer sein – Macht und Einfluss, Reichtum, Freiheit. Ganz gleich, die Entscheidung ist die Eure, denn jeder Mensch hat schließlich eigene Träume und Wünsche, nach deren Erfüllung er sich sehnt.“ Freiheit…? Ich schluckte meinen aufkommenden Unmut, und gleichermaßen den abfälligen Laut, der sich meiner Kehle zu entringen versuchte, presste die Lippen aufeinander. Er versprach etwas, das er nicht halten können würde – was für ein Heuchler… Meine Aufmerksamkeit schweifte mit einem Mal ab… die Präsenz eines Dämons. Ein gewaltiges Heulen schallte durch die Ruhe der Nacht, zerriss diese wie ein dünnes Blatt Pergamentpapier. Es war die Stimme eines Hundes. Inu No Taishou… Innerlich schüttelte ich den Kopf, nein, der Tennô ging definitiv zu weit, niemals würde ich ein hinterhältiges Anliegen wie dieses unterstützen, gleichgültig, was er mir als Belohnung offerierte. Nicht für Geld, nicht für Macht… um nichts auf dieser Welt würde ich jemanden töten, nicht einmal einen Dämon! Meine Hände krampften sich zu Fäusten. Was dachte er nur von mir…? ּ›~ • ~‹ּ Anspannung prägte die starre Atmosphäre, die dem Augenschein nach bloß Ruhe und Sachlichkeit vermittelte, und eine Distanz in der Gesamtsituation schuf, die unüberbrückbar zwischen den beiden Fraktionen klaffte. Wie ein Abgrund, eine unendliche Schlucht ohne Boden tat sie sich zwischen dem Tennô und den Dämonenfürsten auf, verhinderte geflissentlich, dass sie sich auf einer Ebene einander annäherten. Seitens des Tennô bestand nicht einmal die Absicht dessen, sein Verhalten war eher defensiv, und keines seiner Worte blieb mir dauerhaft im Gedächtnis. Im Nachhinein konnte ich mich im Grunde an nichts erinnern, was an jenem Morgen besprochen wurde… Doch eines wusste ich nur zu genau; er belog sie, und sie bemerkten es nicht einmal. Der Grund dafür behielt sich simpel. Ein aufdringliches, süßes Aroma, das die Sinne abtrünnig werden ließ, hing schwer im Raum, rief in mir Schwindel und Übelkeit hervor. Die Wirkung des mir unbekannten Geruchs wurde noch dadurch verstärkt, dass man alle Ausgänge und Türen geschlossen hatte, und es für die Luft keine Möglichkeit gab, sich zu bewegen. Trotz der hohen, mit Schnitzereien dekorierten Holzbalkendecken und der ungemeinen Weitläufigkeit des Saals war es stickig, kaum auszuhalten, die Intensität dieses Duftes setzte nicht nur mir zu. Die drei Dämonen bewiesen erstaunliche Disziplin, einem wachen Beobachter jedoch entging ihre Unbehaglichkeit nicht. Mir selbst war nicht anders zumute… ich fühlte mich matt und elend, meine Erschöpfung, die wohl aus dem Mangel an Schlaf resultierte, der durch die letzte Nacht entstanden war, ergänzte sich verhängnisvoller Weise nur zu gut mit den widrigen Umständen. Zumindest verfiel die Möglichkeit, dass ich einen entsprechenden Anblick bot. Die schiere Menge an Farbe, die die Haut meines Gesichts bedeckte, machte meinen Ausdruck selbst für mich unleserlich. Für meine Verhältnisse hatten es die beiden Dienerinnen, die man mir zugeteilt hatte, etwas übertrieben. Auch der purpurne Kimono mit dem weißen Lotusblütenmuster, den man mir bereitgestellt hatte, entsprach nicht unbedingt meinen Geschmack. Ich räumte ein, dass er wunderschön war, doch an mir verlor er seinen Reiz – um den praktischen Aspekt, der mein größtes Problem war, einmal zu vernachlässigen. Kimonos waren schlichtweg umständlich und für mich ungeeignet… zuweilen lohnte es sich absolut nicht, eine Frau zu sein. Mein Blick schweifte zu Inu No Taishou, Súnnanvindur… und zu Flúgar. Im Gegensatz zu den Luftdrachen, die sich dem Anlass gemäß gekleidet hatten, präsentierte sich der Hundedämon fortwährend in seiner weißen Tracht und Rüstung, selbst sein Schwert trug er noch über dem Rücken – anscheinend gehörte Höflichkeit nicht zu den Tugenden, denen er einen übermäßigen Stellenwert beimaß. Sogar Flúgar nahm sich zusammen… was für ein Geselle war dieser Youkai bloß? Ich seufzte innerlich, senkte leicht den Kopf. Warum musste ich dem hier eigentlich beiwohnen? Etwas zu sagen hatte ich ohnehin nicht, und mein Beisein war logisch betrachtet vollkommen überflüssig. Meine Meinung zählte nicht, und somit war mir etwas anderes als schweigen und zuhören nicht erlaubt. Ich fügte mich, obschon es mir widerstrebte… schließlich war ich nicht die einzige in dieser Lage. Flúgar teilte mein Leid, denn auch er verblieb ohne das Recht seine Stimme zu erheben. Er saß neben seinem Vater, blickte abwesend auf die bemalten Wandschirme, neben denen es nichts weiter gab, was das karge Zimmer schmückte; es machte einen trostlosen, verlassenen Eindruck, formlos und unpersönlich. Solche Belanglosigkeiten wie die Lokalitäten interessierten mich allerdings weniger… Ich musste mit Flúgar sprechen, und zwar dringend. Nicht um meiner Überlegungen willen, nein, im Moment war es wichtiger, ihn über die Machenschaften des Tennô zu informieren. Mit Sicherheit war es am einfachsten, ihn einzuweihen, damit er es anschließend seinem Vater und Inu No Taishou erzählte. Eine Kontaktaufnahme zu einem der Fürsten wäre zu auffällig, und ein Misslingen, wenn ich es dennoch versuchte, war durchaus wahrscheinlicher als Erfolg… Das nachfolgende Bankett gestaltete sich gleichermaßen. Kaum jemand wechselte mit seinem Gegenüber ein Wort, die Stille wurde allmählich unerträglich. Die stumme Spannung zwischen den Anwesenden war weiterhin präsent, und schürte unbeirrt meine Nervosität. Ich hatte ein miserables Gefühl bei dieser Sache, meine Intuition warnte mich… Meine Aufmerksamkeit jedoch wandte sich alsbald dem Auftragen der Speisen zu, die an Fülle und Vielfalt alles übertrafen, was ich bisher gesehen hatte, und die Auswahl war so beträchtlich, dass ich rasch den Überblick verlor. Mein Appetit hielt sich ebenso in Grenzen, ich war zu erschöpft, um viel essen zu können, oder es nur zu genießen. Unauffällig schaute ich zu Flúgar, der gerade eifrig das Fleisch in seiner Schale aus Gemüse und Reis sortierte, studierte einen Augenblick lang seine Gestalt – die Haltung, das Gesicht. Im direkten Vergleich zu seinem Vater, Súnnanvindur, erschienen seine Züge unheimlich jung, beinahe kindlich. Sie sahen sich ähnlich, ihre Mimik glich sich ab und an, doch Flúgar fehlte die Milde und Wärme, die bei dem Älteren sofort offenbar wurde. Wie viele Jahrhunderte mochte sein Vater bis zu diesem Tag überdauert haben, wenn es bei ihm bereits über zwanzig waren? Mein Blick kreuzte zufällig den des frontal zu mir sitzenden Mannes – es war der, dem ich kurz nach meiner Ankunft in der Residenz mit Inu No Taishou begegnet war, und mittlerweile wusste ich auch, um wen es sich bei dieser Person handelte. Nire, eine der Zofen, hatte mir die Auskunft gegeben, dass er ein bekannter Schwertkämpfer aus ärmlichen Verhältnissen war, der heimatlos durch das Reich zog und sich für die Rechte der Armen und Schwachen einsetzte, Gleichstellung und somit die Abschaffung des Adels forderte. ‚Akaihoshi’ nannten ihn seine Bewunderer und Anhänger. So, wie ich ihn erlebt hatte, war die Behauptung, er wäre ein ehrenvoller Krieger, der etwas zum Wohl anderer verändern wollte, nicht vorstellbar. Womöglich war dies ein Irrtum, und mein Urteil zu unüberlegt gefällt, doch seine engstirnige Einstellung Youkai gegenüber konnte ich nicht befürworten, und akzeptieren wollte ich sie nicht. Mein inneres Selbst begann sich gegen Verallgemeinerungen zu sträuben, auch im Falle der Menschen. Er musterte mich eindringlich, dessen wurde ich mir bald gewahr, aber nicht dieser Umstand allein war es, der mich alarmierte. Flúgars Miene in jenem Zusammenhang gefiel mir ganz und gar nicht, denn er hatte sehr wohl mitbekommen, was hier ohne Aussprache ablief, und das passte ihm augenscheinlich überhaupt nicht in den Sinn. Das konnte böse Konsequenzen nach sich ziehen… Schließlich neigte sich nun auch diese – mehr oder minder – erzwungene Zusammenkunft ihrem Ende entgegen, und ich packte meine Chance beim Schopfe. Die Abschlussrede, die der erste Berater des Tennô zum Ausklang vorbrachte, war, zu meinem ganz persönlichen Glück, knapp und bündig gefasst, sodass man sich bloß der Förmlichkeit halber voneinander verabschiedete und danach wieder seiner eigenen Wege ging. Die Gelegenheit war günstig. Dezent heftete ich mich an Flúgars Fersen, folgte ihm mit großzügigem Abstand. Ich musste Vorsicht walten lassen, denn sein Vater lief nur wenige Schritte voraus, unterhielt sich derweil mit dem Hundeyoukai an seiner Seite. Hoffentlich griffen sie, und insbesondere Flúgar, meine Verfolgungsaktion nicht als Belästigung oder etwas dergleichen auf, sonst hatte ich schlechte Karten… Hinter der nächsten Biegung verschwanden die drei Dämonen aus meinem Sichtfeld, und obgleich ich mich beeilte aufzuschließen, war die Mühe vergebens. Als ich um die Ecke trat, war niemand mehr da, ich war allein. Verdammt… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 37: >“In einer Welt, in der alles im Gegensatz zueinander zu stehen scheint, regieren Hass und Vorurteile, Angst und Gewalt den Verstand derer, die mit Argwohn um sich, mit Spott im Blick nach unten schauen. Dennoch gibt es Ausnahmen, Bindeglieder, die die vermeintlichen Widersprüche als das entlarven, was sie wirklich sind…“ *» Andstæða Kapitel 37: *~Andstæða~* ------------------------ "Denken und sein werden vom Widerspruch bestimmt." – Aristoteles Kapitel 37 – Andstæða -Widerspruch- *Wie stehen sich Licht und Schatten, Feuer und Wasser, Mensch und Dämon gegenüber? Ist es richtig, sie aus der Neigung des Allgemeinen heraus als Gegensätze zu bezeichnen, die einander aufheben, gar vernichten? Oder ist es nicht viel mehr so, dass sie gemeinsam ein neues Ganzes, etwas Vollkommenes schaffen, wie die zwei entgegen gesetzten Seiten ein und derselben Medaille? Und was ist, wenn man seinen eigenen Part verkennt, sodass eine Perfektion nie erreicht werden kann?* ּ›~ • ~‹ּ Ich sah mich um, und musste zu meinem Leidwesen feststellen, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wo ich mich befand. In welchem Teil der riesigen Anlage war ich hier nur? Und was viel bedeutender war, wie sollte ich zurückkommen? Fakt war, ich hatte mich verlaufen, daran war nicht zu rütteln, und selbst, wenn ich umkehrte, gab es keine Garantie dafür, dass die Richtung, die ich wählte, die richtige war. Es war aussichtslos, aber Nichtstun würde meine Lage nicht im Geringsten verbessern. Was blieb mir denn anderes übrig? An Ort und Stelle ausharren und auf Hilfe warten? Da es mir nicht danach verlangte mich zu blamieren, sicher nicht. Ich verspürte eher die Lust, mich selbst für meine Unbedachtheit zu verfluchen, doch ich hütete mich davor, das Wahren meiner Fassung zu einer Nebensächlichkeit zu degradieren, denn immerhin galt es noch den Rückweg zu bestreiten. Kopfschüttelnd durchquerte ich den schmalen Gang, schritt gemächlich auf einen kleinen Hof hinaus. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass weit und breit niemand zu entdecken war… die kläglichen Versuche, meine Schrittlänge insoweit zu verkürzen damit ich mich auf den Beinen halten konnte, machten zweifellos keinen sehr eleganten Eindruck. Dieser Kimono belastete meine Nerven gewaltig… Natürlich kam es, wie es kommen musste. Ich stolperte, vermutlich war ich wieder einmal auf den Saum des enervierenden Kleidungsstücks getreten, und fürchtete bereits, völlig haltlos nähere Bekanntschaft mit dem Granitpflaster zu schließen, als ich plötzlich einen Widerstand an meinem linken Ärmel spürte. Ein sanfter Windhauch umschmeichelte meinen Körper, als mich irgendetwas nach hinten zog und mich am Fallen hinderte. Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust, dass es mich beinahe schmerzte, und ein leichter Schauer kroch meine Wirbelsäule hinab, entfachte in mir ein kurzweiliges Wohlgefühl, das mich in seinem Nachdruck verwirrt erröten ließ. Ich war außerstande mich zu bewegen, paralysiert, vergaß für einige Momente das Atmen. „Was willst du?“ Bang unterdrückte ich einen Aufschrei, drehte mich zögerlich, das Beben meines Leibes erstickend, um. Nur bedächtig kehrte mein Geist in die Realität zurück und mein umnebelter Verstand klärte sich. „Flúgar…“ Ich erwachte aus meiner Betäubung, meine Laune wandelte sich sprunghaft und die Verärgerung ergriff mich. Meine Güte, der blöde Kerl hatte mich fast zu Tode erschreckt. Was dachte er sich dabei? Nichts, ich schüttelte den Kopf. Vielleicht erwartete ich zu viel… Das Grummeln, das auf einmal aus Flúgars Richtung drang, schwoll geradewegs zu einem kehligen Knurren an. Was passte ihm nun wieder nicht? „Warum lässt du dich von deinesgleichen derart reduzieren?“ Jählings wurde mir ganz anders, ein flaues Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Zweifel und Unsicherheit begannen sich meiner zu bemächtigen. Seine Worte, gleich einem direkt treffenden Faustschlag, holten mich auf den Boden der gegenwärtigen Tatsachen zurück. Ich mied seinen analysierenden, und zugleich kritischen Blick, fixierte die musterlosen, grauen Pflastersteine, mit denen der Hof ausgelegt war. Ich wusste, auf was er ansprach… Hatte er Recht…? Gestattete ich, schier willenlos, dass man mich hier erniedrigte? Aber… ich verstand ihn einfach nicht. Was meinte er genau? Mein Verhalten vor dem Tennô während der Besprechung mit seinem Vater und Inu No Taishou? Meine Wortlosigkeit währenddessen und dem Gastmahl danach? Oder bezog er sich auf etwas Anderes…? Unweigerlich berührte ich mit der rechten Hand mein Gesicht… war es das? „Du siehst aus wie eine Puppe.“ Starr, leblos und ohne Willen, ein täuschendes, hübsches Äußeres, das die Leere im Inneren kaschiert; eine leblose Gestalt, die bloß so agiert, wie der, der Gewalt über sie auszuüben vermag, es befiehlt… eine Puppe also… Seine Finger stahlen sich unter mein Kinn, er nötigte mich zum Aufschauen, fing meinen unsicheren Blick mit dem seinen ab. Das Unwohlsein überkam mich, ich zitterte, erlag der in mir aufkeimenden Nervosität. Der sonderbare Ausdruck in seinen Augen verriet nicht dasselbe wie seine finsteren Gesichtszüge… was bedeutete das? Wollte er damit etwas Bestimmtes bezwecken? Oder spielte mir meine Wahrnehmung aufgrund meiner Übermüdung einen Streich? „Ich benehme mich, wie es sich zu Hofe gehört. Zudem bist du in dieser Hinsicht nicht wesentlich anders.“ Der Loftsdreki schnaubte unwirsch, packte mich grob an den Schultern. Damit stand er direkt vor mir, füllte mein gesamtes Sichtfeld aus, und trotz seiner aufgezwungenen Nähe, seiner herrischen Art, wich ich nicht vor ihm zurück, verwarf jeden aufkeimenden Gedanken an Flucht oder irgendeine Art von Ausbrechen. Einerseits konnte ich nicht von mir behaupten, dass ich mochte oder dem beipflichtete, was er gerade tat, doch andererseits… wozu sollte ich das unterbinden, ihm entgegenarbeiten? Mit dem blütenweißen Ärmel seines Haori fuhr er mir über die rechte Wange, rieb mir mit umsichtigem Druck die Schminke von der Haut. „Als ob das an dir Gebrauch finden würde.“ Ich war baff, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es gelang mir nicht, auch nur einen richtigen Laut zu formen und verständlich zu äußern. Sollte das heißen, dass ich ihm ohne diese Maske aus falscher Schönheit besser gefiel…? Mir wurde heiß und kalt zugleich, als seine Finger zärtlich meine Wange kosten; an und für sich war das ja nicht seine Art… was sollte das werden? Wollte er etwa…? „Mononoke! Nimm sofort deine dreckigen Pranken von ihr, oder du wirst es bereuen!“ Es war wie das abrupte Hochschrecken aus einem fürchterlichen Alptraum, eine bitterkalte Windböe im Sommer, ein infernalischer Schrei, der die Totenstille brutal zerfetzte… Flúgar zuckte sichtlich zusammen, ich ebenso, doch während ich mich kein Stückchen rühren konnte, reagierte er sofort. Er schob mich beiseite, baute sich kampfbereit, sämtliche Muskeln zum Zerreißen angespannt und mit der rechten Hand bereits an Skýdis Tsuka, vor mir auf. Akaihoshi… Flúgars Antwort auf seine harsche Unterbrechung war eine lautstarke Drohung, ein tiefes Grollen, das wie entfernter Donner klang, und von einer Aggressivität geprägt, die weder menschlichen noch tierischen Ursprungs war. Die dämonische Seite des Loftsdreki flößte mir Angst ein, unwillkürlich stellten sich die Härchen in meinem Nacken auf. Akaihoshi riskierte leichtfertig ein Spiel mit dem Feuer, und wenn er den Drachen herausforderte, würde er dessen Macht und die Antipathie ihm gegenüber am eigenen Leib zu spüren bekommen, und das waren gewiss keine rosigen Aussichten für ihn. Ob ihm bewusste war, was er gerade im begriff war zu tun? Provozierte er ihn absichtlich oder war er lebensmüde? Letzteres konnte ich ausschließen; sein selbstsicheres Auftreten, seine Körpersprache und die Festigkeit seiner Stimme widerlegten meine These. Er kalkulierte Flúgars Unberechenbarkeit mit ein. Ich hatte ihn unterschätzt, und die Vorstellung einer Eskalation erschien mir mit einem Mal unvermeidbar. Gegen Flúgar würde er nicht bestehen können, gleichgültig, wie gut er als Kämpfer auch sein mochte, denn schließlich war er ein Mensch... Unversehens frischte der Wind auf und es wurde schlagartig kälter, ich fröstelte, rieb mir die Oberarme. War das… Flúgars Youki? Es begann zu nieseln, am Himmel türmten sich in nicht allzu weiter Ferne graue Wolkenmassen zu wallenden Bergen auf, die das Licht der Sonne und den Horizont gierig verschlangen. Dieser viel zu rasche Wetterumschwung war nicht auf eine natürliche Ursache zu berufen… war der Luftdrache in der Lage, durch seine Kontrolle über die Luft auch das Wetter zu beeinflussen? Aber natürlich, wenn der Wind seine Richtung änderte… „Warum verbündet Ihr euch mit dem Feind, Miko-sama?“ Feind…? Ich bedachte Flúgar mit einem kurzen Seitenblick, ehe ich mich dem Schwertkämpfer zuwandte, seinen unversöhnlichen, hasserfüllten Blick auffing und verständnislos erwiderte. „Nur weil ein Dämon ein Dämon ist, muss er nicht zwangsläufig ein Kontrahent sein – genauso wenig könnt Ihr behaupten, jeder Mensch sei Euer Freund, nur weil er ein Mensch ist. Ihr macht es Euch mit diesem törichten Glauben einfach, denn wäre es tatsächlich so, gäbe es weitaus weniger Konflikte in dieser Welt.“ Sein Ausdruck verhärtete sich auffallend, Unbarmherzigkeit zeichnete sich auf den schlichten Linien ab. „Kann man Euch so leicht täuschen, Miko-sama? Erliegt ihr bereits dem Bann dieser verabscheuungswürdigen Kreatur? Mir scheint, Eure Fähigkeiten als Priesterin werden überbewertet. Doch fürchtet Euch nicht, Miko-sama, ich werde meinen Pflichten nachkommen, und Euch von diesem Fluch erlösen.“ Allmählich wurde es mir zuviel, seine Intoleranz und Sturheit zerrten an meinen Nerven. Was wollte er mit seinem unqualifizierten Gerede erreichen? „Ihr irrt Euch gehörig, wenn Ihr das denkt. Ich handle aus meinem freien Willen heraus, und nicht, weil ich unter irgendwessen Einfluss stehe.“ Nein, ich war keine Puppe, keine Marionette, die man nach Belieben an ihren Fäden ausrichten konnte. Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Ich verstehe Euch nicht, Miko-sama. Wie kann eine reine Jungfrau wie Ihr die Seite einer verdorbenen Bestie wählen? Zwischen Mensch und Dämon besteht keinerlei Bindung, es sind nicht einmal mehr Unterschiede, die dort vorherrschen, sondern Widersprüche, die sich gegenseitig vollkommen ausschließen.“ Ich schloss die Augen. Was für ein verblendeter, unlogischer Mensch er war, ohne Einsicht, ohne die geringste Andeutung von Verständnis. Er sah die Angelegenheiten nur von einer, und zwar der Sichtweise aus, die ihm behagte… „Euer Standpunkt ist nicht annähernd neutral, und Ihr nehmt Euch trotz dessen heraus, Flúgar zu verurteilen, weil er ein Dämon ist? Ihr redet von Dingen, die sich offensichtlich über Eurem Fassungsvermögen bewegen. Gegensätze heben sich nicht auf, sie ergänzen sich und bilden zusammen eine Einheit – ohne einander können sie nicht existieren. Was wäre der Tag ohne die Nacht, oder umgekehrt? Was wäre Schwarz ohne Weiß? Und dennoch gehören sie zusammen, formen ein Ganzes…“ Akaihoshi hörte nicht zu. Seine grünen Augen blitzten unheilvoll auf, ehe er seinen Stand stabilisierend verbreiterte und sein Schwert zog. Eine klare Provokation, eine Kampfansage, die ihre Wirkung nicht verfehlte, denn Flúgars Reaktion erfolgte unverzüglich. Binnen weniger Augenblicke, die knapp einem einzelnen Atemzug entsprachen, hatten sich Flúgar und Akaihoshi in den Eifer des Gefechts, förmlich aufeinander gestürzt, sich in einen heftigen Kampf verstrickt, der mit unglaublicher Geschwindigkeit und Energie von Statten ging, dass ich ihn mit den Augen nur bruchstückhaft verfolgen konnte. Aber das, was ich beobachten konnte, erinnerte mich weniger an eine faire Kontroverse als eher an eine Auseinandersetzung zwischen zwei fremden Hunderüden, die sich um Reviergrenzen stritten. Die beiden jedoch waren nicht darauf aus, den Gegner zu vertreiben oder in die Aufgabe zu zwingen, nein, das Ziel war einzig und allein der Tod des jeweils anderen, und Gnade kannte dabei keiner von ihnen. Die Entscheidung des Duells würde das Urteil über Leben und Sterben fällen… Das Geräusch schwingenden Stahls schallte über den Hof. Mein Wissen über die Kunst des Schwertkampfes war begrenzt, jedoch zur Beurteilung dessen, was sich in diesen Momenten geradewegs vor mir ereignete, reichte es vollkommen aus. Und eben das beunruhigte mich. Auf rein technischer Ebene war Flúgar Akaihoshi nicht gewachsen, nur selten gelang es ihm, die Verteidigung seines Gegenspielers zu brechen, während dieser den Loftsdreki mit schier müheloser Leichtigkeit zusehends weiter zurück, dem Aus entgegen, drängte. Die physische Überlegenheit des Drachen verschaffte ihm selbst keinen Vorteil, und oftmals musste er den präzisen Schlägen ausweichen – zu viele der flink und exzellent ausgeführten Hiebe vermochte er bereits nicht mehr zu parieren. Mahnende Worte, um an ihre - offenbar nicht vorhandene - Vernunft zu appellieren, waren hierbei ebenso unangebracht und fehl am Platz wie ein beherzteres Einschreiten mit roher Gewalt, das mir Flúgar mit einem unsanften Stoß aus der potenziellen Gefahrenzone quittierte. Kurzum, für mich war es unmöglich, die beiden auseinander zu bringen. Was hatte ich mir auch dabei gedacht? Schlimmer als ein sturer Esel waren zwei von der Sorte… Durch meinen momentanen Ärger abgelenkt, schrak ich fürchterlich zusammen, als sich der Wechsel in Akaihoshis Fokus von Flúgar auf mich verlagerte, und er wie aus dem Nichts heraus, ohne ersichtliche Begründung, nun mit erhobener Klinge auf sein neues Ziel, auf mich, zustürmte. Ich war starr und unbeweglich vor Schreck, der Lauf der Zeit schien sich vor meinen Augen zu verlangsamen, bloß noch zähflüssig zu rinnen, als ich tatenlos dabei zusah, wie der Schwertkämpfer beständig näher kam, bedrohlich und unaufhaltsam, seine Waffe in einem tödlichen Angriffswinkel geneigt und auf mich gerichtet. Was sollte das? Hatte er wirklich vor, mich zu töten? Die blanke Panik strömte durch meinen gesamten Körper, jeder noch so kleine Muskel verweigerte sich meiner Befehle, schnürte mir die Kehle zu und presste mir mit aller Macht die Brust zusammen, sodass ich kaum noch atmen konnte. War es womöglich doch besser, mit allem abzuschließen und es einfach geschehen zu lassen, als sich erfolglos dagegen aufzulehnen? Meine Wahrnehmung verschwamm und in meinem Kopf herrschte eine gespenstische Leere; ich war an einem Endpunkt angelangt, von dem aus es keinen Rückweg mehr gab. Dem stetigen Kämpfen überdrüssig, beugte mich jener Übermacht, die sich vor mir unüberwindbar auftat. Doch es kam anders, als ich gedacht hatte. Ein heller Schemen fuhr wie ein Blitz durch meine schwindenden Sinne, rüttelte mich prompt aus meiner Apathie, meiner Todesstarre, die mir höchstwahrscheinlich zum Verhängnis geworden wäre, wenn er nur wenige Augenblicke später gehandelt hätte. Mit einem weiten Satz hatte sich Flúgar vor mich gebracht, gerade noch rechtzeitig, um Akaihoshi daran zu hindern, mir in irgendeiner Weise Schaden zuzufügen, mich in ihre Auseinandersetzung mit einzubeziehen. Der Loftsdreki blockte mit sichtlicher Mühe, während sich ein triumphales Lächeln auf die Lippen seines Kontrahenten schlich. In diesem Duell gebührte ihm der Sieg - dem Drachen mochte es geglückt sein, den Hieb zu kontern, doch seine Abwehrhaltung war schwach, und diese Lücke nutzte der Schwarzhaarige gnadenlos aus. Er stieß zu, problemlos bohrte sich das Schwert durch Stoff, Haut und Gewebe, bis schwarzrotes Blut sich seinen Weg über die Klinge bahnte. Trotz dessen regte sich Flúgar nicht, kein Laut löste sich von seinen Lippen. Meine Augen weiteten sich bei jenem Anblick, und bevor ich mir die Hand über den Mund halten konnte, keuchte ich entsetzt auf. Somit jedoch besiegelte sich die Niederlage des einen, der Sieg des anderen, eindeutig, wem das eine und wem das andere gebührte. Akaihoshi lachte auf. „Eine erbärmliche Kreatur wie du ist mir bis jetzt nur selten untergekommen. Du beschützt eine menschliche Frau? Aus welchem Grund? Ist sie dir mehr wert als ein Triumph? Nein, ein Dämon würde so etwas niemals für einen Menschen tun, es ist wohl eher der Fall, dass du auf dein vermeintliches Eigentum Acht gibst. Bist du für die Weibchen deiner Sorte nicht gut genug? Sicher, warum sonst würdest du dich mit einer Menschenfrau begnügen? Obwohl sie für deine niederen Triebhaftigkeiten freilich ausreicht…“ Die spöttische Rede des Gewinners wurde jählings unterbrochen und beendet, als Flúgar ihm den Ellbogen seines Schwertarms ins Gesicht rammte - ungeachtete dem Faktum, dass er sich so die gegnerische Klinge noch tiefer ins eigene Fleisch trieb - und das mit solch einer Wucht verbunden, dass es den Menschen von den Beinen riss und er erst in einigen Metern Entfernung wieder auf dem harten Untergrund aufschlug. Er wandelte auf schmalem Grat, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren, seine Wut kühlte die Luft rings umher spürbar ab. Scheppernd traf das mit Blut benetzte Schwert auf die Pflastersteine, achtlos zur Seite geworfen, als der verwundete Luftdrache sich in Bewegung setzte, langsam auf den noch immer am Boden liegenden Schwertkämpfer zuschritt. Ohne darüber nachzudenken, eilte ich ihm nach, packte ihn am Arm. Hier würde kein Blut mehr vergossen werden, nicht einmal das eines Idioten wie ihm. „Flúgar, bitte.“ Das rötliche Glühen in seinen Augen erlosch, und er ließ Skýdis sinken, bis ihre Spitze gen Erde zeigte, als er inne hielt. Seine Atemzüge waren regelmäßig, aber kurz, teilweise stockend. Nachdem sein Katana wieder sicher verwahrt an seiner Hüfte ruhte, wanderte seine rechte Hand prüfend an seine linke Flanke. „Hast du große Schmerzen?“ Er dämpfte das Grummeln, das sich unwillentlich seiner Kehle entrang, als er die Wunde vorsichtig mit den Fingern inspizierte. „Ich werd' nicht dran krepieren.“ Seine Stimme klang gepresst, schwankte in der Tonlage. Die Antwort auf meine Frage ergab sich daraus, ich erkannte die unterschwellige Botschaft, obschon seine Feststellung in dieser Hinsicht unbrauchbar war. Ich hätte es mir ohnehin sparen können; als ob Flúgar zugeben würde, dass er sich nicht besonders gut fühlte. „Komm, lass uns gehen.“ Die Wunde war wesentlich tiefer und blutete stärker, als er vermutet hatte. Dieser verdammte Bastard von einem Menschen… Jede Bewegung sandte eine Welle unsagbarer Pein durch seine Nervenbahnen, und es kostete ihn Einiges an Beherrschung, dies nicht lautstark kundzutun. Fluchen wäre ihm eine willkommene Alternative gewesen, doch er gebot sich selbst zu schweigen, biss anstatt dessen die Zähne fest zusammen. Augenscheinlich hatte der Schwertkämpfer eine gute Ahnung davon, wo und wie er einen Treffer setzen musste, um den größtmöglichen Effekt zu erzielen, der schließlich dazu beitrug, seinen Gegner systematisch mit Geduld ins Matt zu zwingen. Eine clevere Taktik… Flúgar spürte, wie ihn der Schwindel ergriff, bunte Flecken begannen vor seinen Augen zu tanzen, die Formen der Umgebung flossen förmlich ineinander; konkrete Anzeichen, die ihn näher über seinen Zustand informierten. Die Verletzung würde ihn nicht umbringen, harmlos war sie aber ebenfalls nicht. Obwohl Midoriko ihn, insoweit es ihre Statur erlaubte, stützte, schleppte er sich mehr voran als dass er ging. Allmählich fürchtete er um sein Bewusstsein, und sollte er zusammenbrechen, würde er in massive Schwierigkeiten geraten. Und sie sicher auch, seinetwegen… Es nahm eine ziemliche Weile, die nicht nur Flúgar ewig erschien, in Anspruch, bis die beiden endlich das Zimmer erreichten, das man der Priesterin bei ihrer Ankunft zugeteilt hatte. Es war kein leichtes Unterfangen gewesen, den angeschlagenen Luftdrachen umzustimmen und davon zu überzeugen, dass es vorteilhafter war, ihn vorab dorthin zu bringen. Die Strecke war kürzer, sie würde sich in Ruhe um seine Verletzung kümmern können, und es war weitaus weniger auffällig, als zu versuchen, sich mit ihm heimlich durch die Räume der Dämonenfürsten zu schleichen, wo auch er irgendwo sein Lager haben musste – doch gegen logische Argumentation war Flúgar augenscheinlich resistent, denn anfangs hatte er sich ernsthaft gesträubt, diesen Vorschlag nur zu überdenken. Seine grenzenlose Sturheit war ein Hindernis, das nicht allzu reibungslos zu bewältigen war; seine eigensinnige Natur ließ nicht zu, dass man ihn zu etwas nötigte, und sein Gegenwille wurde strikter, eher verbissen, wenn man dies nicht beachtete. Ihr penetrantes Bitten hatte bessere Erfolge verzeichnet, daraufhin - nach langwieriger, ermüdender Überredungsarbeit - hatte er wortlos eingewilligt und sich ihr mehr oder minder gefügt. Zu ihrem Glück waren sie ungesehen über das weitläufige Gelände, durch das Gebäude und anschließend zu ihrem Quartier gelangt. Keiner von beiden wollte sich ausmalen, was sie ansonsten erwartet hätte… Als Midoriko den Shouji öffnete, empfing Kaneko sie umgehend mit einem freudigen Miauen und rieb sich an den Beinen ihrer Besitzerin. Deren vages Lächeln schmälerte sich bald wieder, das Gewicht auf ihrer Schulter mahnte sie, sich nicht ausführlicher Ablenkungen zu widmen und zu beeilen. „Warte kurz.“ Von der Last, die nur einem Bruchteil seiner baren Masse entsprach, befreit, fasste sie das zusammengelegte Bündel an der angrenzenden Querwand und breitete mit einigen geschickten Handgriffen ihren kaum gebrauchten Futon auf den Tatami aus. Flúgar hingegen lehnte sich Halt suchend an die Wand und schloss die Augen. Sein Gleichgewichtssinn war vollends durcheinander, ohne Unterstützung konnte er nicht einmal mehr aufrecht stehen, von laufen nicht zu reden – Entfernungen einzuschätzen war ihm unmöglich und sämtliche Objekte in seinem Sichtfeld drehten sich in abstruser Weise um sich selbst, wirbelten in Spiralen um ihn herum. Hierfür würde ihm jemand büßen, und das nicht zu knapp. Sollte er diesen jämmerlichen Sterblichen noch einmal erwischen, würde er ihn mindestens in Stücke reißen, so viel war sicher… Die schwarzhaarige Miko schaute auf, legte die Hand hinweisend auf die weiche Matratze neben ihr. „Setz dich.“ Er zögerte. Seine Instinkte rieten ihm dringend davon ab, ihren Worten Folge zu leisten; irgendetwas störte ihn gewaltig, ihre Stimmlage war anders als gewöhnlich und außerdem kannte er ihre Fähigkeiten und Methoden in der Beziehung Wundversorgung nur zu gut. Eigentlich war ihm im Moment nicht danach, sich freiwillig foltern zu lassen… Hatte er eine Wahl? Nein. Ihm blieb nichts anderes übrig, als dem nachzukommen. Stumm ergab er sich seinem Schicksal, kniete sich auf die angenehm nachgiebige Bettstatt, die schwarzhaarige Miko stetig im Augenwinkel behaltend. Ihr Blick wurde fordernd. „Ausziehen.“ ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 38: >“Ereignisse, die einen näher zusammenführen, gibt es allerlei - viele jedoch sind weniger erfreulich und stellen das Verhältnis zweier Individuen auf die Probe. Einer verfahrenen Situation dann noch etwas Gutes abzugewinnen, ist wahrlich eine Kunst, die kaum einer beherrscht…“ *» Kunsoku Kapitel 38: *~Kunsoku~* ----------------------- "Die Erinnerung an alte Liebe erwacht gar schnell, wenn man sich in der Nähe des Wesens befindet, das sie einst in uns entzündete, die Begierden werden unwiderstehlich, wenn die Illusion nicht durch die Abwesenheit aller Reize gestört wird." – Giacomo Girolamo Casanova Kapitel 38 – Kunsoku -Nähe- *In welcher Relation stehen körperliche und seelische Nähe zueinander? Ist es auf Dauer möglich, ohne die eine weiterhin in Einklang mit sich und seinem Umfeld zu leben? Oder schadet es uns jener vermeintliche Mangelzustand? Stellen die beiden viel mehr eine Einheit dar, die in einem ausgewogenen Verhältnis existieren muss, um das Individuen im Gleichgewicht zu halten? Sind Zuneigung und Berührungen gleichwertig essentiell für uns, obwohl das eine nichts mit dem anderen gemein haben muss?* ּ›~ • ~‹ּ Bitte? Flúgars entgleiste Gesichtszüge verrieten anschaulich, welche Gedanken ihm wohl gerade durch den Sinn geisterten, dazu, dass er ihre Aufforderung nicht als einen ernstzunehmenden Befehl einstufte. Skepsis prägte seine Miene, Unverständnis und Ablehnung. So dominant und rigoros hatte er sie nicht in Erinnerung. Woher rührte dieses unverschämte Verhalten? Als ob sie in der Position wäre, ihm Kommandos zu erteilen. Was bildete sich dieses närrische Menschenweib ein? Und wen meinte sie, vor sich zu haben? Niemals. Das konnte sie getrost in den Wind schreiben. Er verschränkte die Arme vor der Brust, sein Ausdruck wurde kühl. „Vergiss es.“ Unverwandt blickte sie ihn an. „Tu es, oder ich helfe nach.“ Sollte das eine Drohung sein? Damit beeindruckte sie ihn nicht, sie hatte weder die Macht noch die Mittel, ihre warnende Ansage zu bewahrheiten. Muskelkraft war da ebenso aussichtslos wie permanentes Gerede, gefährlich werden konnte sie ihm ohnehin nicht ernstlich. Lächerlich. Flúgar fixierte sie, den Hauch eines überlegenen Lächelns auf den Lippen. Gegen ihn kam sie so gewiss nicht an. Dem entgegen faltete die junge Frau lediglich die Hände in ihrem Schoß, nickte ihm zu. Seelenruhig begegnete sie seiner unangemessenen Selbstsicherheit, begutachtete aus der Ferne seinen blutgetränkten Haori. Eine bedenklichere Verwundung, als sie angenommen hatte… „Los jetzt.“ Je länger sie noch warteten, desto höher wurde die Wahrscheinlichkeit einer Infektion; warum weigerte er sich nur so hartnäckig gegen sie? Es würde sich an ihm rächen, baldigst, und das schmerzhaft. Idiot… Dachte er denn grundsätzlich über gar nichts nach? Wozu diesen Dickschädel, wenn er sowieso keine Verwendung für seinen beschränkten Verstand darin hatte? Ihre Geduld war endgültig erschöpft, er wollte es ja nicht anders. „Selbst Schuld…“ Beinahe wäre Flúgar wohlig in sich hinein seufzend der Erlösung verfallen, hätte die süße Wonne der Entspannung, die sowohl seinen Körper als auch seinen Geist wohlwollend einlullte, willkommen geheißen und ausgekostet, die Priesterin jedoch hatte mit ihrem Murmeln keine Resignation kundgetan. Im Gegenteil, jetzt wurde die Situation erst richtig brisant, denn diese Unaufmerksamkeit schuf ihr die passende Gelegenheit. Ohne Rücksicht auf Verluste stürzte sie sich im nächsten Augenblick, bevor er auch nur einen Protest dagegen in Erwägung ziehen konnte, buchstäblich auf ihn, wobei der Schwung ihres gewagten Sprungs den Dämon vollends unvorbereitet traf und ihn rittlings umriss. Zu perplex um etwas gegen diese Attacke aus dem Nichts zu unternehmen, lag er zunächst still, unfähig, mehr zu tun, als Midoriko, die nun weitestgehend auf ihm saß und entschlossen an seinem Haori zerrte, verwirrt anzustarren – was zur Hölle sollte das werden? Im Allgemeinen hatte er nichts gegen eine direkte und offene Art im Umgang, Kabbeleien und Dominanzkämpfchen war er ebenso wenig abgeneigt, aber das …? Irgendetwas stimmte mit dieser Menschenfrau einfach nicht. Ansonsten hemmte sie ihr Hang zur Schüchternheit und Zurückhaltung, bewahrte ihr Umfeld vor spontanen Anwandlungen wie dieser - das jedoch war jetzt in Ordnung und nicht wider ihre natürliche Einstellung, oder wie hatte er sich das vorzustellen? Einerseits weckte jenes absonderliche Betragen seine Neugier, belebte ein reges Interesse an dem, was sich daraus entwickeln könnte, wenn er es herausforderte; andererseits entfachte seine Konfusion über ihre Beweggründe, ihr nächstes Vorhaben, eine Gefahr bergende Unsicherheit in ihm. Konsterniert und uneinig mit sich selbst, formte sich vernehmlich ein schwierig zu definierendes Knurren in seiner Kehle. In den Ohren der Schwarzhaarigen klang es weder überzeugend bösartig noch abweisend, eigentümlich, ja gar… spielerisch? Konnte es sein, dass er seine Lage gehörig missverstand? War er nervös? Oder verbarg er so sein Unwissen darüber, was hier im Gange war? Vielleicht auch nicht. Die Tiefe seiner Lautäußerung schwankte erheblich, denn dem Drachen schwante Unheil, und sein Beschluss, dass es keine akzeptable Strategie war, sie widerstandslos gewähren zu lassen, festigte sich. Demgemäß begann er sich unter ihr zu winden wie ein Fisch im Netz, umschloss ihre schmalen Handgelenke mit den Fingern, um dem Treiben ihrer Hände, die sich zielstrebig unter seine Kleidung schoben, Einhalt zu gebieten. Soweit würde es noch kommen, dass sie, ohne eine ausdrückliche Erlaubnis, über ihn herfiel. Selbst er beherrschte sich, trotzte seinem Begehren, dem Drang, den Spieß umzudrehen, sie unter sich in die Matratze zu drücken und… Um die aufdringliche Miko abzuschütteln, reichte diese seichte Gegenwehr jedenfalls nicht aus, und binnen kürzester Zeit artete die kleine Meinungsverschiedenheit der beiden in ein Gerangel aus, das brüsk in einen verlegenen Stillstand überwechselte, als es klopfte und daraufhin die Schiebetür aufgezogen wurde. Nire, eines der Zimmermädchen, gehörte nicht zu der Sorte von Bediensteten, die zum Lauschen tendierten oder absichtlich in zweideutige Geschehen hineinplatzten, um Gäste in Verlegenheit zu bringen. Unglücklicherweise war es dieses Mal unvermeidlich. Vor lauter Schreck wie zur Salzsäule erstarrt, verharrte die Dienerin im Türrahmen, das Tablett entglitt ihrem Griff und fiel klirrend zu Boden. Was in aller Götter Namen…?! Die hoch gepriesene Schreinjungfrau, in deren strahlender Reinheit jede andere Priesterin verblasste, und der Sohn eines mächtigen Dämonenfürsten, in einem Raum beisammen, einander viel näher und zugetaner, als sie es jemals gedurft hätten… „Entschuldigt bitte, Miko-sama, ich wollte nicht…“ Mit hochrotem Kopf verbeugte sie sich mehrmals, sammelte hastig die Scherben der zerbrochenen Schälchen und Becher auf, säuberte die vom verschütteten Tee nassen Holzbohlen. „Es ist nicht so, wie es aussieht!“ Sichtlich in Erklärungsnot wedelte die unglückliche Midoriko wild mit den Armen in der Luft, versucht, der Zofe zu vermitteln, warum und wie sich das alles ergeben hatte. Ja, sie räumte ein, dass die Szenerie etwas Anrüchiges an sich haben mochte, aber der zwangsweise daraus zu folgernde Schluss war der falsche. Sie wollte lediglich sicherstellen, dass seine Verletzung versorgt wurde, nichts weiter! Bei allem, was ihr heilig war! Flúgar hingegen konnte dem nicht beipflichten, verengte die Augen und schickte einen vorwurfsvollen Blick zu ihr nach oben. „Und ob es so ist, wie es aussieht.“ Die trockene Feststellung des Fürstensohns nährte die peinliche Berührtheit, die die Wangen der beiden Frauen rot färbte, sie verstummen und angestrengt auf einen imaginären Punkt an der Wand stieren ließ. Einzig ihm war nicht bewusst, was das dämliche Getue sollte. Menschenweiber… Eilends verschwand Nire wieder in Richtung Küche, beteuernd, dass sie nichts verraten würde und inständig hoffte, dass man ihr die unangebrachte Störung verzeihen könnte. Danach kehrte Ruhe ein, das Requiem des Schweigens füllte das Zimmer, begleitet vom monotonen Prasseln und Tröpfeln des anhaltenden Regens, dem leisen Rauschen des Windes, der wie eine wispernde Geisterstimme um die Ecken der Residenzgebäude säuselte. Betrübnis und Schwermut überschatteten Midorikos Gemüt, als sie sich wieder Flúgar zuwandte, der mittlerweile reglos unter ihr verweilte, mit geschlossenen Augen beschwerlich Atem schöpfte. Warum hatte er nicht auf das Ansinnen seines Körpers gehört? Ein kreuzdummer Fehler, der nun seinen Tribut forderte. Das Bedürfnis nach physischer Erholung wurde unerträglich, verdammte ihn zum bedingungslosen Stillhalten… Er litt, und sie bedauerte ihn aus vollem Herzen, doch wenigstens verhielt er sich jetzt einigermaßen kooperativ – unfreiwillig; um seinen Zustand zu verbessern und ihm zu helfen aber offenkundig notwendig. Bedacht streifte sie seine Kleidung beiseite. Diese Narbe in Form eines unregelmäßig gezackten Sternes… trug nicht sie die Schuld daran? Gedankenverloren strich sie über den Flecken heller schimmernden Gewebes, der unübersehbar seine linke Seite brandmarkte… Shiosai hatte ihn ausfindig machen können, weil sie bei ihm gewesen war. Sie war nicht mehr als eine Bürde für ihn, unnötiger Ballast, der zusätzlich auf seinen Schultern lastete und ihm das Leben erschwerte, ihm Schmerzen und Probleme bereitete; ihr gewissenlose Agieren hatte ihn mehr als einmal an den äußersten Rand der Klippe des Todes gestoßen. Verantwortungslos, ungerecht, egoistisch… waren das etwa die Eigenschaften eines guten Menschen? Nein, wahrlich nicht. Die Leute sagten ihr allerlei nach, rühmten das Sinnbild der Perfektion, das sie für sie figurierte, lobten ihre seelische Makellosigkeit als Jungfrau und Priesterin. Überdies war sie, ihres außergewöhnlichen Talentes der Läuterung wegen, im ganzen Reich wohlbekannt, auf die oberflächliche Anerkennung, den wertlosen Ruhm und die falsche Bewunderung jedoch, die sie dafür erntete, hätte sie liebend gern verzichtet. Die Dämonen, die sie aufgrund dessen so sehr fürchteten und hassten, bildeten die glanzlose, nahezu kongruente Opposition, eine düstere Fraktion, die nach ihrem Blut gierte. Neben Zweifeln und geistiger Verlorenheit bescherte ihr dieser Status hauptsächlich Einsamkeit, die chronisch an ihr nagte. Ihr Seelenwohl war niemandem ein Anliegen – war es nun soweit mit ihr gekommen, dass sie jene Gesinnung unterbewusst teilte und Gleichgültigkeit gegenüber anderen empfand…? Aber… Midoriko stockte, erschüttert über ihre eigene Vergesslichkeit. Wie hatte ihr das nur entfallen können? „Flúgar?“ Ihre Anfrage entlockte ihm lediglich ein desinteressiertes Murren; die präsente Konstellation der Begebenheiten verfehlte seinen Geschmack weitestgehend – Midorikos unmittelbare Nähe war erträglich, jedoch zunehmend lästig und allmählich verging ihm jegliche Lust daran. Warum konnte sie ihn nicht einfach in Frieden lassen? War das zu viel verlangt? Erschwerend fügte sich hinzu, dass er weder imstande war, sich begreiflich zu artikulieren noch sich einigermaßen zu bewegen. Wie sollte er ihr da verständlich machen, was ihm missfiel und was nicht? Obschon ihr aufgefallen sein müsste, dass ihm der Sinn nicht unbedingt nach ihren - sehr speziellen - Praktiken stand. „Es ist wichtig, dringlich, und es betrifft neben dir und mir noch andere Personen.“ Er spürte, wie sie sich leicht nach vorn, über ihn, beugte, die eine Hand auf seine Brust, die andere neben seinen Kopf stützend. „Würdest du mir bitte…“ Ihre Stimme versiegte. Flúgar blinzelte, warf ihr einen vagen, erwartungsvollen Blick zu. Ja, und was weiter? Sollte er sich den Rest selbst zusammen reimen, wie es ihm gerade passte oder wie? Oder hatte sie vergessen, was sie ihn fragen wollte? Der neuerliche Misslaut, der zwangsläufig in ihm aufstieg und zum Ausdruck seiner Verstimmung bestimmt war, blieb ihm sprichwörtlich im Halse stecken, als die Fingerspitzen der Miko seine Kehle berührten, der lange Ärmel ihres Kimonos seinen Hals streifte. Er hielt den Atem an, seine Muskeln verkrampften sich. Ob sie wusste, was für eine Botschaft sie ihm dadurch vermittelte? Für gewöhnlich war ihre Geste ein klares Zeichen für Überlegenheit, eine Demonstration dafür, dass sie von anerkannt höherem Rang war als er und frei über ihn verfügen durfte. Da er ihr offen die Kehle darbot, lag es in ihrem Ermessen, wie sie mit ihm verfuhr – er, als Niederrangiger, hatte kein Recht, sich zu wehren oder irgendetwas zu äußern. Jeder Umstimmungsversuch war ein Frevel, der mit Verbannung oder gar Tod bestraft wurde. An und für sich waren strenge Regelungen dem Drachen schon immer zuwider gewesen, und in diesem Fall ganze besonders. Dagegen zu rebellieren wagte er sich jedoch nicht – die Menschenfrau mochte keine Kenntnis von den ungeschriebenen Gesetzen der Loftsdrekar besitzen, nichtsdestotrotz milderte es die gegenwärtige Sachlage nicht. Sie hatte ein Maß an Gewalt über ihn, über sein Leben, dessen Tragweite er nicht auf die Probe stellen wollte. Verurteilt zum Gehorsam, schluckte er hart, und atmete er erst wieder auf, als die Priesterin ihre Hand ruckartig, als ob sie sich verbrannt hätte, zurückzog, registrierte, welche Auswirkungen ihre auf Besorgnis fundierte Berührung trug. Wie ein beinahe Ertrunkener nach Luft ringend, drehte Flúgar den Kopf zur Seite weg, fokussierte die Wand. „Entschuldige bitte, ich…“ Sie brach ab, sie musste nicht auch noch Salz in die Wunde streuen. Tatsache war, dass er unheimliches Glück gehabt haben musste; der Schnitt war nicht tief, ein oberflächlicher Kratzer, aber ein kleines Bisschen mehr und es hätte anders geendet… Midoriko senkte den Kopf, fuhr sich durch das schwarze Haar. Ein Themenwechsel war hier angebracht, ansonsten wuchs und gedieh die akute Gefahr, dass von Flúgar überhaupt nichts mehr Brauchbares kommen würde. Als übermäßig konstruktiv konnte man ihn nicht bezeichnen, und destruktiv brachte es auf den Punkt. Wenigstens blieb er darin konsequent. „Hör mir zu, Flúgar, ich kann nicht riskieren, es zweimal zu sagen.“ Obgleich er keine Zustimmung – oder etwas dem Gegensätzliches – verlauten ließ, vermeinte sie, seine Aufmerksamkeit zu fühlen. „Der Tennô gibt den Dämonen die Schuld an der derzeitigen Lage des Reiches, und um ihre Aktivitäten zurückzudrängen - unterbinden wird er es nicht können - plant er ein Attentat.“ Unmerklich horchte der Luftdrache auf. „Auf wen im Einzelnen ist mir nicht bekannt, der Verdacht auf Inu No Taishou und Súnnanvindur liegt nahe. Dich würde ich ebenfalls nicht ausschließen.“ Wie hatte sie das in Erfahrung gebracht? Und was hatte die Angelegenheit mit ihr zu tun? Sie schien seine Fragen erraten zu haben, denn als er beiläufig ihren Blick auffing, um sie zu einer Antwort zu animieren, setzte sie bereits dazu an, ihre Stimme auf ein für menschliche Ohren unvernehmbares Flüstern reduziert. „Er verlangt meine Beihilfe um jeden Preis – er hat mir eine Bestechung unterbreitet. Sobald er bemerkt, dass ich sein großzügiges Angebot ablehne, wird er mich anderweitig zu seinem Vorhaben zwingen, oder aber für Beistand von außerhalb sorgen und mich töten lassen…“ Angst, das war es, was er roch, sie bangte um ihr Leben – ein eigennütziges Motiv dahinter zu vermuten, war allerdings ein Trugschluss. Selbst unter Bedingungen wie diesen würde sie sich nicht trauen, zu lügen, allgemein nicht, gegenüber ihm noch weniger. Dazu hatte sie nun mal keinen Anlass. In seiner Mimik zeichnete sich keinerlei Regung ab, in seinem Inneren hingegen tobte ein Chaos unbändiger Wut, das ihm jeden vernünftigen Gedanken verwehrte. „So?“ Aus welchem Grund war ihnen das vor dem Tennô nicht ersichtlich geworden? Wie hatte er es geschafft, ihnen die Täuschung einer Lüge als Wahrheit glaubwürdig zu verkaufen? Für wen hielt sich dieser nichtswürdige Sterbliche? Mühselig unterdrückte er die heftig in ihm aufwallende Rage, die ihn kurzweilig zu übermannen drohte, krampfte die Finger in den Futon. Die Schwarzhaarige nickte gewichtig. „Mir ist das nur bekannt, weil der Tennô es mir offen darlegte. Er mag nicht den Anschein erwecken, doch seine spirituellen Fähigkeiten sind enorm. Er kann sein wahres Sein vollständig verbergen, seine Kräfte miteinbegriffen, und jemand, der dieses Vorwissen nicht besitzt, ist schlichtweg nicht in der Lage, sich dem gewahr zu werden.“ Vorsichtig blickte sie ihm ins Gesicht, strebte den Kontakt zu seinen farblosen Augen an, in denen sich im Augenblick nichts als eine ungestalte Leere spiegelte. „Ich möchte dich in diesem Zusammenhang um einen Gefallen bitten. Sprich mit Inu No Taishou und Súnnanvindur, kläre sie über die wahren Absichten des Tennô auf. Und – bitte – unternimm nichts auf eigene Faust.“ Kaum spürbar strichen ihre Fingerkuppen über die Wunde an seiner Flanke. „Ich möchte nicht, dass dir wegen mir noch einmal so etwas widerfährt.“ Stille. Flúgar schloss die Augen, und zum Erstaunen der jungen Miko gewährte er ihr tatsächlich freies Handeln während der ernsten Phase der Wundversorgung. Dass er sich derart… brav und fügsam gebärden konnte und würde, hatte sie nicht gedacht. Welch ein aparter, launischer Geselle… ּ›~ • ~‹ּ Wie und wann mir letztendlich das Bewusstsein entglitten und ich eingeschlafen war, konnte ich bei bestem Willen nicht mehr sagen, als ich jedoch aus meinem traumlosen Schlummer erwachte, fand ich mich alleine in meinem Zimmer wieder. Geraume Zeit lag ich noch unbeweglich auf dem Futon, betrachtete geistesabwesend das engmaschige Netz dunkler Linien, dass die Sonnenstrahlen, die durch das netzartige Geflecht des Fensters fielen, auf den Boden vor mir malten. Benommen und in Gedanken versunken setzte ich mich schließlich auf und rieb mir über die Augen, ordnete meine Haare. Ein angenehmes Gefühl der Erholung durchströmte meinen gesamten Körper und ebenso erfüllte mich mein wiederhergestellter Tatendrang mit Wohlbehagen und Zufriedenheit. Ich streckte mich ausgiebig, hieß die Lebensgeister, die ihre Rückkehr angekündigt hatten, mit einem freudigen Quieklaut willkommen, den ich mir partout nicht untersagen konnte. Ein kurzer Seitenblick aus dem halbgeöffneten Shouji genügte, um meinen aufkeimenden Verdacht zu bestätigen; ich musste eine ganze Weile geschlafen haben, denn die späte Nachmittagssonne tauchte das Meer in Richtung des Horizonts bereits in ein warmes Farbenspiel aus Gelb und Rot. Flúgar war fort. Sicher, damit war zu rechnen gewesen, dennoch… Mit einem Seufzen zog ich die Beine an, bettete mein Kinn auf die Knie. Und jetzt? Ich brauchte unbedingt eine Beschäftigung, eine Ablenkung, sofort, denn mir schien, als würde die Langeweile, und ein Anflug verdrießlicher Gedanken, schon in diesem Moment wie ein unsichtbarer Schatten hinter mir lauern, um jede Gelegenheit, die sich ihm bieten würde, zu nutzen und dann gnadenlos auf mich zu stürzen. Entsprechend ziellos schweifte mein Blick durch den schmucklosen Raum, verweilte einen Moment auf der Stelle an der Wand, der Flúgar vorhin den primären Vorzug - das zuvorkommende Angebot meines Futons ausschlagend - zugebilligt hatte und somit, mehr oder minder geschickt, meiner ärztlichen Obhut entkommen war. Offenbar schätzte er meine Dienste in dieser Hinsicht wenig oder eher gar nicht. Womöglich fehlte mir das nötige Talent für das Amt einer Heilerin; ob ungeeignet oder nicht, was kümmerte es mich? Undankbarer Idiot… Kaneko miaute zaghaft, vertrieb meine zusehends trüber werdenden Überlegungen und lenkte meinen Fokus auf etwas anderes um. Ich rutschte ein Stück näher an sie heran, legte erwägend den Kopf schief. Worauf saß der Katzendämon da? Gelber Stoff? Hm, seltsam… Irgendwie konnte ich mich nicht daran erinnern, etwas in dieser Farbe zuvor im Zimmer entdeckt zu haben. Oder hatte ich es einfach übersehen? Möglich, denn viel Zeit hatte ich hier noch nicht zugebracht. Von der Neugierde beflügelt, schob ich mich weiter zu dem fremden Objekt vor, hob Kaneko auf meinen Schoß und betrachtete das sorgfältig zusammengefaltete Etwas eingehend. Es war eindeutig als Kleidung zu identifizieren, ein Sommeryukata, um es präzise zu beschreiben, mit buntem Schmetterlingsmuster und hellgrünem Obi; was ich jedoch davon halten sollte, wusste ich nicht recht. Ja, eine ausgesprochen nette Geste war es allemal, doch wer innerhalb der Mauern dieser Residenz würde eine solche Idee hegen und verwirklichen, gerade mir ein wertvolles Besitztum aus reinster Seide wie dieses zu schenken? Und warum? Prüfend musterte ich den Yukata mehrmals von allen Seiten, aus jedem erdenklichen Winkel, erpicht, einen Hinweis auf den scheinbar anonymen Absender zu erkennen; vergeblich, wie ich feststellen musste. Ratlos zuckte ich die Achseln, tippte etwas unschlüssig gegen meine linke Wange. Die Wahl stand mir offen, entweder blieb ich wo ich war und zermarterte mir das Hirn über das Geschenk und den mir unbekannten Verantwortlichen dafür, oder aber ich nutzte die letzten hellen Stunden dieses Tages, um die Wärme des langsam endenden Sommers noch einmal auszukosten. Angesichts dieser beiden Möglichkeiten fiel mir die Entscheidung alles andere als schwer… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 39: >“Eine Beziehung voller Missverständnisse ist dazu verdammt, schwerwiegenden Auseinandersetzungen mit sich zu bringen und jeden der Beteiligten in seiner ganz eigenen Weise zu verletzen. Derweil erwacht andernorts der blutrünstige Geist einer Kreatur, die bloß noch ein Schatten ihrer selbst ist, aber nichtsdestotrotz keinen Grad ihrer Macht eingebüßt hat…“ *» Leyndarmál Kapitel 39: *~Leyndarmál~* -------------------------- "Das Geheimnis der Macht besteht darin, zu wissen, dass andere noch feiger sind als wir." – Ludwig Börne Kapitel 39 – Leyndarmál -Geheimnis- *Ist es nicht töricht, als Träger eines Geheimnisses an diesem festzuhalten, wenn man sich dadurch einem stets zunehmenden Druck aussetzt? Kann eine Information so viel wert sein, dass wir uns ihrer Bewahrung wegen selbst schaden, oder gar unser Leben gefährden? Doch wo liegt der Sinn und Zweck eines anvertrauten Geheimnisses, wenn man es nicht schweigend in sich ruhen lässt? Sind Geheimnisse nicht schließlich dafür bestimmt, nicht ans Tageslicht zu gelangen?* ּ›~ • ~‹ּ Abseits der großen Hauptgebäude und Gartenanlagen, fernab von den Quartierstätten der Menschen und Dämonen, saß Flúgar am Rande des Firsts eines kleinen Lagerhauses, teilnahmslos, den Blick stoisch abgewandt, in die Ferne gerichtet. In sich gekehrt, wie in Trance oder Abwesenheit des Geistes, verharrte er ohne jegliche Regung, die hellen Iriden blank wie frisch gefallener Schnee. Seine rechte Hand ruhte auf der mittlerweile verheilten Wunde an seiner Flanke, die linke umschloss sicheren Griffes Skýdis, die an seinem leicht angewinkelten Bein lehnte. Doch der Anschein, und jede damit verbundene Annahme, war irreleitend, falsch – besonders Menschen neigten dazu, sich in Fällen wie diesen von ihren Augen betrügen zu lassen, denn mit den Jahrhunderten ihrer Existenz hatte der Großteil von ihnen die Gabe des wahren Sehens eingebüßt. Flúgar dachte nicht nach. Sein Verstand war leer, befreit von allen Eindrücken, Erfahrungen und Erinnerungen, und das auf seltsam angenehme Art und Weise; seit langem hatte er das Gefühl, wieder richtig klar im Kopf und im harmonischen Einklang mit seiner Seele zu sein. Gewissermaßen fühlte er nichts, zumindest nichts Irdisches, nichts Menschliches, einfach nichts, das man erklären könnte… so, wie es hätte immer sein sollen, und wie er sich es immer herbeigesehnt hatte. Dieser Zustand der Einigkeit in sich selbst, der tiefsten inneren Ruhe… „Broðir…?“ Der Angesprochene gab einen dumpfen Laut von sich, legte den Kopf in den Nacken. Blævar störte, und die Ausgeglichenheit, die ihn erfasst hatte, wich allmählich ernster Verstimmung. Im Moment verlangte es ihm absolut nicht nach Gesellschaft, sondern nach dem Genuss der Einsamkeit, die sein Herz beruhigt und erfüllte. Der jüngere Loftsdreki räusperte sich leise. „Faðir wünscht dich zu sprechen, jetzt, auf der Stelle.“ Flúgars Miene verfinsterte sich augenblicklich; sämtliche Muskeln in seinem Körper spannten sich an, seine Züge wurden hart. Ein Gespräch mit Súnnanvindur war für ihn noch nie sonderlich gut verlaufen, es machte schlichtweg keinen Sinn zu debattieren, ohne zu einer Übereinstimmung, geschweige denn einer Einigung, zu kommen – weder für ihn noch seinen Vater. Zumeist eskalierte die Konversation ohnehin bereits in ihren Anfängen und fand ihr jähe Beendigung in einer überdeutlichen Machtdemonstration des ClanOberhauptes, die Flúgar regelmäßig einen sichtbaren physischen Beweis für seine rangniedrigere Stellung einbrachten. Sich dem zu entziehen war – ungelogen - unmöglich, zu seinem persönlichen Leidwesen, denn dumm war Súnnanvindur bei Weitem nicht und der Luftdrache hatte früh realisiert, dass genau diese Eigenschaft das Problem darstellte. Mit gewissem Unbehagen im Bauch, das von der unheilvollen Vorahnung rührte, heute wieder einmal eine gedenkwürdige Maßregelung zu erfahren, erhob er sich, den etwas hilflosen, mitleidigen Blick seines Bruders meidend. Sie beide waren sich dessen bewusst, was Flúgar erwartete – mit dem feinen Unterschied, dass dem Älteren der Grund für jenen erzwungenen Dialog bestens bekannt war. Er hätte die Gunst der Stunde nutzen sollen, um diesem überheblichen Bastard von einem Menschen die Gurgel umzudrehen oder ihn aufzuschlitzen, ihn zu verschont zu haben, zeigte nun offen seine Nachteile. Ob Akaihoshi alles erzählt hatte? Würde er sich selber verraten, damit man seinen Widersacher gebührend bestrafte? Immerhin war Midoriko dabei nicht von minderer Bedeutung, ihr Beisein und Wichtigkeit zu verschweigen, würde in eine unglaubwürdige Lüge münden. Die unverschämte Dreistigkeit, einem Dämonenfürsten die Wahrheit zu verwehren, besaßen wenige Sterbliche – und wer es wagte, erlebte keine zweite Gelegenheit dazu. Damit war jedoch leider nicht zu rechnen, so sehr diese Option Flúgar auch zusagte; ging es um schwächliche Menschen, war Súnnanvindur milde gestimmt und nachsichtig, mit Seinesgleichen verfuhr er dagegen beinahe erschreckend strikt, unbarmherzig. Noch ehe es dem Jungdrachen gelang, das zwiespältige Bildnis seines Vaters vor seinem geistigen Auge zu bannen, stand er vor dem Shouji des Aufenthaltsraumes, in dem sich zurzeit lediglich eine Person aufhielt. Um wen es sich dabei handelte, musste er sich wahrlich nicht fragen. Wie er das doch hasste… Flúgar unterdrückte einen abgrundtiefen Seufzer, als er eher zögerlich als bestimmt die Hand ausstreckte, lautlos die Schiebetür öffnete und gesenkten Hauptes das in Totenstille versunkene Zimmer betrat. Bunte Sitzkissen, Schalen mit Süßigkeiten, und Teegeschirr sowie ein kariertes Spielbrett erweckten einen gemütlichen und einladenden Anschein, doch die konträre Atmosphäre, die dort vorherrschte, erinnerte ihn mehr an eine Hinrichtung als an eine geeignete Basis für eine ‚klärende’ Unterhaltung und belehrte ihn eines Besseren. Dem Geruch nach zu urteilen, hatte er zuvor Besuch gehabt, Inu No Taishou war hier gewesen. Nicht, dass ihn der Hundedämon aus dem Westen großartig interessierte, andernfalls erträglicher als jeder andere Gedanke, der ihm zurzeit durch den Kopf spukte. Er blickte nicht auf, fixierte anstatt dessen den aus dunklen Holzbohlen gefertigten Boden, während er den Raum durchquerte. Keine Begrüßung, keine überflüssigen Formalitäten… Súnnanvindurs Laune musste außerordentlich schlecht sein, wenn er die Etikette vernachlässigte. Gute Voraussetzungen nannte man definitiv etwas anderes. Tonlos kniete er in einigermaßen höflicher Distanz nieder, die Haltung lethargisch, abweisend und unnahbar. Auf welche Sorte von gewaltlosem Widerstand konnte er schon zurückgreifen, damit es nicht auf eine Provokation hinauslief? Keine Erfolg versprechende. „Fleygur, du enttäuschst mich.“ Die Neutralität, die seine Stimme und seine Mimik nachhaltig prägte, mochte Flúgar so ganz und gar nicht gefallen, es würde sich unter Garantie nicht bei einer Strafpredigt behalten, und die Wahrscheinlichkeit, dass er mit einer Verwarnung davonkam, betrug sich verschwindend gering. „Anscheinend habe ich dich, deine Fähigkeiten, überschätzt. Deine Abneigung gegenüber Menschen ist niemandem fremd, vor allem mir nicht. Trotz dessen hatte ich dir einen vertretbaren Grad an Selbstbeherrschung zugetraut.“ Er pausierte, atmete hörbar aus. Schwieg sein Sohn aus Trotz? Wich er ihm deswegen aus und sah ihn nicht an? Kalt und stur wie eine Felswand, und ein mindestens genauso lebendiger Gesprächspartner… war es seine Schuld? Was hätte er denn tun sollen? Seinem Sohn weiterhin die Freiheit gestatten, mit den Menschen an diesem Ort zu verfahren, wie es ihm gerade beliebte? Leben gefährden, oder anderweitig darüber zu verfügen, so etwas rechtfertigte auch ein Herrscherstatus nicht. „Ungerechtfertigt, wie sich herausgestellt hat. Ich verantworte jeden Schritt, den du hier tätigst – ein weiterer Zwischenfall und ich liefere dich persönlich bei Blaka ab.“ Drohungen gehörten in der Regel weniger zu den Mitteln, der sich Súnnanvindur zu bedienen pflegte – klare, dennoch niederschmetternd wahrheitsgetreue Worte reichten ihm ansonsten völlig aus; dieser verbissene Ernst bewegte sich weit über der Norm. „Wir können uns das nicht leisten, Fleygur, unsere Chancen, für beide Parteien nützliche Verbindungen mit dem Tennô zu knüpfen, sind einmalig. Ohne Unterstützung oder Bündnisse sieht es für die Zukunft der Loftsdrekar düster aus. Wir sind zu wenige, um uns behaupten zu können, und das gilt nicht nur für andere Clans, die Menschen werden immer zahlreicher, und sie lernen mit beängstigender Rasanz. Als Feinde sind wir Luftdrachen auf längere Voraussicht dem Untergang geweiht…“ Melancholie, ja, Resignation schwang in seinem Unterton, stetig, schwer. Erdrückend, und das höllische Gewicht dieser Einschätzung belasteten ihn nicht gerade wenig, er litt darunter. Natürlich, für das Wohl der Loftsdrekar, um des Clans Willen… dem war höchste Priorität beizumessen – dieses Prinzip hatten sie unlängst verinnerlicht. Doch eine noble Absicht bewirkte nicht notwendigerweise das, was man anstrebte, und eine Allianz, die von Vornherein auf Lügen basierte und sich bald darauf stützte, würde sie keineswegs retten. Nein, genau das bedeutete früher oder später ihr eigens arrangiertes Verderben. „Der Tennô ermöglicht uns-“ Flúgar biss sich auf die Unterlippe, presste ein unmissverständliches „Nein“ hervor. Midoriko… Der Ausdruck des Drachenoberhauptes gefror förmlich, seine Augen verengten sich gefährlich langsam zu schmalen Schlitzen. Metaphorisch betrachtet waren die Risse in dem hauchdünnen Eis unter Flúgars Füßen zu gravierend, um ihn noch tragen zu können – das war der Gipfel der Respektlosigkeit, den er sich jemals in Gegenwart seines Vaters erlaubt hatte. „Was meinst du mit ‚nein’?“ Noch wahrte sein Gegenüber die Geduld, noch. Erlosch der Funke Neugier, der ihn in Sicherheit wähnte, war Schluss, dann würde ihm keine glückliche Fügung des Schicksals vor Súnnanvindurs Zorn schützen können. Unwillentlich gruben sich seine Klauen in den Stoff seines Hakama. Warum bereitete es ihm solch enorme Schwierigkeiten, sein Wissen zu formulieren und auszusprechen? Vermutlich, weil es die Hoffnung seines Vaters für den Fortbestand des Clans zerschlagen und als Illusion enttarnen würde… „Die Intentionen dieses Menschen… es ist alles gelogen. Ein Bund mit ihm besiegelt unser Tod, beginnend mit Inu No Taishou und Euch, Faðir.“ Ein Schatten von Unverständnis und Verwirrung zog über das Gesicht des älteren Luftdrachen, dann wurden seine Züge urplötzlich finster wie die Nacht des Neumondes. Was bildete sich dieses Kind ein? War sein Hass auf die Menschheit derart aus den Fugen geraten? Er hätte es bemerken müssen… „Wieso tust du das?“ Um ihn vor einer schwerwiegenden Fehlentscheidung zu bewahren, die nicht nur ihm erheblichen schaden würde… auf einmal begriff er, warum und zu welchem Zweck er so agierte. Aber… obschon ihm seine Beweggründe einsichtig erschienen und offen vor ihm lagen, konnte er es nicht aussprechen. „Weil ich es weiß.“ Blanke Wut verklärte die türkisfarbenen Augen, hüllte den Verstand des Drachen in einen undurchsichtigen Nebelschleier, der ihm das Urteilsvermögen und die Besonnenheit raubte, ihm die Kontrolle entriss. Es war genug… „Woher? Wer erzählt dir diesen Unsinn?!“ Bevor Flúgar auch nur zur geringsten Reaktion fähig war, schnitt es ihm gewaltsam die Luft ab, sodass sich kein Laut von seinen Lippen lösen mochte, als er den Mund öffnete. Grob und rücksichtslos zwang ihn Súnnanvindurs harte Handhabe zum Aufsehen, die krallengleichen Nägel bohrten sich tiefer in die empfindliche Haut seines Halses. „Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede und antworte mir!“ Gefügig hob er mühsam die Lider, begegnete dem erbosten, kalten Blick seines Vaters, dessen aufgebrachter Atem in unregelmäßigen Böen seine Wange streifte. Der immense Druck auf seine Kehle trieb ihm Schwindel in den Kopf, die Tränen in die Augenwinkel und der Schmerz in seiner Brust wurde unerträglich, doch er wehrte sich nicht, rührte keinen Muskel. Wenngleich ihm mehr als unwohl dabei war, er dem warnenden Ruf seines Instinktes nachfolgen und fliehen wollte, ignorierte sein Körper geflissentlich seine Anweisungen. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit und… ja, und was? Verspürte er daneben Furcht? So hatte er seinen Vater noch nie erlebt… Wenn er Pech hatte, würde er ihn in seinem besinnungslosen Zustand jenseits der Vernunft in den nächsten Momenten töten. Es tat weh, physisch wie psychisch – warum? Der endlosen Schwärze der Bewusstlosigkeit nahe, schloss Flúgar die Augen und eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg über seine rechte Wange, tropfte auf den Arm des Drachenfürsten. Erschrocken fuhr dieser zusammen, lockerte seinen Griff und zog beschämt die Hand zurück. Was hatte er nur getan…? Derweil brach sein Sohn hustend vor ihm auf dem Boden zusammen. „Geh.“ Súnnanvindur zitterte. Sein kraftloser Befehl war kaum mehr als ein Wispern. Noch lange nachdem Flúgar den Raum verlassen hatte, saß er dort, alleine, regungslos. Verzeih mir… Der Mantel der Dämmerung breitete sich bereits über die Idylle des großen, zentral gelegenen Hofgartens, der von einer Ringmauer umgeben, abgegrenzt von allen störenden Einflüssen und Aktivitäten lag, als Midoriko – erfrischt und endlich wieder in ihre bevorzugten Priesterroben gekleidet – eben diesen Ort erreichte, ein stummes Lächeln der Zufriedenheit auf den Lippen, während sie durch die farbenfrohe und artenreiche Vielfalt der von Menschenhand angelegten Natur spazierte. Viele der Pflanzen, die hier wuchsen, waren ihr fremd und bei einigen Zierbäumen und Sträuchern rätselte sie, ob es sich einheimische Gewächse oder Importe aus fernen Ländern handelte. Die Ruhe, die Entspannung genießend, die sie mit der lauen Brise und dem Rauschen der Wellen überkam, schaute die junge Miko zum ungetrübten Firmament auf, an dem die letzten lichten Streifen als vergängliche Zeugen des Tages nach und nach verblassten. Sicherlich würde die Nacht wunderschön werden, klar und hell erleuchtet von Mond und Sternen, jedoch ebenso kühl und windig. Ob es sich lohnte, zu bleiben und auf den Einbruch der Dunkelheit zu warten, um den mit unzähligen, winzigen Lichtern bestickten Himmel zu bewundern? Kaneko hielt inne, hob die Nase und witterte sorgfältig in der frischen Abendluft. Da sie ein Dämon des Feuers war, erkannte sie die Bedeutung der Botschaft, die der Wind, der aus der Richtung des Meeres wehte, mit sich trug. Irgendetwas bahnte sich an, und diese Ansage bezog sich nicht allein auf den entfernten Vulkan, der bald ausbrechen würde… nein, dahinter steckte mehr. Auch Midoriko schien dies nicht zu entgehen, denn ihre Haltung straffte sich merklich, als sie den Kopf zum Horizont wandte. Ein besorgniserregendes Gefühl beschlich sie, vage, aber eindringlich; was geschah dort nur? Oder war das lediglich der Beginn, gewissermaßen der Auftakt zu einer umfangreicheren Angelegenheit…? Beunruhigt warf sie dem Nekoyoukai, dessen Nackenhaare sich unter der Anspannung sträubten, einen kurzen Seitenblick zu. Einbildung war es nicht, soviel konnte sie mit Sicherheit feststellen, alles Weitere verbarg sich hinter einer undurchdringlichen Maske, die herrenlos durch die Finsternis wandelte. Doch da war noch etwas… Wesentlich näher, stärker und bedrohlicher in seiner Präsenz, dass Midoriko ein kalter Schauer den Rücken hinab rann. Diese Kälte, die sie mit einem Mal umfing… war das das Youki eines Dämons? Alarmiert fuhr sie herum, folgte eiligen Schrittes dem schmalen Pfad, der in die hinteren Teilbereiche der Gartenanlage führte. Kaneko heftete sich unverzüglich an ihre Fersen; es gab eine Verbindung zwischen alledem, ohne Zweifel… Erst, als sie vollkommen außer Atem war und die Schmerzen in ihren Lungenflügeln und Beinen unerträglich wurden, wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Strecke bis zu diesem Punkt in einem infernalischen Tempo zurückgelegt hatte. Vor Anstrengung keuchend verlangsamte sie ihre Bewegungen und bog um die nächste Kurve, stoppte abrupt, als sie den mannshohen Holunderbusch zu ihrer Linken passiert hatte und ihr Sichtfeld frei von – ihrer Meinung nach - überpflegter Vegetation war. Inu No Taishou…? Unweit eines mit Seerosen bedeckten Teiches saß der Hundedämon im Gras, die Augen geschlossen, seinem Ausdruck nach zu urteilen in tiefste Konzentration versunken. Schwarze Schatten verdunkelten sein Gesicht, seine Körperspannung verriet Missbehagen und Unstimmigkeit. Quer über dem Schoß lag sein Schwert, das er an Griff und Scheide krampfhaft, mit aller ihm verfügbaren Macht, umfasste, sodass die Knöchel seiner Finger weiß hervortraten. Mächtige dämonische Energien wogen sich gegeneinander auf, fochten im Stillen unerbittlich einen Kampf um des uneingeschränkten Sieges Willen, um den Gewinn der Oberhand, aus – ohne einen zu ergründenden Sinn. Allerdings war es nicht unbedingt das, was sie zunehmend stutzig werden ließ. Wie konnte es sein, dass ein Schwert eine solch gewaltige und zugleich korrumpierte Kraft ausstrahlte? Irgendetwas stimmte nicht, das war mehr als nur ungewöhnlich. „Dummer Hund… denkst du, ich gebe so leicht auf? Nein, heute nicht, ich habe viel zu lange geschwiegen.“ Verunsichert wich Midoriko zurück, Beklemmung schnürte ihr die Brust zusammen, ihr Herz schlug schneller. Eine Stimme? Ausgeschlossen, außer Inu No Taishou, seinem Sohn, der die Begebenheiten aus einiger Entfernung beobachtete, und ihr war niemand in der Nähe. Oder…? Moment, bedeutete das etwa, das Schwert… konnte sprechen?! Wie war das möglich…? Violetter Dunst waberte um das runde, kristallähnliche Endstück der Tsuka wie Unheil verkündende Gewitterwolken, die schier unbeteiligt über dem Geschehen kreisten, erleuchtet durch das Glühen eines unabwendbaren Schicksals. „Sieh an, eine Priesterin… einst befreite mich eine deinesgleichen aus den Niederungen der Hölle und brachte mich hierher. Offenbar ist das Glück mir hold, deine reine Gegenwart schwächt den dämmenden Einfluss des Köters auf mich beträchtlich…“ Ihr war, als würde sich vor ihrem Geist das Abbild einer Seele formen, deren grausames Gelächter ihr wie ein unangenehmer Impuls durch Mark und Knochen fuhr. Viel verriet ihr die durchscheinende Silhouette mit den kontrastlosen Konturen nicht, dennoch war es ausreichend um festzustellen, dass jenes gestaltlose Phantom eine umfassende Bedrohung beschrieb und gegen die Entfesselung dieser Gefahr musste sie etwas unternehmen, gleichgültig wie. Instinktiv lief sie los, in ihren Augen spiegelte sich nichts als pure Entschlossenheit, geradewegs auf den nun offensichtlich in Bedrängnis geratenen Hundeyoukai zu und kniete vor ihm ab. Schweiß perlte ihm von der Stirn und das Zähneknirschen, das von ihm zu vernehmen war, bezeugte die Ausweglosigkeit der Situation, in der er sich befand. Für lange Überlegungen verblieb keine Zeit, also legte sie kurzum die Hände ebenfalls auf den Schaft des Schwertes, den steten Fluss ihrer Mikokräfte gebündelt, entgegen der maliziösen Aura gerichtet. Wenn sie diese läuterte, wäre das Risiko auf ewig gebannt, unfähig, jemals wieder einem Unschuldigen zu schaden. Jedoch… die Gegenwehr, die sie dann erfuhr, war beängstigend heftig, drängte sie binnen weniger Augenblicke in den Engpass zur Niederlage. „Soviel elender Stumpfsinn auf einem Fleck… wie wollt ihr beide gegen mich, Sou’unga, bestehen? Eure Fertigkeiten heben einander auf, ihr macht es mir einfach.“ Inu No Taishous gedankliches Knurren wechselte in ein dumpfes Grollen über, die Geduld der Menschenfrau war an ihrem Ende angelangt, ihre Bemühungen wurden offensiv. Um keinen Preis der Welt würde sie erlauben, dass dieses Schwert ungehindert seine Willkür entfalten könnte… Ihrem Gespür vertrauend überantwortete sie sich diesem bedingungslos, präzisierte die Wahrnehmung ihrer Sinne. Dieses Geräusch… das Meer? Nein, ein grenzenloser Ozean in Schwarz… Grelle Lichtblitze durchzuckten den Wirbel aus schwarzen Wogen, die aufeinander prallten, sich schäumend brachen und zu einem Strudel vereinigten, Funken stoben, als sich ein heller Schemen, der wie aus dem Nichts auftauchte, lautstark dazwischen schob. Schlangengleich wand sich das Band der Helligkeit um die wettstreitenden Dämonenenergien, mit der Absicht sie wie ein Beutetier zu ersticken und anschließend zu vertilgen, umschlang den Orkan der tobenden Gewalten immer fester und verdichtete ihn bis zum äußersten Anschlag. Entladungen elektrischer Stöße manifestierten sich knisternd, aufleuchtend an den Grenzbereichen der unterschiedlich gepolten Auren, erreichten alsbald ihre Kapazitäten, die finale Kollision. Inmitten der stürmischen Auseinandersetzung und Youkispiralen schimmerten die Umrisse eines gleißenden Kreuzes… Das Dröhnen der unvermeidlichen Explosion verhallte bald, danach ward Stille, die See zeigte sich spiegelglatt, jedoch in der Tiefe lauerte weiterhin die schattenhafte Bestie ohne materielle Gestalt… Zwecklos… Midoriko erschrak zutiefst, als sie der Wirkungslosigkeit ihrer beachtenswerten Fähigkeit gewiss wurde; es funktionierte nicht, ihr Läuterungsversuch war kläglich gescheitert. „Eine Drachenseele…“ Fassungslos betrachtete sie die nun wieder gänzlich leblos wirkende Hiebwaffe. Unglaublich… „Seit wann…?“ Herausgerissen aus ihrer Zerrüttung fuhr die Angesprochene zusammen, setzte sich ein Stück zurück und neigte den Kopf hastig zu einer angemessenen, höflichen Begrüßung. „Entschuldigt bitte meine taktlose Störung, Inu No Taishou. Es war nicht in Ordnung, mich ungefragt einzumischen…“ Der weißhaarige Youkai schüttelte betont den Kopf, bedachte das Schwert mit einem abwesenden Blick, ehe er sich wieder ihr zuwendete. „Ich weiß zwar nicht, was du getan hast, aber ich muss mich dafür bedanken. Könnte Sou’unga mich überwältigen, käme das einer Katastrophe gleich…“ Mit leicht geröteten Wangen erwiderte sie die Verbeugung, strich sich durch das lange Haar. Nach einem Fixpunkt suchend, traf ihr Blick auf Sesshoumaru, der mit einem viel sagenden, ja sadistischen Funkeln in den bernsteinfarbenen Augen seine Beute prüfend abschätzte. Dem Frosch hingegen, der vergeblich an seinem linken Beinchen zerrte, um dieses aus der Hand des jungen Hundes zu befreien, war die Panik auf die Stirn geschrieben; das arme gelbäugige Tier mit dem grünbraunen Rumpf strampelte um sein Leben, was seinem Bebachter ungemeine Freude bereitete. Dubios, was einem Dämon ein solch königliches Vergnügen bescherte, sogar ein verzerrtes Lächeln abrang, wo durchweg nur Gleichgültigkeit regierte… „Oi, Midoriko.“ Die zaghafte Berührung an der Schulter weckte sie aus ihrer Starre absurder Faszination an der Grausamkeit des Dämonenkindes, brachte sie wiederholt in Verlegenheit. „Ihr braucht mir nicht zu danken, ich habe den Geist des Schwertes unglücklicher Weise nicht läutern können. Tut mir leid.“ Er seufzte, schenkte ihr ein erschöpftes Lächeln. „Sou’ungas Boshaftigkeit und Allmacht aus der Hölle, die über Jahrhunderte genährt wurde, bin selbst ich kaum gewachsen, und meine Suche nach einem Weg, es dauerhaft ruhig zu stellen, ist bis jetzt nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Dieses Schwert birgt nur Unglück und seine Besitzer scheinen dem Tode geweiht…“ Nachdenklich tippte sie sich ans Kinn. „Also etwas, wie ein allgegenwärtiges Gegengewicht…?“ Ein heiliges Pendant, das die Bösartigkeit des Schwertes zu kompensieren vermochte? Wieso eigentlich nicht? Als hätte er ihre Überlegungen verfolgt, verneinte er sofort mit einem klaren Abwinken. „Eine weitere, fremde Macht von dieser Dimension würde das Desaster komplettieren. Das ist eine Bürde, die niemand tragen könnte, es wäre unverantwortlich. Zumindest habe ich die Gewissheit, dass, solange ich lebe, ich Sou’unga unter strengstem Verschluss halten werde.“ Aus ihm referierte das Herz eines wahren Kriegers, der ihrer Vorstellung aus Kindheitstagen an ihren Vater entsprach, die bis jetzt in ihrem Verstand gefestigt hatte. Chichi-ue… Verbunden damit meldete sich ihr Gedächtnis, zahlreiche Gedanken an den Verlauf des Tages schwirrten ihr durch den Kopf. Richtig! Fast hätte sie es vergessen. „Anou… ich möchte nicht unverschämt erscheinen, und ich weiß, dass mich Eure Angelegenheiten nichts angehen, aber habt Ihr Euch heute Nachmittag mit Flúgar oder seinem verehrten Herrn Vater unterhalten? Über ein etwas, nun ja, heikleres Thema?“ Der Hundedämon runzelte die Stirn, fixierte jedoch unentwegt Sou’unga mit einem kritischen Blick, die Züge angespannt, undefinierbar. „Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst.“ Demnach nicht… Hatte sie sich eventuell zu kompliziert oder umständlich ausgedrückt? Midoriko murmelte einen unverständlichen Fluch, drängte die in ihr hochsteigende Verärgerung zurück, denn es konnte unter Umständen eine evidente Erklärung dafür geben. Und dafür musste sie wohl oder übel direkt an der Quelle, bei Flúgar, nach Informationen erkundigen. Dieser Idiot forderte es geradezu heraus! Übermäßig Eindruck hatte ihre Aussage und Warnung bei ihm nicht geschunden, und offensichtlich wurde er nur annähernd vernünftig, wenn sein Leben akut bedroht war. Mit einem wachen Sinn – insbesondere, was den Gebrauch seines Gehirns betraf – war er wahrlich nicht gesegnet. Allerdings half Nichtstun kein Stückchen weiter; und ohnehin hätte sie ihre Anwesenheit als überflüssig bezeichnet, denn Inu No Taishou war mit sich selbst, mit Sou’unga, beschäftigt, beachtete sie nicht weiter, und auch Sesshoumaru frönte ihrer ungeachtet seiner diabolischen Obsession. Sie deutete eine Verbeugung zum Abschied an und erhob sich, wählte denselben Weg, der sie vorhin hierher geführt hatte, zurück zu den beiden sich gegenüberliegenden Quartiergebäuden. Konnte sie es wagen, sich heimlich in das der Loftsdrekar zu schleichen um nach Flúgar zu suchen? Nein, da bedurfte es keiner langen Überlegungsphase, das Risiko auf frischer Tat ertappt zu werden war schlichtweg zu hoch und nicht als Appell an ihr Geschick zu interpretieren. Über eine clevere Strategie grübelnd, passierte sie die Steinpfeiler der Gartenmauer, die die parkähnliche Außenanlage mit einer offenen, weitläufigen Pforte als Zugang abschlossen; als sie diesen bereits halbwegs durchquert hatte, blieb ihr vor lauter Schreck um ein Haar das Herz stehen. An der äußeren Seite der Säule, dort stand jemand, verborgen in den nächtlichen Halbschatten, den Rücken an die glatte Granitfläche gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. „Wer…?“ Unter den Stiefelsohlen des Namenlosen knirschten einige Steinchen, als er sein Gewicht verlagerte und sich gemächlich von ihr entfernte. „Halte dich in Zukunft fern von meinem Bruder. Du bringst nur Ärger.“ Wie bitte? Midoriko war sprachlos, benötigte die Zeit mehrerer Wimpernschläge, um sich wieder zu fangen. „Wer bist du? Und was bitte soll das hier?“ Der Widerhall seiner Schritte war kaum mehr zu vernehmen. „Ich warne dich, lass Flúgar zufrieden. Du magst eine Frau sein, aber du bist nur ein Mensch. Mach dir keine falschen Hoffnungen, du hast keine Chance, du wirst nicht lange genug leben, um etwas zu erreichen. Außerdem ist Flúgar seit jüngster Kindheit versprochen.“ ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 40: >“Das Geflecht längst gesponnener Intrigen schimmert den vermeintlichen Opfern im schwindenden Licht der Sonne verräterisch entgegen, während diejenigen, die einen bedeutenden Part übernehmen sollen, das erste Mal aufeinander treffen und im Angesicht des unendlich wirkenden Ozeans zu ihrer Mission aufbrechen…“ *» Inbou Kapitel 40: *~Inbou~* --------------------- "Versuche nie durch Konspiration zu erklären, was auf Chaos oder Inkompetenz zurückgeführt werden muss." – Josef Joffe Kapitel 40 – Inbou -Verschwörung- *Welchen Wert gilt es Regeln und Konventionen beizumessen, wenn nicht nur das eigene Leben auf dem Spiel steht? Und wie soll man sich verhalten, wenn man sich dem Ausmaß der vermeintlichen Gefahr nicht einmal sicher sein kann? Ist es besser, abzuwarten und die Entwicklung der Gegebenheiten zu beobachten, als verfrüht Annahmen zu äußern? Oder aber gestaltet sich dabei das Risiko zu hoch, das Kommende nicht mehr rechtzeitig aufhalten zu können?* ּ›~ • ~‹ּ Obgleich die Sonne erst vor wenigen Stunden aufgegangen war und ihren alltäglichen Lauf über den wolkenlosen Himmel angetreten hatte, flimmerte die salzige Meeresluft bereits vor Hitze. Einsam, gar verloren, wirkte die im Vergleich zu den Unweiten des Ozeans winzige Vulkankette, die inmitten des schieren Nirgendwo, rings umgeben von den Massen des zweiten Elementes, lag. Ein perfekter Gegensatz, Feuer und Wasser, der die beiden Erzfeinde rein äußerlich in harmonischem Einklang, auf engstem Raum miteinander vereinte. Im Inneren jedoch rumorte es beständig… Der eigenwilligen Stimme der Feuerberge, die nur wenige zu deuten vermochten, lauschend, versuchte Neisti sich die nagende Langeweile zu vertreiben, die ihn mittlerweile marterte. Es war nicht zu glauben, wie respektlos sich dieser Bundori seinem Bruder gegenüber verhielt. Noch immer schläfrig strich sich der junge Eldursdreki durch das kupferfarbene Haar, gähnte ausgiebig, stets darum bemüht, seine Müdigkeit im Zaum zu halten und sich nicht überwältigen zu lassen; eine schwierigere Angelegenheit, als er angenommen hatte. Seit Tagesanbruch stand er nun hier und wartete, doch der Ranghöchste der Sonnenweberdrachen hatte wohl weder die Zeit noch den Anstand, seine Verspätung durch einen Boten zu entschuldigen. Arrogante Blindschleiche… Hoffentlich hatte sich Eldsvoði mit ihm nicht hochgradig verkalkuliert, das konnten sie sich nicht leisten. „Was hat das Balg hier zu suchen?“ Das klang abwertend wie vorwurfsvoll zugleich; und die tiefe, signifikant unangenehme Stimmlage sorgte dafür, dass sich der degradierende Unterton, der jedwede Silbe begleitete, nachdrücklich im Gedächtnis festsetzte. „Mein Name ist Neisti, und dem Befehl meines älteren Bruders nach soll ich mit Euch zusammenarbeiten.“ Nahezu geräuschlos näherte sich der Drachenfürst dem Feuerdrachen, erhöhte das Energieniveau seines Youki auf einen bemerkenswerten Pegel, demonstrierte ungeniert seine ungeheure Macht. Inmitten des heißem Brodems, das den bevorstehenden Mittag, den Zenit des Lichtbringers am Tage, ankündigte, schienen die Temperaturen plötzlich unter Null zu sinken, als würde es frieren. „Er versprach mir einen Krieger, kein Gör, dafür bekam er meine Einwilligung. Verschwinde.“ Registriert hatte Neisti die Beleidigung aus Bundoris Munde, ließ sich jedoch nichts anmerken, denn mit Provokation war er bei ihm an den Falschen geraten. Darauf sollte er sich nicht zu viel erwarten, denn gegen Kriegsführung und Methodik im psychologischen Bereich war er gefeit – im Gegensatz zum Großteil seiner Artgenossen, die vor allem auf diesem Gebiet erhebliche Schwächen verzeichneten. Zudem irrte er sich gewaltig. Die Statur oder allgemeine Ausstrahlung eines Soldaten besaß er beileibe nicht, trotz dessen hatte er die Anerkennungsprüfung als Voraussetzung zur Aufnahme in die Kreise der Älteren mit Bravur bestanden, problemlos. Für den Clan galt er als mündig, seine Qualifikation als Kämpfer war unbestritten, Eldursdrekar zweifelten prinzipiell nicht. Situationsbedingt, ob das nun als gute oder schlechte Eigenschaft zu deuten war… Dem entgegen blieb Bundoris Einstellung ebenso bedenklich. Voreingenommenheit und die Verurteilung von dem, was einem unbekannt war, eröffneten durchaus interessante Rückschlüsse auf den Intellekt eines Individuums. War Bundori ein solcher Narr? Nein, mitnichten. Minderbemittelt war er mit Sicherheit nicht, dafür wohl ein wenig zu selbstgefällig, zu eingenommen von sich und seinen Wertvorstellungen, um etwas Neues eigenständig zu erkennen und Akzeptanz daran zu üben. Vertraute er lediglich auf seine Instinkte und Wahrnehmungen, glaubte ausschließlich das, was er mit eigenen Augen sah? Neisti lächelte demütig. Theorien in allen Ehren, zur Veranschaulichung eignete sich die Praxis aber grundsätzlich besser. „Insofern Ihr es gestattet, erläutere ich Euch den Unterschied zwischen einer trivialen und einer echten Flamme, die nicht nur Materielles vertilgt, sondern vorrangig nach der Seele dessen trachtet, der sie zu bändigen versucht…“ Seine Miene wurde ernst, undurchsichtig und in gewissem Sinne fest. In der rechten Hand des Jungdrachen leuchtete ein orangerotes Flämmchen auf, das rasch an Volumen gewann und begierig wuchs, dann plötzlich und vollkommen zusammenhangslos kleiner und unscheinbarer wurde, zu verlöschen schien. Das spöttische Lächeln des Anderen erstarb in seinen Grundzügen, als er sich den enormen Hitzewallungen gewahr wurde, die von ihrem Ursprung, Neisti, ausströmten, sich wie Ringe auf einem Teich ausbreiteten, in den man einen Stein geworfen hatte. Gegen die angenehme Wärme der Sonne, die Bundori aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gattung der Sonnenweberdrachen über alles schätzte und zum Überleben brauchte, waren diese hitzigen Konditionen eine Feuerhölle sondergleichen auf Erden, bereits nach wenigen Momenten unerträglich. Das wahre Wesen, die tatsächliche Macht des Feuers… Ein Kind, das Fähigkeiten in diesem Format besaß? „Möglicherweise taugst du zu mehr als Hundefutter. Wir werden sehen.“ Widerwillige Konzedierung nannte man das… Die Blicke der beiden Drachen kreuzten sich für einen Augenblick, als Bundori einen Schritt an ihm vorbei trat, ihn vage aus den Augenwinkeln, von oben herab, betrachtete. Doch darum kümmerte sich der junge Eldursdreki nicht weiter, musterte seinerseits unauffällig den Fürsten aus dem Osten. Imposant war seine Erscheinung allemal, er war wesentlich größer als er, breiter im Körperbau und muskulöser. In seiner schwarzen Rüstung und den edlen japanischen Gewändern aus Seide, die er trug, das Schwert an der Hüfte, erinnerte er Neisti unheimlich stark an Hraunar, den er nicht bloß als älteren Bruder verehrt hatte, sondern auch als Revolutionär und Oberhaupt des Clans. Er hatte den Umbruch begründet, die Feuerdrachen unter sich geeint… durch seinen tragischen Tod in der Schlacht gegen die Allianz der Loftsdrekar und Vatnsdrekar war er zu einer Legende aufgestiegen, zu einem Symbol für Mut, Entschlossenheit und Freiheit, das den Eldursdrekar die Hoffnung und Kraft verlieh, alles noch einmal auf eine Karte zu setzen und zu kämpfen, bereit, Opfer für ihr Ziel darzubringen. Neisti besann sich, fuhr prüfend über das grobe Gewebe der Leinenrobe, die ihm locker um die Schultern lag. War seine Kleidung dem gegebenen Anlass entsprechend unpassend? Neben der schwarzen Tunika bedeckte, ausgenommen dem kurzen Lederrock, der ihm als Schutz der Lendengegend diente, und den Kote als Protektoren seiner Unterarme, nichts seinen Leib. „Besuchen wir ein Festival?“ Bundori schmunzelte daraufhin hintergründig. „Ja, so könnte man es ausdrücken…“ Menschen und ihre nervtötenden Angewohnheiten… Selbst hier, auf maximaler Entfernung, an der Kaimauer, der äußersten Abgrenzung der Residenz zum Meer, war das lästige Stimmgewirr noch zu manifest vernehmlich, als dass man es hätte ignorieren können. Doch darauf sollte es sich heute nicht beruhen, denn zu dem Lärm ihrer verdammungswürdigen Redseligkeit addierte sich eine unvereinbare Mixtur an Gerüchen, die meine Nase zusehends derangierten. Verstimmt kehrte ich dem vollkommen überflüssigen, idiotischen Szenario den Rücken; von Menschen Erdachtes brachte nur Unglück, ebenso wie sie selber. Festlichkeiten radikalisierten rasch zu Gelagen, Orgien, und ihren Abarten verfallen, präsentierten sie sich als perfekte Beute für ihre Feinde, innere wie äußere. Jene Stumpfsinnigkeit ohne Beschränkung, dazu die Offenbarung von Schwäche, wie konnte eine solch inferiore Rasse so lange bestehen? Ein beträchtlicher Fehler der Evolution, den es zu beheben galt – mit etwas Geduld würde ich ihrem Verderben persönlich beiwohnen können; Zeit bezeugte keinen Stellenwert für einen Drachen, demnach war es bedeutungslos, wie viele Jahrzehnte oder Jahrhundert ihrer Rechnung bis dahin noch verrinnen sollten. Die weichen Töne einer Shamisen begleiteten die abendliche Melodie des Windes, der in den Wellen des Meeres spielte. Für gewöhnlich empfand ich diese so genannten 'menschlichen Künste' als ungemein leidig. Wozu sollte das gut sein? Warum opferten, verschwendeten sie regelrecht erbötig weitgreifende Abschnitte ihres verdammt limitierten Lebens, um sich einer solchen Art von Vergeudung zu widmen? Mein Verständnis scheiterte bereits an dem Begriff der Kunst, den die Menschheit bevorzugt zu verwenden pflegte. In meiner Muttersprache existierte nicht einmal ein annähernd äquivalenter Ausdruck dafür. Zudem interessierte es mich nicht, und der Zwang, sich trotz dessen damit zu beschäftigen und einige Aspekte zu vertiefen, hatte nur mein Widerstreben und meine Abneigung genährt. Bis zum heutigen Tage war es mir nicht gelungen, die Schriftzeichen der Menschen wenigstens halbwegs zu erlernen, sie zu lesen war eine Qual, ganz zu schweigen von jeglichen Niederschriften, die nie den Ansprüchen des Lehrers entsprachen. Damals nicht, zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Es war frustrierend. Während sich bei mir keinerlei Verbesserungen einstellen wollten, war Blævar seit seiner frühen Jugendlichkeit weit über meinen Stand hinaus. Ihm fiel es leicht, er fand Gefallen an Studien – gleich, welches Themengebiet man ihm vorsetzte. Ob hochkomplexe Ziffergewirre oder fremdländische Schriftstücke, er hatte es im Nu begriffen und schäumte vor Arbeitseifer förmlich über. Súnnanvindur reagierte mit Stolz auf Blævars Wissbegierigkeit und das Können, dass er sich somit selbst aneignete; seine kriegerische Unfähigkeit in nahezu sämtlichen Disziplinen geriet unbeachtet in Vergessenheit, wurde ihm nicht mit einem Wort jemals vorgeworfen. Ich hingegen hatte stetig zu hören bekommen, mir gefälligst ein Beispiel an meinem jüngeren Bruder zu nehmen und mehr Fleiß zu zeigen. Ich tat mich schwer mit Neuem, war im Vergleich immer spät in der Entwicklung gewesen. Eineinhalb Dekaden hatte es mich allein gekostet, die Sprache der Menschen hier in ihren Grundzügen zu verinnerlichen – das Dreifache von dem, was die Mehrheit zur Perfektion ihrer Kenntnisse benötigte… Deprimiert senkte ich den Blick, legte den Kohlestift beiseite. Ich brachte es nicht auf die Reihe, es war sinnlos. „Kveðja, leiðtogarsson.“ Etwas verwirrt von dieser Anrede schaute ich auf. Gegen Formalitäten auf verbaler Ebene hegte ich eine unsägliche Aversion, in meinen Augen war sie bedeutungslos, bloße Fassade, hinter der sich zumeist eine gegensätzliche Meinung versteckte. Am Auftreten, dem Betragen seines Gegenübers erkannte man untrüglich, ob dieses einen akzeptierte, schätzte oder verachtete. „Flúgar, nichts weiter, Kali.“ Der Loftsdreki grüßte mich erneut militärisch, verweilte in der einseitig knienden Stellung, die rechte Hand geschlossen über der linken Hälfte der Brust. Ich schüttelte den Kopf, gebot ihm aufzustehen. Kali war einer der wenigen, die meine Achtung genossen, obwohl ich ihre Einstellung in gewissen Aspekten absolut nicht teilte – sei es die Befürwortung der menschenfreundlichen Politik meines Vaters oder seine Gewalt ablehnende Persönlichkeit. Dennoch war er einer der besten Krieger im Clan, geprägt durch Selbstbeherrschung, Disziplin und Gehorsam, der sich im jugendlichen Alter mit Leichtigkeit einen der höchsten Ränge errungen hatte. Hinter meinem Respekt für ihn verbarg sich vermutlich etwas wie Bewunderung, doch mit Sicherheit konnte ich nur die Sympathie benennen, die mir sein angenehmer Charakter vermittelte. „Stört Euch meine Anwesenheit?“ Ich verneinte knapp, sog zischend die Luft ein, als mir durch die ruckartige Bewegung schmerzhaft gewahr wurde, dass die Striemen an meinem Hals noch immer sichtbar bezeugten, wie sich die gestrige Unterredung mit Súnnanvindur entwickelt hatte. „Komm zur Sache.“ Der Aufforderung hätte es nicht bedurft, zum einen wusste Kali sehr genau, auf was er letztendlich hinaus wollte und zum anderen war er ein bedachter Redner, der sich selbst die Ansätze des Palaverns verbot, ausschließlich Gebrauch von präzisen Formulierungen machte, was den Kern seines Anliegens betraf. „Ich habe ein schlechtes Gefühl, was die momentane Situation hier betrifft. Mir gefällt nicht, was hier geschieht – da wäre zuerst einmal der Tennô, dessen astreines Wesen und Benehmen nicht zu einem Menschen passen. Dann der verblendete Schwertkämpfer, der sich bei jeder Gelegenheit, die sich ergibt, mit seinem Hass gegen uns brüstet und ununterbrochen die Nähe zum Tennô sucht. Die Bediensteten halten sich auf Abstand, viele fürchten sich, der Rest ist argwöhnisch. Mit den Gästen für das Fest ist es dasselbe. All das sind keine Konditionen für eine ungestörte Verhandlung eines gleichberechtigten und lukrativen Bündnisses. Ehrlich gesagt verstehe ich das nicht, worin besteht demnach der Sinn dieser Zusammenkunft?“ Interessant. Kalis wacher Verstand beeindruckte mich, erstaunlich, welchen Informationsstand er sich ohne Hilfe angeeignet hatte. Die geistige Besonnenheit, die er sich bewahrte, vergaß Súnnanvindur in seiner fanatischen Besessenheit, die Fehde zwischen den Rassen beenden zu müssen… „Das Vorhaben des Tennôs, seine Ziele haben mit den unsrigen nichts gemein. Er strebt einen Ausbau seiner Macht an, dazu kommen wir ihm gerade recht.“ Nachdenklichkeit zeichnete sich auf Kalis Miene ab, überrascht wirkte er weniger. „Also lügt er, und Euer Vater glaubt Euch nicht; deshalb die Auseinandersetzung. Was denkt Ihr, wie weit der Tennô gehen wird?“ Erwägend wiegte er den Kopf nach rechts, erwiderte meinen Blick offen – wohlwissend, dass ich es ihm nicht als Unhöflichkeit oder gar Respektlosigkeit anrechnete. „Wenn wir ihm nicht zuvorkommen, tötet er uns.“ Das mochte ruhig und kühl klingen, aber es beunruhigt mich. Wie sollte das von Statten gehen? „Wie will er das anstellen? Gegen einen Drachen besteht der Schwertkämpfer nicht lange, der Tennô mag ein ausgezeichneter Lügner und Betrüger sein, ich bezweifle allerdings, dass er kämpfen kann. Und was hat es mit der Priesterin auf sich? Genau betrachtet gibt es keinen anderen Anlass für sie, hier zu sein…“ Nur hatte Midoriko ihren eigenen Willen und besaß ein Urteilsvermögen, das sogar meines übertrumpfte. Das hatte der törichte Mensch nicht bedacht, ein schwerwiegender Fehler, der ihm und seinem perfiden Konzept endgültig das Genick brechen würde. „Die Priesterin hat sich entschieden, ihm nicht zu helfen. Seine Erfolgsquoten sind insofern niedrig.“ Mit einem mehrdeutigen Lächeln auf den Lippen lehnte er die Schulter gegen das Mauerwerk, tippte an seine Schläfe. „Daher weht also der Wind der Erkenntnis. Ein schlaues Mädchen mit auffallender Begleitung und einer noch auffälligeren Ausstrahlung. Sie ist gefährlicher, als der Anschein erweckt. Ich hätte sie ungern zum Feind.“ Bezüglich dieser Aussage stimmte ich ihm bedingungslos zu, in einem Zweikampf würde Kali, ebenso wie ich, in erhebliche Schwierigkeiten geraten. Midorikos Potenzial war enorm, und ehrlich gesagt reizte es mich, dessen Abhängigkeiten zu ergründen. Woher rührte diese unglaubliche Macht, die eines Menschen im Grunde unwürdig war? „Wenn man vom Teufel spricht. Ich werde morgen vor dem leiðtogi Bericht erstatten und ihm meine Bedenken unterbreiten, selbstverständlich ohne Euch explizit zu erwähnen.“ Was meinte mit der ersten Bemerkung? In für ihn untypischer Manier verabschiedete er sich mit einer außerordentlich ehrerbietigen Verneigung, wandte sich um und hielt unvermittelt noch einmal inne. „Lasst Euch zu nichts Anrüchigem hinreißen, der Begriff 'Schreinjungfrau' kommt nicht von ungefähr.“ Verschmitzt grinsend warf er mir einen letzten Schulterblick zu, nicht ein Hauch der vorherigen Ernsthaftigkeit schwang in seiner Stimme mit; Sprunghaftigkeit zählte zu den wenigen schlechten Eigenschaften, die ihm innewohnten und mir negativ ersichtlich geworden waren. „Vergeht Euch nicht an der vermeintlich Süße des Sake, es zieht bittere Konsequenzen.“ Wie sollte ich das denn nun deuten? Doch ehe ich dem in irgendeiner Form nachhaken konnte, verschwand Kali mit einem weiten Sprung gen Hafen in der Finsternis, ließ mich in der von ihm verursachten Ratlosigkeit alleine zurück. Eingenommen von der daraus resultierenden Lethargie, schrak ich fürchterlich zusammen, als etwas Weiches meine Hand berührte, gleichzeitig einen gedämpften Laut direkt neben mir vernahm. Um ein Haar hätte ich aus einem simplen Reflex heraus Midorikos Dämonenkatze Kaneko aufgeschlitzt. Entsprechend meiner abrupt einsetzenden Erwartung erkannte ich eine minimale Bewegung in der Dunkelheit, fing das Geräusch leichter Schritte auf. Midoriko… Hastig zog ich die Schiebetür meines Quartiers hinter mir zu, eilte den spärlich beleuchteten Gang und die sich anschließende Treppe hinab, erreichte alsbald die geräumige Eingangshalle, in der angekommen, ich rasch in meine Geta schlüpfte, ein letztes Mal den einwandfreien Sitz meines Yukata überprüfte. Die Feierlichkeiten dieses Abends boten nicht nur diverse Annehmlichkeiten in Form von Speisen und musikalischer Unterhaltung, es war die perfekte Deckung für ein heimliches Gespräch mit Flúgar, und wenn ich Glück hatte, würde ich womöglich auch denjenigen ausfindig machen können, der mir das zitronengelbe Kleidungsstück hatte inkognito zukommen lassen. Zugegeben, ich trug ihn nicht einzig aus diesem Grund. Ich konnte nicht behaupten, dass der Yukata mir nicht gefiel, selten hatte ich etwas besessen, das meine Figur in gewissen Bereichen vorteilhaft betonte. Seufzend sah ich an mir hinab. Rief ich mir Soreiyu ins Gedächtnis, so hätte es bei mir oben herum ebenfalls etwas mehr sein können… Kaneko unterbrach mit einem Miauen meine abwegigen Vorstellungen. „Kaneko-chan, tust du mir einen Gefallen?“ Behutsam tippte ich ihr mit dem Zeigefinger an das schwarze Näschen, die ruhig pendelnden Schweife verrieten ihre Aufmerksamkeit. „Könntest du für mich nach Flúgar suchen? Ich habe noch etwas zu erledigen.“ Schwungvollen Schrittes verließ ich daraufhin das Gebäude, begab mich auf dem Weg zum Festplatz, der in der Lichterpracht der unzähligen bunten Lampions das dunkle Firmament über der Residenz erleuchtete. Welch ein atemberaubender Anblick… Doch die Ungemach senkte sich rasch über meine Begeisterung, meine Faszination schwand, denn das künstliche, jeder Natürlichkeit widerstrebende Dämmerlicht verschlang die Sterne, das Angesicht des Mondes restlos; die Nacht schien buchstäblich zum Tage zu werden. Konnte so etwas rechtens sein…? Ich schüttelte den Kopf, sog begierig die frische Luft in meine Lungen. Über die Entwicklung und Verfremdung der Menschheit konnte ich auch später noch philosophieren… Erheitert darüber, dass ich mich selbst ermahnte, ja beinahe maßregelte, gelangte ich schlussendlich zum Haupthof, auf dem sich zu dieser späten Stunde ungewohnt viele Leute drängten, allesamt adelige Gäste des Tennô, die die Veranstaltung in vollen Zügen genossen. Damit verwandelte sich die ansonsten übersichtliche, weitläufige Fläche in unüberschaubares Terrain, eine rege Masse aus Menschenleibern, fremden Gesichtern und farbenfroher Kleidung, die einem, zusammen mit den untereinander verworrenen Düften verschiedenster Herkunft und dem ohrenbetäubenden Lärm, den die große Menschenansammlung durch ihr ausgelassenes Feiern verursachte, jegliche Orientierung raubte. Als ob ich weitere Hinderlichkeiten wie eben jene gebrauchen konnte… Ich hatte keine Wahl. So schob ich mich zunächst an einer Gruppe älterer Herren – wohlgemerkt in Damenbegleitung - vorbei, die aufmerksam den Tanz mehrerer recht freizügig gekleideter Mädchen beobachtete, das Umfeld dabei vollends aus den Augen verloren. Männer… Ob dieses primitive Benehmen eine angeborene Veranlagung war? Skeptisch zog ich die Brauen zusammen, verwarf die Frage, die ich mir in diesem Zusammenhang zu Dämonen, speziell Drachen, stellte. Grundlegende Unterschiede würde es dort nicht verzeichnen… Verständnislos zuckte ich die Achseln, zwängte ich mich weiterhin Ausschau haltend abermals durch das Gewühl. Nach einer Weile erfolglosen Suchens wurde meine Ausdauer letztendlich belohnt… Die offenen, seitlichen Gartenareale und Hofkomplexe lagen schweigsam und unbeweglich in der finsteren Umarmung der Nacht, eingebettet in die Schatten ihrer nunmehr eigenen schwarzen Realität. Unter dem Mond und dem Sternenhimmel schien sich die Wirklichkeit der Sonne zu verzerren, eine ganz andere zu werden. Oder war es eine Tatsache, dass mit der Sonne nahezu alles Vertraute, jeder Rückhalt bis zum nächsten Morgen am Horizont entschwand? Furcht hegte ich vor der Dunkelheit nicht, jedoch bevorzugte ich zweifelsohne die hellen Tageszeiten, aus rein praktischen Gründen; wenn man geradewegs in sein Verderben lief, dann sah man es zumindest kommen. Zurzeit jedoch konnte ich die Hand vor Augen nicht erkennen, stolperte blindlings hinter Kaneko her, die mich des Erachtens meiner notdürftigen Sinneseindrücke nach bestenfalls querfeldein durch die Pampa lotste, anstatt nach einem Weg oder etwas dergleichen Ausschau zu halten. Dämonen… Das bedurfte keiner Anmerkung mehr, in Gesellschaft von Youkai musste man sich mit solcher Resolution arrangieren, sture Widerworte oder gar Weigerung halfen da auch nicht aus. Innerlich resignierend, die Züge in ergebener Entspannung, ließ meinen Blick durch die Düsternis schweifen. Nun hatte ich doch wahrhaftig den Katzenyoukai aus den Augen verloren. „Kaneko-chan? Wo bist du? Kaneko!“ Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt wie diesem, verdammt… konnte es denn schlimmer kommen, als führerlos in der Walachei von einem Garten umherzuwandeln, alleine, auf fremdem Boden, und das nachts? Eine Ölleuchte oder Laterne, selbst eine kleine Kerze hätte mir hier fabelhafte Dienste geleistet, wahre Wunder gewirkt; leider war ich nicht so geistesgegenwärtig gewesen, etwas Derartiges mitzunehmen. Ob die Schuld meiner schusseligen Gedankenlosigkeit oder aber einfach dem Pech zuzuschreiben war, verhielt sich gleich. Das Endergebnis änderte sich dadurch nicht im Geringsten. Es war deprimierend, meine Motivation versank langsam aber sicher im Bodenlosen. Demoralisiert blickte ich auf, fokussierte den abnehmenden Halbmond, der just in diesem Moment hinter den grauen Fetzen der Wolkenschleier zum Vorschein kam, die Umgebung mit fahlem Silberfirnis zu satinieren schien. Nicht allzu weit von meinem Standpunkt entfernt zeichneten sich die Umrisse einer hohen Mauer ab, und während ich mich dieser, meinem einzigen Anhaltspunkt, vorsichtigen Schrittes näherte, vernahm ich das dumpfe Geräusch ferner Stimmen. Männerstimmen, um mich präziser auszudrücken, und je länger ich lauschte, desto überzeugter war ich davon, das eine der beiden niemand anderem als Flúgar gehören konnte. Inhaltlich ging das Gespräch vollkommen an mir vorüber, ich verstand kein Wort – sicherlich sprach er mit einem Luftdrachen, denn die befremdlichen Silben und paradoxe Betonung waren unvereinbar mit dem Japanischen, beredte Indikatoren dafür, dass sie sich in ihrer eigenen Sprache unterhielten. Dann wurde es plötzlich still. Hatten sie etwa meine Anwesenheit erst jetzt bemerkt? Ihrer Reaktion nach zu urteilen, kam ich ungelegen. Warum sonst hätten die beiden Drachen ihre Konversation abbrechen sollen? Eine minimale Bewegung auf der Mauer veranlasste mich zum Innehalten, unbewusst drückte ich das Päckchen in meinen Händen fester gegen meine Brust. Ich begann an meinem Vorhaben zu zweifeln. Ob es nicht doch besser war, zurückzugehen? Immerhin hatte ich nicht beabsichtigt, jemanden zu stören. ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] kveðja - Gruß, sei gegrüßt leiðtogi - Anführer ***>>>Kapitel 41: >“In jener Nacht werden die Abgründe einer Seele enthüllt, freiwillig, denn er vertraut ihr bedingungslos. Dass das niemand gutheißen kann, ist ihm bewusst, solche Informationen sind nicht für Menschen gedacht. Eben deshalb gibt es einen Wächter, eine schattenhafte Bestie, die ein Auge auf Eindringlinge hat…“ *» Uppruni Kapitel 41: *~Uppruni~* ----------------------- "Aber die Wahrheit ist der Ursprung allen Seins. Der Einzelne kann sich dem annähern, aber Worte entziehen sich diesem Ursprung." – Irina Rauthmann Kapitel 41 – Uppruni -Ursprung- *Welches Geheimnis tragen wir tief verborgen im Innersten unserer Seele? Ist es abhängig von dem, was wir sind? Von unserer Vergangenheit, und dem, was wir erlebten? Oder handelt es sich dabei möglicherweise um eine Impression, die selbst uns schattenhaft erscheint, und die wir in ihrer Komplexität nicht zu erfassen vermögen? Und wer ergründet dann unser geheimes Wesen, das in der Finsternis haust, wenn wir selbst nicht dazu imstande sind? Bildet unser Ich erst ein Ganzes, wenn wir uns bedingungslos offenbaren?* ּ›~ • ~‹ּ „Midoriko.“ War das eine Feststellung…? Warum Flúgar mich so distanziert, so kalt adressierte, verstand ich nicht, doch Zeit, um darüber nachzudenken, gewährte er mir keine. „Komm.“ Den Kopf in meine Richtung gewandt, streckte er den linken Arm leicht aus, bot seine Hand in untypisch charmanter Manier an, um mir beim Erklimmen der Mauer behilflich zu sein. Worte und Verhalten passten bei ihm definitiv nicht zusammen – und das verwirrte mich zusehends. Nichtsdestotrotz nahm ich an, trat an die Mauer und fasste mit Bedacht – und Kanekos Unterstützung - die Hand des Luftdrachen. Aufgrund der widrigen Lichtverhältnisse konnte ich sein Gesicht nicht erkennen und nur einen Eindruck seiner Augen erhaschen, die das Mondlicht wie die eines Tieres reflektierten. Die Impression verflog, als er mich ohne ersichtliche Mühe auf seine Höhe zog und ein Stück nach hinten rückte, dabei eine Anhäufung von zerknülltem Pergamentpapier und einen Kohlestift hastig zur Seite räumte. Neugierig gestimmt warf ich ihm einen fragenden Blick zu, den der Luftdrache jedoch tunlichst vermied. Schämte er sich etwa dafür, sich im Schreiben zu üben? Und dann war es ihm unverständlich, dass mich die Scham ergriff, wenn ich nackt badete? Bizarre Logik. Es war wohl besser, dieses Thema nicht offen anzusprechen; ich wollte ihm nicht zu nahe treten, diesbezüglich war er eindeutig empfindlich, obgleich er das niemals offen zugeben würde. Stur, ja, aber auf durchschaubare Weise, die etwas an sich hatte, was ich nicht exakt einzuordnen wusste… Unbewusst stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen. „Hier.“ Skeptisch hob mein Gegenüber eine Augenbraue, betrachtete erst das in weiße Leinen eingeschlagene Päckchen, das ich vor ihm platzierte, dann mich mit kritischer Miene. „Nun nimm schon, es ist für dich.“ Flúgar wiegte unentschlossen den Kopf nach rechts, ehe er meine Aufforderung letztendlich akzeptierte und den unscheinbaren Stoff zurückschlug; seine Züge hellten sichtbar auf, als er den Inhalt des Bündels in der Finsternis identifiziert. Schmunzelnd, jedoch schweigend wohnte ich seiner Ungehemmtheit bei, erfreute mich an dem ungezwungenen Anblick, den er, offenbar einer Welle der Euphorie nachgebend, darbot. Seine unmittelbare Umgebung schien er vollkommen vergessen zu haben, denn sein Betragen zeugte weder von Anstand oder Erziehung noch von irgendeiner Form von Selbstbeherrschung. Wie ein kleines Kind stopfte er sich die Süßigkeiten, die die befremdliche Bezeichnung ‚Honigkekse’ trugen, in den Mund, jedweden überflüssige Umstand vernachlässigend – die Krümel auf seinem Haori störten ihn ebenso wenig wie mein Beisein. Ein Dämon mit einer Schwäche für Süßes, wer hätte das gedacht? Welch absurde Vorstellung… Wirklich aufgefallen war es mir gestern, als ich das Mittagsmahl verschlafen hatte und, für das zuständige Zimmermädchen aus unerfindlichem Grund, alle Ohagi verschwunden, der Tee und die Onigiri dagegen unberührt geblieben waren. Heimliche Naschkatze… In diesem Moment wirkte er beinahe… menschlich… und je länger ich ihn beobachtete, desto stärker wurde dieses Gefühl – obwohl mir bewusst war, dass es die Realität verfälschte. Dennoch wollte ich mir dieses Bild bewahren, nur ein wenig, um es nicht ungesehen vorbeiziehen zu lassen. Es schaffte einen fasslicheren, erträglichen Rahmen für die Ereignisse der letzten Wochen; es milderte die absonderliche Situation in der ich mich befand, beruhigte mein Herz, meine Seele. Unwillkürlich erfüllte mich eine tief greifende Wärme, mir war wohlig zumute, die nahezu unbeschreibliche Empfindungswallung erfasste meinen gesamten Leib, und es fühlte sich richtig an. Emotionen logen nicht… Eben deshalb gab ich dem mir unerklärlichen Impuls nach, den Haori des Loftsdreki von den Keksbröseln zu befreien. Ich beugte mich zu ihm und strich über den seidigen Stoff, als sich plötzlich etwas um mein Handgelenk schloss, und mich mit sanfter Gewalt nach vorne zog. Was…? Was sollte das? Perplex fand ich mich in Flúgars Armen wieder, unfähig, mich zu regen oder zu artikulieren, ich brachte keinen vernünftigen Ton heraus. Mein Herz raste, das Blut stieg mir in die Wangen. Ob es ihn innerlich amüsierte, wenn es ihm gelang, mich in Verlegenheit zu bringen…? Ja, das konnte ich mir lebhaft vorstellen. Zwischen säuerlicher Verärgerung und konsternierter Paralyse schwankend, strebte ich den Kontakt zu seinen weißen Augen an. Ein Fehler, denn ich geriet ins Zaudern und meine Stimme versagte; ich verlor mich in den farblosen Iriden, durch die er mich mit einem schwer definierbaren Blick taxierten. Schachmatt. In mir erstarb jegliches Verlangen nach Protest, mein Körper entspannte sich und ich lehnte versöhnlich die Stirn an seine Schulter. Warum hätte ich mich wehren sollen…? Dazu gab es keinen Anlass, es war in Ordnung. Ja, ich gestand mir durchaus ein, dass ich Flúgar mochte… Seine Nähe berauschte mich regelrecht, vernebelte mir den Verstand. Analog verschwammen meine Gedanken, wichen einem wohligen, rhythmischen Schaudern, das mir heißkalt die Wirbelsäule hinab jagte, Gänsehaut bereitete, sodass sich die Härchen in meinem Nacken aufstellten. Von klarem Denken konnte ich nicht einmal mehr träumen, mein Geist driftete in mir unbekannte Gefilde ab… Was ging hier vor sich? Was geschah mit mir? Langsam, jedoch stetig, trieb ich der Bewusstlosigkeit – oder etwas, das sich dem sehr ähnlich anfühlte – entgegen, der Willkür eines fremden Einflusses hilflos ausgeliefert, der mich, einem dunklen Strudel gleich, tiefer und tiefer in eine samtene Finsternis sog; die mit lieblichen Engelszungen lockende Schwärze erlegte mir ihren Bann auf, und mir war, als würde sie meine Seele an sich binden, in ihre ewige Lichtlosigkeit betten… Am Rande registrierte ich noch, dass der Atem des Loftsdreki in regelmäßigen, warmen Böen über meine Wange, meinen Hals strich, seine Hände währenddessen über meinen Rücken glitten, die Finger durch mein Haar fuhren. Was tat er da? Worauf sollte das am Ende hinauslaufen…? „Flúgar, was…“ Die letzten Farbschläge der Wirklichkeit verblassten, meine Muskeln entspannten sich unwillkürlich und eine erschreckende Ruhe ergriff Besitz von mir. Wie aus weiter Ferne, als Echo der schwindenden Realität, erreichten mich die leise geraunten Worte des Loftsdreki… „Vertrau mir.“ „það er engin leið…“ Fassungslosigkeit zeichnete sich auf den feinen Gesichtszügen des Oberhauptes der Loftsdrekar ab, wich jedoch bald Erbostheit und Unverständnis. Hatte sein Sohn das letzte Bisschen Verstand verloren? War ihm denn nicht bewusst, was er da im Begriff war anzurichten? Und das für eine Menschenfrau… Súnnanvindur schnaubte verstimmt, ballte die Hände zu Fäusten; er würde dem hier und jetzt ein Ende bereiten. „Súnnanvindur.“ Der Angesprochene zuckte angesichts der direkten Anrede zusammen, sträubte sich dennoch nicht gegen die Hand auf seiner Schulter, die seinem Vorhaben Einhalt gebot. Demütig senkte der Drache den Kopf, als die imposante Gestalt des weißhaarigen Hundedämons neben ihm ins trübe Licht eines roten Lampions trat. „Soll ich etwa tatenlos zusehen, wie er geradewegs in sein Verderben rennt? Habe ich nicht die Pflicht, als sein Vater, ihn vor solchen Dummheiten zu schützen…?“ Aber… hätte er dann Begebenheiten wie diese nicht von vornherein zu verhindern wissen müssen? Ja, es war offensichtlich; er gestand es sich ein, er hatte versagt, war auf ganzer Linie kläglich gescheitert. Was für einen miserablen Vater er doch abgab… Nicht genug damit, dass er Flúgar keine ordentliche Erziehung hatte zukommen lassen, er schlug ihn, wenn er sich nicht mehr zu helfen wusste, und manchmal ertappte er sich gar bei dem Gedanken, wie angenehm es wäre, sich nicht mehr mit ihm herumplagen zu müssen… Wie sehr musste es ihm an Charakter mangeln, wenn er so von seinem Sohn, seinem Erben, dachte? Der Leib des Luftdrachen bebte vor unterdrückten Emotionen – vor Wut, Hass und Scham, vor niederdrückenden Schuldgefühlen; und die Verantwortung dafür trug allein er. Jegliche Vorwürfe, und der Zorn, der ihn zu überwältigen drohte, richteten sich lediglich gegen ihn selbst. Er verabscheute sich für seine Schwäche… „Ich habe Verständnis für deine Sorge, doch er ist alt genug, irgendwann musst du loslassen. Glaubst du wirklich, dass er sich den Konsequenzen seines Handelns nicht bewusst ist? Bringst du deinem Sohn denn keinerlei Vertrauen entgegen?“ Nein, Súnnanvindur fürchtete um Flúgars Seele, denn wenn er die Richtung ins Nichts erst einmal eingeschlagen hatte, führte kein Weg mehr zurück. Deshalb fiel es ihm so schwer, einfach den Blick abzuwenden und weiter zu gehen. Wenigstens dieses Mal wollte er mit reinem Gewissen das Richtige tun… nur, was bedeutete das? Eingreifen? Oder musste er dafür wegschauen? Verriet jene Überlegung nicht eindeutig, wie selbstsüchtig er nach Eigenbestätigung trachtete…? „Außerdem ist es bereits zu spät, die beiden bringst du nicht mehr auseinander. Lass sie.“ Der Loftsdreki besann sich, schloss die Augen. Dann nickte er, einsichtig und widerwillig zugleich, kehrte dem in Eintracht versunkenen Pärchen den Rücken, dankbar für den Beistand und Rückhalt, den der Hundeyoukai ihm sicherte. Kaum einen Augenblick darauf nahmen die beiden Dämonen Schritte wahr, das dumpfe, nahezu schwerfällig wirkende Geräusch ließ auf einen der menschlichen Diener schließen. Höflich und in gebührendem Abstand kniete dieser vor dem geschlossenen Shouji ab, verneigte sich tief. „Der Tennô lässt fragen, ob die edlen Herren einem Schälchen Sake abgeneigt seien. Gesellschaft ist ihm äußerst herzlich willkommen.“ Während Súnnanvindur dem eher zweifelnd gegenüber stand, zögerte der Hund nicht lange und stimmte der diskreten Aufforderung vorfreudig zu, Bedenken kannte er, wenn es um Ausgelassenheit und das Verleben einer angenehmen Zeit ging, nicht. Schließlich besaß man bloß ein Chance, ein Leben, das es auszukosten, in vollen Zügen zu genießen galt. Trotz dessen sollte der Sake in besagter Nacht bitter schmecken… ּ›~ • ~‹ּ »Ein sanfter Windhauch, der ihre Wangen liebkost, sich spielerisch in den pechschwarzen Strähnen ihres Haares verfängt, weckt sie aus der bleiernen Benommenheit, die zuvor ihre Sinne umfangen hatte. Vage steigt ihr das süßliche Aroma der Kirschblüten, durchsetzt von Minze und Zitronengras, in die Nase, während ihre Ohren das ferne Wispern und Raunen fremdartiger Stimmen vernehmen. Dennoch fällt die Ruhe und Entspannung, die ihren gesamten Leib erfüllt, nicht von ihr ab, sondern entfacht stattdessen eine ungekannte Neugierde in ihr, die sie nur so mit Energie zu überströmt. Blinzelnd öffnet die junge Frau ihre Augen, findet sich in einem wahren Meer aus Rosa und Grün wieder. Offenbar befindet sie sich in einem Garten, denn die weitläufige Wiese ist lediglich von Kirschbäumen gesäumt, in nicht allzu weiter Ferne mündet ein Flüsschen in einen Teich. Ein kleiner Steg führt auf das Wasser, den Weg dorthin beschreibt ein schmaler Kiesweg. Von der Faszination ergriffen, erhebt sie sich, atmet mehrere Male tief durch und dreht sich um die eigene Achse. Das muss ein Traum sein… Fasziniert blickt sie zum Himmel auf, wird sich der schattenhaften Silhouetten gewahr, die darüber hinweg ziehen wie vom Sturm getriebene Wolken. Und es beunruhigt sie nicht. Im Gegenteil, es stimmt sie in ihrem Inneren glücklich, ihre Seele lächelt bei jenem Anblick und strahlt hell wie die Sonne. Ist dieser Ort das Paradies? Noch einmal schaut sie sich um, doch niemand ist in der Nähe. Die Schönheit der Natur scheint verlassen, ja beinahe trostlos. Weder Vögel noch Insekten tummeln sich hier, alles verweilt still und wirkt zeitlos, als sei es nie anders gewesen. Bloß der Wind fügt sich dem nicht, wechselt seine Richtung, seine Intensität, erinnert an die wirren, chaotischen Impulse des Lebens… Bizarr möchte man es nennen, wie nah Perfektion und Monotonie beieinander liegen. Mit gemächlichen Schritten überwindet sie eine Anhöhe, spürt das weiche nachgiebige Gras unter ihren blanken Fußsohlen. Umherwirbelnde Blütenblätter verirren sich in ihrem Haar, Rosa auf Schwarz. Dann hält sie inne. Hinter einem Hügel erkennt sie die Umrisse eines Gebäudes von westlicher Architektur. Auf einem Balkon, an der weißen Brüstung, steht eine Frau mit langem Haar, den Blick gedankenverloren ins Nichts gerichtet. Ein leichtes Zupfen an ihrem Ärmel lenkt ihre Aufmerksamkeit um. Erschrocken weicht sie einen Schritt beiseite; aber wie…? Bis vor einem Moment ist niemand in Sichtweite gewesen. Oder? Woher kommt das Kind, das ihr fordernd in die Augen sieht? Irgendetwas an diesem Kind kommt ihr unheimlich bekannt vor. Neutrale, kalte Züge, betont von den farblosen, weißen Iriden… Ohne ersichtlichen Grund nimmt das blasse Kind sie an der Hand, und erst jetzt fällt ihr das rote Windrädchen auf, das es in der Linken trägt. Es dreht sich, obwohl das Element der Luft schweigt. Alarmiert fährt sie herum, die Umgebung jedoch verschwimmt bereits, verkommt ins Unerkenntliche. Die Welt um sie herum versinkt in Schwärze, auf dem glatten Boden bilden sich kreisförmige Wellen. Fragen, wie tausend bunte Schmetterlinge, schwirren durch ihren Kopf, und das beklemmende Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, überkommen sie. Der Ausdruck des Kindes ist teilnahmslos. Sie will etwas sagen, aber kein Wort dringt aus ihrem Munde. Stumm betrachtet sie ihr Spiegelbild auf dem Glasgrund der Nichtwelt, in der sie sich befindet – nein, in der sie eine Gefangene ohne Stimme ist. Ihre Angst kann sie nicht leugnen, eine Alternative stellen jähes Entsetzen oder heillose Panik trotz dessen nicht dar. Nebelschleier ziehen auf, und eine unbarmherzige Kälte bricht über sie herein, der Untergrund wird felsig und schroff. Dass sie sich die ganze Zeit über fortbewegt hatte, realisiert sie erst jetzt, und das mit einigem Erstaunen. Die kalten Finger des Kindes umschließen noch immer die ihren – der mahnende Druck animiert sie unterbewusst zum Gehorsam, zum Weitergehen. Was soll sie auch sonst tun? Ohne Führung ist sie verloren. Senkrechte, aus rötlichem Stein gefertigte Mauern ragen plötzlich hoch vor ihnen auf, massiv und ihrem Aussehen nach Jahrhunderte alt, unüberwindbar. Kletterpflanzen und Flechten überwuchern die Eintönigkeit des Gemäuers, das sie bald umringt. Kein Ausweg, jeder Gang ähnelt dem vorigen, kreuzt sich allem Anschein nach immer wieder mit sich selbst. Zwecklos, nach einer Möglichkeit der Orientierung zu suchen, und somit ist ihr eine Flucht aus diesem Labyrinth unmöglich. Alles, was ihr bleibt, ist Vertrauen… Der Weg durch den Irrgarten ist zermürbend, ihr Verstand rebelliert. Wohin sind sie überhaupt unterwegs? Existiert so etwas, wie ein Ziel? Oder wird sie letztendlich die Ewigkeit verschlingen, da es hier keinen Ausgang geben kann? Müdigkeit und Frustration zehren an ihren Nerven, tonlose Flüche lösen sich von ihren Lippen. Ihre Hoffnung beginnt zu schwinden, Argwohn drängt sich in ihr Urteilsvermögen. Dieses Kind… Misstrauisch mustert sie das eindeutig unmenschliche Wesen, über das sie nicht einmal zu urteilen mag, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Unglaublich, wie wenig Aussagekraft jenes Antlitz hinsichtlich dessen besitzt… Kurzerhand entscheidet sie sich, versucht sich loszureißen, doch das Kind umklammert fest ihr Handgelenk. Warnend schüttelt es den Kopf, wahrt dabei die Unleserlichkeit seiner Miene. Schwindel und Übelkeit übermannen sie, sämtliche Konturen verschwimmen vor ihren Augen und sie fühlt, dass sie das Falsche tut. Auch ihr Instinkt rät von ihrem Vorhaben, sich gewaltsam zu befreien, ab. So fügt sie sich, gibt ihren Widerstand auf. Als unmittelbare Reaktion darauf lockert das Kind seinen Griff, setzt sich wieder in Bewegung. Völlig unbeeindruckt schreitet es voran, offenbar einem nur ihm sichtbaren Pfad folgend – schier willkürlich biegt es ab, ändert die Richtung oder geht simpel geradeaus. Unverhofft tritt sie hinter der nächsten Ecke in warmes Licht, doch ihre Freude verrinnt, als sie die blendende Helligkeit hinter sich lässt; der Weg endet hier und jetzt in einer Sackgasse. Aber… das kann nicht wahr sein. Sie sinkt in die Knie, kraftlos, erschöpft. Von dem Tun ihrer Begleitung nimmt sie zunächst wenig Notiz, und erst, als das Kind von einem matten bläulichen Glimmen umhüllt wird, kehrt ihre Besinnung zurück. Ehe sie noch einen neuen Gedanken fassen kann, verschwinden die Umrisse der Mauern in der Dunkelheit. Die Gestalt des Kindes wendet sich ihr zu, das Gesicht starr und unnahbar wie das einer Statur; bedacht legt es den Zeigefinger seiner freien Hand an die Lippen. „Weck ihn nicht auf!“ Damit steht sie allein in der Finsternis. Ein vereinzelter toter Baum sticht als Anhaltspunkt in der unendlichen schwarzen Einöde heraus, in einiger Entfernung erkennt sie eine geteilte, aus umrahmten Eisengittern bestehende Pforte, die zur rechten Seite hin einen Spalt breit geöffnet ist. Wen soll sie nicht wecken? Vorsichtigen Schrittes nähert sie sich dem riesigen Tor, schiebt sich durch die Lücke zwischen den beiden ehernen Flügeln. Auch hier ist es düster, tiefe Schatten verbergen das Antlitz des Raumes, der den Anschein vermittelt, sich bis ins Unendliche zu dehnen. Die Atmosphäre dieses Ortes macht sie nervös – etwas Bedrohliches lauert im dämmerigen Halbdunkel der Unbegrenztheit; eine Gefahr, die sich ihrer Einschätzung entzieht, eine mächtige Präsenz, die ihr heißkalte Schauer über den Rücken jagt. Ihr Herz rast, und das Unbehagen in ihrer Brust wächst beständig. Was soll sie nur tun? Umkehren kann sie nicht, der Weg vorwärts ist vorgeschrieben. Also nimmt sie ihren Mut zusammen, fasst neue Entschlossenheit; aufgeben kommt nicht in Frage, niemals. Eilig durchquert sie den enormen Saal, den Widerhall ihrer eigenen Schritte im Rücken, die Ungewissheit direkt vor sich. Doch mit einem Mal ist ihr, als trete sie durch den Vorhang jener artifiziellen allgegenwärtigen Nacht hindurch, und im nächsten Augenblick findet sie sich in einer unterirdisch gelegenen Baute wieder. Farbige Kristalle beleuchten das gigantische Gewölbe, tauchen es in angenehmes Dämmerlicht. Ein Murmeln durchdringt die Stille, jemand ruft nach ihr, nennt sie gar bei ihrem Namen. Leise, aber eindringlich, und sie vermeint, die Stimme, alt und jung zugleich, wieder zu erkennen, obschon sie sie nie zuvor vernommen hatte. Gestaltlose Schemen kreuzen mehrfach ihren Weg, als sie dem Ruf folgend in Richtung des Höhleninneren geht. Rechts und links von ihr stützen weiße Marmorsäulen die hohe Decke, der Boden ist mit rosafarbenen, schwarz geäderten Platten des metamorphen Gesteins ausgelegt. Geistesabwesend steigt sie eine lange Treppe empor, vermutet, sich in einem nach westlichem Stil errichteten Tempel zu befinden. Wasser fließt in Rinnsalen die Wände, selbst die Stufen hinab; auf zierlichen Podesten sind gläserne Schalen platziert, in denen bläuliche Flammen lodern. Und als sie den Kopf hebt, strahlt ihr das helle Blau des Himmels entgegen. Offenbar handelt es sich nicht um eine Höhle, wie sie anfangs gedacht hatte, sondern eher um einen kegelförmigen Berg oder einen Vulkan. Am oberen Ende der Treppe erhebt sich ein von vier verschiedenfarbigen Pilastern – Weiß gegenüber Schwarz, Blau gegenüber Rot - getragener Baldachin, der sich kuppelartig, wie ein zweites Firmament über das flache, ungeflieste Plateau wölbt. Luft, die sie als sachte Böe umschmeichelt, Erde, fest und Halt gebend, unter ihren bloßen Sohlen, Wasser sprudelt frisch und lebendig aus einer Quelle in der Mitte der abgegrenzten Ebene, Feuer umringt in Form eines unbezähmbare Hitze erzeugenden Magmasees, der den gesamten Krater ausfüllt, die verloren wirkende Insel, auf der der kappellenähnliche Tempelpart erbaut wurde. Eher beiläufig wandert ihr Augenmerk zur Innenseite der Kuppel – wie gebannt bewundert sie das meisterhafte Fresko, welches seine ganz eigene Geschichte erzählt; zu Beginn, im Zentrum, sind vier Symbole abgebildet, von denen sich je zwei gegenüber stehen, Weiß und Schwarz für Luft und Erde, Blau und Rot für Wasser und Feuer. Aus diesen großen Vieren manifestieren sich majestätische Geschöpfe, unsterblich wie die Materie, aus der sie bestehen, doch mit einer Seele gesegnet, die sie zu etwas Einzigartigem werden lässt. Verliert das Wesen sein Leben an die Ewigkeit, so zersplittert seine Seele in abertausende winzige Fragmente, die, jedes einzelne für sich genommen, eine neue Kreatur formen, nämlich eine solche, die ebenfalls einzig in ihrer Art ist, aufrecht geht, und über eine sich stetig weiter entwickelnde Intelligenz verfügt… Ihr stockt der Atem, die Erkenntnis überfällt sie buchstäblich. Indessen werden im Hintergrund, weit entfernt, so scheint es, Stimmen laut, aus denen Aufregung und Wut, zuweilen gar Hass spricht. Der Anlass hätte nicht klarer für sie sein können: dieses Wissen ist keines, das für Menschen erdacht wurde. Dann schallt unvermittelt ein infernalischer Schrei durch den Tempel, was das uralte Gemäuer in seinen Grundfesten erschüttert. Das Bild vor ihren Augen wird blitzartig unscharf, milchig und verblasst schließlich gänzlich. Erneut ist es finster um sie herum, und dennoch kann sie ohne Schwierigkeiten die monströse Schattengestalt vor sich erfassen. Drohend breitet diese ihre Schwingen aus, formt ein aggressives Grollen in ihrer Kehle. Die Bestie mit den blanken kalten Augen zögert nicht, sie attackiert ihr wehrloses Opfer, das von den unbarmherzigen Fängen der Kälte aus hell schimmerndem Eis vertilgt wird…« ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] það er engin leið - (das ist) unmöglich ***>>>Kapitel 42: >“Ein kaltes Erwachen schließt sich dem wirren Traumgebilde an, Angst und Kontrollverlust deuten auf eine Eskalation hin. Andernorts offenbaren sich die ersten Zeichen für die Zukunft, die turbulente Zeiten ankündigt. Der erste Bote erscheint klein und unscheinbar, doch in großer Anzahl…“ *» Fuanshin Kapitel 42: *~Fuanshin~* ------------------------ "Es gibt keine Sicherheit, nur verschiedene Grade der Unsicherheit." – Anton Pawlowitsch Tschechow Kapitel 42 – Fuanshin -Unsicherheit- *Wie reagieren wir, wenn wir schlussendlich mit dem wahren Antlitz der Realität konfrontiert werden? Üben wir schweigend Akzeptanz, gleichgültig, wie sehr es uns widerstrebt, oder äußern wir unsere Unzufriedenheit? Empfinden wir Angst, und verdrägen sie hinter der Fassade von Gleichgültigkeit? Oder zeigen wir das Wirrwarr an Gefühlen, das fortan in uns tobt, offen und ehrlich, ohne einen Gedanken an Beherrschung zu verschwenden? Verfallen wir hoffnungslos dem Chaos, wenn unsere Illusion der Wirklichkeit mit einem Mal zerstört wird?* ּ›~ • ~‹ּ Mit einem erstickten Schrei fuhr die Priesterin aus ihrem Trancezustand hoch und riss panisch die Augen auf. Das Ungetüm war verschwunden, fürwahr, doch noch immer umgab sie diese gespenstische Eiseskälte, deren Ursprung sie unmittelbar vor sich spüren konnte – jetzt erinnerte sie sich. Youki… Abermals übermannte sie die Panik. Dem Revoltieren ihres Körpers zum Trotz begann sie postwendend, sich zur Wehr zu setzen, zu versuchen, den Griff des Dämons mit aller Gewalt, die sie noch aufzubringen vermochte, abzuschütteln. Blindlings und unkontrolliert, wandte sie sich mit ihren letzten Kräften gegen ihn, und schließlich gelang es ihr, ihn von sich zu stoßen. Dass sie jedoch die Balance verlor und um Haaresbreite die Mauer hinab gestürzt wäre, kümmerte sie wenig. Ihr Herz schlug wie wild in ihrer Brust, sie keuchte vor Angst und Verwirrung; Schweiß rann ihre Schläfen, ihren Rücken hinab. Nur langsam beruhigte sich das Beben ihres Körpers, und die Aufklärung ihres Bewussteins, das nun vollständig in die Realität zurückkehrte, schloss sich dem an. Die Furcht, die sie zuvor geblendet hatte, verflog. Seufzend fasste sie an ihren schmerzenden Kopf. Wo befand sie sich überhaupt? Was war geschehen? Nein, keineswegs hatte sie schlecht geträumt, dazu hatte es sich zu real angefühlt, und die physischen Nachwirkungen waren ihr gegenwärtiger als die tatsächlichen Ereignisse, die sich in jener unbekannten Scheinwelt zugetragen hatten. Erschöpft ließ sie den Kopf sinken, hob dann aber abrupt den Blick, als sie den jähen Anstieg von Youki vor sich wahrnahm. Flúgar… Der Loftsdreki kniete auf dem Mauerfirst, die gebeugte Haltung bezeugte die verkrampfte Anspannung und das Unwohlsein, das ihn beherrschte; er zitterte, seine Atmung ging schnell und unregelmäßig, die linke Hand hielt er gegen sein Stirnbein gepresst. Wie bereits am Morgen, als Akaihoshi ihn in arge Bedrängnis gebracht hatte, begann Flúgars dämonisches Ego die Kontrolle über ihn zu erlangen. Doch dieses Mal kämpfte er dagegen an, verbissen, und sie hoffte, nicht vergeblich. Denn sollte es ihm nicht gelingen, seine Beherrschung zu wahren, war nichts und niemand mehr vor ihm sicher, darin bestand für sie kein Zweifel. Ihn zu unterschätzen würde fatale Konsequenzen nach sich ziehen, das wusste sie, und die Tatsache, dass er durchaus zu den mächtigeren Vertretern seiner Rasse gehörte, machte ihn gefährlich. Nein, sie hatte ihre erste Begegnung nicht vergessen, ebenso wenig wie ihre hilflose Situation im Wald der Kitsune, in der der Luftdrache nicht mehr Herr seiner Selbst gewesen war… Ein dumpfer animalischer Laut entrang sich der Kehle des Drachen, riss Midoriko aus ihren Reflexionen. Das verhieß mit Sicherheit nichts Gutes. Was sollte sie jetzt tun? Wie galt es zu reagieren? Ihn zu beruhigen würde sich als schwierig erweisen – wenn nicht unmöglich. Dennoch blieb ihr weder eine Wahl noch genügend Bedenkzeit für eine Ausweichmöglichkeit, sie musste etwas unternehmen, sofort. Die Priesterin schluckte. „Flúgar…?“ Frappant langsam richtete sich sein Fokus auf sie, die zu Schlitzen verengten, rot glühenden Augen fixierten ihre Gestalt; starr und undurchdringlich, kalt, seine Besinnung war dahin. Und da fiel es ihr auf, nun begriff sie es: die Form seiner Dämonenenergie… sie glich der des Schattenmonstrums aus ihrem vermeintlichen Traum bis ins letzte Detail, und diese Kongruenz war kein Zufall. „Du… bist die Bestie?“ Aber wie…? Das ergab doch keinen Sinn! Bestie… Unentwegt hallte jenes Wort durch seinen zerrütteten Verstand – es rief Erinnerungen in ihm wach, Erinnerungen an traumatische Ereignisse aus der Vergangenheit, an die Menschen, die ihm immer wieder mit Verachtung und Hass begegnet waren. Fürwahr, sie hatte Öl ins Feuer gegossen, ein kleines Wörtchen… Während sein humanes Äußeres zu verbleichen schien und von dumpfem Licht erfasst wurde, schwoll auch seine dämonische Aura stark an. Das kehlige Knurren verlor jedweden ihr bekannten irdischen Klang. Pure Mordlust, die Gier nach Blut funkelten ihr aus dem derzeitig deformierten Antlitz des Youkai entgegen – ihre Lage war weitaus schlimmer als misslich. Entsetzt verfolgte Midoriko das Szenario direkt vor ihr, unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Sie war ihm restlos ausgeliefert. Die verschwommene Gestalt des Drachen inmitten des Verwandlungsprogresses, setzte sich ruckartig in Bewegung, schnellte auf sie zu. Im Zuge einer letzten verzweifelten Reflexreaktion nahm sie instinktiv eine Abwehrhaltung ein, indem sie die Arme empor riss und sie schützend vor ihren Körper hielt. Natürlich würde sie das nicht retten können… Doch es geschah nichts. Absolut nichts. „So siehst du mein wahres Ich…? Bestie…“ Seine Stimme klang dunkel und matt, er schnaubte unwirsch, nachdem er das letzte Wort eher verächtlich ausgespuckt als gesprochen hatte. Die Priesterin blinzelte konfus, senkte reumütig den Blick. „Entschuldige bitte, ich… ich hatte Angst.“ Ihre Aussage entsprach der Wahrheit, und unglücklicherweise musste er einräumen, dass sie damit nicht im Unrecht lag. „Ich weiß. Und das zurecht.“ Erstaunen glitt über ihren Ausdruck, sie blinzelte und wagte, den Kopf zu heben. Wieder in menschlicher Form stand er knapp vor ihr, wandte ihr abweisend die Seite zu. Sie vermochte es nicht, seine Miene zu deuten, studierte sein Profil nichtsdestoweniger eindringlich. Was meinte er? Dass ihr Empfinden berechtigt gewesen war? Er verschwieg ihr etwas, und dass es ihn belastete, bekundete die Bitterkeit seiner Züge. „Ich hätte dich getötet.“ Zugegeben, das ängstigte und erschreckte sie zugleich, indessen beschlich sie dabei aber eine intuitive Ahnung. Irgendetwas hatte ihn aufgehalten, nur was? Gegen jede ihrer Erwartungen drehte er sich zu ihr, ging in die Hocke. Zielstrebig streckte er die linke Hand aus, berührte mit Zeige- und Mittelfinger behutsam ihre Stirn. Nachdenklichkeit zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Offenbar war es ihm ebenfalls ein Rätsel, was ihn gerade eben von seinem Vorhaben abgebracht hatte. Abgesehen davon, dass er plötzlich wieder zu Sinnen gekommen war. Er hegte eine Mutmaßung, preisgeben würde er sie hier, vor ihr, allerdings nicht; er würde dem nachgehen und dieses Geheimnis ergründen… „Da ich dein Leben nicht auf ewig bewahren werden kann, werde ich deine Seele beschützen. Das verspreche ich dir, Midoriko.“ Wie eine leichte Sommerbrise streifte der kurze, aber heftige Impuls reiner Energie ihre sensible Wahrnehmung. Die Furchen um den Mund der alten Frau vertieften sich, ein Schmunzeln stahl sich auf ihre von der Zeit heimgesuchten Züge. „Interessant. Dieses Mädchen birgt mehr Potenzial in sich, als ich dachte. Dessen ungeachtet, es war keine Fehlkalkulation – womöglich hätte sie meines spirituellen Anstoßes nicht bedurft.“ Konzentriert richtete das Medium seine blinden Augen in die Ferne – um die Wahrheit hinter der Fassade der Welt und ihrer Kinder zu erkennen, waren die natürlichen Sinne des Menschen überflüssig; ebenso der greise Leib, der sie an das Diesseits band und ihr eine Erscheinungsform verlieh, die die Wesen um sie herum verstehen konnten. „Dass sie so rasch beginnen würde, die eigentliche Seele, die in ihr schlummert, zu entfalten… Selbst ich kann nicht klar sehen, was die Zukunft letztendlich bringen wird, aber eines ist sicher: ihr Schicksal ist eng verwoben mit denen, die ihr am Ähnlichsten sind, Kreaturen, die die Jahrtausende überleben und deren Alter meines bei Weitem übersteigt. Und ihnen steht ebenfalls eine Ära des Wandels bevor; Mächtekollisionen, Kriege und eine Neuverteilung der Elementarkräfte. Es wird amüsant werden.“ Dass davon die wenigsten der Betroffenen etwas ahnten, verdichtete die Aussicht auf ein atemberaubendes Spektakel zwischen den verfeindeten Stämmen. Leise lachend wandte sich die Greisin um, ihre fragile Gestalt verschwand in den Schatten der Umgebung. „Es scheint, als würde diese Sphäre neuer Wendungen nimmer müde…“ ּ›~ • ~‹ּ Nach einer langen Periode der Finsternis trat am Nachthimmel endlich wieder der Mond hinter den dunklen Wolkenschleiern hervor und sandte seinen mysteriösen silbrigen Schein auf die Erde. Ich hielt inne, blickte nachdenklich zu der gespenstischen Erscheinung des Gestirnes auf. Längst war der Nachhall des Feuerwerkes verklungen, und absolute Stille schwebte wie ein aus feinster Seide gewobenes Netz über der gesamten Residenz des Tennô. Sogar der Wind und seine Gespielinnen, die Wellen, schwiegen sich aus, obwohl wir uns hier so nahe am Meer befanden. Flúgars Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf, wiederholten sich Mal um Mal, wie ein ewig währendes Japa, das sich in das Unterbewusstsein meines Seins eingebrannt hatte. Er hatte es Ernst gemeint, sein Versprechen war ihm von Herzen gekommen. Nur, aus welchem Grund? Was hatte ihn dazu animiert? Und vor allem, wie wollte er das bewahrheiten? Meine Seele beschützen… Mit einem ärgerlichen Aufseufzen raufte ich mir die Haare, kehrte der Szenerie den Rücken. Nicht zu glauben, dass es diesem Idioten tatsächlich gelang, mich mit einem Satz derart aus der Bahn zu werfen. Er hatte wohl sein heimliches, ganz persönliches Vergnügen daran, mich zu verunsichern und mit einer vagen Aussage eiskalt alleine im Dunkeln stehen zu lassen. Und nun raubte mir die darauf einsetzende Nachdenklichkeit den Schlaf. Es war zum Verzweifeln, ich wurde aus ihm nicht schlau. Wieso hatte er das gesagt? So plötzlich und unerwartet, völlig aus dem Kontext gerissen… Vielleicht sollte ich nicht zu viel dahinter vermuten, denn um realistisch zu bleiben, dazu fehlte es dem Luftdrachen sicherlich an Intellekt. Für psychologische Spielchen war er nicht intelligent genug. Am wahrscheinlichsten war, dass keinerlei Absichten hinter seinem Verhalten steckten, sondern lediglich Aufrichtigkeit. Sich darüber weiterhin den Verstand zu zerbrechen, war herzlich sinnlos, ebenso wie der Versuch, die Bedeutung dieses abstrusen Traumes zu ermitteln… Überdies hatte ich vergessen, Flúgar angemessen zur Raison zu ziehen, was die Warnung für den Inu no Taishou anbelangte. Es war doch einfach nicht zu glauben! Kopfschüttelnd wandte ich mich um, machte mich auf den Rückweg zu meinem Quartier. „Kaneko-chan, komm.“ Normalerweise war der Nekoyoukai stets an meiner Seite, spätestens, wenn ich nach ihr rief. Heute nicht. Wo war sie nur? Etwas ratlos ließ ich meinen Blick umherschweifen, suchte die Umgebung mit den Augen ab; keine Spur von Kaneko, dabei war ich mir bis gerade eben sicher gewesen, dass sie sich, seitdem wir uns außerhalb unseres Quartiers befanden, in meiner Nähe aufgehalten hatte. Eigenartig, das entsprach so gar nicht dem anhänglichen Wesen des Feuerdämons. Obwohl, wenn ich es recht bedachte… dass sie sich eigentümlich verhielt, war mir bereits aufgefallen als mir der Versuch missglückt war, Inu no Taishous Schwert Sou’unga, oder viel mehr den maliziösen Geist, der darin residierte, zu läutern. Kaneko hatte zu diesem Zeitpunkt nicht das Katana des Hundedämons fokussiert, sondern den Himmel, den Blick gen Ozean gerichtet; und ich hatte ebenfalls etwas gespürt, zwar schwach und in weiter Ferne, aber eindeutig als das böse Youki eines Dämons zu identifizieren. „Kaneko-chan!“ Langsam nahm meine Sorge um den Verbleib meiner Begleiterin Überhand, hoffentlich war ihr nichts zugestoßen. Unruhe ergriff mich, und ich tat unschlüssig ein paar Schritte zurück, um den leeren, spärlich vom Mondlicht erleuchteten Flur, den ich zuvor durchquert hatte, einsehen zu können. Im ersten Moment glaubte ich wirklich Kanekos zierliche Gestalt in einiger Entfernung erspähen zu können, doch ich irrte mich, wie mir ein zweites, genaueres Hinblicken bestätigte. Denn das, was sich dort gemächlich über die Holzbohlen bewegte, mehr kriechend als laufend, entpuppte sich als ein kleiner, schwarz und gelb gemusterter Salamander. Somit eines besseren belehrt, runzelte ich überfragt die Stirn. Lebte diese Eidechsenart nicht für gewöhnlich in feuchten Wäldern, tief im Landesinneren und distanziert von menschlichen Ansiedlungen? Nachdenklich tippte ich mir mit dem rechten Zeigefinger an die Wange und näherte mich vorsichtig der – wie ich mir eingestehen musste - überaus possierlichen Amphibie, ging neben ihr in die Hocke. Realistisch erwogen konnte sie sich nicht hierher verirrt haben, eine Fehlleitung ihres Instinkts in diesem Ausmaß war schlichtweg unmöglich. Doch was hatte es dann zu bedeuten…? „Merkwürdig… was willst du nur hier?“ Dem in mir aufwallenden Drang widerstehend, den niedlichen Feuersalamander wenigstens einmal kurz zu berühren, strich ich mir durch das dunkle Haar, wandte meinen Blick nach links, in Richtung des angrenzenden Gärtchens. Das Seufzen, das im Begriff gewesen war, sich aus meiner Kehle zu lösen, blieb mir im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken. Ich blinzelte mehrmals infolge der Ungläubigkeit, die mich befiel. Damit hatte ich nun wahrhaftig nicht gerechnet. Feuersalamander, überall, wo ich auch hinblickte – nein, mitnichten, das war kein Zufall! Die Wahrscheinlichkeit, dass solch eine Massenakkumulation aus einer reinen Laune der Natur heraus geschah, belief sich gegen Null. War das ein böses Omen? Als abergläubisch mochte ich mich ungern bezeichnen, doch jenes Szenario brachte meine vermeintlichen Überzeugungen diesbezüglich ins Wanken; dahinter verbarg sich mehr, als es den Anschein erwecken wollte. Irgendetwas bahnte sich an, ich konnte es mit all meinen Sinnen erfassen und trotzdem nicht beim Namen nennen. War das hier auf gewisse Weise mit den intriganten Machenschaften des Tennô verknüpft? Hatte er etwa seine Finger bereits im Spiel? Dann musste ich augenblicklich in Aktion treten und dem entgegenwirken, bevor das Vorhaben des spirituellen Reichsoberhauptes effektiv greifen und darüber hinaus gravierende Schäden – welcher Art auch immer – entstehen konnten. Kurzum packte mich ein unbändiger Tatendrang, resultierend aus dem heftig in mir aufflackernden Gerechtigkeitssinn, der vor meinem Geist klar und vernehmlich formulierte, dass ich dem perfiden Tun eines Menschen, gleichgültig, welchen Rang er bekleidete, nicht stumm stattgeben durfte, niemals. Wie ein inneres Feuer brannte das Verlangen nach der Beendigung dieses rassistischen Wahnsinns in mir, koste es, was es wolle. Kaneko würde wohl oder übel warten müssen. Betrübt senkte ich den Kopf, murmelte eine Entschuldigung. Es ging nun mal nicht anders, die Prävention des törichten Fehlers, den der Tennô mutwillig und zuversichtlich beabsichtigte zu begehen, hatte Vorrang. Seine Motive kannte ich nicht, und dennoch bezweifelte ich ernsthaft, dass dahinter eine gute Absicht zu finden war – was rechtfertigte die Planung eines Mordes? Nichts, über das Leben eines anderen richtend zu entscheiden – ob Mensch, Tier oder Dämon - konnte man mit keinem noch so starken Argument glaubhaft untermauern. Jegliches Blutvergießen, unabhängig von der hinfälligen Begründung, empfand ich als sinnlos und unverantwortlich, mir war das Töten zuwider, und obschon ich nicht von mir behaupten konnte, ein fühlendes, denkendes Wesen auf dem Gewissen zu haben, konnte ich manchen grauen Gewissensbiss nicht von der Hand weisen. Indirekt verschuldet hatte ich mit Sicherheit einiges, wovon ich allerdings keinerlei Kenntnis besaß. Kopfschüttelnd sammelte ich meine Konzentration, schob jedwede überflüssige Reflexion erst einmal beiseite. Stattdessen überdachte ich meine Vorgehensweise, kam jedoch rasch zu dem Schluss, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wie ich mit dieser Situation begegnen sollte. Ob mir Flúgar einen hilfreichen Rat geben konnte…? Unbewusst schnitt ich bei dieser Vorstellung eine Grimasse. Der Loftsdreki würde mir garantiert eine äußerst missgelaunte Abfuhr erteilen – von dem sich anschließenden, unspektakulären Rausschmiss meinerseits ganz zu schweigen - wenn ich ihn zu dieser späten Stunde aufsuchte und erzählte, dass ich in einem Garten der Residenz eine Unmenge an Feuersalamander entdeckt hatte und nun den Tennô dahinter vermutete. Die Geschichte klang durchaus unglaubwürdig, und je länger ich darüber nachdachte, desto evidenter wurde, dass es dieser Variante an Logik mangelte. Vergebliche Liebesmüh… Nein, das war eine schlechte Idee, und der leichten Verdrossenheit über den unabstreitbaren Umstand zum Trotz schlich sich ein zaghaftes Lächeln auf meine Lippen. Ich widerstand dem in mir aufstrebenden Impuls, mich in theatralischer Manier zu Boden zu werfen und ein ironisches „Hach, wie hat mich doch das Leben gestraft!“ zu säuseln, das konnte ich mit ihrem Charakter bei bestem Willen nicht vereinbaren. Die Komik der imaginären Pose und Gestik des dramatischen Aktes entlockten mir schließlich noch ein leises Kichern, ehe ich mich aufrichtete und den weißen Baumwollkimono glatt strich. Gleichermaßen ordnete ich meine Gedanken, als mein Blick ein weiteres Mal über die schiere Masse der kleinen Amphibien wandern ließ. Ich würde mich morgen, nachdem meinem ganz und gar erschöpften Wesen eine angemessene Ruhepause in Form von Schlaf gegönnt hatte, noch einmal mit diesem unerklärlichen Phänomen befassen – womöglich sorgte ich mich vollkommen umsonst. Hoffentlich… Just in diesem Augenblick schoss ein cremefarbener Schemen um die knapp anderthalb Schrittlängen vor mir befindliche Ecke, und ich fuhr unwillkürlich zusammen – ein erleichtertes Aufatmen erlaubte ich mir erst, als ich den Missetäter genau ins Auge fassen konnte. „Kaneko-chan, ein Glück…“ Die Nekomata wich vor der Hand, die ich ihr begrüßend entgegen streckte, zurück, und ihr abnorm unruhiges Gebaren verriet Nervosität. Angespannt trippelten die Pfötchen über die dunklen Bohlen der Veranda, die beiden Schweife zuckten ruckartig hin und her und ihre gesamte Haltung wirkte steif, aufgerichtet wie in höchster Alarmbereitschaft. Kläglich maunzend umkreiste sie mich einmal, sprang dann urplötzlich auf mich zu und binnen weniger Momente fand ich mich auf dem breiten Rücken ihrer größeren dämonischen Gestalt wieder. Eine hastige Kehrtwende vollführend, stieß sie sich sodann kraftvoll vom Boden ab und erhob sich mit flammenden Läufen in die Luft; diese zweckmäßig überstürzten Manöver hatten mit angenehmer Fortbewegungsweise oder Bequemlichkeit nichts gemein. Halt suchend vergrub ich die Finger in Kanekos weichem Fell, drückte die Beine in ihre Flanken – andernfalls wäre ich nach maximal halber Strecke ungemütlich abgesessen. Die Kühle der Nacht empfing mich ungeahnt anschmiegsam und erfrischend, weckte sämtliche Lebensgeister aus ihrer Ermattung. Mit einem Mal war ich hellwach. Mittlerweile schwebte der Nekoyoukai über den höchsten Dächern der Residenz hinweg, die still und friedlich, in Dunkelheit gebettet, unter uns ruhte. Der Ausblick, der sich mir bot, war atemberaubend, und ich vergaß dabei fast die Frage, die mir wenige Wimpernschläge zuvor so schwer auf Verstand und Gewissen gelastet hatte. Dann überfiel mich die Erkenntnis förmlich, der Schock weitete meine Augen, die Fassungslosigkeit ergriff Besitz von meinen Zügen. Angesichts der Tatsachen erbleichte ich und mein Atem stockte. Die Welt, und mit ihr die Zeit, gefroren um mich herum, gerieten für mich kurzerhand aus den Fugen – denn es war nicht irgendeines der Quartiergebäude, das lichterloh in Flammen stand… „Das Inferno ist bloß ein harmloser Ursprung…“ War dieser Brand tatsächlich das, was Eki-sama auf dem Orakelberg vorausgesehen hatte? Und wenn dem so war, was bedeutete der Rest des Verses? Midoriko wusste nicht, wie all das zusammenhängen sollte und was sie in nächster Zukunft erwarten würde. Zu spekulieren war ohnehin sinnlos und nicht ihre Art, zudem ermahnte sie sich gedanklich, schalt sich selbst dafür, dass dies nun wirklich nicht der richtige Moment für solcherlei Überlegungen war. Zwar hatte sie zu ihrer Erleichterung festgestellt, dass sich das Feuer im Inneren des Gebäudes noch nicht allzu weit ausgebreitet hatte und – bis jetzt - nur den östlichen Flügel betraf, aber das würde sich ändern. Sie musste sich beeilen und Flúgar ausfindig machen, denn sie spürte seine Präsenz, vage, doch eindeutig. Warum hielt er sich noch hier auf? Hatte er den Rauch, das lautstarke Knistern der Flammen etwas noch nicht bemerkt? Nein, unmöglich. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Auf dem Weg in die obere Etage war ihr nicht ein einziger Diener begegnet, niemand, die Gänge waren wie ausgestorben, und nicht einmal die Öllämpchen, die fein säuberlich in den Nischen an jeder Biegung platziert worden waren, brannten. ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Japa - eine Art Mantra ***>>>Kapitel 43: >“Die Hitze und die Gier des Feuers umhüllen die Priesterin, und das Inferno droht nicht bloß ihre Seele zu verschlingen. Verzweiflung und Vertrauen offenbaren sich gleichermaßen im orangeroten Schein der Flammen, und es bleibt fraglich, inwiefern ein Entrinnen möglich ist. Im Endeffekt kann lediglich eine einzige Person die verheerenden Konsequenzen einer Verzweiflungstat kurieren…“ *» Eldur Kapitel 43: *~Eldur~* --------------------- "Leute, die sich die Finger verbrennen, verstehen nichts vom Spiel mit dem Feuer." – Oscar Wilde Kapitel 43 – Eldur -Feuer- *Worin ergründet sich die rein menschliche Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden und Selbstlosigkeit walten zu lassen? Ergründet es sich in den Untiefen seines Wesens, das von einem starken Gerechtigkeitssinn und sozialer Verantwortung geprägt ist? Oder ist es vielmehr ein Produkt seines Überlebenswillens und Egoismus, da er von einem Mitmenschen in jener Situation dasselbe Handeln erwartet? Und ist es im Endeffekt nicht völlig gleichgültig, woher diese Emotionen rühren? Ist nicht lediglich das Resultat von Bedeutung?* ּ›~ • ~‹ּ Daraus ließ sich bloß eines folgern: der Tennô hatte die Initiative ergriffen und erste ernsthafte Maßnahmen eingeleitet, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, und befohlen, den Dämonen einen grässlichen Flammentod zu bescheren. Natürlich, wer würde ihm die Schuld daran nachweisen können? Wie leicht es in diesem Fall doch war zu behaupten, es wäre ein Unfall gewesen, eine Zofe hätte mitten in der Nacht eine Kerze umgestoßen und so versehentlich den gesamten Komplex in Brand gesteckt. „Verdammt…“ Sie hätte damit rechnen, mehr Vorsicht walten lassen müssen. Allerdings half das momentan niemandem – so entledigte sie sich während des Laufens ihrer Geta, trat sie achtlos zur Seite. Wesentlich besser! Mit einem befreiten Gefühl in Beinen und Füßen begann sie zu rennen, bog derartig rasch um die nächste Ecke, dass sie um Haaresbreite mit der Gestalt, die dort ein wenig verloren auf dem Flur stand, zusammen gestoßen wäre. „Entschuldigung, ich…“ Sie stockte. War das nicht…? „Es brennt.“ Ja, kein Zweifel: Sesshoumaru, der Sohn des Inu no Taishou. Den sarkastischen Kommentar zu seiner trockenen Feststellung verbat sie sich, dafür gestaltete sich die Situation um Längen zu heikel. Falscher Zeitpunkt, falscher Ort… „Wo ist dein Vater, Sesshoumaru?“ Der Junge bedachte sie mit einem kühlen, abschätzigen Blick. Dann zuckte er die Schultern, und wandte sich ab. So ein sturer Esel… Kurzerhand packte sie ihn am Handgelenk, und ehe er sich versah, fand er sich emporgehoben, auf Midorikos Armen wieder. Zu perplex, um sich dagegen zu wehren, beschränkte er die Äußerung seines Missfallens darauf, sie mit einem finsteren Seitenblick zu taxieren und sich zu wünschen, dass sie es eines Tages bereuen würde, den Erben des Herrn der Hunde so mir nichts dir nichts wie ein gewöhnliches Kleinkind mit sich herumzutragen. Unverzüglich setzte sich die junge Priesterin wieder in Bewegung, hastete weiter. Ihre Gedanken überschlugen sich. Paradoxerweise schwirrte ihr vorrangig die Frage im Verstand umher, warum Flúgar nicht mit ihr geschimpft hatte, obwohl sie sich seiner Anweisung widersetzt hatte, auf dem Orakelberg zu warten, bis er sie abholte. Eine Antwort würde sie wohl nie erhalten… War das nicht auch vollkommen unwichtig? „Halt an.“ Eh? Verdutzt blickte sie den kleinen Hund an, der nun den Zeigefinger ausstreckte und auf etwas am Boden deutete. „Kaneko-chan! Hast du…? O bei allen Göttern…“ Ungestüm riss sie mit der linken Hand den Shouji beiseite, und staunte nicht schlecht, als sie das dahinter liegende Quartier betrat. Stille beherrschte den in Dunkelheit getauchten Raum, in den durch die halbwegs offen stehende Schiebetür, die zur Veranda hinaus führte, frische Luft in Form von sanften Böen hinein drang. Fahles Mondlicht sickerte durch die relativ dünne Bespannung der Außenwände, tauchte die Begebenheiten in dämmeriges Zwielicht. ‚Spartanisch’ beschrieb die Einrichtungsverhältnisse nicht korrekt, im Grunde war das Zimmer, das Flúgar mit seinem jüngeren Bruder teilte, leer – bis auf zwei Futons, auf denen die beiden seelenruhig schliefen, der Ältere mit dem Rücken zur Tür, der andere fest in die Laken eingerollt. Na die hatten die Ruhe weg… Das stechende Pulsieren in ihren Schläfen ignorierend, schritt sie bis zu Flúgars Bettstatt, neben der sie niederkniete – derweil entwand sich Sesshoumaru gekonnt ihrem Griff und entfernte sich, misstrauisch dreinschauend, von ihr, indem er in einige Distanz zurückwich. „Flúgar, los, wach auf.“ Da sie feststellte, dass das keinerlei Effekt auf ihn auszuüben vermochte, fasste sie ihn an der Schulter, schüttelte vorsichtig. Damit verzeichnete sie jedoch ebenso wenig Erfolg. „Oi, Flúgar!“ Ungern erhob sie ihre Stimme, vor allem, wenn es nicht unbedingt notwendig war, dementsprechend gelang es ihr dabei nicht, denn enervierten Klang zu unterbinden - doch eine Reaktion konnte sie dem Luftdrachen auf diese Weise ebenfalls nicht entlocken. Sie widerstand dem Drang, ihrem aufwallenden Temperament stattzugeben, ballte die Hände zu Fäusten. „Sag mal, bist du schwerhörig oder was?! Steh endlich auf!“ Ja, langsam aber sicher wurde sie hysterisch. „Halt den Mund…“ Eine Beleidigung in seiner Muttersprache nuschelnd, zog er sich die Decke über den Kopf und wälzte sich grummelnd auf den Bauch. Das unvermittelte Rascheln von Stoff hinter ihr veranlasste sie dazu, sich umzudrehen. Ihre Züge hellten auf, zumindest hatte sie es offenbar fertig gebracht, den Jüngeren aufzuwecken, von dem sie nun allerdings einen feindseligen Blick erntete. „Was willst du hier…?“ Verschlafen rieb er sich die Augen, strich sich das halblange, feine Haar aus dem Gesicht. Und er wirkte im Dämmerlicht definitiv weiblicher, als es ihm wohl lieb war. Das Schmunzeln, das sich unbewusst auf ihre Lippen schlich, währte nicht sehr lange, und ihre Miene verfiel in ihre vorherige Ernsthaftigkeit zurück. „Ich bin hier, weil das Gebäude in Flammen steht, und ich fühlen konnte, dass ihr euch noch hier aufhaltet. Obwohl ich das nicht verstehe… Sind, euch ausgenommen, andere Gäste hier untergebracht?“ Blævar blinzelte, schien trotz dessen zu überlegen. Nach einer Weile nickte er, begab sich in eine sitzende Position. „Wo?“ Der junge Loftsdreki rückte das dünne Nachtgewand zurecht, gestikulierte anschließend zu seiner Linken. „Im unteren Geschoss, das letzte Zimmer. Zwei Menschen.“ Tonlos fluchend richtete sie sich auf, passierte bereits den Türrahmen, als sie ihm ein aufrichtiges „Danke!“ zurief. Sesshoumaru und der Jungdrache wechselten einen etwas ratlosen Blick, bevor letzterer auf allen vieren zu seinem älteren Bruder hinüber kroch und ihm mit dem Zeigefinger zwischen die Rippen piekte. Gelogen hatte die Miko nicht, er kannte den stechenden Geruch des Rauches, der ihm präsent in die empfindliche Nase stieg, und er war sich Flúgars Abneigung gegenüber Feuer jeglicher Art nie bewusster gewesen. Midoriko eilte die Treppen hinab, stolperte gelegentlich, was sie aber nicht einmal ansatzweise dazu bringen konnte, ihr Tempo zu verringern. Wenn sie sich nicht sputete, verbrannten die Menschen in dem Quartier, dessen Lage Blævar ihr verbal grob skizziert hatte, und das galt es in jedem Fall zu verhindern. Hier unten wütete das Feuer unlängst gnadenlos, verschlang gierig und ungehemmt das Holz der imposanten Baute. Der Haupttrakt war nicht mehr passierbar, durch herabgestürzte Balken und brennendes Mobiliar blockiert, und selbst in den Außengängen, durch die sie sich derzeit bewegte, waltete eine sengende Hitze, die ihr den Schweiß aus jedweder Pore ihres Körpers trieb. Ihre Oberschenkel schmerzten, ihre Lunge schrie nach Sauerstoff, den die heiße Luft lediglich noch in geringen Mengen beherbergte. Schneller… Eine schiere Ewigkeit verging, ehe sie endlich ihr Ziel erreichte, schwer keuchend vor der Schiebetür zum Stehen kam. Sie war erschöpft, verschwitzt und am Ende ihrer Nerven, und trotzdem stahl sich klammheimlich ein Lächeln auf ihre Miene. Für einen Augenblick schloss sie die Augen, lehnte sich an die angrenzende Wand. Heute bewies sich, dass das Glück auch ihr auch einmal hold sein sollte… Dennoch verflog jene Glückseligkeit alsbald, wandelte sich in Verzweiflung und jähe Panik, nachdem sie dem wimmernden Geräusch von verängstigten Stimmen nachgegangen war, und den Shouji öffnete. Dicker schwarzer Rauch und eine mörderisches Brodem, wie aus den Niederungen der Hölle, schlugen ihr entgegen, und sie befürchtete unversehens, den auflodernden Flammen zum Opfer zu fallen, die sich augenblicklich nach dem Ärmel ihres Yukata streckten und förmlich nach dem Baumwollstoff lechzten. Der Schmerz befiel die Innenflächen ihrer Hände, fuhr wie eine glühende Zunge darüber, und sie war im Begriff aufzuschreien, als sie eine Berührung am Handgelenk spürte; daraufhin streifte der Atem des Neuankömmlings ihren Nacken, starke Arme umfassten ihre Hüfte. „Willst du Selbstmord begehen?“ Ein Vorwurf schwang in der halblaut gestellten Frage mit. „Ich könnte es mir nie verzeihen, sie wissentlich sterben zu lassen. Ebenso, wie ich es bei dir nicht könnte… Verstehst du das nicht?“ So wie er sie niemals den Flammen überlassen würde…? Erst zu diesem Zeitpunkt wurde sie sich seinem rasenden Herzen gewahr, seiner flachen, unregelmäßigem Atmung – er zitterte. Und sie musste ihm nicht ins Gesicht sehen, um zu wissen, dass er Angst verspürte. Zögerlich löste er die zurückhaltende Gestik, schob sich an ihr vorbei anstatt sie gänzlich freizugeben. Ihr teils verwirrter, teils fragender Blick lief ins Leere, der Loftsdreki erwiderte ihn nicht. „Geh.“ Was sollte das werden? Er wollte doch nicht etwa…? Oder? „Nein.“ Damit ergriff sie ihn am Ellbogen, drängte sich eng an seine Flanke. „Nicht ohne dich und auch nicht ohne sie. Wir machen das zusammen!“ Nichts als Entschlossenheit spiegelte sich in ihrer Haltung, der eiserne Wille, der sich hinter ihrem Ausdruck verbarg, verdiente seinen aufrichtigen Respekt. Ein beeindruckendes Mädchen… Wie um alles in der Welt hätte sie dieses Unterfangen ohne seine Hilfe bewerkstelligt? Seine flinken, sicheren Manöver, seine ungeheure Kraft und Geschwindigkeit… und das, obgleich ihm die widrigen Gegebenheiten stärker belasteten als sie. Es wirkte beinahe so, als konsumierte das Feuer einen essentiellen Part seiner Aura, als verzehrte es gewisse Bestandteile des Youki in seinem Leib. Falls dem etwas Wahres anhaftete, würde ihn das früher oder später töten. Wieso riskierte er dann, dessen ungeachtet, sein Leben? Die Menschen waren ihm gleichgültig, was mit ihnen geschah interessierte ihn nicht im Geringsten. Also, warum? Unschlüssig musterte die Priesterin ihn aus den Augenwinkeln. Es kostete ihn einiges an Selbstbeherrschung, nicht die Kontrolle über sich selbst zu verlieren, so viel konnte sie mit Sicherheit sagen, sein animalisches Ego drohte ihn zu überwältigen. Tobend und brüllend drängte es nach außen, bäumte sich mit aller Macht gegen den Widerstand auf, der es in den Abgründen der Drachenseele einsperrte – die unregelmäßigen Muster in der Zirkulation seiner Dämonenenergie verrieten den stummen Kampf. Unwillkürlich krampften sich ihre Finger in den Ärmel seines hellen Untergewandes, an dem sie mittlerweile eher nervös zupfte als ihn festzuhalten. Brach die Bestie in einem misslichen Moment wie diesem von ihren Ketten los, so würden sie beide in arge Schwierigkeiten geraten. Flúgar kümmerte das wenig, ihm schwanden unter dem Druck der unbeugsamen Hitzeglut die Sinne dahin, und sein Gehirn versagt ihm den Dienst, weigerte sich vehement dagegen, ihm ein auch nur kurzweiliges klares Denken zu gewähren. Midoriko stellte den letzten mentalen Halt dar, der ihn - rein metaphorisch betrachtet - davor bewahrte zu stürzen, und dem Drang Einhalt gebot, dem randalierenden Monstrum in den Untiefen seines Seins nachzugeben. Nun, Menschen neigten dazu, Vertrauen mit ihrem Glauben zu verknüpfen, darin seinen Ursprung erkennen zu wollen, Flúgar hingegen begründete dieses Empfinden seinerseits auf der Basis von Erinnerungen, und erklärte es sich mit den positiven Erfahrungen aus der jüngsten Vergangenheit. Drachen glaubten nicht. Umso merkwürdiger, dass es sich bei seiner Begleitung um eine durch und durch fromme Menschenfrau handelte, die Körper und Geist ihrer Religion und einem asketischen Priestertum verschrieben hatte. Absurd… Vielleicht war die Aufgabe der persönlichen Freiheit der Beweggrund dafür, dass man solcherlei Götterkult mied. Aber… unterschied sich hinsichtlich dessen die Position des Oberhauptes im Clan und einem Diener Gottes so drastisch? Nein. Die variierende Motivation machte die Differenz aus. „Flúgar, komm weiter.“ Aus seinen Reflexionen gerissen, schnaubte der Luftdrache unwirsch, als er gerade noch einen einigermaßen unbeschädigten Wandschirm aus dem Weg stoßen konnte und somit verhinderte, dass er recht ungraziös damit kollidierte. Seine Aufmerksamkeit driftete gefährlich rasch in falsche Richtungen ab, und das war kein gutes Zeichen. Mühselig zwang er sich dazu, mit der Miko Schritt zu halten, die einen gewundenen, komplizierten Pfad durch den großen Raum befolgte, um ihn unversehrt durchqueren zu können. Den bedrohlich anwachsenden Flammen dauerhaft auszuweichen war ein langwieriges, ermüdendes Wagnis, und Zweifel manifestierten sich bald in seinem Hirn, ob er in der Lage sein würde, durchzuhalten. Die so genannte ‚Feindschaft’ der Elemente: Feuer vertilgt Luft… Er vermeinte sich daran zu erinnern, einmal etwas darüber gelesen zu haben, in einem eingestaubten Buch aus der Bibliothek eines menschlichen Fürsten, bei dem er mit seinem Vater zu Besuch gewesen war. Zusätzlich fiel es ihm nicht schwer, sich ins Gedächtnis zu rufen, was er damals im Duell gegen Hraunar erlebt hatte. Der ehemalige Anführer der Feuerdrachen hatte eine Flammenhölle sondergleichen zu kreieren gewusst, eine weiß-bläulich flackernde Feuersbrunst, die sich nicht damit begnügte, Materielles zu verschlingen, sondern gleichermaßen danach trachtete, die kostbaren, seelischen Komponenten eines Geschöpfes hinweg zu raffen und sich einzuverleiben. Bloß Narren gingen einen solchen Pakt ein… Deswegen hasste er Feuer. Unter seiner Haut kribbelte es unangenehm, Schweißperlen rannen seine Brust hinab, an seiner Wirbelsäule entlang, und sammelten sich an charakteristischen Stellen, bildeten dort, wo seine Bekleidung sie begierig aufsog, feuchte Flecken. Nebensächlichkeiten beschäftigten den noch funktionellen Teil seines Gehirns, lenkten seine Konzentration auf falsche Bahnen, in endlose Kreisschlüsse ab. Midoriko bemerkte seine Abwesenheit, biss sich auf die Unterlippe. Er mochte kühl und unnahbar wirken, wie gewöhnlich, der Ausdruck in seinen Augen belehrte sie jedoch eines besseren. Etwas harscher als beabsichtigt zerrte sie ihn nunmehr hinter sich her, buchstäblich nur noch einen Katzensprung von ihrem Endziel entfernt. Zum endgültigen Aufatmen war es zu stickig, der Rauch setzte ihren Schleimhäuten zu, und sie wurde sich blitzartig dem Umstand gewahr, dass sie nicht zurück konnten; vor ihr, neben ihr, überall um sie herum dehnte sich ein undurchdringliches Flammemeer aus, grell orangerot flackernd, die Decke von den pechschwarzen Rußpartikeln verdeckt; an den Wänden tanzten groteske Schattenfiguren, verzerrte Abbilder ihrer selbst… Panik stieg in ihr auf, das hatte sie nicht bedacht. Die beiden Menschen, offenbar ein bedeutender Fürst und sein Sohn, kauerten im hintersten Winkel des Raumes, starr vor Todesangst und unfähig, ins Geschehen einzugreifen. Sie lebten, das zählte. Oder? Was nützte es ihnen, wenn dies nicht von Dauer sein sollte? Unruhe, Beklemmung, Ausweglosigkeit… „Wohin… wohin…?“ Wie ein Mantra murmelte die schwarzhaarige Priesterin jene Worte, immer wieder, sie hustete, ihr war schwindelig und übel, Tränen liefen ihre Wangen hinab, während sich ihre Fingernägel in Flúgars Arm gruben. Indes rang eben dieser um seine Besinnung. Den Sieg gegen den Eldursdreki hatte er erringen können, zugegeben, es war verdammt knapp gewesen – Hraunars Angeschlagenheit und ein Zufall hatten ihm einen Vorteil verschafft, durch den die Auseinandersetzung entschieden beeinflusst worden war. Die Manipulation der Gaskonzentrationen in der Luft… Seine bedenkliche Verfassung erlaubte keine außerordentlichen Anstrengungen mehr, es musste ein anderer Weg aus jenem Mahlstrom aus Hitze, Furcht und Verzagtheit existieren. Was scherte es ihn noch, als simpel bezeichnet zu werden? Gleich, wie banal und schlicht, Hauptsache es funktionierte. „Geradeaus…“ Holz zerbarst unter der rohen Gewalt des Fausthiebes, Splitter und Funken stoben in die kühle Nachtluft hinaus. Krachen schlugen größere Bruchstücke der ehemaligen Ostwand des Quartiergebäudes auf dem gepflasterten Hof unmittelbar darunter auf, der, zu Midorikos Bestürzung, jedoch erheblich tiefer lag, als sie es vermutet hatte. Beinahe zwölf Schrittlängen Distanz an Höhe, schätzte sie nun, das würde sie bei einem mehr oder minder unkontrollierbaren Sturz nicht überstehen ohne sich mindestens die Beine zu brechen, und ihre Befürchtungen erhärteten sich, nachdem sie einen Ruck an ihrer Hüfte spürte. Entgeistert starrte sie den Luftdrachen an, der sich soeben abstieß und tatsächlich ins Ungewisse sprang, sie mit dem rechten Arm eng an sich gedrückt, die beiden menschlichen Adeligen, sichtlich unwillig und abweisend, sachlich am Kragen gepackt. Was die beiden Männer von einer solchen, ja, unwürdigen Behandlung hielten, wagte sie sich nicht vorzustellen. Fürsten reagierten manchmal unangemessen, wenn man ihren Stolz – ob vorsätzlich oder nicht – verletzte. Nichtsdestotrotz entging ihr die Anspannung des Drachen nicht, die die fest aufeinander gepressten Kiefer indizierten. Er hatte aufgrund der ungewohnten Konditionen, infolge des zusätzlichen Ballastes an unregelmäßig verteiltem Gewicht, das es auszubalancieren galt, mit der Koordination seines Satzes zu kämpfen. Und der harte Untergrund näherte sich unheimlich rasch. Instinktiv schlang sie die Arme um Flúgars Hals, fasste mit den Fingern eilends so viel Stoff, wie sie konnte. Und die junge Priesterin sollte Recht behalten, der Aufprall erfolgte unerwartet und hart, der Druck des Aufkommens durchfuhr ihr Mark und Bein, erschütterte ihren gesamten Körper. Keine Spur mehr von der eleganten Gewandtheit eines Kämpfers, der jene Nebeneffekte mit Leichtigkeit ausglich. Besorgt lockerte sie ihren Griff, fixierte ihn mit einem prüfenden Blick; seit der Begegnung mit Eki-sama auf dem Orakelberg konnte sie das abstruse Geflecht des Youkiflusses in einem Dämon wahrnehmen, zuweilen sogar sehen, und obschon sie diesbezüglich über absolut nichts an Wissen verfügte, erkannte sie den prekären Zustand des Loftsdreki. Ihre Intuition betrog sie selten. Immense Asymmetrien durchwoben das verzweigte System, in manchen vitalen Bereichen mangelte es an Energie, in anderen staute sie sich in katastrophalen Ausmaßen auf. „Flúgar…?“ Dieser hustete unablässig, sodass sie sich reichlich überflüssig fühlte und etwas hilflos seinen breiten Rücken tätschelte. Ehe Midoriko einen weiteren vernünftigen Gedanken fassen konnte, kollabierte er. „Flúgar… bitte! Hörst du mich? Flúgar…? Oi, Flúgar?!“ Fassungslos streckte sie eine zitternde Hand in seine Richtung, berührte ihn zaghaft an der Wange. „FLÚGAR!!“ ּ›~ • ~‹ּ »Schwärze umhüllt ihn, samtig und weich, die glühende Hitze jedoch, die unaufhaltsam in seinem Körper wütet, und den daraus resultierenden verheerenden Schmerz, vermag sie nicht zu lindern. Es tut weh… Er will schreien, seiner Pein in irgendeiner Weise Ausdruck verleihen, weg von hier, aber er kann nicht. Seine Muskeln gehorchen ihm nicht, versagen ihm den Dienst. Taub sind unglücklicherweise nicht seine Nerven, sondern seine Glieder… Was zur Hölle ist nur los? Das Feuer verschlingt ihn, sein Youki, von innen heraus – ein schleichender, qualvoller Prozess, der ihn zweifellos töten wird. Und er fürchtet sich, mehr als jemals zuvor. Nicht so, auf diese Art und Weise möchte er nicht sterben; was für ein erbärmlicher Tod für einen Krieger… Zudem hat er das Gefühl, etwas beenden zu müssen, bevor er von dieser Welt scheiden kann. Er hat seine Aufgabe noch nicht erfüllt, und deswegen kann er nicht von seinem Leben ablassen. Er kann nicht… Inmitten jener finsteren Einsamkeit spürt er plötzlich etwas Vertrautes, und in einiger Distanz erkennt er einen hellen Schemen, verschwommen und undeutlich, doch die Ausstrahlung dieser Erscheinung weckt in ihm Erinnerungen. „Afi…?“ Es fällt ihm schwer, sich zu konzentrieren, und außer zwei Silben kommt ihm kein Ton über die Lippen. Mit langsamen Schritten nähert sich die kühle, ausgeglichene Präsenz, und es beruhigt sein hastig schlagendes Herz, seine Angst flaut ab. Wer…? Eine Berührung, aus dem Nichts heraus, und eine seichte Kälte folgt mildernd den verbrannten, Adern gleichenden Linien, die seinen gesamten Körper durchwirken…« Schmale, feingliedrige Hände… Jemand, der das Schwert wohl zu führen wusste, dem aber nicht allzu oft nachging… Das, und eine harmonische Stimme, die ihm stetig behutsame Worte zuflüsterte, für seine Ohren nicht zu hören, dennoch unmissverständlich formuliert durch das Youki jener Person, das nun durch ihn selbst floss… Ein Jugendlicher, der das Schwert an seiner Hüfte nicht schätzt, der von Trauer und Zweifeln geplagt an eine Position treten musste, die ursprünglich nicht für ihn bestimmt war, immerzu überzeugt, den Anforderungen nicht gerecht werden zu können. Bilder und fremde Gedanken durchfluteten seinen Verstand, vergangene Impressionen und Sinneseindrücke, Erlebnisse, Hoffnungen, Ängste und Wunschträume blitzten auf und verschwanden wieder, und kurz darauf realisierte er, was das bedeutete. ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 44: >“Auf einmal sind sie sich näher als jemals zuvor, und er wird sich einer Tatsache gewahr, die er seit seiner Kindheit bezweifelt hat. Das jedoch soll nicht die einzige Erkenntnis bleiben, die sich ihm offenbart, denn das Feuer war lediglich ein harmloses Vorspiel; schwarze Wolken ziehen auf, und der Geruch von Asche und Schwefel hängt in der Luft…“ *» Otsuge Kapitel 44: *~Otsuge~* ---------------------- "Die Gefühle offenbaren sich umso weniger, je tiefer sie sind." – Honoré de Balzac Kapitel 44 – Otsuge -Offenbarung- *Wie verhalten sich Egoismus und Nächstenliebe im Anbetracht eines Individuums zueinander, das eine folgenschwere Entscheidung zu fällen hat? Siegt der selbstsüchtige Überlebenstrieb, der in unser aller Instinkt eingeprägt ist? Oder behauptet sich der soziale Aspekt, da wir von unseren Artgenossen eine ähnliche Einstellung erwarten? Und wer oder was ist verantwortlich dafür, welche Wahl wir im Eifer des Gefechtes letztendlich treffen?* ּ›~ • ~‹ּ Er offenbarte ihm bedingungslos seine Seele, legte schlichtweg alles vor ihm bar – ähnlich dem, was er Midoriko ermöglicht hatte, nur mit dem Unterschied, dass diese selbstlose Tat dem Erhalten seines Lebens diente. Sein Youki löste die letalen Blockaden auf, die durch die Gier des Feuers entstanden waren, sein Youki heilte den Schaden, der dadurch bereits verursacht worden war, und sein Youki half ihm, währenddessen jedwede essentiellen Lebensfunktionen zu stabilisieren. „Bitte…“ Woher kam das Gefühl von Geborgenheit und Wärme auf einmal? Wieso zahlte er aus freiem Willen einen solch hohen Preis für das Leben eines anderen? Für ihn? War die Meinung, die er sich über die Jahrzehnte hinweg gebildet hatte dermaßen abwegig und einfach falsch? Hatte er sich so geirrt…? Wie blind musste er gewesen sein, es nicht zu erkennen? Faðir… Obwohl seine Wahrnehmung stark eingeschränkt war, und er ihn lediglich durch den körperlichen Kontakt - die Fingerspitzen und Handballen, die zum einen direkt über seinem Herzen und zum anderen auf seiner Stirn ruhten – wahrnehmen konnte, vermochte er mit Sicherheit zu sagen, dass sein Vater dicht neben ihm kniete, in Meditation verfallen, um die Möglichkeit zu erlangen, seine Dämonenenergie unbegrenzt an ihn weiterzugeben. Mit dem wiederkehrenden Bewusstsein für seinen Leib ging das Aufwallen des Schmerzes einher, der ihm in seiner vorherigen Verfassung erspart geblieben war – dafür suchte es ihn in diesem Moment umso rücksichtsloser heim. Súnnanvindur nahm erleichtert zur Kenntnis, dass seine Bemühungen sichtlich Erfolg verzeichneten und sein Sohn die zuvor vollkommen verloschene Körperspannung zurück gewann. Wie er den Göttern für die Fügung des Schicksals dankte… Matt und vor Erschöpfung keuchend erhielt er seine Anstrengungen aufrecht, transferierte das Maximum an für ihn zu entbehrender Energie auf Flúgar. Eine Weile verstrich, ehe sich der junge Loftsdreki zu rühren begann, und Súnnanvindur mit einem ausdrücklichen Widerstand konfrontiert wurde. „Hör auf.“ Aus den Augenwinkeln heraus erhaschte er einen vagen Blick auf das bittere Lächeln, das sich auf die Lippen des älteren Drachen stahl. „Denkst du allen Ernstes, ich lasse noch einmal zu, dass vor meinen Augen eines meiner Familienmitglieder stirbt?“ Zerrbilder der Vergangenheit, und die damit verknüpften Emotionen durchzuckten ihn wie einen Blitz, und veranlassten ihn dazu, kurzzeitig davon überwältigt das Gesicht zu verziehen. Den Tod seines Bruder hat er bis heute nicht überwunden… Noch nie hatte er Súnnanvindur so zermürbt und verletzlich erlebt. Vorsichtig fasste er die Hand auf seiner Brust mit seiner linken, strich unbewusst mit dem Daumen über die Innenfläche. „Ich bin in Ordnung, es reicht. Bitte…“ Die untypische Geste irritierte das ClanOberhaupt; dunkle Iriden studierten einige Augenblicke die blasse Miene des Jüngeren, aus der er tatsächlich Anteilnahme und den Hauch einer Trost spendenden Absicht abzulesen vermochte. Einsichtig senkte er den Kopf, und entspannte letztendlich seinen überanstrengten, leidenden Körper – erst jetzt wurde ihm bewusst, wie ausgelaugt er wahrhaft war, wie sehr er schwitzte und zitterte. Diese Technik hatte ihm wahrlich mehr abverlangt, als er kalkuliert hatte, er war an sein persönliches Limit gestoßen, doch gleichgültig, wie hoch die Strapazen gewesen waren, mit dem Resultat schätzte er sich durchaus zufrieden. Leugnen würde er trotz dessen nicht, dass er ohne zu zögern weiter gegangen wäre, hätte es die Situation verlangt… Nach Atem schöpfend, verlagerte er sein Gewicht, wechselte in eine bequemere Sitzposition, während er die Finger der rechten Hand abwesend im Haar seines Sohnes vergrub und dabei in kosender Manier über seine Schläfe streichelte, die linke geflissentlich in Flúgars Griff verweilend. „Es tut mir Leid…“ Ihn traf die Schuld nicht alleine, das war ihnen beiden einsichtlich, und ohnehin gab es vieles, eine Unmenge an Feststellungen, Fragen und Phrasen, die unausgesprochen zwischen ihnen verblieben waren und es auch weiterhin würden. „Das muss es nicht.“ Zwischen ihnen dreht es sich um Anerkennung, Distanz und Nähe, Respekt, Autorität und Dominanz, Liebe, und Fehler, die beiden Fraktionen unterlaufen sind… Bei alledem, was sich bis zu jenem Tag ereignet hatte, galt es nicht zu vergessen, sondern zu verzeihen. Akzeptanz fügte sich schweigsam, in Súnnanvindurs Fall… „Ich war nicht derjenige, den er sehen wollte, als er starb…“ …in Flúgars äußerte es sich als überfälliges Zugeständnis. „Hríðarbylur hat nach dir gerufen.“ Verständnis klang sacht schwingend in seinem Flüstern nach, sowie aufmerksame Zuwendung und Mitgefühl… Mehrere Stunden waren verstrichen, seitdem Flúgars Vater sich dem bewusstlosen Luftdrachen angenommen hatte, und die Sonne stand bereits in ihrem Zenit am Himmel, als die abnormen Youkischwingungen aus dem Nebenzimmer abebbten und in ihre ruhigen, gleichmäßigen Zirkulationsbahnen zurückfielen. Eine derartig abstrakte Manipulation von Dämonenenergie war mir bis dato noch nicht untergekommen – bestand darin der Unterschied zwischen einem Dämonenfürsten und dem niederen Youkaigesinde, welches seine begrenzten Fähigkeiten primär für destruktive Zwecke gebrauchte? Aber lag in jener Macht, die den überdurchschnittlich starken Vertretern einer Rasse innewohnten, nicht gleichzeitig ein gewisser Anteil Verantwortung verborgen? Ja, richtig, und die galt es zu tragen. Nicht bloß von Flúgar und mir, sondern auch vom Inu no Taishou, Súnnanvindur und dem Tennô… Seufzend zog ich die Beine an, und lehnte den Kopf gegen die hinter mir befindliche Wand, schloss die Augen. Obgleich ich deutlich spüren konnte, dass er nicht mehr in Lebensgefahr schwebte und das Gröbste überstanden hatte, wollte das flaue Gefühl in meinem Magen nicht weichen. Eine befremdliche Unsicherheit nagte an meinem Unterbewusstsein, doch es ließ sich nicht erfassen oder gar benennen. Bizarr, denn auch von dem Feuerherd ging keinerlei Gefahr mehr aus; das Quartiergebäude mochte bis auf seine Grundmauern niedergebrannt sein, den Bediensteten und einigen Loftdrekar jedoch war eine Eindämmung geglückt, die das Übergreifen der Flammen auf die umliegenden Gebäuden geflissentlich verhindert hatte. Allerdings beschäftigte meinen Verstand abermals die Frage, was die mysteriöse Agglomeration von Salamandern zu bedeuten hatte. Warum waren sie hier? Was hatte sie hierher gelockt? „Ne… darf ich dich etwas fragen…?“ Ich blinzelte, suchte Blickkontakt zu dem jungen Luftdrachen, der zusammengesunken in der hintersten Ecke des Raumes saß und vergeblich versuchte, seine Nervosität und Unruhe zu kaschieren. „Blævar, ich heiße Blævar.“ Jetzt erkannte ich seine Stimme wieder; natürlich, er war damals in dem kleinen Bambushain aufgetaucht und hatte mit Flúgar gesprochen, der mich daraufhin zum Orakelberg geschickt hatte – um von dem nächtlichen Zwischenfall nach der Konversation mit dem Inu no Taishou und seinem wohlmeinenden Rat einmal abzusehen… Mühselig unterdrückte ich einen säuerlichen Ausdruck, biss mir absichtlich auf die Zunge. „Blævar… ich weiß, dass es eigenartig klingt, aber… haben Drachen und Salamander irgendwelche Auswirkungen auf das Verhalten des jeweils anderen?“ Für einen Augenblick entgleisten seine Gesichtszüge in die vollkommene Ungläubigkeit, dann runzelte er die Stirn. „Das meinst du nicht ernst.“ Also eher nicht. Nachdenklich fuhr ich mir durch das pechschwarze Haar, begegnete Kanekos von Neugier geprägter Contenance mit einem Achselzucken. Vermutlich stufte ich dieses Ereignis in seiner verdrehten Eigenheit als zu denkwürdig ein… „Warte. Auf dem Kontinent, in den westlichen Gebieten, gibt es Theorien über Elementarwesen. Salamander sind dem Feuer zugehörig…“ Er verstummte, warf mir scheu einen kritischen Seitenblick zu. „Wieso fragst du mich das?“ Guter Einwand. Wollte ich mir selbst die ungewisse Mutmaßung, was eine Abhängigkeit all dieser Geschehnisse voneinander anbelangte, unbedingt bestätigen? Verzehrte ich mich nicht geradezu danach, eine unantastbare Verknüpfung aufzudecken, die letztlich beim Tennô als Verantwortlicher endete? Konnte es sich dabei nicht schlicht und einfach um einen Zufall handeln? „Tut mir leid. Meine Gedanken gehen wohl etwas mit mir durch…“ Mit einem erzwungenen, unbeholfenen Lächeln auf den Lippen brachte ich meine Knie gen Boden, in eine geeignete Haltung, um eine entschuldigende Verneigung anzudeuten. Blævars Miene driftete ins Skeptische ab, ehe er sich betont abwendete und einen fiktiven Punkt auf – oder gar hinter – dem Shouji anstarrte. Welch ein trotziges Kind. Apropos, man sollte schlafende Hunde nicht wecken, im wahrsten Sinne des Wortes, und um deretwegen untersagte ich mir eine Bemerkung; besagter diabolischer Welpe schlummerte glücklicherweise tief und fest, und ich intendierte beileibe nicht, ihn aufzuwecken. Von seinem Vater fehlte weiterhin jede Spur, der Inu no Taishou blieb verschwunden. Deutete das auf ein bekräftigendes Indiz bezüglich meiner Hypothese hin…? Oder verfolgte ich damit nichts als ein einfältiges Hirngespinst? Bevor sich mir die Gelegenheit bot, in gewichtige Überlegungen hinsichtlich dessen zu verfallen, forderte eine vernehmliche Regung im angrenzenden Quartier meine Aufmerksamkeit ein. Blævar schaute ebenfalls auf – angespannt, besorgt, und ein wenig… verwirrt? Das mürrische Schmollen wich einem hellen Hoffnungsschimmer. Eine Schiebetür wurde geöffnet, in gedämpften Ton knapp und unverständlich Worte gewechselt und die Tür wieder geschlossen, dann hörte man die leichten Schritte auf dem Flur alsbald verklingen. Für den jungen Luftdrachen gab es nun kein Halten mehr; ungeduldig sprang er auf und verließ das beengte Quartier über die Veranda. Ich befand mich derweil in der Bredouille, ob ich mir an ihm ein Beispiel nahm und Flúgar gleich besuchte, oder aber meine Fassung wahrte und aus respektvoller Höflichkeit abwartete, bis es mir durch eine Erlaubnis gestattet wurde. Wollte er mich in seiner miserablen Lage überhaupt um sich haben…? Kurzum warf ich meine Bedenken und Zweifel sprichwörtlich über Bord und schlüpfte auf leisen Sohlen aus dem Zimmer, um Sesshoumarus friedlichen Schlaf, der aus dem neutralen Antlitz des Kleinkindes den vermeintlich unschuldigen, süßen Engel, dem der Speichel aus dem Mundwinkel lief, hervorkehrte, nicht zu stören. Wolf im Schafspelz… trotzdem niedlich… Mental vermerkend, dies zukünftig – falls es erforderlich sein sollte – einzubinden, trat ich zögerlich vor, spähte verstohlen durch den Spalt zwischen Rahmen und Fassung des aufgeschobenen Shouji in den Nebenraum. Flúgar saß bereits wieder aufrecht auf dem mittig platzierten Futon, die dünne Decke nachlässig zurückgeschlagen, und ordnete gerade das weiße Baumwolluntergewand, das er trug, als ich mit den Fingerknöcheln zurückhaltend gegen das dunkle Holz klopfte. Den vernichtenden Blick, mit dem Blævar mich aus den Augenwinkeln heraus bedachte, ignorierte ich gekonnt, anstatt dessen fokussierte ich den älteren Drachen, ging langsam, wie psychisch abwesend, auf ihn zu. Ich wagte kaum, es gedanklich zu artikulieren, aber… ich war glücklich. Und dankbar. Mein Herz quoll förmlich über vor der unendlichen Freude und Glückseligkeit jenes Momentes, und schenkte meiner Seele eine Erfüllung, wie ich sie seit einer halben Ewigkeit nicht mehr verspürt hatte. Dieses Gefühl eines inneren Friedens… ich hatte es vermisst und herbeigesehnt, jedoch hatte ich es niemals zuvor so intensiv und betörend erlebt. Nicht imstande, mich auf verbaler Ebene kundzugeben, fiel ich ihm stumm um den Hals und drückte mich fest, regelrecht unnachgiebig, an ihn, als wäre ich auf einen handfesten Beweis seiner physikalischen Existenz aus. „Midoriko.“ Ein angenehmer Schauer durchströmte meinen Körper bis ins letzte Glied, Gänsehaut breitete sich von meinem Nacken über meine Arme bis zu meinen Beinen aus. Die Umarmung währte nicht allzu lange, Flúgar brach sie bereits nach der Dauer von acht oder neun Herzschlägen, und sah mir direkt in die Augen. „Spürst du es?“ Sogar Blævar horchte angesichts dessen auf. Überfragt erwiderte ich Flúgars durchdringenden Blick, stetig bemüht, mich nicht in den reinweißen, blanken Iriden zu verlieren. „Schwarze Wolken… der Geruch von Asche und Schwefel – Faðir erwähnte das, ehe er sich verabschiedete.“ Plötzlich hellwach schüttelte ich meinen paralyseartigen Rausch ab, und entfloh erfolgreich der wonnigen Benommenheit, die mich wie dichter Nebel in trübe Schleier der Realität gehüllt hatte. Ich konzentrierte mich unwillkürlich, ließ meine Wahrnehmung augenblicklich schweifen; er musste mich vor seinem jüngeren Bruder nicht darum bitten, ich verstand sein Anliegen auch ohne eine explizite Aufforderung seinerseits. Routiniert sammelte ich meine spirituellen Kräfte im Zentrum meines Leibes, faltete die Hände vor der Brust und verhakte die Finger ineinander, die Zeigefinger ausgenommen. Zunächst eröffnete sich mir nichts, das ich als neu oder außergewöhnlich wertete, sodass ich meinen gewöhnlich limitierten Aufmerksamkeitsradius widerrief und aufs Äußerste ausdehnte. Normalerweise regulierte ich dadurch meinen Energieverbrauch, denn jene Art des erspürenden Sehens benötigte viel an körperlicher und geistiger Kraft. Der erste Impuls erreichte mich überraschend und vergleichsweise schwach, doch das minderte meine Beunruhigung keineswegs. „Sou’unga…“ Seine Aura war unverkennbar, die maliziöse, böse Drachenseele, die einstmals darin versiegelt worden war, rebellierte mit aller Macht gegen ihren Träger, den Inu no Taishou. Er kämpfte voller Entschlossenheit dagegen an, drängte Sou’unga mithilfe seines unglaublich gewaltigen Youkis zurück, doch irgendetwas in mir ahnte, dass sich die Bemühungen des Hundegenerals unter Umständen als aussichtslos herausstellen würden. Sou’unga reagierte auf etwas… Die nächste Affektwelle traf mich ungemein hart, und zeitgleich schoss ein heftiger Schmerz durch meine Schläfen. Ich zuckte zusammen, stöhnte gequält auf, und als es mich ein zweites Mal eiskalt durchfuhr, realisierte ich, was da über mich hinweg gespült war wie eine aufgewühlte Flutwoge. Das Youki eines Dämons – und zwar das eines verdammt mächtigen Exemplars, das sich beständig näherte. Das war es! Am gestrigen Abend hatte ich es nicht recht beurteilen können, jetzt leuchtete mir ein, dass das Sinn ergab; dieses unheilvolle Youki speiste Sou’ungas finsteres Wesen und bestärkte die destruktive Aura der blutdurstigen Klinge. Der grauenvolle Druck, der damit einherging, bereitete mir Schwierigkeiten. Übelkeit stieg in mir auf, und mir wurde schwindlig zumute, das mentale Bild des Youkai zerbarst in der Eiseskälte, die um mich herum zu kristallisieren schien. Für den Bruchteil einer Sekunde klarten die Sichtverhältnisse auf, und die Furcht überwältigte mich blitzartig: Drachen. Und in ihnen lag eine unbeschreiblich gefährliche Macht verborgen… Schwarze Wolken und der Geruch von Asche und Schwefel… „Midoriko, es reicht.“ Nach Atem ringend kam ich wieder zu mir, zitternd und in kaltem Schweiß gebadet. „Es stimmt also.“ Ich nickte matt. „Wie viele?“ Schwer schluckend wischte ich mir mit dem Ärmel meines Yukatas über die nasse Stirn. „Zwei. Drachen, und sie sind stark…“ Schweigsamkeit prägte die gespannte Atmosphäre, lediglich mein abflauendes Keuchen durchdrang die starre, alarmierte Ruhe. Während ich den Versuch unternahm, meine vollkommen durcheinander geratenen Gedanken zu sortieren, und sich mein Puls zu beruhigen begann, ergriff Flúgar meine beiden Handgelenke, drehte die Innenflächen nach oben. „Deine Hände…“ Mir schwante dabei nichts Gutes. Der signifikante Unterton, der sicherlich auf einen Vorwurf hinwies, bezeugte, dass sich in seinem verqueren Hirn jüngst eine Idee entwickelt haben musste, die er in die Tat umzusetzen gedachte. „Es ist nichts, ich…“ Sinnlos zu behaupten oder gar zu beteuern, die kaum erwähnenswerten Verbrennungen wären unerhebliche Schrammen. In der Aufregung um Flúgar hatte ich mich nicht darum gekümmert und weitestgehend verdrängen können, dass sie mich schmerzlich am Gebrauch meiner Hände hinderten. Und ja, ich behielt Recht. Blut sickerte aus den feinen Wunden in seinen Handflächen, die er sich mit den eigenen Klauen zufügte, ehe sich eine verbittende Silbe aus meinem Munde löste. Erschrocken und gleichermaßen bestürzt schaute ich ihn an. Was sollte das werden? „Was?“ Gelassen drückte er seine Hände auf die meinen, wodurch mir erstmals auffiel, um wie viel kleiner und schmaler sie im Vergleich wirkten. Die Hände eines Kriegers, von Schwielen durch das Führen eines Schwertes geziert, rau, kräftig, und sanft zugleich… Das stechende Pochen erstarb, und ich hob verdutzt die Hände vor mein Gesicht, ballte sie ungläubig mehrmals zur Faust. Nichts. „Wie… was hast du…?“ Unmöglich, das… Die Fassungslosigkeit übermannte mich erbarmungslos, raubte mir die Stimme. „Drachenblut mag nicht unsterblich machen, aber es heilt. Uns selbst, und andere, vorausgesetzt, das Blut ist frisch und kommt nicht mit Luft in Kontakt.“ Fasziniert studierte ich das makellose Gesicht des Loftsdreki. Ob die Drachentöter, die schonungslos und unerbittlich Jagd auf sie machten, davon wussten? Blævar grummelte im Hintergrund, und presste die Kiefer aufeinander – ich neigte lächelnd den Kopf. „Danke, Flúgar.“ Faðirs Youki beschrieb sanfte, kreisförmige Bahnen in meinem Innersten, bekannte sich jedoch weicher und nachgiebiger als das meinige, das sich gelegentlich meinem Griff entwand und sich – mitsamt seiner scharfen, widerspenstigen Ecken und Kanten - verselbstständigte. Es strengte an, ein solch hitziges Temperament zu bändigen und dauerhaft im Zaum zu halten; eben darum eignete es sich perfekt zum Kämpfen, es geriet aus der geringsten Provokation, manchmal aus sich selbst heraus in Wallung. Wahrscheinlich distanzierte sich Vater aus diesem Grund von seinem eigentlichen Kriegerdasein, seine Dämonenenergie taugte von ihrer Natur aus nicht für die Offensive eines Gefechtes. Dafür barg sie offensichtlich Heilungsfertigkeiten, die einem Soldaten anderweitig zugute kommen konnten. Faðir… Die Hälfte seiner Reserven hatte er für meine Rettung geopfert, selbstlos, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob er sie nicht für sich und die Verfechtung seiner Ideale, seines konkreten Bestrebens mit dem Tennô brauchen würde. Nun drohte ihm das eigene Verhängnis, wegen mir… Ich kann ihn nicht sterben lassen… Ich zweifelte Midorikos Prognose nicht an, ich vertraute ihr. Die Angst, die sich in ihren braunen Augen spiegelte, entsprach der ihres wahren Empfindens, und dass sie eventuell log, war ausgeschlossen. Es vertrug sich weder mit ihrer Einstellung noch mit ihrem Charakter; eine andere Begebenheit war es, wenn sie sich von einer cleveren Illusion hatte täuschen lassen, obwohl ich mich mit dieser Possibilität schwer tat. Wem sollte das bei ihr gelingen? Dem Faktum zum Trotz, dass sie wohl Dämonen eines niveauvolleren Status sein sollten, handelte es sich ihrem Urteilsvermögen nach um Drachen, und die bedienten sich für gewöhnlich nicht feiger Bannsprüche. Überdies befanden sie sich auf dem zielstrebigen Weg hierher, einer aus dem Clan der Eldursdrekar und ein Unbekannter, und wenn Midoriko sich ernstlich vor ihnen fürchtete, blühte uns eine herbe Auseinandersetzung, und kein harmloses Versteckspielchen. Súnnanvindur würde seinem Beschützerinstinkt gehorchen und sich ihnen entgegenstellen, wohlwissend, dass er keine Chance auf einen Sieg verzeichnete. In meiner angeschlagenen Verfassung wäre eine Konfrontation in jener Größenordnung der selbst gewählte Freitod. Dann war da noch der Inu no Taishou, doch auch er würde nicht gegen beide bestehen. Midoriko mangelte es an Erfahrung und dem Willen, den Gegner zu töten, und Blævar war ebenso wenig ein Kämpfertalent wie Vater. Kali… Ich fuhr zusammen, blickte instinktiv durch den geöffneten Shouji nach draußen. Súnnanvindurs weiße Raben, die bis eben entspannt auf der Brüstung der Veranda gesessen und Wache gehalten hatten, stoben im nächsten Moment verschreckt auseinander, flogen, hektisch mit den silbrigen Schwingen schlagend, in Richtung Meer davon. Merkwürdig… Dort, am Strand glomm gerade Kalis Youki auf. „Sie sind hier.“ Jetzt konnte ich mir keinerlei Sentimentalitäten mehr leisten, ich musste handeln, jetzt. „Pass auf Blævar auf, Midoriko.“ Flugs streifte ich den Hakama und Haori über, die Faðir mir in weiser Voraussicht bereit gelegt hatte, band den Obi um meine Hüften und griff schließlich nach Skýdis. Den empörten Protestlaut aus Blævars Kehle überhörte ich bewusst. „Broðir, ich…“ Ich hatte keine Wahl, die Zeit rann mir förmlich wie Sand durch die Finger. „Keine Widerworte. Und beeilt euch.“ Faðir hatte mir in seine Lebensenergie geliehen, damit ich fortexistieren konnte, um die, die mir geblieben waren, meine Familie, zu beschützen, und die Versprechen, die ich denen, die mir wichtig waren, gegeben hatte, einzuhalten… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 45: >“Die Umstände haben sich gewendet, und der Wind birgt die Signalbotschaft einer Bedrohung – den Wächter auf verlorenem Posten erreicht sie spät. Am Strand kollidieren die Mächte der Drachen, und bald zeichnen sich Gewinner und Verlierer vor dem Hintergrund eines wolkenlosen Firmamentes ab…“ *» Árekstur Kapitel 45: *~Árekstur~* ------------------------ "Kampf ist überall, ohne Kampf kein Leben. Und wollen wir weiter leben, so müssen wir auch auf weitere Kämpfe gefasst sein." – Otto (Eduard Leopold) Fürst von Bismarck Kapitel 45 – Árekstur -Kollision- *Wenn feindlich gesinnte Energien aufeinander treffen, ist der Ausgang jener Begegnung bereits vorherbestimmt? Löschen sie sich unweigerlich gegenseitig aus, sodass letztendlich nichts bleibt, die ursprünglichen Mächte sich vollkommen tilgen? Oder verschlingt die stärkere der beiden die schwächere und verleibt sie sich ein? Ist nur demjenigen das Überleben gestattet, und gesichert, der sich behaupten kann und den Gegner gnadenlos ins Aus stößt?* ּ›~ • ~‹ּ Nachdenklich, jedoch mit schwindendem Interesse, beobachtete Kali, wie die kleinen Rauchwölkchen, die er aus Mund und Nase stieß, von der sachten Brise erfasst und Richtung Meer getragen wurden, sich währenddessen mehr und mehr verflüchtigten, schlussendlich vollkommen im Wind vergingen. Noch immer hing der schwere Geruch von verbranntem Holz in der Luft, vereinzelte Ascheflocken tanzten schwerelos, einen stummen Reigen aufführend über die Hafenmauer, an ihm vorüber, verschwanden gen Horizont außer Sichtweite. Kali langweilte sich – und das im Grunde nicht erst seit Sonnenaufgang, mit dem absolute Ruhe eingekehrt war. Selbst in der Nacht hatte er seinen Posten nicht verlassen dürfen, und dementsprechend fehlten ihm jegliche Informationen über das Feuer, das unvermittelt in einem der großen Hauptgebäude der Residenz ausgebrochen war. Seufzend legte er den Kopf in den Nacken, zog ein weiteres Mal an seiner Pfeife. Was Menschen und die Sonderregelungen betraf, die in ihrer Nähe galten, konnte er Súnnanvindur einfach nicht beipflichten; die Vorsicht des Oberhauptes der Luftdrachen war maßlos übertrieben, wenngleich in gewissem Sinne verständlich. Zum einen, da Flúgars Präsenz ein unheimliches Risiko darstellte und auf anderem Wege kaum in den Griff zu bekommen war, zum anderen, weil Súnnanvindur zurzeit all seine Hoffnungen in diese Angelegenheit und ihr Gelingen setzte. Sobald sich die wahren Gegebenheiten offenbarten… Kali wollte sich nicht vorstellen, was dann geschehen würde. Nur zu gut erinnerte er sich an die tiefblauen Druckmale an Flúgars Hals. Nun, es war nicht zu ändern. Warum also sollte er sich den Kopf darüber zerbrechen…? Seine momentane Situation würde sich dadurch ohnehin nicht verbessern, Befehl war Befehl. Auch, wenn das für ihn nichts als pure Langeweile bedeutete. Natürlich wusste sich der Luftdrache Abhilfe zu verschaffen, und allmählich begann er die Wirkung des Opiums im Pfeifentabak zu spüren. Der Effekt war nicht unbedingt berauschend, zum Zeitvertreib und zur Beruhigung reichte es allemal aus. Eine ganze Weile döste Kali, die sanften Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht und den Klang der leise rauschenden Wellen genießend, vor sich hin. Warum er letztlich aus seinem wonnigen Dämmerschlaf hochschreckte, konnte er im Nachhinein nicht mehr sagen, doch dass er schlagartig hellwach war, hatte sicherlich einen guten Grund. Benommen fuhr er sich mit dem Handrücken über die Augen, setzte sich auf. Sorgfältig prüfte er die Witterung, ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Eigenartig. Dann jedoch vermeinte er am Himmel eine flüchtige Bewegung zu entdecken, richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf den unscheinbaren grauen Fleck, der sich in relativ weiter Entfernung gegen das strahlende Blau des beinahe wolkenfreien Firmaments abgrenzte. Das war keine Wolke. Kali mochte die Form des Objekts nicht erkennen können, dafür waren seine Augen bei Weitem zu schlecht, aber er bemerkte sehr wohl, dass es sich bewegte, und das rasch, auf ihn zu, damit gegen die derzeitige Windrichtung. Skepsis beschlich ihn, sämtliche Muskeln in seinem Körper spannten sich an. Zeitgleich wanderte seine rechte Hand an die Tsuka seines Katanas. Youki… Neisti hatte alle Mühe damit, sein Amüsement über die derzeitige Situation unauffällig zu verbergen, presste die Hände auf den Mund und hielt zeitweise die Luft an, um das Kichern zu unterdrücken, das ihm vehement zu entfleuchen drohte. Bundoris Teint war im Vergleich zum Zeitpunkt ihrer Abreise um mindestens zwei Nuancen aufgehellt, das ruckelige, unsichere Flugverhalten des Eldursdreki Logi, auf dessen Rücken er saß, ging wahrhaftig nicht spurlos an dem Drachenfürsten vorüber. Für gewöhnlich nutzten Feuerdrachen ihre relativ kurzen Flügel lediglich zum Segeln, und das auch nur, wenn es entsprechende Aufwinde oder warme Luftsäulen gab, die jenes Unternehmen unterstützten. Lange Strecken durchgehend fliegend zurückzulegen war schlichtweg unmöglich, einerseits strengte es ungemein an, verlangte den Einsatz von nicht gerade wenig Youki, und andererseits besaßen die Drachen des Feuers keinen besonders guten Orientierungssinn. Die für Logi unbegreifliche Thermik über dem Ozean und die schiere Unmenge an Wasser, die seine Sinne zusätzlich verwirrte, taten ihr Übriges. Aufgrund dessen hatten sie dem Sonnenweberdrache bereits im Vorhinein jede erdenkliche Vollmacht eingeräumt, was die Navigation betraf. Alles andere hätte im glatten Selbstmord geendet. Doch infolge des mangelnden Komforts und die Langwierigkeit des Fluges war Bundoris Laune langsam aber sicher bis weit unter den Nullpunkt gesunken. Letzteres hatte der junge Eldursdreki am eigenen Leibe erfahren dürfen, als er besagten Dämon ungefragter Weise angesprochen hatte. Die Quittung für diese Dreistigkeit hatte er augenblicklich in Form einer überdeutlichen Verwarnung kassiert, wie die mittlerweile beinahe völlig verheilten Striemen auf seiner linken Wange bewiesen. Neisti empfand es als äußerst ermüdend und Nerven zehrend mit einer solchen Begleitung zu reisen; Logi hatte sich bis jetzt nicht getraut, sich zu Wort zu melden und Bundori hüllte sich geflissentlich in Schweigen, beschränkte sich darauf, ihm in regelmäßigen Abständen einen vernichtenden Seitenblick zuzuwerfen. So blieb dem Feuerdrachen bloß sein eigenes Reittier, ein monströses Feuerpferd, als Gesprächspartner. Das weiße Tier mit der flammenden Mähne zeigte allerdings keinerlei Interesse an Zuwendung dieser Art, wandte ihm weder Kopf noch Ohren zu, von irgendeiner Erwiderung ganz zu schweigen. Widerwillig fügte sich Neisti in sein Schicksal und hielt den Mund, wagte erst wieder eine hörbare Lautäußerung in Form eines erleichterten Aufatmens, als das Festland Japans in Sichtweite auftauchte. Näher und näher rückte die Küste ihres Bestimmungsortes, die Vorfreude des Eldursdreki steigerte sich ins Unermessliche. Eben diesen Kampfeseifer hatte er vermisst, diese Aufregung, diese Lust… Der Wind stand günstig für sie, die Gelegenheit schien perfekt – der Anschein täuschte. Und je näher sie kamen, desto offensichtlicher wurde es. Jemand erwartete sie, einer der Loftsdrekar, wie die auffällige Färbung seiner Bekleidung bekundete, und er hatte sie unlängst als Feinde eingestuft. Woher rührte dieses Wissen? Oder verfuhr er nach dem Prinzip des reinen Glücks…? Nein, sicher nicht. Denn jetzt wurde Neisti bewusst, dass sich die Luftströmungen gedreht hatten, ihnen jetzt verräterisch im Rücken standen. Cleverer Bursche… Ob ihm seine Intelligenz jedoch den Hals retten konnte…? In Angriffsstellung, das Schwert einhändig in einer schrägen, seitlich nach unten geneigten Position der Ruhe haltend, verharrte er regungslos, geduldig, bis Logi den Zirkel seiner eigens festgelegten Aktionsradius schnitt. Blitzartig stürmte er los, folgte zunächst dem Verlauf der Kaimauer eher er sich abstieß, einen weitläufigen Abschnitt der Steilküste übersprang und einen einigermaßen flachen Felsvorsprung frequentierte, um den nötigen Schwung für seine bevorstehende Attacke zu sammeln. Noch im Sprung hob er das Katana auf Schulterhöhe, fasste es mit beiden Händen; sein Fokus lag unverkennbar auf Bundori. Neisti tat der Luftdrache leid, die Begegnung mit dem missgelaunten japanischen Fürsten würde er nicht überleben. Zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein konnte durchaus verheerende Folgen tragen. Was für eine Verschwendung von Leben… Ein ohrenbetäubendes Brüllen erschallte, als Logi seinen mächtigen Leib zur Seite wälzte und anschließend mühevoll um sein Gleichgewicht rang. Verärgert schnappte er mit den gewaltigen Kiefern nach dem fremden Angreifer, verfehlte dessen linkes Bein um Haaresbreite. Doch Kali ließ sich nicht beirren, packte die Chance, sich am Kopf des Eldursdreki erneut abzustoßen, beim Schopfe. Mit einem flinken Überschlag brachte er sich hinter seinen selbst gewählten Gegner, der nun endlich eine Reaktion zeigte, sich betont langsam zu voller Größe aufrichtete. Gleichzeitig bäumte sich der Feuerdrache in seiner wahren Gestalt ein weiteres Mal auf, schlug ungeahnt heftig mit den Flügeln, was Bundori dazu nötigte, Halt an dem von Dornen gespickten Plattenpanzer zu suchen; dabei wich sein kühler missbilligender Blick einem düsteren Ausdruck, einem mordlüsternen Funkeln in den Augen, das Bände über seine derzeitige Gemütsverfassung sprach. Kali musterte das Antlitz seines Gegenübers, Bundori zog sein Schwert. Ein Sonnenweberdrache… Die weiße Maske mit den schwarzen Streifen auf seiner Stirn verriet ihn; über Súnnanvindur hatte der Loftsdreki am Rande einmal erfahren, dass der Hundeclan des Öfteren Schwierigkeiten mit dieser Art der Lindwürmer zu verzeichnen hatte, sich gefährliche Spannungen entwickelten und allgegenwärtige Feindseligkeit einstellten, einen offenen Krieg war seitens des Inu no Taishous dennoch vermieden worden. Sicherlich waren die Zwischenfälle und die damit verbundenen Verluste verdrießlich, aber auf solch mindere Provokationen mit einem unüberlegten Feldzug zu antworten, entsprach nicht dem durchweg stolzen Charakter der Hunde. Nur… was hatte ein dermaßen hochrangiges Exemplar hier verloren? Noch dazu in Gesellschaft von zwei Feuerdrachen? Etwas Gutes verhieß das garantiert nicht. Eine wiederkehrende Regung durchlief den Körper des Eldursdreki, und sein schwer gepanzerter Schädel ruckte herum. Aus Nüstern und Rachen quollen giftige Dämpfe, es roch nach Schwefel und diversen anderen hochentzündlichen Substanzen. Grollend fixierte Logi den Luftdrachen, sog begierig den Sauerstoff aus der Luft in seinen Schlund. Er würde diesen Plagegeist zu Asche verbrennen… So weit sollte es allerdings nicht kommen. „Lass das bleiben, wenn du an deinem Leben hängst.“ Es war nicht Bundoris sonore, gleichwohl eiskalte Stimme, die Logi zum Zusammenzucken veranlasste, sondern vielmehr die Gestik, die seine Anordnung unterstrich. Der verwarnende Hieb gegen die Schnauze war glücklicherweise halbherzig angesetzt gewesen und hatte keine empfindsame Stelle getroffen; dessen ungeachtet meinte es der Drachenfürst verdammt ernst. Sich mit ihm anzulegen war – gelinde ausgedrückt – debil, und demgemäß gehorchte der Eldursdreki, obgleich unwillig, flog gedämpft murrend eine Schleife, um nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau zu halten. Unterdessen schätzte der Sonnenweber den augenscheinlich suizidgefährdeten Loftsdreki ab, prägte sich seine Haltung ein, rief sich seine Bewegungen ins Gedächtnis. Das Katana, das er trug, maß ein wenig mehr als drei Shaku, und Bundori bezweifelte nicht, dass er es geschickt einzusetzen wusste. Trotz dessen gebührte der Vorteil im Punkt Reichweite ihm selbst, das doppelseitig geschliffene Schwert in seiner rechten Hand besaß eine längere Klinge, außerdem wog es schwerer, und das ohne seine Geschwindigkeit im Kampf herabzusenken. Mit einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen trat er einen Schritt vor, den Schwertarm hielt er im Gegensatz dazu ruhig. „So ein dummes Kind. Es ist fast schade, dass du aus meiner Lektion nichts mehr lernen können wirst. Fast. Wenn du mich nicht zu Tode langweilen willst, fang an!“ Kali schob seine Bedenken und aufkeimende Verunsicherung beiseite, atmete tief durch. Für einen Augenblick schloss er die Augen, konzentrierte sich, festigte den Griff um die Tsuka seiner Waffe. Jetzt oder nie, alles oder nichts… Entschlossen stürzte sich der Loftsdreki in die Offensive, das Echo der aufeinander prallenden Stahlklingen hallte über die Weite des Meeres hinweg. Zu spät wurde Kali sich dem Umstand gewahr, dass das unangenehme Kribbeln auf der Haut nicht der Eifer des Gefechtes war, der ihn packte – nein, es war Bundoris Youki, gegen das er in seiner gegenwärtigen Gestalt nicht viel ausrichten konnte. Gleichermaßen von der Intensität der rein technischen Parade überrascht, machte er hastig einen Satz zurück, fluchte tonlos. Seine Arme waren verletzt, von mäßig tiefen Schnitten gezeichnet. Feine schwarzrote Rinnsale bahnten sich ihren Weg über seine helle Haut. Wie mächtig war dieser Sonnenweberdrache wirklich, wenn alleinig das Aufflammen seiner Dämonenenergie solchen Schaden verursachte? Ob es womöglich klüger war, sich zu verwandeln…? Allzu viel Zeit zur Reflexion gewährte der Drachenfürst ihm freilich nicht, unbarmherzig und mit einem rasanten Tempo setzte er Kali nach, griff ihn nun seinerseits mit einem schier unmöglich zu blockenden Querhieb an. Keine dem Jüngeren bekannte Defensive hätte ihn gegen diesen Schlag schützen können, ausweichen hieß die Devise. Zugegeben, das Manöver gestaltete sich knapp und alles andere als elegant, doch es erfüllte seinen Zweck. Nach einigen, taumelnden Schritten fing er sich wieder, riss derweil sein Katana hoch, um Bundoris nachfolgenden Angriff zu parieren. Aufkeuchend stemmte er sich, die linke Hand unterstützend an der stumpfe Klingenseite, gegen die Übermacht seines Gegners; erfolglos, eben jener war wesentlich stärker als er, hoffnungslos überlegen und drängte ihn stetig weiter zurück. Verzweiflung erfasste ihn, wenn ihm nicht bald etwas einfiel, würde er hier tatsächlich sterben… „Genug gespielt.“ Unwirsch stieß ihn der Sonnenweberdrache zurück, löste so die Verkeilung der Schwerter und sandte postwendend einen vertikalen Schlag hinterher, dem der Luftdrache nur mühevoll durch ein seitliches Abrollen entrann. Jeden näheren Kontakt mit dem Youki des anderen musste er tunlichst vermeiden. Abwägend fokussierte Kali den Lindwurm in menschlicher Form, verharrte in seiner halbseitig knienden Körperhaltung. So hatte das keinen Sinn. Kurzerhand sprang er vom Rücken des Feuerdrachen in die Tiefe, vollführte einen grazilen Salto bevor er geschickt zwischen den Felsen der Steilküste landete. Bundori folgte ihm unverzüglich – ein süffisantes Grinsen verzerrte sein Gesicht zu einer diabolischen Grimasse. Kali schluckte unwillkürlich, säuberte nervös die blutigen Hände an seinem Hakama. Ohne den Einsatz seines Youkis würde er nicht überleben, aber wenn er nicht aufpasste, lief er Gefahr die Kontrolle zu verlieren und es entsprach gewiss nicht seiner Intention, sich selbst auf das Niveau eines Tieres zu degradieren. Vorsichtig tastete er nach der Quelle seiner Energie, berührte diese nur flüchtig, um den abrupt aufwallenden Youkistrom im Zaum halten zu können – zeitgleich pulverisierte eine neuerliche Attacke des Sonnenweberdrachen ein riesiges von erodiertem, spitzen Gesteinsformationen bedecktes Areal zu exquisitestem Staub. Unglaublich… die Gewalt, die hinter dieser immensen Stärke steckte, faszinierte und ängstigte ihn zugleich. Erschrocken kniff Kali die Augen zusammen, als die Druckwelle des Angriffs ihn erfasste, und er daraufhin ins Wanken geriet. Genau jener Moment der Unachtsamkeit war es, den Bundori auszunutzen wusste; mit ungemeiner Befriedigung erkannte er den Schock in den Augen des jungen Luftdrachen, als dieser ihn keine zwei Schrittlängen von ihm entfernt erblickte. Diesmal würde er nicht entwischen. Um vernünftig zu reagieren tauchte der Drachenfürst um Einiges zu plötzlich vor ihm auf, sein Verstand versagte, an einen Konter dachte er nicht einmal. Der Situation zum Trotz, herrschte in seinem Kopf eine gespenstische Leere vor, irgendwie erschien ihm die Angelegenheit so surreal… das konnte doch einfach nicht die Wahrheit sein… oder? Dass er sich zweifelsfrei in der Realität befand, teilte ihm bald darauf eine der elementarsten Empfindungen mit, die sein Körper kannte. Schmerz, und das in einer dermaßen brutalen Abart, dass seine Nerven zu kollabierten drohten, ihm die Sinne schwanden, und das Bewusstsein beinahe entglitt. Einen Aufschrei unterdrückend, grub er die Finger in den rauen Untergrund, biss sich auf die Unterlippe. Was hatte er von seinem Stolz, wenn er dafür mit dem Leben bezahlte? „Vertu ekki að þessu… gera svo vel…“ Ja, zur Hölle, er bat um Gnade, war es denn verwerflich sich davor zu fürchten, bis in die Ewigkeit verdammt zu sein als zersplitterte, ruhelose Seele existieren zu müssen? Wenigstens verstand Bundori ihn nicht, ein schwacher Trost im Angesicht der Tatsachen… Der Sonnenweberdrache hingegen spürte, wie ihn der Blutrausch zu überwältigen begann, die Maske auf seiner Stirn schmunzelte hämisch. Töte ihn… „Halt’s Maul!“ Meinte er ihn? Nein. Verschwommen nahm er wahr, dass der Drachenfürst sich abwandte. Aber… mit wem stritt er sich? Beleidigungen, diverse Schimpfworte, die Kali bis dato noch niemals zu Ohren gekommen waren, echoten in bemerkenswerter Lautstärke über die nun bis auf weiteres ebene Landschaft. Anscheinend führte er Selbstgespräche, was, wie Kali fand, auf abstrakte Art und Weise sehr gut zur Persönlichkeit des Anderen passte. Schwach erinnerte er sich daran, dass der Stamm der Sonnenweberdrachen aus der Synthese zweier unterschiedlicher Lebewesen entsprungen war, und das Resultat, durch einen lebenslänglichen Pakt besiegelt, lediglich eine Symbiose eben dieser darstellte, keine eigenständige Rasse… Diese Atempause würde nicht endlos fortwähren. Da er in seinem rechten Arm keinerlei Gefühl hatte, schob er den linken in einer lahmen Bewegung über seine Brust, Blut benetzte seine Fingerkuppen, als er die rechte Schulter erreichte. Es bestätigte seine Vermutung… Flüchtig streiften seine Finger das kühle Metall der Schwertklinge seines Kontrahenten, schlossen sich erst zögerlich, dann jedoch fest um den unnachgiebigen Stahl. So konnte, so durfte es mit ihm nicht enden. Was wurde aus der Zukunft des Clans, wenn er hier elendig krepierte? Was wurde aus seiner Zukunft, aus seinen Träumen? Tränen brannten in seinen Augenwinkeln. Keine Familie, keine Gefährtin, keinen Erben… Nichts desgleichen hatte er vorzuweisen, es war beschämend. „Habe ich dir gestattet, mein Schwert zu berühren?“ Natürlich war das eine rhetorische Frage, eine Erwiderung konnte er sich getrost sparen. Nebenbei erwähnt hielt Kali diese Variante für die gesündere, Bundori zu provozieren grenzte an heillosen Wahnwitz, der den des Sonnenweberdrachen in seiner Verquertheit noch übertraf. Kalis Überlegungen brachen jählings ab, als ihm gewaltsam die Luft aus den Lungenflügeln gepresst wurde, und ein ungeheures Gewicht auf seiner Brust lastete. Beständig, unbarmherzig nahm der Druck auf sein Brustbein zu, das Geräusch von berstenden Knochen ergänzte sich – dem Geschmack des Drachenfürsten nach – vorzüglich mit dem gequälten Stöhnen des Loftsdreki, seinem fruchtlosen Ringen nach Atem zu einer süßen Melodie der Pein, der er andächtig und schweigsam beiwohnte. Eine Weile weidete er sich am Leid seines Opfers, doch sein Spiel langweilte ihn zusehends, die Lust daran war ihm vergangen. Schulterzuckend vollführte er eine elegante Kehrtwende. Es war nicht schade um den Luftdrachen, er war schwach, nutzlos, so etwas taugte zu nichts als zum Sterben. Was das richtige Vergnügen anbelangte, weswegen er überhaupt hier stand, so würde er sich noch gedulden müssen. „Wo… willst du hin? Noch… bin ich nicht tot…“ Missmutig hielt Bundori inne. Hatte er sich eben verhört oder bettelte dieser Idiot tatsächlich darum, von ihm an Ort und Stelle in Fetzen gerissen zu werden? In seinem miserablen Zustand sollte er wahrlich nicht mehr in der Lage sein, solche Unverfrorenheiten zu verbalisieren, indirekt Forderungen zu stellen. Bundori fuhr herum, zu langsam, zu unvorbereitet, um dem verzagten Angriff des Luftdrachen vollends auszuweichen; die Klinge seines Katanas streifte den linken Oberarm des Fürsten, dessen Augen sich ungläubig weiteten. Er wagte es, ihm in den Rücken zu fallen…? Dunkle Schatten überlagerten seine Züge, der unermüdlich in ihm aufwallende Zorn entstellte das makellose Gesicht. Dafür würde er büßen. Ehe Kali ein weiteres Mal blinzeln konnte, schlug sein Gegenüber ungehalten zu. Die Wucht des Schlages schleuderte ihn ein beachtliches Stück nach hinten, ließ ihn unsanft auf dem harten Boden aufprallen. Wahrscheinlich war er dadurch kurzzeitig in Bewusstlosigkeit gesunken, denn als er wieder zur Besinnung kam, konnte er Bundoris heißen Atem über seine Wange streichen fühlen, sein eiserner Griff drückte ihm gnadenlos die Kehle zusammen. Er schnitt ihm die Luftzufuhr ab, beabsichtigte sicherlich, ihn jämmerlich ersticken zu lassen… Der Sonnenweberdrache lächelte milde herablassend, die Maske auf seiner Stirn tat es ihm gleich. „Selten ist mir so ein dummes Kind wie du begegnet, deshalb verrate ich dir, wem du dein vorzeitiges Ableben verdankst. Merk dir meinen Namen gut, es ist das letzte, was du jemals hören wirst.“ Gewissermaßen zärtlich berührten seine Finger die leicht geöffneten Lippen der wehrlosen Beute, sandte einen Schauer durch deren Leib. „Bundori.“ Kalis ohnehin nicht nennenswerte Gegenwehr erstarb, die Welt um ihn herum verblasste und die Dunkelheit verschlang ihn. Aus, vorbei, das war’s… Just in diesem Moment erlosch Bundoris Interesse, er lockerte die Anspannung in seiner rechten Hand, ließ den leblosen Körper achtlos fallen; seine Aufmerksamkeit galt nunmehr etwas Anderem, die Hauptattraktion, für die er einige Mühen auf sich genommen hatte, lockte ihn mit lieblicher Stimme. Wie in Trance näherte er sich eiligen Schrittes der Hafenmauer, eher beiläufig schaute er zu Neisti, der zusammen mit dem Feuerpferd und Logi – indes in Menschengestalt – an der Wassergrenze des umgestalteten Terrains wartete, winkte ihn mit einer brüsken Geste heran. „Mach dich gefälligst nützlich und räum den Dreck hier weg.“ Gelassen schob der Drachenfürst sein Schwert zurück in die Scheide. Äußerlich mochte er ganz und gar unbeeindruckt von der kurzen Kampfeinlage wirken, innerlich kochte er vor Wut. Auch wenn es nur ein Kratzer war… Dreckiger Bastard… Während Bundori abfällig schnaubend in Richtung Residenz verschwand, tat der junge Eldursdreki wie ihm geheißen und näherte sich, nicht ohne Vorsicht, wie er einräumen musste, dem reglos auf der Erde liegenden Drachen der Luft. Geräuschlos ging Neisti neben ihm in die Hocke, tippte mit dem Zeigefinger an die – nach seinem Empfinden – viel zu kalte Wange. Keine Reaktion, was für den Feuerdrachen Entwarnung bedeutete. Einigermaßen beruhigt kniete er sich dann in den Staub, betrachtete aufmerksam das Gesicht des Bewusstlosen, die blasse Haut, die ausdruckslose Miene… „Tut mir leid.“ Neisti seufzte abgrundtief. Nein, es war nicht fair, und ja, diese Verschwendung war eine Schande… Sich zu beschweren oder gar zu weigern würde nicht helfen, nicht bei Bundori, und noch war es zu früh, um es sich mit ihm zu verderben, nicht zuletzt um seines Bruders willen. Eines schien der Sonnenweber jedoch vergessen zu haben, die Entscheidung, was er mit dem Luftdrachen anstellen sollte, betrug sich offen. Die Kehle würde er ihm sicherlich nicht aufschlitzen. Sein Blick schweifte zum Meer, ihm wurde schwer ums Herz… ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] vertu ekki að þessu - aufhören, hör auf gera svo vel - bitte ***>>>Kapitel 46: >“Im Wirbel der Ereignisse treten sich Feinde von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und die Atmosphäre droht unter dem Hass und der Feindseligkeit der Dämonen zu bersten. Unheil braut sich zusammen, der Himmel zeigt ein böses Omen, und manch einer soll nicht mit dem Leben davonkommen, wenn er zufällig den Weg des Falschen kreuzt…“ *» Chousen Kapitel 46: *~Chousen~* ----------------------- "Angriff kann die beste Verteidigung sein, aber Aggression ist die schlechteste Defensive." – Rupert Schützbach Kapitel 46 – Chousen -Aggression- *Heiligt der Zweck wirklich die Mittel? Ist alles erlaubt, wenn es nicht bloß um das eigne Überleben, sondern um das einer ganzen Nation geht? Erreicht die Fairness ab einem gewissen Grad ihre Grenze? Oder müssen wir an dem Begriff der Gerechtigkeit verbissen festhalten, auf dass der Rücksichtlosigkeit Einhalt geboten werde? Verkommt die Welt, unser Selbst, nicht umso mehr, je weniger Prinzipien gewahrt werden?* ּ›~ • ~‹ּ Dunkle Wolkenmassen türmten sich am Himmel über der Sommerresidenz des Tennô auf, und bis hin zum Horizont verschwand auch das letzte Fleckchen des strahlend blauen Firmaments hinter der düsteren Front, die keinesfalls natürlichen Ursprungs war. Die ersichtlich gespannte Atmosphäre wirkte wie statisch geladen, und ein allgegenwärtiges Knistern erfüllte die Luft; hinzu addierte sich eine eisige Kälte und ein obskurer Druck, der die Glieder eines Unwissenden schwer wie Blei werden ließ und das Gehör gravierend beeinträchtigte. Mächte eines ungeahnten Formats kollidierten an diesem Ort, die Auren der Dämonen stießen sich ab wie identische, magnetische Pole, und es würde eine Weile in Anspruch nehmen, die Verhältnisse auszufechten. Der stumme, mehr oder minder heimliche Kampf zwischen den dämonischen Energien würde bald enden und zu einer vernichtenden Blutvergießen eskalieren. Midoriko fröstelte. Etwas bahnte sich an, das konnte sie fühlen, eindeutig, und sie wagte nicht sich vorzustellen, was genau geschehen würde, wenn die Youkai aufeinander trafen… „Oi.“ Zusammen mit Blævar, Kaneko und dem Welpen des Inu no Taishou, den sie in ihrer chaotischen Hektik beinahe vergessen hätten, eilte die junge Miko durch das verworrene Labyrinth aus Korridoren und Fluren – erschöpft und vollkommen orientierungslos, und dabei so tief in Gedanken versunken, dass sie die Beschwerden des Luftdrachen schlichthin ausblendete. Unsicherheit plagte ihr Gewissen; hatte sie richtig entschieden, Flúgars Anweisung ohne Einwände zu gehorchen? „Oi, hörst du mir zu? Das ist die falsche Richtung, die falsche Richtung!“ Sesshoumaru schlief noch immer, und selbst Blævars lautstarke Bemühungen, die Menschenfrau auf sich aufmerksam zu machen, konnten ihn nicht wecken. Wenigstens sabbert er momentan nicht auf meinen Yukata… Ihr kontinuierlicher Sprint – wann und warum sie mittlerweile rannten, als wäre der Leibhaftige persönlich hinter ihnen her, wussten sie beide nicht genau – kam zu einem abrupten Halt, als die schwarzhaarige Frau aus unerfindlichen Gründen jählings auf der Stelle stehen blieb, den Blick starr nach rechts gerichtet. Der säuerliche Ausdruck des Jungdrachen verfinsterte sich derweil, doch ehe er sie für ihr absonderliches Verhalten zur Raison ziehen konnte, packte sie ihn am Arm und riss ihn mit einer barschen Bewegung zurück. Erst als sie sich wieder hinter der Ecke, flach an die Wand gepresst, vor dem auf der rechten Seite gelegenen Durchgang befanden, lockerte sich ihr Griff ein wenig. „Was in aller Welt glaubst du-“ Er verstummte. Allerdings hatte das wenig damit zu tun, dass sie ihm mit der linken Hand auf seinem Mund das Wort verbat. Die Realität holte ihn gewaltsam ein, härter als ein Schlag in die Magengrube, und keinen Wimpernschlag später gaben seine Beine, die Knie nach, unfähig sein Gewicht weiterhin zu tragen. Gleichzeitig schoss ein stechender Schmerz durch seinen Schädel und etwas Warmes benetzte seine Oberlippe, rann über die blassen Finger der Priesterin. Dieses Youki… Ihm wurde angst und bange, er zitterte am ganzen Leib. Midoriko erging es indes nicht wesentlich anders, Schwindel und Übelkeit marterten ihren Körper. Dennoch gelang es ihr, einen Teil des schädigenden, aggressiven Einflusses abzublocken, und im Gegensatz zu Blævar wehrte sie sich gegen die Überwältigung. „Bun… dori-sa… ma…“ Sie hatte sich nicht geirrt. Dort, auf dem angrenzenden Hofareal, hielten sich der Tennô und einige seiner Diener auf. Der flüchtige Blick, den sie zuvor auf sie erhascht hatte, war ausreichend gewesen, um zweierlei zu erkennen: zum einen die verstörte, bleiche Miene des angeblich mächtigsten Mannes im Reich, und zum anderen die Hektik und Bestürzung seiner Untergebenen. Natürlich spürte er die drohende Gefahr… Das ist trotzdem nicht alles… Vorsichtig spähte sie aus dem notdürftigen Versteck hervor, und ihr stockte augenblicklich der Atem, als sie die menschliche Gestalt erblickte, die langsamen Schrittes aus dem Schatten eines Hauptdurchganges trat und letztendlich frappant die Arme vor der Brust verschränkend im Zentrum des Hofes inne hielt. Er war groß, trug schwarze japanische Gewänder und eine Rüstung ohne jegliche Verzierung oder Symbole darauf, zudem ein Schwert an der Hüfte, das dazu kontrastierende rotgolden schimmernde Haar fiel ihm offen über Schultern und Rücken. Vielmehr konnte sie von ihrem Standpunkt aus nicht mit Sicherheit sagen. Unwillkürlich musste sie schlucken, und ihre Lunge daran erinnern, weiterzuarbeiten. Jene mörderische Ausstrahlung, die ihnen derart heftige Schwierigkeiten zu bereiten vermochte, war zweifellos die seine; er demonstrierte unverhohlen die Macht seines Youki, sodass gar der Tennô verängstigt vor ihm zurückwich. „Habt Ihr Eure Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erledigt, Tennô-sama?“ Der sonore Klang seiner Stimme jagte ihr einen Schauer den Rücken hinab, ihr wurde heißt und kalt zugleich. Was jedoch in seinem spöttischen Unterton mitschwang, nährte das Quäntchen Skepsis, die mit dem fluchtartigen Verhalten des Priesteroberhauptes in ihr aufgekeimt war. „Bundori-sama, welche Ehre wird uns zuteil, Euch hier begrüßen zu dürfen. Hattet ihr eine angenehme Anreise…?“ Verband die beiden tatsächlich eine Art geschäftliches Abkommen? „Ich habe Euch eine Frage gestellt.“ Ein leises, ungeduldiges Grollen entrang sich der Kehle des Dämons. Nein, hier handelte es sich wohl eher um Erpressung. Der schweißgebadete Mann kniete hastig ab, neigte das Haupt so weit nach vorn, dass seine Stirn den gepflasterten Boden berührte. Er wimmerte – seine Dienerschaft rührte keinen Muskel. „Mein Sohn, Bundori-sama… ich… wo ist er? Ich fürchte, ich… bin nicht imstande, Euch angemessen antworten, bevor ich… bevor ich ihn gesehen habe.“ Verstimmung überlagerte die durchaus attraktiven Züge des Youkai, das gutturale Knurren schwoll bedrohlich an. „Ihr seid nicht in der Position, Forderungen zu stellen.“ Dann verzerrte unvermittelt ein diabolisches Grinsen das nahezu humane Antlitz. „Wenn Ihr es so unbedingt wissen wollt: der elendige Quälgeist quietschte wie ein Ferkel als ich ihn aufgeschlitzt habe. Er ging mir selbst während er starb noch auf die Nerven.“ Hohl und blechern hallte Bundoris grausames Lachen zwischen den Mauern wider, und ein aufmerksamer Beobachter und Zuhörer bemerkte, dass es nicht einmal ihn amüsierte. Midorikos Eingeweide krampften sich schmerzhaft zusammen, und mit einem Mal wurde ihr etwas bewusst. Nicht der Tennô verbarg sich hinter dem Attentat, und der Puppenspieler, der im Verborgenen die Fäden zog, war Bundori… „Aber… aber… Ihr hattet doch versprochen… mein Sohn… Ihr…“ Und er hatte offenbar seinen Part des Paktes, sein Versprechen gebrochen, und den Sohn des Tennô ermordet, den dieser vertrauensvoll als Pfand mit ihm gesandt hatte. „Oh? Dachtet Ihr im Ernst, ich würde ihn lebendig hierher zurück bringen? Ihr seid ein Narr, und ich bin Euren widerwärtigen Anblick leid.“ Gespielt betroffen hob der Fremde die Hände, die roten Augen glühten verhängnisvoll auf, und die beiläufig erscheinende Gestik, die er danach mit dem rechten Arm vollführte, erweckte nicht den Eindruck, einem Angriff zu dienen. Bis die Priesterin verstand, was direkt vor ihr geschah, war es längst zu spät. Rubinrote Flecken sprenkelten den hellen Untergrund, Blut füllte die Rinnen zwischen den Pflastersteinen und bildete ein fließendes, karmesinfarbenes Mandala des Todes, das sich stetig erweiterte und seinem Schöpfer entgegen streckte. Schlaff, ihres Lebens beraubt sackten die Opfer jener hinterhältigen Attacke in sich zusammen. „Dasselbe wie diesem Fettwanst und seinem niederen Gesindel blüht, nebenbei bemerkt, auch denen, die unerlaubt private Gespräche belauschen.“ Sie erstarrte. Hatte er ihre Anwesenheit von Anfang an gespürt? Im nächsten Augenblick rollte eine unbändige Youkiwelle auf sie zu, der sie nur knapp, durch ein überstürztes Wegducken, ausweichen konnte. Holzsplitter, faustgroße Ziegelbrocken und Staub rieselten auf sie herab, als die destruktive Energiewoge über sie hinweg fegte. Gegen diesen Dämon würde sie nicht bestehen. Panisch sprang sie auf, zerrte Blævar auf die Beine, denn eines war sie sich gewahr; er war ein Krieger ohne Skrupel und Ehre, jemand, der keine Geduld für langwierige Spielchen aufbrachte. Sinnlos zu hoffen, dass er zögern oder sie sogar verschonen würde. „Kaneko-chan!“ Fauchend wandelte die Nekomata ihre äußere Form, und ehe das Feuer, das sie umhüllte, sich verflüchtigte, half die Miko dem zerrütteten Luftdrachen auf den Rücken der Katze, schwang sich anschließend hinter ihn. „Weg hier…“ Zurück blickte sie nicht. Zugegeben, damit hatte Bundori nicht gerechnet. Gleichgültig, sie würden nicht weit kommen und früher oder später würde er sie erwischen. Lust, seine Beute nach einer wilden Hetzjagd zu erlegen, verspürte er heute keineswegs; es erinnerte ihn zu sehr an einen dümmlichen, domestizierten Köter, der auf den Befehl seines Herrn hin einem Kaninchen nachhechelte. Nachlässig wandte er den Kopf zur Seite, begutachtete einen Moment den Nekoyoukai, der in einiger Entfernung mit flammenden Pfoten in luftige Höhen aufstieg. Auf ihrem Rücken saßen eine Menschenfrau, einer der Luftdrachen und… Halt. Der verfluchte Mistkerl hat dich angelogen… „Verdammter Menschenabschaum…“ Das hämische Kichern in den hinteren Gefilden seines Verstandes ignorierend, drängte er seinen Zorn zurück, noch musste er sich nicht um das Gelingen seines Vorhabens sorgen. Gewiss, es war verdrießlich, dass die Erstfassung ihres Planes bereits an der Unfähigkeit des Tennôs scheiterte, doch zumindest hatten sie die Möglichkeit einer anfänglichen Fehlentwicklung der Angelegenheit in die absolut falsche Richtung bedacht und dementsprechend ein passendes Konzept entworfen. Der Drachenfürst ließ seine Sinne schweifen. Wo hielt sich das vermaledeite Balg auf, wenn es einen Auftrag zu erfüllen galt? Seinem Milieu entsprach diese Drecksarbeit jedenfalls nicht, und die Zeit dafür fehlte ihm ebenfalls. Endlich… „Man pfeift nach der Töle und sie gehorcht aufs Wort. Interessant, oder? Manchmal frage ich mich, was euch Hunde so hörig macht. Ist es angeborene Dummheit? Oder die Nähe zu den verabscheuungswürdigen Sterblichen, von denen es nur so kreucht und fleucht?“ Hintergründig grinsend wiegte der Sonnenweber den Kopf nach links, entblößte vorsätzlich die spitzen Eckzähne. Den Blick hob er jedoch nicht, denn es widerstrebte seinen Prinzipien, zu dem Hundedämon – oder irgendeiner anderen Kreatur – aufzublicken. Letzterer stand nunmehr auf der etwa viereinhalb Schrittlängen hohen Mauer vor dem anderen, angespannt und in kampfbereiter Haltung. „Und ich habe mich gefragt, ob ich deine feige Visage überhaupt einmal zu sehen bekomme, du intrigante, hinterhältige Schlange.“ Ungerührt der Beleidigung strich Bundori durch sein langes Haar, betrachtete abwesend die blutigen Spuren seiner vorherigen Maßregelung. Der Geruch allein versetzte sein eigenes Blut in Wallung, appellierte an seinen Instinkt. Er wollte mehr davon… „Na na, wir wollen doch nicht gleich unhöflich werden, oder? Schließlich ist das unser erstes offizielles Treffen, nicht wahr?“ Daraufhin verengten sich die bernsteinfarbenen Augen zu schmalen Schlitzen. Über den Kontrahenten begann es derweil verheißungsvoll zu grummeln und rumoren, ein Geräusch, das dem Donnergrollen eines entfernten Gewitters glich, rollte über die beiden Youkai hinweg. „Mein Name geht jemanden wie dich rein gar nichts an.“ Ja, er war sich absolut sicher. Dieser Sonnenweberdrache hatte mehr auf dem Kerbholz als so mancher Kriegsherr, stiftete Unheil, wo er nur konnte, ungeachtet ob unter Menschen oder Dämonen, und das seit unzähligen Jahrzehnten; in jüngster Vergangenheit gehörten dazu die intensiven Versuche, die er unternommen hatte, einen Krieg zwischen den Hunden und den Lindwürmern vom Zaun zu brechen. Nach einem triftigen Anlass dafür suchte man vergebens. Wohlwissend hatte der Inu no Taishou die Provokationen ins Leere laufen lassen und diverse Verluste hingenommen, aber er hatte es vor langer Zeit das erste Mal zu weit getrieben… Natürlich würde er es nicht offen erwähnen, Súnnanvindur zuliebe – die weißen Raben des Drachenoberhauptes waren überall und nirgends. Wer Wind sät, wird Sturm ernten… „Wieso so abweisend, verehrter Inu no Taishou? Es gefällt mir nicht, wie Ihr mit mir sprecht…“ Theatralisch gestikulierend zog er in schmollender Manier eine Schnute, seufzte ein gedämpftes „Yare, yare.“. „Ah, seid Ihr etwa böse auf mich wegen der Sache mit Sou’unga? Kommt schon, das liegt eine Ewigkeit zurück, und zudem finde ich, dass sich einige lustige Umstände dadurch ergeben haben. Ihr habt mir damals gehörig den Spaß verdorben. Apropos, wo ist Sou’unga?“ Postwendend versteiften sich die Züge des Hundegenerals aus Kyûshu, wurden von einer für ihn uncharakteristischen Härte erfasst. Keine Gnade… „Ich bin nicht hier um ein Pläuschchen mit dir zu halten. Zieh dein Schwert. Keine deiner Schandtaten werde ich dir vergeben, das hier wird dein Grab.“ Die Luft erbebte, flimmerte wie an einem heißen Sommertag. Bundori zeigte sich davon unbeeindruckt, schmunzelte stattdessen. Wollte der idiotische Bastard ohne Waffe auf ihn losgehen? Lächerlich. Das konnte er unmöglich ernst meinen. Andererseits induzierte die neutrale Miene des Hundeyoukai, die bar jedweder Emotion erschien, dass ihn die entschlossene Selbstsicherheit leitete. Verdächtig, im Angesicht der Lage, die ihm einen vermeintlichen Vorteil zuschrieb. Täuschte er sich? „Übrigens, du blutest.“ Unmissverständlich deutete er auf seinen linken Oberarm. Treffer, mitten ins Schwarze… Langsam aber sicher verdarb der Hundesohn ihm die Laune, und sein Appetit steigerte sich derweil ins Unermessliche. „Schluss mit dem Geschwätz.“ Sein Gegenspieler nickte unmerklich. „So sei es.“ Neisti verlangsamte seine Schritte, beobachtete fasziniert wie die pulsierende Aura des japanischen Hundedämons expandierte, die Umgebung in eine gleißende Helligkeit tauchte, um sich kurz danach zu sammeln und in der Gestalt eines riesigen, weißen Hundes manifestierte. Eine gewaltige Energiewelle erschütterte die Grundfesten der Residenzgebäude, Gestein und Holz in den Bauten vibrierten, erzitterten wie während eines Erdbebens. In mäßigem Tempo setzte er sich wieder in Bewegung, brachte die kurze Distanz, die sich noch zwischen ihm und Bundoris Ausstrahlung erstreckte, alsbald hinter sich. Mit einem geschickten Satz passierte er den überdachten Durchgang, sprang, einen höflichen Abstand wahrend, an die Flanke des offensichtlich gereizten Fürsten. „Gör.“ Die barsche Anrede veranlasste den jungen Eldursdreki dazu, seine Positur eilends zu korrigieren, so aufrecht und geradlinig wie möglich zu stehen. „Dieser unnütze Hohlkopf von einem Menschen hat unsere ursprüngliche Planung ruiniert. Du weißt, was du zu tun hast.“ Neisti deutete eine gehorsame Verbeugung an, obschon Bundori ihn mit Sicherheit nicht sehen konnte. „Verstanden.“ Keine Sekunde später schnellte der Dämonenhund vor, schnappte mit den monströsen Kiefern nach seinem Feind, während die Wucht des Sprunges und das enorme Körpergewicht der animalischen Bestie den Untergrund aufbrachen, tiefe Risse verursachten und die konkret betroffenen Pflastersteine zu Staub zermalmten. Elegant wich der Sonnenweberdrache beiseite, sodass der Inu no Taishou ihn um Haaresbreite verfehlte; Neisti hingegen stolperte eher linkisch rückwärts, bis er sprichwörtlich mit dem Rücken zur Wand stand. „Aus dem Weg, Drachenkind.“ Der Hund würdigte ihn lediglich eines raschen Seitenblickes, fokussierte knurrend Bundori. „Scheint so, als könnte ich mir das nette Vorgeplänkel mit dem Schwert sparen.“ Schulterzuckend gebot er dem Feuerdrachen mit einer geringschätzigen Gestik, schleunigst zu verschwinden, wenn er nicht seiner Willkür zum Opfer fallen oder zwischen die Fronten geraten wollte. Innerlich murrend beugte dieser sich der Anweisung. Befehle hier, Befehle da… Es war frustrierend, momentan aber leider nicht zu ändern, also musste er sich wohl oder übel fügen. Missmutig lief er los, mied die groben Trümmer des einstmalig soliden Mauerwerkes, darauf bedacht, ebenfalls einen möglichst großen Bogen um den Inu no Taishou zu beschreiben, und zwang sich danach, zumindest solange, bis er sich ein ordentliches Stück entfernt hatte, zu einem flotten Spurt. Eldsvoði hatte ihm eingeschärft, bei so genannten ‚Daiyoukai’ allerhöchste Vorsicht walten zu lassen; und dass der Riesenhund zu eben denen zählte, bezweifelte er nicht im Geringsten. Er durfte nichts riskieren. Soll sich die Blindschleiche mit ihm herumärgern… Ein Seufzer löste sich von seinen Lippen, und er ermahnte sich selbst, solche Gedanken für den Moment aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Es schadete seiner Konzentration, zerstreute seinen Geist, und seine Order erforderte beides gleichermaßen. „Wo bist du, Loftsdreki…?“ Die ungewöhnlichen starken Youkikonzentrationen überlagerten die flüchtige Signatur der Luftenergie, die, ähnlich feinen Nebelschwaden, zwischen den anderen energetischen Strömungen hindurch waberte, und Bundoris plötzlich aufflammende Aura erschwerte Neistis Suche zusätzlich, beeinflusste seine Wahrnehmung. Vor Schmerz keuchend rieb er seine linke Schläfe. Ein Blick über die Schulter bestätigte seine Vermutung: der Sonnenweberdrache und der Inu no Taishou kämpften in ihrem Hennyou gegeneinander, dem gigantischen Hund, der drohend die Zähne fletschte, stellte sich nun ein golden geschuppter Lindwurm entgegen, in dessen finster schillernder Dämonenenergie Schieferziegel und Pflastersteine wie Schneeflocken zerschmolzen. Grelle Blitze durchzuckten infolge der Spannungsentladungen das bewölkte Firmament, die Luft flirrte, obgleich die Temperaturen drastisch absanken. Neisti hielt inne, prüfte sorgfältig die Witterung. Erst jetzt realisiert er, bereits weitab vom Haupttrakt der Residenz gekommen und in einem der eher abgelegenen Gärten angelangt zu sein. Kirschbäume und Lavendel säumten den Kies bedeckten Pfad, der sich durch die von Menschenhand kreierte Wildnis schlängelte. Sanft verfing sich der Wind in den Blättern der Baumkronen, wiegte die Wildgräser in einem einfühlsamen Reigen hin und her. „Wohin des Weges, Eldursdreki?“ Wie eine warme Brise aus dem Süden… Auf den dünnen Zweigen der Sakura saßen Vögel, silbrig-weiße Raben mit kohlschwarzen Augen, die jedwede Rührung seinerseits beobachteten. Er war gewarnt worden, und somit wusste er zumindest im Ansatz, was ihn erwartete. „Leiðtogi der Loftdrekar, Súnnanvindur, Hríðarbylursson. Mir, Neisti aus dem Clan der Eldursdrekar, ist es eine Ehre, Euch kennen lernen zu dürfen.“ Geschmeidig wandte er sich um, kniete halbseitig nieder und beugte das Haupt, die rechte Hand, den militärischen Gepflogenheiten folgend, geschlossen über die linke Hälfte der Brust gelegt. Hinter dieser Höflichkeit steckte keine faule Motivation oder Taktik, er bediente sich keiner leeren Floskeln, um sich einzuschmeicheln, der junge Feuerdrache verhielt sich vollends aufrichtig. „Ihr seid töricht zu glauben, zu zweit etwas ausrichten zu können. Seit wann schickt der Clan der Eldursdrekar Kinder und Ausländer vor, um seine Interessen durchzusetzen?“ Der Angesprochene lächelte daraufhin milde. „Das kann ich Euch unglücklicherweise nicht verraten, leiðtogi, ich befolge lediglich meine Anordnungen.“ Alles dient einem höheren Zweck… Unverständnis prägte die Miene des Drachenoberhauptes, nachdenklich runzelte er die Stirn. Der Kleine war nicht älter als Blævar, und noch längst kein Krieger. Ihm würde im Traum nicht einfallen, seinen jüngsten Sohn mit einem zwielichtigen Fremden in das Territorium des Feindes zu senden. Hatten die Feuerdrachen das letzte Bisschen Verstand verloren? „Ist Eldsvoði tot? Du siehst Hraunar ähnlich, also stammst du sicher aus derselben Linie.“ Für einen Augenblick flackerte ein bitterer Ausdruck über das Antlitz des Jungen, dann fing er sich wieder, schüttelte den Kopf. „Er lebt. Und um Hraunars Andenken zu ehren, werden wir dieses Mal nicht scheitern.“ Seine Haltung signalisierte Festigkeit, in den von blauen Funken durchwobenen Iriden glühte ein dem Luftdrachen bekanntes Feuer der Entschlossenheit und Unnachgiebigkeit. Denn genau dies war ihnen vor eintausend Jahren zum Verhängnis geworden. „Begeht nicht denselben Fehler zweimal. Wirf dein Leben nicht weg, dafür bist du viel zu jung. Reicht es nicht, dass dein Bruder aufgrund irriger Ideale und sturem Beharren sterben musste?“ Fárviðri, Faðir… Súnnanvindur wollte nicht wieder in die Schlacht ziehen und töten müssen, um seine eigene Existenz und die seiner Rasse zu sichern, bloß um letztendlich erneut mit schweren Verlusten konfrontiert zu werden. In der Vergangenheit hatte ihm eben jenes Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung einiges gelehrt. Niemals wieder, niemals… Neisti schwieg. „Ich werde es nicht tun. Weder erhebe ich das Schwert gegen dich noch lasse ich zu, dass das hier in einen weiteren Krieg ausartet.“ Nein. Das würde er mit aller ihm verfügbaren Macht verhindern, ungeachtet dessen, ob es ihn im schlimmsten Falle die Seele kostete. Um was ging es hier eigentlich? Nicht mehr um eine Insel vulkanischen Ursprungs, die mittlerweile in Eis und Schnee gebettet war, sondern vielmehr um Macht und Dominanz, um Rache. Ob die Möglichkeit bestand, sich zu ergeben? „Es tut mir leid, leiðtogi. Ich hege keinen Groll gegen Euch oder Euren Clan. Aber ich kann nicht anders.“ Bedacht richtete sich der zierliche Jungdrache auf, breitete die Arme aus, sodass die Innenflächen seiner Hände gen Himmel zeigten. Wärme staute sich auf, und mit jedem Herzschlag intensivierten sich die Hitzewallungen, die von seiner Erscheinung ausströmten, bis man sich einbildete, in einer Hölle aus unsichtbaren Flammen gefangen zu sein, die sich ungezügelt ausdehnten und aufzehrten, was ihnen auch in die Quere kommen mochte. Weißes Feuer… Verängstigt flogen die Raben aus den Bäumen auf, ihr Äußeres verzerrte und verformte, normalisierte sich erst wieder, als sie dem Aktionsradius des Jugendlichen entflohen. Súnnanvindur bewahrte jedoch Ruhe, erwog seine Alternativen. Sollte er sich dem überdurchschnittlichen Level des Angriffs entsprechend wehren? Gegen ein Kind, dem es besonders an Erfahrung im Gefecht mangelte? Gleichgültig, was er tat, er würde seiner Worte nicht zuwider handeln – allerdings konnte es nicht schaden, Neisti eine Lektion zu erteilen, die ihn in Zukunft dazu animierte, sein Wirken selbst zu überdenken… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 47: >“Über ihnen ein schwarzer, Unheil versprechender Himmel, um sie herum ein Ring aus Feuer - alle Beteiligten gehen ihrer eigenen Pfade, und während sich mancher noch immer in einem Kampf auf Leben und Tod verstrickt sieht, gerät der nächste unbemerkt in eine Zwickmühle. Hinter den Kulissen nehmen die Ereignisse heimlich eine Kehrtwende, deren Konsequenzen im Unklaren verweilen…“ *» Skekkja Kapitel 47: *~Skekkja~* ----------------------- "Jede Abweichung vom Ideal ist Sünde." – Friedrich W. Nietzsche Kapitel 47 – Skekkja -Abweichung- *Wie reagieren wir auf eine direkte Bedrohung, eine ernstliche Gefährdung unseres Lebens? Bewahren wir die Ruhe und kontern mit einer kühlen Strategie? Verlieren wir augenblicklich die Nerven? Oder verbergen wir unser wahres Ich hinter falschem Stolz und dem unbezähmbaren Wunsch, nicht als Feigling sterben zu müssen? Siegt in solchen Fällen die Vernunft oder unsere Angst vor dem Urteil anderer?* ּ›~ • ~‹ּ Beunruhigt blickte ich zu dem spektakulären Szenario empor, das sich derzeit am Himmel direkt über der Residenz – oder eher dem, was man davon noch als ‚intakt’ bezeichnen konnte – zutrug. Ein Unwetter sondergleichen braute sich dort oben zusammen, ein unheilvoller, pechschwarzer Strudel hatte sich gebildet, von hellen Schlieren durchwirkt, und gespeist von den gewaltigen Dämonenenergien, die hier aufeinander stießen und aneinander rieben, sowie den dichten Rauchschwaden, die aus den neuerlich entstandenen Brandherden aufstiegen und sich dem Firmament entgegen kräuselten. Orangerot loderte der wie von Geisterhand erschaffene Feuerring, der weitläufig die Gebäudekomplexe umspannte, eine Hitzebrunst, die bis an die Wolkendecke hinauf reichte, und ein Entkommen über Meer oder Land vollkommen unmöglich werden ließ. Wir saßen fest, ausnahmslos. Im Zentrum des Infernos spitzte sich der sprichwörtliche ‚Kampf der Giganten’ weiterhin zu; inmitten von Trümmern des zerstörten Mauerwerks standen sich die beiden Kontrahenten nicht mehr gegenüber, sondern rangen in einer Pattsituation bitterlich um die Überhand – und ihr Leben. Der Inu no Taishou, in seiner wahren Gestalt als weißer Dämonenhund, hatte sich in den Nacken des Lindwurms verbissen, die Klauen tief in den eisenharten, schlangengleichen Leib geschlagen, während sein Gegner eben diesen nutzte, um, dem Beispiel einer Würgeschlange folgend, ihn um sein Opfer zu winden und langsam aber sicher zu strangulieren. Das Grollen und Brüllen der wütenden Youkai drang klar und deutlich an meine Ohren, und sogar mehrere Schrittlängen vom Boden entfernt, spürte man das Beben der Erde unter dem freigesetzten Youki. Woher das Feuer rührte, das jeglichen Fluchtweg abschnitt, vermochte ich zu jenem Zeitpunkt nicht zu erklären, jedoch vermutete ich den Eldursdreki dahinter, der sich erfolgreich im Verborgenen hielt. Allerdings beschäftigten mich derzeitig eher der halbwegs besinnungslose Luftdrache, den ich in meiner Not behelfsmäßig mit dem linken Arm an mich drückte, und der benommene Welpe, der allmählich die süßen Ausläufer des Schlafes abschüttelte. Mein Verstand sagte mir, dass die Verantwortung, die zwei jungen Dämonen sicher aus der Gefahrenzone zu bringen, bei mir verweilte. Aber wie…? Fieberhaft suchte ich nach einer Schwachstelle, einer Lücke im verwobenen System des Feuervorhangs, den ich auf Kanekos Rücken und aus einiger Entfernung wachsam beobachtete, doch es erwies sich als vergebens, aussichtslos… Dabei entdeckte ich etwas Anderes. Das Kribbeln unzähliger, schwacher Auren… „Kaneko-chan.“ Gehorsam verringerte die Nekomata ihre Flughöhe, schwebte somit knapp über dem Dach eines kleinen Lagerhauses. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend, beugte ich mich umsichtig nach vorn. „Ratten…?“ Nein, für gewöhnliche Ratten oder Mäuse waren die Exemplare, die sich dort unten zu Tausenden auf dem Hof fiepend und streitend tummelten, bei Weitem zu groß, und ihr definitiv rotes, struppiges Fell festigte meine spontane Annahme. Hinezumi… Außerordentlich robuste, lästige Plagegeister, mit denen oftmals die Einwohner von Dörfern ihre liebe Mühe hatten, die in der Umgebung von aktiven Vulkanen lebten. Alle Jahre fielen sie wie Lemminge über Wälder und bestimmte Küstenabschnitte her, verursachten nicht selten Lauffeuer und Wildbrände; ihre schiere Anzahl bezeugte, dass es in der Nähe ein Nest geben musste, oder einen von spirituellen Kräften manipulierten Gegenstand. Wie der letztendlich aussah und wo er sich befand, musste man eigenständig ermitteln und stellte die Herausforderung dar, die es zu bewältigen galt. Ich konnte nicht mehr wie unbeteiligt verharren, ich musste etwas tun. Auch mein Leben hing davon ab… Meiner Erschöpfung zum Trotz griff ich auf die wohlbehüteten Reserven meiner Energie zurück, und wendete sie restlos zum Stützen meiner Konzentration auf. Da das Aufspüren der Ursprungsquelle der Feuerratten meine Aufmerksamkeit gänzlich vereinnahmte, und ich die Augen schloss, registrierte ich weder Kanekos Unruhe, und ihr warnendes Fauchen noch den Schatten, der in atemberaubender Geschwindigkeit herannahte. Als ich, der plötzlichen Erkenntnis gemäß, die mich aus dem Nichts ereilte, endlich erschrocken zusammenfuhr und den Blick hob, griff der weiße Schemen bereits den Katzenyoukai an, rammte mit einer beängstigenden Wucht desse Flanke und raubte ihm somit das Gleichgewicht. Aus der Balance geraten, änderte sich gewaltsam der Kurs, sie taumelte und stürzte gen Boden, wodurch ich irgendwann den Halt verlor und ebenfalls fiel. Einen Augenblick danach prallte ich auf das verhältnismäßig weiche Strohdach der Lagerhalle, japste angestrengt nach Luft, nachdem mir bewusst geworden war, dass ich unverschämt viel Glück gehabt hatte. Meine Gedanken überschlugen sich, jähe Panik ergriff von mir Besitz. Was war mit den anderen? Wie ging es Blaævar und Sesshoumaru? Und Kaneko-chan? Und was um Himmels willen hatte uns attackiert? Mühselig stemmte ich mich auf die Unterarme, schob mich auf diese Art nach vorne, bis ich die Dachkante erreichte. Kreischend wichen die Feuerratten vor Kaneko zurück, die sich zu voller Größe aufgerichtet hatte und grummelnd die Nackenhaare aufstellte, die Zähne fletschte. Sesshoumaru, der von meinem Standpunkt aus unverletzt wirkte, hockte zwischen ihren Vorderbeinen, und bedachte die niederen Youkai mit argwöhnischen Blicken. Auf der anderen Hälfte des Hinterhofes nahm ich verschwommen die Silhouette eines Pferdes wahr, ein Schimmel mit flammender Mähne und Schweif, dem anstelle von Satteltaschen lediglich drei Weidenkörbe auf den Rücken gebunden worden waren. Noch ein Feuerdämon… Und die Ratten beugten sich offenbar den stillen Anweisungen des unbeweglichen Huftieres, also handelte es sich bei den Körben mit Sicherheit um die Quellobjekte… Keine anderthalb Schrittlängen entfernt konnte ich Blævars liegende, unbewegliche Erscheinung ausmachen, und ich hoffte inständig, dass er nur bewusstlos war. Keuchend und zitternd setzte ich mich auf, beachtete das leise Rascheln hinter mir nicht. Dann versank die Welt um mich herum mit einem Mal in gestaltloser Schwärze… „Elendes Pack!“ Fluchend schlug sich der hoch gewachsene Mann mit präzisen Schwerthieben einen Weg durch das Gewimmel von leuchtend roten Leibern, die sich panisch und rücksichtslos, zuweilen wie Kleinkinder schreiend, gegeneinander drängten, ungeachtet den Artgenossen, die dabei zerquetscht oder zu Tode getrampelt wurden, um dem Dilemma zu entfliehen, das ihrer puren Triebhaftigkeit zu verdanken war. Sie hatten leichte Beute gewittert, und sich augenblicklich auf die drei mutmaßlich wehrlosen Menschen gestürzt – und waren in eine Falle getappt. Nun fanden sich die Feuerratten eingesperrt in einem kleinen Nebenhof wieder, und die vermeintlich Gejagten rückten ihnen jetzt mit Wasser aus dem Brunnen zuleibe, was heillose Panik in ihnen auslöste. Wasser vertilgt Feuer… Beständig dezimierte sich ihre Zahl unter den Anstrengungen des Schwertkämpfers, der wie ein Berserker sein Blut verschmiertes Katana schwang und durch einen ungebrochenen Eifer beflügelt, immer wieder ungehalten auf sie losstürmte. Ohne zu zögern, ohne nachzudenken, ohne eine Schwäche preiszugeben… „Ha! Geschieht euch Mistviechern recht!“ Triumphierend lachte er auf, seine grünen Augen blitzten. „Souga-san, Ihr lasst Euch einen Heidenspaß entgehen.“ Skeptisch dreinblickend, füllte der Provinzfürst einen weiteren Eimer mit dem klaren Brunnenwasser und reichte diesen seinem Sohn weiter. Er würde es niemals wagen, seine Überlegungen laut auszusprechen, jedoch fragte er sich insgeheim, ob der, den sie Akaihoshi nannten, nicht viel eher ein Dämon war als die übergroßen Ratten, die sie erfolgreich eingekesselt hatten. „Mit Verlaub, ich mag ein Schwert zu führen wissen, aber gegen diese Kreaturen… ihre Krallen schlagen Funken und die Zähne haben Zacken wie eine Säge… ich muss passen, mir fehlt der nötige Mut dazu.“ Außerdem befürchtete er, versehentlich den Fokus des Anderen zu kreuzen und eines schrecklichen Todes sterben zu müssen. Ja, man konnte guten Gewissens behaupten, Souga Hatsuaki war ein Feigling. Sollte man es ihm wahrhaft verübeln? Was war falsch daran, um sein Leben zu bangen, wenn es auf dem Spiel stand? Lieber vergaß er für einige Momente seinen Stolz, als sinnlos – und ehrenvoll – ins Jenseits einzugehen. In der vergangenen Nacht war ihnen das Schicksal hold gewesen, die Nähe des begabten Kämpfers hatte sich für heute als Glücksfall erwiesen; er wollte nicht ausreizen und auf die Probe stellen, bis zu welchem Maße die Götter und positiven Kräfte des Universums ihm wohl gesonnen begegneten. Die Welt um ihn herum versank im Chaos, und er verweilte unbetroffen…? Nicht auf Dauer, dessen war er sich bewusst. Und aus diesem Grund würde er nicht von der Seite des Oni in Menschengestalt weichen, bis sie aus dem Alptraum, in den sie hier hinein gezogen worden waren, entkamen. Falls… „Akaihoshi-san… haben wir überhaupt eine Chance…?“ Es zischte, und ein Schwall nebeligen Wasserdampfes stieg auf, verflüchtigte sich in der Atmosphäre. „Natürlich! Solange wir daran glauben und mit voller Überzeugung voranschreiten, immer.“ Lässig schulterte der Krieger sein Schwert, den Blick in die Ferne gerichtet. Ernsthaftigkeit bestimmte seine Züge, die Erinnerung an schlimme Zeiten erfüllte ihn mit Bitterkeit. „Ich werde ihrem Treiben Einhalt gebieten. Die Menschen sollen wegen ihnen kein Leid mehr erfahren…“ Verwirrt kratzte sich das Souga-Oberhaupt am Hinterkopf, verblieb dennoch stumm. Das mochte eine schöne Vorstellung sein, ein erstrebenswertes und vor allem nachvollziehbares Wunschbild, doch belief es sich dabei lediglich auf einem Traum, der nicht zu erreichen war. Nicht als Einzelner, nicht als Fürst, gleichgültig, wie viel persönliche Stärke oder Willenskraft man investierte. Dass es Akaihoshi ebenso meinte wie er es in Worte fasste, machte ihn zu einer tragischen Figur, die ihr auserkorenes Herzensziel bis ans Ende ihrer Tage fanatisch verfolgen würde, um letztlich zu erkennen, dass alle Bemühungen nur ein Tropfen auf dem heißen Stein dargestellt hatten. Sah er die Realität nicht oder wollte er es nicht? Unschlüssig musterte er den breiten Rücken des Schwertkämpfers. „Was machen wir jetzt? Habt Ihr einen Plan?“ In überlegender Manier fuhr sich der grobschlächtige Mann über das stoppelige Kinn, bedachte sein Gegenüber mit einem schiefen Grinsen. „Wir brechen durch!“ Bevor der ältere Souga daraufhin ein entsetztes „Wie bitte?!“ erwidern konnte, rannte Akaihoshi los, geradewegs in die erboste Meute der Hinezumi hinein. Nunmehr in Entscheidungsnot entschied er sich gegen seinen gesunden Menschenverstand und für seinen Überlebensinstinkt, besprengte dennoch seinen Hakama mit Wasser, ehe er seinen Sohn kurzerhand am Handgelenk packte, es seinem Vorgänger gleichtat und die Beine schleunigst in die Hand nahm. Gemeinsam erklommen sie – mit leichten Anlaufsschwierigkeiten – die Mauer, die den abgeriegelten Hof von den umliegenden Gängen abgrenzte. Dort angekommen hielten sie unwillkürlich inne - atemlos, erschüttert, gefangen von dem Panorama der wüsten Zerstörung, das sich um sie herum ausbreitete, bis zum schwarzen Horizont dehnte. Dort, wo rohe Kräfte sinnlos walten… „Dieser verdammungswürdige Abschaum hat so gut wie alles in Schutt und Asche gelegt.“ Über ihnen wölbte sich finster und unheilvoll das von düsteren, widernatürlichen Wolken verhüllte Firmament, das vom grellen Feuerschein, der vom Grunde bis zum Himmel hinauf durch die Grauzone, die durch die gewaltigen Dämonenenergien alternierten Luftschichten sickerte, erleuchtet; ein Wechselspiel aus Schwarz und Rot, das von einem Augenblick auf den anderen sein bedrohliches Antlitz wandelte, gar lebendig wirkte, wenn man es eine Weile betrachtete. Ein dumpfes Dröhnen, dass das solide Gemäuer erschaudern und die Luft um sie herum flirren ließ, erschallte – die drei Menschen horchten alarmiert auf, blickten in die Ferne. Nicht weit von ihrem Aufenthaltsort entfernt, in einem der Gartenanlagen, ereignete sich plötzlich eine Reihe kapitaler Detonationen, die hohl und unscheinbar in den Korridoren der Residenz verhallten, während sich Rauch und dichter Qualm bildeten, Funken zwischen aufgewirbelter Erde und Gesteinfragmenten stieben. Das klang weder nach einer gewöhnlichen Explosion, noch roch es nach Schwarzpulver… „Dämonenwerk.“ Umgehend fasste Akaihoshi die Tsuka seines Schwertes. Doch dann erstarrte er, gefror förmlich mitten in der Bewegung – jene Gestalt, die sich bloß schemenhaft gegen die von trübem Zwielicht umfangenen Umrisse der Umgebung abhob, deren Augen hingegen die Schleier aus Hitze, Flammen und Ruß in kühlem, stechendem Weiß durchdrangen… Sirrend teilte Skýdis Klinge die Luft entzwei, schnitt ebenso widerstandslos durch organisches Gewebe wie den dahinter befindlichen Granit; für einen Moment vermeinte er, dass der Stahl, aus dem Skýdis gefertigt worden war, dabei sang, oder wenigstens summte, den Einklang mit ihm anstrebend, doch das Gefühl verging, und er tat es mit einem Kopfschütteln als Einbildung ab. Die Feuerratten waren niedere Youkai, schwach und keine ernstzunehmenden Gegner, aber ihre überwältigende Masse war schlichthin erdrückend, und so kostete es Flúgar eine Menge an Geduld und Zeit, auch nur einige Schritte voranzukommen. Unter diesen widrigen Umständen würde er nicht lange aushalten, seine Ausdauer war vermindert, einerseits durch das fremde Youki, das durch seinen gesamten Körper zirkulierte, andererseits mangelte es ihm massiv an Konzentration und physischer Stärke. Verdammt… Er wollte nicht zu unnützem Ballast verkommen, sondern seinen Anteil zum Gesamtsieg beitragen, um zu beweisen, dass sich sein Vater in militärischer Hinsicht auf ihn verlassen konnte und dadurch seine Fähigkeiten als Krieger gebührende Anerkennung fanden. Dafür biss er die Zähne zusammen, nahm jede erdenkliche Anstrengung auf sich – um das Gefühl des absoluten Vertrauens zurück zu gewinnen, das Hríðarbylur ihm entgegengebracht hatte. Das war es wert. Und welche andere Gelegenheit, handfeste Fakten vorzuweisen, bot sich ihm schon dar? Die Chance galt es am Schopf zu packen… Flúgar ging halbseitig in die Knie, schöpfte keuchend Atem, während er versuchte, seinen rasenden Herzschlag etwas zu beruhigen. Die Hitze schnürte ihm die Kehle zusammen, verursachte ein unangenehmes Prickeln auf seiner Haut, und der beißende Rauch brannte ihm in den Augen und reizte seine Lunge. Schlechte Voraussetzungen… Tonlos fluchend hob er den Kopf, prüfte sorgfältig die verschiedenen Witterungen in der warmen Luft; der Geruch von verbranntem Holz und Asche überlagerte die flüchtige Mixtur aus spezifischen Körperaromen, Blut, Schweiß und Aufregung. Sicher konnte er in jenem Wirrwarr bloß seinen Vater wahrnehmen, der in einem der nahe gelegenen Gärten offenbar in einen Kampf mit dem unbekannten Eldursdreki verstrickt war. Dem, was er hörte nach zu urteilen, hatte er seinen Gegner momentan in der Hand – die bezeichnenden Detonationsgeräusche sprachen Bände über die derzeitige Ebene, auf der sich die Auseinandersetzung bewegte. Unwillentlich ballte er die Linke zur Faust. Er würde ihn nicht enttäuschen, gleichgültig, was er dafür aufbringen oder opfern musste… Achtung und Wertschätzung kennen keinen niedrigen Preis… Dies tief in seinen Gedanken verinnerlichend, richtete er sich auf, wurde sich Skýdis leichtem Pulsieren gewahr, und er verstand. Jemand rief seinen Namen, sacht, wie eine Frühlingsbrise in frischen Weidenblättern. Ja, er kannte diese Stimme, die wie ein vibrierendes Echo der Vergangenheit durch seine Nervenbahnen drang, besser als jede andere. „Afi…“ Sein Großvater wollte ihm den Weg zeigen, ihn leiten. Wohin auch immer, das endgültige Ziel dabei interessierte ihn nicht. Zugegeben, er verließ sich bedingungslos auf ein befremdliches Gefühl, das sich aus dem schieren Nichts in seiner Brust, seinem Herzen, eingenistet hatte, und gewährte ihm die Führung, aber er empfand es als das einzig Richtige in seiner beengten Situation. Was sollte er anstatt dessen tun? Sich seiner aussichtslosen Lage fügen und weiterhin stumpfsinnig gegen die Feuerratten vorgehen? Angesichts der weniger Erfolg versprechenden Alternativen, fiel ihm die Entscheidung nicht schwer. Somit brach er umgehend raschen Schrittes in Richtung der Außenreale auf, mied die Ansammlungen der lästigen Feueryoukai weitläufig. Hinter der nächsten Biegung jedoch kam er bereits zu einem abrupten Halt. Nein. Ein verstimmtes Grollen entrang sich prompt seiner Kehle, die Finger umschlossen den Griff des Katanas an seiner Hüfte fester. Das konnte nicht wahr sein, der hatte ihm gerade noch gefehlt… Akaihoshi. Eine Weile geschah nichts, und ein beunruhigendes Schweigen herrschte zwischen dem missmutigen Loftsdreki und dem menschlichen Schwertkämpfer vor, während die beiden Souga besorgt daneben standen, sich reichlich überflüssig fühlten, und zudem inständig hofften, dass die zwei sich nicht wie wilde Straßenhunde an die Gurgel sprangen, weil sich ihre Pfade zufällig gekreuzt hatten. Ihre erste Begegnung war, Erzählungen nach, nicht unbedingt glimpflich verlaufen… „Haben du und deine Sippschaft das hier angezettelt? Und wage es nicht, mich anzulügen, Mononoke!“ Warum hatten ihn die Hinezumi eigentlich nicht aufgefressen…? Mit einem warnenden Knurren wandte Flúgar ihnen die Flanke zu, warf den Menschen einen vernichtenden Seitenblick zu. „Der Tennô hat das zu verantworten.“ Akaihoshi fiel aus allen Wolken, ehe er um Fassung rang und sich seine Züge zunehmend verhärteten. „Lügner!“ Drohend zog er blank. „Wartet.“ Die erstaunlich kräftige Hand, die seinen Schwertarm gewaltsam gen Boden drückte, hinderte ihn an der Vollendung seiner Drohgebärde. Erbost riss er sich los und fuhr herum, funkelte den Fürsten feindselig an. „Lasst es. Das ergibt keinen Sinn.“ Beim Anblick des eindringlichen, todernsten Ausdrucks in den dunklen Augen des Souga-Oberhauptes verstummte er, drehte diesem nahezu trotzig, wie ein verdrossenes Kind, den Rücken zu. „Das Feuer heute Nacht hat auch sie überrascht. Und aus welchem Grund hätte er mich und meinen Sohn retten sollen, wenn die Devise in Wahrheit lautete, uns zu töten? Dieses Treffen, die Besprechungen, der vermeintliche Hintergrund dessen… alles eine Farce. Der Tennô spielt falsch, leider. Ich weiß es, seit mir eines der Dienstmädchen vom Verschwinden des Sohnes und dem eigenartigen Vorfall, der dem vorausging, berichtete.“ Ein Schatten der Fassungslosigkeit geisterte über Akaihoshis angespanntes Antlitz, und die kurzweiligen Zweifel wichen alsbald einer Grimasse puren Hasses und wütendem Ingrimm. „Das ist nicht wahr! Was auch immer in Euch gefahren sein mag, ich werde Euch beweisen, dass ihr Euch irrt.“ Dennoch zauderte er einen Moment, bevor er behände von der hohen Mauer setzte und mit einer ausfallenden Gestik seine Verachtung unterstrich, dem Zorn, der erbarmungslos in ihm wütete, Ausdruck verlieh. „Bastard. Der begreift es erst, wenn man ihm den Drahtzieher auf dem Silbertablett präsentiert… warte ab, ich werde deine Tarnung auffliegen lassen, Súnnanvindur!“ „Jemanden wie ihn sollte man nicht unbeaufsichtigt lassen.“ Gedankenvoll sah der Provinzfürst dem aufgebrachten Schwertkämpfer nach, die Stirn von sorgenvollen Falten gefurcht. Er hatte die dumpfe Ahnung, dass dieser sture Esel im Begriff war, eine schwerwiegende Dummheit zu begehen; sein hitziges Temperament zwang ihn förmlich dazu, die Initiative zu ergreifen und das Nächstbeste, das sein Verstand als passable Methode erachtete, in die Tat umzusetzen. Besser, ihn gleich davon abzuhalten, ehe er sich noch umbrachte… „Verzeiht bitte, ich habe Euch nicht angemessen für Eure Großzügigkeit gedankt, aber ich verspreche, das nachzuholen. Jetzt erscheint es mir dringender, Akaihoshi-san zu folgen.“ Der Luftdrache nickte unmerklich, nahm die darauf folgende, überaus respektvolle Verneigung jedoch nur am Rande zur Kenntnis. Menschliche Formalitäten… Nicht, dass er Höflichkeit im Allgemeinen ernstlich schätzte, doch die Zeit drängte und es konnte durchaus fatale Konsequenzen nach sich ziehen, wenn er den kostbaren Restbestand an überflüssige Etikette oder einen ohnehin nicht mehr zu bekehrenden Irren verschwendete. Was der Schwertkämpfer auch im Sinn hatte, es bedeutete nichts Gutes – sein Instinkt riet ihm zur Vorsicht. Die Idee des Souga, wenigstens etwas Schadensbegrenzung zu betreiben, empfand Flúgar als gerechtfertigt und vernünftig. Sollte der sich darum kümmern, seine Nerven waren bereits genügend strapaziert, womit sich die Überlebenswahrscheinlichkeit des Menschenrechtlers drastisch verringert hätte, wäre es an ihm selbst gewesen, ihm zu folgen. Oder eher, es zu müssen. Daher beobachtete der Loftsdreki mit einiger Erleichterung, wie der Menschenfürst ungeschickt von der Mauer stieg und sich an die Fersen seines Artgenossen heftete. Sein Sohn eilte unverzüglich an seine Seite, und begleitete ihn, denn die Wahl blieb ihm nicht. Unwillkürlich gedieh in seinem Bewusstsein die herbe Erkenntnis, dass es ihnen in diesem Punkte ähnlich erging: sie beide beschritten einen Pfad, der ihnen von ihren Vätern vorherbestimmt worden war und den sie nicht unter Erhalt ihrer präsenten Existenz verlassen konnten. Schicksal…? Unsinn. Vielleicht eine Art Vorgabe des Lebens, um einen spezifischen Stil zu gestalten, schlussendlich allerdings fehlte dem der Zwang. Mittel und Wege zu entkommen, gab es immer – die Kunst bestand darin, sie ausfindig zu machen und zum eigenen Vorteil zu nutzen. Flúgar hatte nichts zu beklagen, hinsichtlich seines Ranges oder der Position im Clan; er akzeptierte und würdigte das Erbe seines Großvaters, die Verantwortung, die sich in dem Potential, das tief in ihm schlummerte, verbarg… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 48: >“Erbittert stehen sich die beiden Kontrahenten gegenüber, das dritte und das vierte Element ringen um den Sieg, Feuer gegen Luft. Die Entscheidung scheint nahe, doch dann verschieben sich die Positionen, und der Vorteil des einen verrinnt. Dementsprechend ändert sich die Taktik auf beiden Seiten…“ *» Douten Kapitel 48: *~Douten~* ---------------------- "Ungeachtet dessen, dass der Grund der Furcht in dem Mangel an Kenntnis liegt, hält man es doch nicht der Mühe wert, die Kenntnis zu besitzen, um die Furcht zu verlieren." – Decimus Laberius Kapitel 48 – Douten -Furcht- *Kann Reue einen Menschen nachhaltig verändern? Wie wichtig schätzt der Einzelne die Details ein? Und was ist, wenn sich die Gegebenheiten als etwas anders als zunächst angenommen herausstellen? Äußert der Täter dann noch immer den Wunsch, seine Missetat ungeschehen machen zu wollen? Oder fällt er zurück in sein altes Muster und vertritt erneut die Meinung, die ihn zuvor in die Misere stürzte?* ּ›~ • ~‹ּ Hatte er seinen Kontrahenten dermaßen unterschätzt? Oder traf die Schuld an der prekären Entwicklung Eldsvoði, dem eine gehörige Fehlkalkulation unterlaufen war? Súnnanvindur spielte mit ihm – aus dem simplen Grunde, dass er es konnte. Der offenkundigen Dominanz des Luftdrachen in diesem Kampf hatte Neisti nicht viel entgegen zu setzen. Wie die Katze, die einen Vogel mit gebrochenen Flügeln belauert… Glücklicherweise bestand sein Auftrag nicht darin, das Oberhaupt der Loftsdrekar zu töten, denn in jenem Fall hätte er dabei kläglich versagt, wie der derzeitige Stand der Begebenheiten es lebhaft veranschaulichte; seine hoffnungslose Unterlegenheit war beinahe erniedrigend, und die Frustration darüber zehrte an seinen Nerven. War er tatsächlich so schwach? Wenn der ältere Drache sein Versprechen ihm gegenüber brach, würde er hier sein Leben lassen… Keuchend rang der junge Eldursdreki nach Atem, er zitterte, und mittlerweile vermochte sich kaum mehr auf den Beinen zu halten. Und während ihm gleichermaßen das Bewusstsein zu entgleiten drohte, seine Sicht sich stetig verklärte, rührte sein Gegenüber keinen Muskel, den konzentrierten, unergründlichen Blick ins Nichts gerichtet. Ab und an zuckten die Fingerspitzen seiner rechten Hand, unscheinbar, aber kontrolliert, und Neisti vermutete eine spezielle Technik dahinter, mit der er die Gaskonzentrationen in der Luft manipulierte. Stränge aus Youki, die er beherrscht wie ein Puppenspieler seine Marionette… Durch den Sauerstoffmangel, den er somit erzeugte, erstickte er jegliche Flamme und schadete obendrein noch der physischen Kondition seines Gegners. Verdammt clever… Die Explosionen hatte ebenfalls er, wenn auch indirekt, verursacht, aus einem empfindlichen Gemisch von Wasserstoff und Sauerstoff, dessen Entstehung durch die unsäglichen Energien aus dem weißen Feuer katalysiert wurde, um den Jugendlichen weiterhin in die Ecke zu drängen, und ihm schonungslos seine Hilflosigkeit zu demonstrieren. Mit schwerfälligen Schritten wich der Feuerdrache zurück. „Ergib dich, Neisti. Bitte.“ Nur noch ein Weilchen, halt ihn in Schach… Sein Gleichgewichtssinn begann zu rebellieren, und er schwankte bedrohlich, sodass er schlussendlich matt in die Knie sank. „Ich kann nicht…“ Von einem anhaltenden Hustenkrampf geschüttelt, kippte seine heisere Stimme, und er krümmte sich vor Schmerz zusammen, was seinen vermeintlichen Gegner dazu veranlasste, die Miene zu einem mitleidigen Ausdruck zu verziehen, dem ein Hauch von Schuldbewusstsein anhaftete. Natürlich wohnte er dem nicht ungerührt bei, er wollte Neisti nicht verletzen. Grausamkeit lag seinem Wesen fern, ebenso wie Sadismus, und er bereute augenblicklich, zu resolut gehandelt zu haben. Trotzdem… Den Kleinen zu überwältigen hatte ihn einiges an Youki gekostet, für ein unerfahrenes Kind definitiv zu viel, und die rohe Gewalt, jene undefinierte, brachiale Macht, die hinter den Angriffen des Jungdrachen steckte, irritierte und erschreckte ihn zugleich. Súnnanvindur stockte. Nein, unmöglich… Bewahrheiteten sich so Hríðarbylurs Befürchtungen, dass ein weiterer würdiger Erbe im Clan der Eldursdrekar existierte…? Und wenn das stimmte, warum sandte Eldsvoði ihn so leichtfertig ins feindliche Territorium? Was bezwecke er damit…? Wollte er ihn eventuell aus dem Weg räumen? Wozu? Postwendend verbannte er die abwegigen Gedanken, die ihm infolgedessen durch den Kopf spukten, in die hintersten Gefilde seines Verstandes. Darüber sollte er nicht nachdenken, nicht jetzt. Zu viele, unbeantwortete Fragen… Unzufrieden über seine Unwissenheit presste er die Zähne aufeinander, fokussierte den Jungdrachen mit einem bittenden, möglichst neutralen Blick. „Neisti, sei vernünftig…“ Die Intensität der Flammen um sie herum schwand rapide, das orangerote Flackern verblasste, und wurde von der gierigen Finsternis, die sie wie eine Sphäre umhüllte, verschlungen, als im Hintergrund der gigantische Feuerwall wie der schwere Brokatvorhang auf einer Theaterbühne fiel. Letzte Glutfunken stieben empor, leuchteten wie Glühwürmchen in einer mondlosen Nacht. Eine gespenstische Stille hatte sich derweil über das in Schutt und Asche liegende Residenzgelände ausgebreitet, einer dichten Decke aus gefrorenem Schnee gleichend, die gewichtig auf der ohnehin bereits niederdrückenden Atmosphäre lastete, und überschnitt sich nun mit dem makellosen Intermezzo des Schweigens, das sich zwischen dem Oberhaupt der Luftdrachen und dem jugendlichen Eldursdreki einstellte. Súnnanvindur seufzte tonlos, und entspannte seine rechte Hand, wodurch er den harten Griff lockerte, mit dem er Neisti umfangen gehalten hatte. „Ich halte mein Wort.“ Daraufhin fasste er das Schwert an seiner Hüfte unterhalb der Tsuka, zog es aus dem Seidengürtel und schleuderte es anschließend achtlos in die Dunkelheit der verwüsteten Umgebung, wo es mit einem gedämpften metallischen Klirren auf dem kiesigen Grund landete. Vorerst kam von dem angeschlagenen Jungdrachen keinerlei Reaktion, denn zu mehr als einem angestrengten Atemschöpfen war er nicht fähig; begierig sog er die frische Luft in seine brennenden Lungenflügel, gönnte seinem geschundenen Leib die längst überfällige Ruhepause. Dann hob er den Kopf, richtete sich mühselig auf. Doch auch danach äußerte sich Neisti nicht zu der nachsichtigen Aktion des Älteren, starrte ihn anstatt dessen voller Missfallen und Frustration an. „Wieso tut Ihr das…?“ Er demütigte, verhöhnte ihn willentlich, indem er ihm das Recht eines ebenbürtigen Gegners verwehrte – wieso behandelte er ihn anstatt mit dem adäquaten Ernst so gelinde? Verdrossen und gleichermaßen enttäuscht ballte der Eldursdreki nun die Hände zu Fäusten, wodurch die Knöchel sichtlich weiß hervortraten, und presste die Kiefer aufeinander bis ihm der Schmerz der gewaltsam gegeneinander mahlenden Zähne in den Ohren surrte. Er hielt erbittert an seiner Selbstbeherrschung fest, um nicht noch das letzte Bisschen Respekt zu verspielen, um sein Gesicht und das seines Clanes zu wahren. Eine Alternative bot sich ihm nicht. Parallel dazu spiegelte sich eine Fülle von Emotionen in den weichen Zügen, illustrierte das Chaos, das im Innersten des Jungen tobte. Súnnanvindur hingegen verblieb unsicher, was er darauf antworten sollte. Ehe er jedoch die Gelegenheit ergreifen konnte, um zu einer Erwiderung anzusetzen, vernahm das Geräusch von schweren Schritten die Aufmerksamkeit der beiden Drachen ein. Kies knirschte unter Ledersohlen – ohne Zweifel näherte sich ihnen ein Mensch, der vergleichsweise plumpe Gang verriet ihn. Wer…? Das charakteristische Resonanzschwingungen von vibrierendem Stahl ließen den Luftdrachen aufhorchen und augenblicklich alarmiert herumfahren; welcher stupide Sterbliche wagte es, sich zwei kämpfenden Dämonen in den Weg zu stellen, und sie überdies noch herauszufordern, indem er das Schwert gegen sie zog? „Narr.“ Unwillkürlich verengte der Drachenfürst aus dem Norden die Augen; er kannte diesen Geruch, und es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass er ihm gerade jetzt in die Nase stieg. Akaihoshi… „Du bist ein vermaledeiter Feigling, Súnnanvindur! Zeig dich und stell dich zum Kampf – ich weiß, dass du hier bist, du verfluchter, verlogener Hypokrat von einem Dämon!“ Laut und klar donnerte die erzürnte, von Wut verzerrte Stimme des Kämpfers über die zerstörte Gartenanlage. Irgendetwas stimmte nicht. Natürlich hatte er sie zur Kenntnis genommen, die scheelen, abschätzigen Blicke, mit denen der Schwertkämpfer ihm seit seiner Ankunft begegnete. Wie hätte ihm das entgehen können? Es war so offensichtlich. Seine Verstimmung darüber hatte er jedoch nicht geäußert – um des Bündnisses willen, das er nicht im Vorhinein mit Nebensächlichkeiten belasten wollte. Ein Fehler seinerseits, wie er begriff. Denn eine offene, ausfallende Provokation von diesem Ausmaß verlangte nach weitaus mehr als einer wortlosen Verwarnung. Solch eine Respektlosigkeit gegen das Oberhaupt der Loftsdrekar zu begehen… hätte es sich bei Akaihoshi um einen seinesgleichen oder einen Drachen aus einem der anderen Clans gehandelt, wäre er keineswegs zu einer Milderung der Strafe geneigt gewesen. Ungerechtfertigte, persönliche Beleidigungen empfand er als außergewöhnlichen Frevel ihm und seiner Autorität gegenüber. Das musste - und würde - er nicht dulden. Menschen allerdings wussten es zumeist nicht besser, geblendet von falschen Idealen, durch den Fanatismus ihres Umkreises mitgerissen, von naiver Loyalität getrieben. An jener Stelle versagte ihre Lernfähigkeit jämmerlich; zu selten bedienten sie sich ihres eigenen Verstandes. Aber… Die Erkenntnis traf ihn schlagartig und bitterkalt. Bedeutete das nicht…? „Fleygur…“ Bestürzt hob er seine rechte Hand, dem neuerlichen Zittern seines Körpers allzu gewahr, und betrachtete sie ernüchtert. Hatte er ihm Unrecht getan? Dafür, dass er sich womöglich nur gegen den überschäumenden Wahn eines törichten, menschlichen Idioten verteidigt hatte? Aus welchem Grund hatte er ihm frühzeitig den Mund verboten, und ihn für eine Wahrheit verurteilt, die er selbst aus steifem Beharren heraus nicht hatte glauben wollen, obgleich er seinem eigenen Fleisch und Blut keine Lüge zutraute? Was hatte er sich dabei gedacht? Ein schlechter Vater sondergleichen… Unterbewusst hatten sich seine Prioritäten verschoben, er hatte die Allianz mit dem Tennô über seinen Sohn, seinen Erben, erhoben – es fühlte sich an wie ein Fausthieb mitten ins Gesicht, und es schmerzte ihn auf diese Weise zu erkennen, wie verkommen seine Persönlichkeit doch war. Seit wann verhielt er sich selbstsüchtig, derart fixiert auf die Ziele und Bestrebungen, die er als über die Maßen wichtig erachtete, dass er darüber hinaus andere, mindestens gleichwertige Pflichten vernachlässigte? Alles für den Clan…? Konnte er diese Einstellung verantworten, vor allem sich selbst gegenüber? Nein… Ein mattes Keuchen durchdrang die illusorische Schweigsamkeit des trüben Zwielichtes, das sich nach dem Kollaps des Feuervorhangs klammheimlich über die Trümmer der einstmaligen Sommerresidenz des Tennô ausgebreitet hatte. Grau und schwer, wie dichter Morgennebel, verklärte es die Sichtverhältnisse, und unterwanderte gleichsam das Gemüt – eine synthetische Erscheinung mit physischen sowie psychischen Auswirkungen, spontan entstanden durch die Unmengen an dämonischen Energien, die an diesem Ort miteinander kollidiert und teilweise verschmolzen waren. Es würde Jahrzehnte dauern, bis die letzten Spuren des schwarzen, verheerenden Youkieinflusses hier verschwanden. Das Souga-Oberhaupt fröstelte, die korrumpierte Atmosphäre drohte ihn zu übermannen. Was sollte er, als einfacher Mensch ohne besondere spirituelle Talente, gegen eine solche Übermacht ausrichten? Beinahe hätte er trocken und humorlos aufgelacht; er hatte nicht den Hauch einer Chance. „Akaihoshi-san…?“ Dumpf verhallte das schwache Echo seines Rufes zwischen den Mauerresten und Gesteinsbrocken, die den Pfad des Provinzfürsten säumten und sich in dunklerem Grau von der Monotonie der eintönigen, gewaltsam eingeebneten Landschaft abhoben. Unmöglich, sich in diesem Labyrinth zu orientieren, und somit blieb ihm lediglich das Prinzip von Versuch und Irrtum, nach dem er zu agieren vermochte. Dementsprechend schritt er voran, immerzu geradeaus, wobei er inständig hoffte, dass das simple Hirn des Schwertkämpfers ebenfalls eine derartige Vorgehensweise suggeriert hatte. Ansonsten könnte er durchaus in Schwierigkeiten geraten. Nervös wrang er seine Hände. Er durfte sich nicht beirren lassen, und wenn er nicht mit Vorsicht waltete, begegnete er in diesem Chaos letztendlich noch dem Falschen – ob Mensch oder Dämon behielt sich einerlei. Seine eher pazifistische Gesinnung vertrug sich nicht mit der Kunst des Krieges, und eigentlich wollte er nicht sterben. „O Kami-sama, steht mir bei…“ Herzlich gerne wäre er sofort in theatralisches Jammern und Lamentieren über seine gestrafte und bemitleidenswerte Person verfallen, jedoch hinderte ihn das letzte Fünkchen Rationalität daran, diesem Drang nachzugeben. Jedweder Laut konnte ihm das Leben kosten, und das Risiko war ihm definitiv zu hoch. Weshalb hatte er nur auf die Empfehlung seiner Frau gehört? Gegen deren perfide Methoden der Überzeugung war kein Kraut gewachsen… Innerlich über das Unglück murrend, dass das verwünschte Schicksal ihm nun einmal mehr bescherte, hielt er plötzlich inne, den leisen Fluch, der sich gerade eben zwischen seinen Lippen gebildet hatte, vergessend. Was zur…? Etwa fünf Schrittlängen von seinem derzeitigen Standpunkt entfernt nahm er verschwommen die Silhouetten zweier Gestalten wahr; wie erstarrt verharrten die beiden regungslos, die rechte aufrecht stehend, den Kopf gesenkt, die linke in sich zusammengesunken auf dem kiesigen Boden kniend. Was ging hier bloß vor sich? Und vor allem, wessen Aktionsradius hatte er soeben gekreuzt? Der Souga selbst fühlte sich in seiner kontinuierlichen Bewegung eingefroren, unfähig, noch einen einzigen weiteren Schritt, weder vor noch zurück, zu tätigen. Sein Herz begann zu rasen, seine Kehle war wie zugeschnürt. Nie zuvor in seinem Leben hatte er eine vergleichbare panische Angst verspürt wie in jenem Augenblick, obwohl er nicht wirklich zu benennen wusste, aus welchem Grund. Dann vermeinte er allerdings ein Wimmern zu vernehmen, das alsbald in ein röchelndes Husten überging. Das klang nicht gut. „Ich… nein, das… ich wollte das nicht… wirklich, das… nein, nein… Nein!“ Daraufhin ertönte ein markerschütternder Schrei, der dem Menschenfürsten Gänsehaut verursachte und eine gespenstische Kälte in seine Innerein trieb. „Akaihoshi-san, antwortet!“ Was um Himmels willen war geschehen? Der befremdlichen Tonlage und dem gebrochenen Sprachfluss zum Trotz hatte er die Stimme des Schwertkämpfers mühelos erkannt. War er eventuell ernsthaft verletzt? „Souga… -san… Ihr müsst mir helfen, ich… holt einen Heiler… oder die Priesterin, ja, holt die Priesterin hierher! Und beeilt Euch!“ Hoffnungslos überfordert und zwischenzeitlich bis an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung verängstigt, zwang er sich zur Ruhe und näherte sich den schattenhaften Umrissen – eher zögerlich als bestimmt, aber nichtsdestotrotz mit unterschwelliger Entschlossenheit. „Bitte beruhigt Euch, Akaihoshi-san. Was…?“ Mit einem Mal verstand er das hektische, verstörte Betragen des Menschenrechtlers; denn die Person, die vor ihm kauerte, dessen Abdomen er mit der Klinge seines Katanas durchstoßen hatte, zählte sicherlich nicht einmal fünfzehn Sommer. Ein Kind… Blut rann die scharfe Schneide hinab, sammelte sich an der Kissaki und tropfte schließlich auf den Ruß geschwärzten Untergrund. Dennoch regte es sich nicht, krampfte seine Finger fest in den Stoff des indigoblauen Baumwollhaori, den der Mann, der mit schreckgeweiteten Augen auf es herabblickte, trug. „Es war ein Versehen… ich konnte doch nicht wissen… ich wollte doch nicht…“ Die fruchtlose Rechtfertigung – oder eher der Versuch einer solchen - lief ins Leere, und der ersichtlich angeschlagene Krieger verstummte, beschämt und reumütig. Welcher Teufel hatte sich seiner bemächtigt und ihn dazu veranlasst, so unbedacht und grausam zu Werke zu schreiten? War er am Ende gar dem Wahnsinn anheim gefallen? Zweifel marterten sein Bewusstsein, und eine beklemmende Schuld nistete sich in seinem Gewissen ein. Nebenbei wurde er sich einer gewichtigeren Problematik gewahr: was galt es jetzt zu tun? In der Versorgung Verwundeter war er nicht gerade bewandert, und mit Sicherheit konnte er allenfalls sagen, dass er sein Schwert nicht irgendwie entfernen durfte, indem er es einfach wieder herauszog. Damit würde er den Jungen vermutlich töten. Fraglich, wie hoch seine Überlebenschancen überhaupt einzuschätzen waren. Ohne einen Arzt… Unvermittelt forderte ein schwaches Stöhnen seine Aufmerksamkeit ein, und er wagte es kaum, seinen Sinnen zu trauen, als er simultan dazu ein heiseres Wispern vernahm und durch die Tsuka in seiner rechten Hand eine nachhaltige Vibration spürte. Goldene, blau durchwirkte Iriden fixierten augenblicklich tiefes Grün, und Akaihoshi erlangte seinen Fokus zurück, erschrak beim Anblick der von Blut rötlich verfärbten Fangzähne, die der Junge drohend bleckte. „Mononoke…“ Die Augen des Eldursdreki leuchteten rötlich auf, und das abgrundtiefe Grollen aus seiner Kehle schwoll Unheil verkündend an, als er sich mühevoll aufrichtete, die linke Hand unnachgiebig um den kühlen Stahl des Katanas geschlossen. Dann flammte plötzlich sein Youki auf, roh und maßlos, ungebändigt, sodass die Luft durch die sengende Hitze flirrte, und der ausgezehrte Untergrund schwelend zu glimmen begann. „Neisti!“ Zwischen all dem Schmerz und der Verzweiflung, durch die verklärende Angst vor Tod und Versagen, die seine Gedanken aufwühlte und seinen Verstand lähmte, fand Súnnanvindurs Stimme kein Gehör; er registrierte die Präsenz des Luftdrachen lediglich am Rande – sein Instinkt trieb ihn in die Offensive, taub für rationale Vernunft. „Wir wollen aus der Vergangenheit das Feuer übernehmen… nicht die Asche…“ Perplex hielt der Drachenfürst inne, betrachtete alarmiert den nunmehr offenbar in intuitive Raserei verfallenden Jugendlichen. „Was…?“ Das würde, das konnte kein gutes Ende nehmen. Unwillkürlich stahl sich leise Fassungslosigkeit in seinen Blick; die beiden Menschen hingegen verblieben teilnahmslos, versteiften unmerklich die Schultern, zu eingenommen von dem Spektakel, das sich direkt vor ihnen abspielte. Dem Herzschlag eines Lebewesens gleich pulsierte die lohende Aura des Feuerdrachen im Rhythmus seiner flachen Atmung, tauchte die Umgebung in einen dämonischen Schein aus vermeintlich lebendigem Glutrot und Orange, der alsbald ins Unscheinbare verblasste und nichts als Energie in wahnwitzigen Temperaturhöhen hinterließ. Der spürbar heiße Youkifluss konzentrierte sich in seinem Inneren, sammelte sich in seiner Brust und gewissen Arealen in seinem Gehirn, und im nächsten Augenblick erhellte ein gleißender Blitz das Zwielicht der demolierten Landschaft. Er wechselt in seine wahre Gestalt… Unbestritten eine unüberlegte Verzweiflungstat, wie Súnnanvindur gedanklich konstatierte – was dachte sich der Junge dabei, so leichtfertig alles auf eine Karte zu setzen? Für offenbar nichts und wieder nichts? Hatte Eldsvoði ihn wissentlich auf eine Selbstmordmission ohne Wiederkehr entsandt, um einen persönlichen Vorteil daraus zu gewinnen? Von mentaler Unsicherheit befangen, zwang sich der Luftdrache dazu, sein Augenmerk wieder auf das präsente Geschehen zu lenken. Neistis zierlicher Leib verzerrte sich hinter dem lichten Vorhang, die humanen Proportionen verschwammen, während sich die rosige Haut zu einem tiefroten, rauen Plattenpanzer wandelte, von Dornen gespickt; die weichen Züge wurden indes von einem düsteren Ausdruck überlagert, und das jugendliche Gesicht verformte sich zu einem länglichen, ehernen Schädel, aus dessen Kiefern dolchartige Reißzähne eine unmissverständliche Botschaft aussprachen. Raubtier. „Keiner rührt sich von der Stelle!“ Ihnen tat sich dieser eine Ausweg auf: wenn sie übeleben wollten, mussten sie den Eldursdreki mit Geschick überlisten – ohne ihn zu töten, insofern das möglich war -, denn rein physisch besaß er selbst Súnnanvindurs Hennyou gegenüber das absolute Machtprivileg. Die Augen eines Drachen erwiesen sich im Allgemeinen als nicht außergewöhnlich gut, zu fixiert auf die Bewegung einer potentiellen Beute, und nahezu unfähig, etwas, das regungslos verweilte und wartete, erfolgreich zu erspähen. Drachen waren aus simplen, evolutionären Gründen nun einmal keine Lauerjäger. Und dieses Faktum galt es auszunutzen. Das Oberhaupt des Clans der Loftsdrekar wusste aus Erfahrung, dass sich ein solches Unterfangen schwierig gestaltete, aber keineswegs aussichtlos. Welche Wahl eröffnete sich ihnen? „Ein Monstrum, dieses Kind ist…“ Ungläubigkeit und Panik schwangen in den geflüsterten Worten des Schwertkämpfers mit, und der Souga rang sichtlich mit seinem Gleichgewichtssinn, stumm, da ihm die Urangst vor dem Tode bereits jegliche verbale Äußerung verwehrte. „Solange ihr euch nicht bewegt, wird er nicht angreifen. Lasst ihn, und beherrscht euch, er wird diese Form nicht lange unterhalten können…“ Die beiden Menschen protestierten nicht und nahmen den Befehl des Loftsdreki wohl oder übel hin, doch dieser fühlte den Widerwillen des Hass erfüllten Menschenrechtlers, der verdrossen mit den Zähnen knirschte. Insgeheim konnte er nur hoffen, dass Neistis Sinne mittlerweile zu arg in Mitleidenschaft von seinem Geisteszustand gezogen worden waren, um die feinen Schwingungen wahrnehmen und folgerichtet auswerten zu können. Glücksspiel… Das energetische Licht ermattete und verschwand schließlich vollkommen, gab den Anblick des haushohen Feuerdrachens preis, der sich in drohender Haltung vor ihnen aufrichtete, die vergleichsweise kurzen Flügel gespreizt. Mit einem heiseren, infernalischen Schrei trat das Ungetüm einige Schritte zurück und riss das Maul auf, sog begierig den Sauerstoff in seinen Schlund. Es roch nach Schwefelverbindungen, Methan und Kohlenstoffmonoxid – ein tödliches, hochentzündliches Gasgemisch. „Verdammt…“ Damit stürzte Súnnanvindur vor Akaihoshi und den Menschenfürsten, mobilisierte das Maximum seiner Kraftreserven in einem verbissenen Aufgebot. Der Feuerschwall aus dem Rachen des Eldursdreki traf ungehindert auf die Wand aus verwirbelter Luft, einem orkanartigen, ringförmigen Gebilde, das die drei Individuen wie ein steinerner Mauerwall schützte. Glutfunken stoben umher, und das Geräusch von minderschweren Explosionen schallte durch die Stille der Ebene, ehe die Flammen an Stärke und Intensität verloren und verloschen. Angestrengt nach Atem schöpfend standen sich die beiden Kontrahenten gegenüber, ausgelaugt und gleichsam von Erschöpfung heimgesucht, blickten sie sich in die Augen. Hellroter Schaum verfärbte die Fänge des Jungdrachen, troff auf den Boden, und aus der Wunde in seiner linken Flanke quoll unentwegt Blut hervor. Entscheidend war die nächste Attacke. Dennoch zauderte nicht alleinig der Loftsdreki. Nach einem Moment, der sich von einer Weile bis ins Unendliche dehnte, hob Neisti ruckartig den Kopf, wirkte, als würde er angespannt horchen und wittern – die Nüstern des Drachen bebten, blähten sich in einem regelmäßigeren Takt als zuvor. Perplex betrachtete Súnnanvindur das überaus aufmerksame Gebaren des Feuerdrachen. Was bedeutete das? Ein Scharren, und eine Art Pfeifen, das der heimischen Fauna nicht zuzuordnen ist… Verständigte er sich auf diese Weise mit Bundori? Überfordert sammelte er seine Konzentration, sein Gehör und sein Geruchsempfinden verrieten keine nennenswerten Auffälligkeiten. Mit einem raschen Satz vollführte der Jungdrache blitzartig eine Kehrtwende um die eigene Achse und eilte davon, und seine Gestalt verschmolz mit den Schatten der Dunkelheit… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 49: >“Die Gefahr scheint gebannt, doch die Zweifel bestehen und alsbald ereilt die Beteiligten die Erkenntnis. Natürlich diente der vermeintlich gescheiterte Angriff einem Zweck, und die Ergründung dessen bringt einen schwerwiegenden Verdacht ans Tageslicht. Welche Reaktionen das heraufbeschwört, bleibt abzuwarten…“ *» Blekking Kapitel 49: *~Blekking~* ------------------------ "Der Krieg ist ein Weg der Täuschung." – Sun Tse Kapitel 49 – Blekking -Täuschung- *Nichts ist so, wie es scheint, und wer kann mit absoluter Sicherheit behaupten zu wissen, welches Übel hinter der Fassade einer Absicht lauert? Ist Intuition oder eine instinktive Eingebung das einzige, was uns in einer solchen Lage rettet? Oder gelingt es mit Logik allein, die Wahrheit zu enttarnen? Doch was ist, wenn unsere Erkenntnis zu spät kommt? Wenn wir wichtige Zeit verloren haben, und damit das Leben eines anderen aufs Spiel setzen, müssen wir dann unsere Schuld anerkennen?* ּ›~ • ~‹ּ „Logi, ein Glück…“ Matt, und der samtenen Schwärze der Bewusstlosigkeit nahe, sank der verwundete Jungdrache – nunmehr wieder in seiner menschlichen Gestalt - in die Knie, akzeptierte dankbar und erleichtert die Schnauze des Feuerdrachen unmittelbar vor seiner Brust, die ihm einen soliden Halt versprach. Warm… Atemlos lehnte Neisti die Stirn an den harten Widerstand, der entgegen seiner unnachgiebigen Textur Wohlwollen und Geborgenheit signalisierte, und schloss die Augen. Noch niemals in seinem bisherigen Leben hatte er eine derartige Verletzung aus einer kämpferischen Auseinandersetzung davongetragen, das Niveau seiner Fähigkeiten, entsprungen aus natürlichem Talent, für seine Gegner unerreichbar. Nicht bei Súnnanvindur… „Er ist stark, nicht wahr?“ Grummelnd gebot er dem Zittern seines zerschundenen Leibes Einhalt. „Wohl eher unheimlich clever.“ Dabei stammte die Stichwunde in seinem Abdomen nicht einmal von ihm, sondern von einem Menschen – dennoch verschwieg er dies bewusst, und Eldsvoði würde die beschämende Wahrheit allenfalls durch eine explizite Aufforderung erfahren. Elender Bastard von einem Schwertkämpfer… Er wollte hier weg, so schnell wie möglich, und zurück zu seinem Bruder, zurück nach Hause… Und Logi begriff durchaus, dass er jenes Thema nicht vertiefen sollte, wenn ihm nicht unbedingt an einer Züchtigung für redselige Dreistigkeit gelegen war. „Ich habe meinen Auftrag soweit erfüllt, leiðtogarsbróðir. Und durch Bundoris Trick mit dem Fuyoheki wurde ich nicht einmal bemerkt. Keine Komplikationen. Allerdings…“ Der Angesprochene verbat sich das gequälte Keuchen, das ihm zu entfleuchen drängte, presste dementgegen wirkend ein leises, kaum verständliches „Was…?“ heraus; Logis mentale Stimme hallte unangenehm laut und befremdlich durch seinen schmerzenden Kopf. „Dieses Menschenmädchen… ich nehme an, sie ist eine Priesterin, aber ihre Präsenz ist… überwältigend. Unbeschreiblich, ich… ich konnte nicht anders, als… ich meine, können wir sie mitnehmen?“ Anstatt zu antworten, gestikulierte der Jugendliche zu Logis breitem Rücken. Der deutete gehorsam ein Nicken an, bevor er der stillen Bitte Folge leistete und Neisti aufhalf. Trotz der Unterstützung hievte sich der Eldursdreki schwerfällig auf die Beine, erklomm mit diversen Schwierigkeiten die Schulter seines Artgenossen; als er letztlich die Ausbuchtungen der Wirbelsegmente unter seinen Fingerkuppen spürte, rollte er sich auf den Rücken, und versuchte vehement, das Stechen in seiner linken Seite zu ignorieren. „Ist es sehr schlimm?“ Zunächst erhielt er darauf keine Antwort, erntete lediglich ein entnervtes Seufzen und einen halbherzigen Ellbogenstoß in den Nacken. „Ich glaube nicht, dass es mich umbringen wird…“ … was nicht bedeutete, dass sein körperlicher Zustand stabil oder gar einigermaßen erträglich war. Während sich Neisti für einen Moment ausruhte, um seinen verkrampften, beanspruchten Muskeln etwas Entspannung zu gönnen, und die Frequenz seiner Atemzüge sich allmählich normalisierte, setzte sich Logi in Bewegung, wohlweislich in den tieferen Schatten wandelnd. Nach einer Weile richtete sich der junge Feuerdrache wieder auf, musterte die beiden unbekannten Wesen, die unweit von ihm etwas misslich, doch unversehrt, zwischen Logis Dornenpanzer weilten, ohnmächtig. Das eine war ein männlicher Loftsdreki, etwa in seinem Alter, der seinem Vater, dem ClanOberhaupt, bezüglich der Gesichtszüge sehr ähnelte, und dann lag da dieses Mädchen… Ihm wurde flau zumute, seine Sicht verschwamm und er fiel beinahe, fing sich erst knapp, aus purem Reflex, vor dem vermeintlich unvermeidbaren Sturz wieder – dank der Umsicht seines wachsamen Gefährten, wohlbemerkt. „Bizarr, oder?“ Ratlos, mehr oder minder überfragt, zuckte der Junge die Schultern. „Sie… ist sie wirklich ein Mensch? Dieses Gefühl…“ Eine derartige Anziehungskraft, wie ein Feuer die Motten anlockt… Logi warf ihm einen bestätigenden Seitenblick zu, die kohlefarbenen Augen in der allgegenwärtigen Finsternis leicht verengt. „Ich weiß, was Ihr meint.“ Daraufhin hüllten sich die Feuerdrachen geflissentlich in Schweigen. Neisti beobachtete mit gewisser und ebenso absurder Faszination das Menschenmädchen, das gleichmäßige Heben und Senken ihrer Brust, die Kaskade von pechschwarzem Haar, die sich über Logis scharlachrote Rückenpartie ergoss, im Kontrast zu ihrer blassen Haut… Wie lange er sie ungeniert angestarrt hatte, vermochte er im Nachhinein nicht zu sagen, und umso bewusster erfuhr er, dass das nicht genügte. Kurzerhand verlagerte er sein Gewicht, winkelte die Beine an und kniete sich somit hin, seine intakten Schienbeine belastend, um sich vorsichtig immerzu ein kleines Stückchen näher an sie heranzuschieben. Zaudernd beugte er sich über ihre regungslose Erscheinung, hob die linke Hand und berührte mit den Fingerspitzen prüfend und gleichsam vage eine verirrte Strähne, die dem lockeren Zopf entwichen war. Neugier und höchste Konzentration vereinten sich in dem gebannten Ausdruck des Jungdrachen. Schließlich, nachdem er durch den ersten, glimpflichen Kontakt Mut gefasst hatte, wagte Neisti seine Handfläche behutsam auf ihren Oberarm zu legen. Ein fremdes Empfinden jagte ihm die Wirbelsäule auf und ab, verursachte Wellen wohliger Schauer, die in seinen Nervenbahnen kribbelten und den Schmerz seiner Verwundung mit sich hinweg trugen. Ihm schwanden die Sinne, in süßer, wonniger Manier, und die Realität entschwand in Vergessenheit, als hätte er sich willentlich in einen ekstatischen Rausch begeben, wie es Eldsvoði gerne tat, wenn er nachdachte… Logi hielt abrupt inne, und Neisti sah auf. Benommen, wie in Trance, zog er die Hand zurück und ging wieder auf Distanz. Interessant. Sein Bruder würde sich über ein solches Mitbringsel mit Sicherheit freuen, und Logis putativen Scharfsinn würdig belobigen; er verkannte die Gefahr, die es in sich barg… „Was ist mit Bundori?“ Aus den Bahnen seiner Überlegungen geworfen, blinzelte Neisti verwirrt und suchte mit den Augen nach einem Anhaltspunkt der Orientierung in der Düsternis um ihn herum, ehe er sich besann. „Lebt er noch?“ Der Hals des Feuerdrachen wölbte sich, bildete einen perfekten Bogen. „Mehr oder weniger. Die Ausstrahlung seines Youki ist schwach… so gerne ich ihn hier seiner Verdammnis überlassen würde, ich fürchte, wir können ihn auf dem Rückweg nicht entbehren.“ Abwägend, welche Alternativen und Konsequenzen aus ihrer jeweiligen Handlung resultieren würden, nickte der Jüngere gewichtig. „Ich mag ihn zwar nicht besonders, aber ich denke auch, wir sollten ihn mitnehmen.“ Wenig begeistert stieß der Eldursdreki einen seufzenden Laut aus. Das aggressive Youki des Sonnenwebers, und sein diabolischer Charakter beunruhigten ihn, riefen Nervosität und zweifelndes Misstrauen in ihm hervor; ein unheimlicher Zeitgenosse, dem man besser nicht begegnete – besonders dann nicht, wenn seine Laune den Gefrierpunkt unterschritt, was bei Bundori permanent der Fall zu sein schien. Im Laufe ihrer zeitaufwendigen Anreise hatte er mehrmals befürchtet, von ihm an Ort und Stelle in Fetzen gerissen zu werden – aufgrund banaler Begebenheiten, über die Neisti nicht ansatzweise gemurrt hätte. Und welchen Narren er an dem Hundegeneral, immerhin einem der mächtigsten Dämonen in Japan, gefressen hatte, wollte Logi nicht ernstlich seinem Erfahrungsschatz hinzufügen. Vermutlich aus subjektiver Aversion heraus. „Wie Ihr wünscht, leiðtogarsbróðir.“ Neisti kicherte verhalten, auf den lädierten Part seiner Flanke achtend. „Niemand hört uns zu. Du musst nicht so verdammt förmlich sein, Logi. Ich ertrage es nicht, wenn andere von mir im Plural sprechen…“ Unwillig schüttelte der Drache den massiven Schädel. „Es gehört sich nicht, den Rang seines Gegenübers zu vernachlässigen. Respekt ist eine Tugend, und Euer Bruder misst dem einen hohen Wert bei – und das wisst Ihr.“ Schmunzelnd und mit einem vernehmlichen Ausatmen wälzte sich der Jugendliche lax auf den Bauch. „Du machst mir keinen Spaß, Logi. Ich mag dich, aber dein steifer Ethos ist furchtbar nervig.“ Die Schar der Hinezumi teilte sich, schuf bereitweillig eine Gasse für den großen Feuerdrachen, sodass dieser bequem passieren und seinen Weg fortsetzen konnte; sie erkannten ihn durch seine Zugehörigkeit zum Element des Feuers, gebärdeten sich jedoch aufgrund der fehlenden Ausstrahlung von Youki starr und beängstigt. Logi kümmerte sich nicht darum, bemüht, gründlich und bedachtsam Ausschau nach Bundori zu halten. Wo steckte der dämliche Kerl, wenn man nach ihm suchte? Brummend stieg er über einen weiteren zerstörten Mauerabschnitt hinweg, ließ seinen Blick schweifen. Nichts. Nichts, und wieder nichts… Indessen döste Neisti mehr oder minder delirös vor sich hin, schweigsam und apathisch, wie es ansonsten nicht seiner Art entsprach. Seit seinem, nach Logis Meinung, etwas unangebrachten Kommentar über eben dessen Pflichtbewusstsein hatte er sich nicht erneut verbal geäußert. Offenbar fiel es ihm schwerer, sich mit der Wunde und dem damit verbundenen Schmerz zu arrangieren, als er vermutet hatte. Was erwartete er? Der Kleine war ein Kind, und definitiv noch kein Krieger. Was hatte sich Eldsvoði bloß dabei gedacht, seinen jüngeren Bruder zusammen mit einem wahnsinnigen Fremden wie Bundori in das Territorium der Luftdrachen zu entsenden? Ihn mit Súnnanvindur zu konfrontieren, was ihm beinahe das Leben gekostet hätte… Verantwortungslos. Gleichgültig, wie viel Talent für das kriegerische Handwerk in ihm schlummern mochte und ungeachtet seines beachtliches Potentials durch die Verbindung mit der Alten Generation, es rechtfertigte keinesfalls Eldsvoðis nachlässiges Verfahren mit einem unentbehrlichen Bestandteil des Clans der Eldursdrekar. Immerhin kaschierte Neistis zuweilen naives Auftreten und seine Jugendlichkeit, dass sich in ihm das wahre Erbe Hraunars verbarg – und sollte dies bekannt werden, gerieten sie allesamt in Schwierigkeiten. Ob Súnnanvindur Verdacht schöpfte? Missmutig schnaubend schüttelte Logi den gewaltigen Kopf, vertrieb die nagende Skepsis aus seinem Verstand, denn in einer Position wie der seinen konnte er sich weder Ungehorsam noch eine Beschwerde leisten. Was das Oberhaupt beschloss, musste er fügsam akzeptieren; sogar, wenn es ihn geradewegs in den Tod befahl… Dann nahm er eine vage Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Unverzüglich wandte er sich zu seiner Linken, in Richtung des stetig rauschenden Meeres, und spähte über die Trümmer einer ehemaligen Lagerhalle. Das Dach war eingestürzt, die Wände von einer gewaltigen Krafteinwirkung nach innen gedrückt worden und letztlich unter der Last zusammengebrochen. Ein ähnliches Bild vermittelte der immediate Umkreis; zerstörte Gebäude, geschwärzte Erde, und eingeebnete Arealflächen, die stummen Zeugen eines unerbittlichen Gefechtes zwischen zwei verfeindeten, dämonischen Mächten. Inmitten dieser nunmehr schwarzen Monotonie von Zerstörung regte sich etwas, eine schemenhafte Gestalt, die sich vor den Halbschatten des Zwielichtes abhob, kauerte in einiger Entfernung auf dem Schlachtfeld. „Leiðtogarsbróðir. Bitte, versiegelt Eure Wunde und nehmt danach das Fuyoheki an Euch.“ Zu mehr als einem Murmeln fühlte Neisti sich nicht imstande. „Versiegeln…?“ Der Feuerdrache fixierte die unscheinbare Silhouette, die sich mühevoll auf die Beine kämpfte. „Brennt sie aus. Wir müssen so viel Zeit wie möglich schinden, um wenigstens einen kleinen Vorsprung zu gewinnen. Gelingt es den Loftsdrekar, uns über dem Ozean abzufangen, sind wir ihnen schutzlos ausgeliefert, und der Plan scheitert unweigerlich.“ Solange es sich als möglich erwies, sollten sie die wahren Begebenheiten verschleiern – mit dem Wissen, dass sie hier von Anfang an zu dritt agiert hatten, würden die Luftdrachen bald erraten können, welches Szenario sich hinter ihrem Rücken zugetragen haben musste, und dass Blævars Verschwinden unvermeidlich mit ihrem plötzlichen Rückzug zu verknüpfen war. Dazu bedurfte es keiner höheren Intelligenz. Und deshalb durfte sich der Geruch von Neistis Blut nicht weiterhin ungehindert ausbreiten, um das Risiko, dass es sie vorzeitig verriet, einzudämmen. Logi würde die Aufmerksamkeit auf sich lenken, ehe er Bundori zu seinem Glück zwingen und schlussendlich die Flucht ergreifen würde. „Beeilt Euch bitte.“ Diverse Witterungen, allen voran die von Dämonenblut, vermischten sich in seinen Nüstern und geboten Eile; der Inu no Taishou trieb sich in ihrer Nähe herum, und falls der einen Blick auf die Geißeln erhaschte… Neisti tat derweil wie ihm geheißen, zwar widerwillig und zögerlich, doch mit der notwendigen Präzision presste er die rechte, von einem bläulichen Flämmchen umhüllte Hand auf die beiden Austrittswunden, vernünftig dosiert und ohne das Gewebe dauerhaft zu schädigen. Das von Schmerz geprägte Japsen konnte er nicht unterdrücken, trotz fest zusammengebissener Zähne. „Ich danke Euch, leiðtogarsbróðir. Ich schätze Eure bedingungslose Kooperation.“ Desinteressiert griff der Jungdrache nach der violetten, faustgroßen Sphäre, wiegte sie in den Handflächen hin und her. „Ja, ja, was auch immer…“ Soweit, so gut… Gefasst streckte der Eldursdreki seine Schwingen und wuchtete seine gesamte Körpermasse auf die Hinterläufe, positionierte die Pranken der Vorderbeine auf einem stabilen Felsabsatz, dem intakten Überbleibsel der Grundfeste des Lagerhauses. Dann brachte er seine Kiefer auseinander, schluckte einen gewaltigen Schwall lauwarmer Luft, und rieb die rauen Längskanten seiner Zunge an den Innenflächen der Zähne, wodurch er winzige Funken erzeugte, die sogleich übersprangen und das Gasgemisch entzündeten. Begleitet von einem dumpfen Grollen riss er das Maul auf und stieß einen grell leuchtenden Feuerball in die Düsternis hinaus. „Bundori…“ Ein plötzlicher Bewegungsimpuls durchzuckte daraufhin die Muskeln des Eldursdreki, und er stürzte vorwärts, ungeachtet jedweden Hindernisses, sprang mit entfalteten Flügeln von der Kante des Granitblocks ab, um in einen, zugegeben, etwas unsicheren Segelflug überzuwechseln, sodass er wie ein lautloses Gespenst rasch über die graue Einöde hinweg glitt. Widerstrebend verringerte er dabei seine Flughöhe und senkte den Kopf, packte den perplexen Sonnenweberdrachen an der Schulter – hinreichend fest, um diesem sämtliche Knochen zu brechen, falls er Gegenwehr erwiegen sollte… ּ›~ • ~‹ּ „Ich fasse es nicht! Das ist doch zum…! Wieso zur Hölle hat er dieses Monster einfach entkommen lassen?! Ich… das ist doch die Höhe!” Wutentbrannt wirbelte der Krieger herum, seine vorherige Paralyse vergessend, warf dem am Boden sitzenden Drachensouverän einen vernichtenden Blick zu. Dieser jedoch schwieg, und der aufgebrachte Menschenrechtler gestikulierte wild mit den Armen in der Luft, setzte zu einer neuen Schimpftirade an, als das Souga-Oberhaupt sich von der Szene am aufklarenden Himmel abwandte und ihm in ungewohnter Schwere eine Hand auf die Schulter legte. „Akaihoshi-san.“ Trotz der deutlichen Warnung, die in der höflichen Anrede mitschwang, ließ sich Akaishoshi nicht beirren. Unwirsch entriss er sich dem Griff des Provinzfürsten und trat näher an den offensichtlich erschöpften Drachen heran, mutig, da er um dessen momentane Schwäche wusste; doch Súnnanvindur kam ihm zuvor, denn ehe der Mensch den Mund öffnen konnte, erhob er die Stimme, ruhig und leise. „Hüte deine Zunge, Akaihoshi, oder ich werde persönlich dafür sorgen, dass du sie eben das letzte Mal benutzt hast.“ Dem Angesprochenen blieben die boshaften Worte förmlich im Halse stecken und er wich einige Schritte zurück - es war nicht die Erscheinung des Loftsdreki, die ihm nunmehr Angst einflößte, sondern die verborgende Drohung in seinem Befehl, die unterschwellige Autorität, und die unbehagliche Kälte, die er ausströmte. Widerwillig, entkräftet, erleichtert, verfielen die beiden Menschen und der Dämon in absolutes Schweigen. Über ihnen brach derweil die dunkle Wolkenfront auf und die Nachmittagssonne sandte ihre blendend hellen Strahlen durch die ungleichmäßigen Risse hindurch auf die Residenzruine hinab, enthüllte das gesamte Ausmaß des von den Youkai verursachten Schadens. Eine verheerende Bilanz präsentierte sich hier dem Beobachter: das weitläufige Terrain glich einem Trümmerfeld, mehrere Feuerherde vernichteten die letzten intakten Holzbauten, und die Hinezumi tummelten sich noch immer zu Hunderten in den geschützten Ecken und Winkeln, voller Angriffslust und Feindseligkeit. Wenn Súnnanvindur nicht alsbald auf die Beine kommen sollte, würden sie ihre Deckung verlassen und ihn zweifellos attackieren; Feuerratten mochten simple Kreaturen sein, aber keineswegs dumm. Müde hob er den Kopf, betrachtete die Verwüstung das erste Mal mit einer gewissen Gleichgültigkeit. Und langsam wurde er sich seiner eigenen Naivität bewusst, seiner Unbesonnenheit bezüglich des Bündnisses mit dem Tennô – hatte er tatsächlich geglaubt, es würde so einfach werden? Vielleicht war er derjenige, dem man eine Lektion erteilen musste. Ausgeträumt… Unter der Asche dieses Ortes lag das Traumgefüge einer Allianz ohne Schwierigkeiten begraben, eine Fata Morgana in der Wüste der Verzweiflung, die Frieden verspricht und Krieg und Tod über die Unwissenden bringt. Wie vertrauensselig er in die Falle getappt war! Existenzangst und die Furcht vor dem Versagen hatten sein Urteilsvermögen getrübt, und nun verstand er, dass dem Grundsatz seines Vaters etwas Wahres anhaftete. „Urteilt man anstatt nach rationalen Argumenten nach Gefühlen, wird über kurz oder lang ein Unglück geschehen, und zumeist leidet darunter nicht der, der die Entscheidung verantwortete.“ Sich selbst Fehler einzugestehen, schmeckte bitter. Lethargie senkte sich über das Gemüt des Drachen, und er presste die Lippen aufeinander, versiegelte somit jedweden Laut im Ursprung. In sich gekehrt mahnte er seinen Leib zur Ruhe, wirkte dem raschen Herzschlag und seiner beschleunigten Atmung entgegen. Seine Gedanken kreisten indes um etwas Anderes, das ihn weitaus mehr beunruhigte und gleichermaßen irritierte. Neistis Auftauchen, und der Eindruck, den er von dem Jungdrachen während ihrer Auseinandersetzung erworben hatte, bereiteten ihm Sorgen. Hraunars wahrer Erbe… Was ging hinter der Front der Eldursdrekar vor sich? Beabsichtigten sie einen neuen Krieg? Warum banden sie Bundori, einen Außenseiter, in ihre Rachepläne ein? Und wie hatten sie den Tennô für ihre niederen Zwecke gewinnen können…? Zusammen ergaben die Fakten keinen Sinn… „Súnnanvindur-sama…?“ Eine möglichst neutrale Miene wahrend, schaute der Drachensouverän auf. Vor den Umrissen der zerstörten, inneren Ringmauer zeichnete sich eine hochgewachsene Gestalt ab, die sich sichtlich mühsam einen Weg durch die Horde der Feuerratten bahnte, die sich quietschend um sie scharte. „Wenn ich mit euch Mistviechern fertig bin, ziehe ich euch das Fell ab und mache mir einen Mantel daraus!“ Súnnanvindur horchte auf, begab sich in eine formalere, knieende Position. Meigetsumaru… Die Stimme des Hundedämons klang ungewohnt rau und heiser, und die plumpen Bewegungen, mit denen er sich der lästigen Plagegeister entledigte, zeugten von einer zumindest angeschlagenen, wenn nicht gar außerordentlich miserablen körperlichen Verfassung. Unsicher grüßte der Luftdrache den Inu no Taishou mit einem nonchalanten Wink, den dieser mit einem knappen Nicken quittierte. „Bist du halbwegs in Ordnung?“ Jene Härte, die die Züge des silberhaarigen Dämons überlagerte und seine bernsteinfarbenen Iriden beherrschte, gefiel ihm nicht. Tiefrote Flecken verunzierten die weißen Gewänder, über dem rechten Wangenknochen färbte sich die Haut violett. „Der Bastard und sein Freund sind abgehauen. Ich habe meine Gelegenheit vertan, dem Wahnsinn ein Ende zu setzen…“ Frustriert knurrend verschränkte er die Arme vor der Brust, bedachte die abseits stehenden Menschen mit einem kritischen Seitenblick. „Weißt du, was mit dem Tennô ist? Oder meinen Söhnen, meinen Untergebenen…? Mein Youkispiegel ist derart niedrig, dass ich die weißen Raben nicht halten kann, ich bin mehr oder minder blind.“ Dass die Schuld daran ein Kind trug, behielt er wohlweislich für sich. Der Herr der Hunde schüttelte jedoch den Kopf. „Den Tennô hat Bundori erfolgreich, und dauerhaft, kalt gestellt. Mehr kann ich dir auch nicht berichten… Erzähl du mir nicht, der kleine Feuerdrachen hat dich so zugerichtet.“ Zerknirscht verbat sich Súnnanvindur eine flapsige Antwort. In diesem Fall nagte es ernstlich an seinem – für gewöhnlich eher rudimentär vorhandenen – Kriegerstolz, dass er Neisti nicht hatte in die Ecke drängen und besiegen können. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre es ihm nie und nimmer gelungen, den Jugendlichen zu töten. Dennoch erschien der weiße Hund nicht ansatzweise amüsiert, der Ausdruck bar jeglicher Emotion; offenbar befand er die Hilflosigkeit des DrachenOberhauptes ebenfalls als bedenklich. „Neistis Talent übersteigt das von Hraunar bei Weitem, er ist gefährlich und eventuell bereits über das Level von Eldsvoðis Fähigkeiten hinaus… Er war verletzt. Ich bezweifle allerdings, dass er deshalb den Rückzug angetreten hat.“ Dem fehlte die Logik. Ohne Aussichten auf einen Erfolg, gleichgültig, wie gering der ausfiel, akzeptierte niemand, der einigermaßen bei Sinnen war, ein dermaßen hohes Risiko. Eldsvoðis Intentionen gaben Rätsel auf. Wo saß der vermeintliche Haken? Wo? „Trotzdem. Was wollen die mit einem wie Bundori? Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, Kaze. Irgendetwas ist mir entgangen, und meine Intuition trügt mich selten.“ Obwohl es ihm missfiel, seine Unaufmerksamkeit und die daraus resultierende Beklemmung, die seinen Verstand marterte, anzuerkennen, stimmte er dem japanischen Hundeyoukai leise zu. „Dass sie sich auf dem Kontinent formieren und eine Offensive vorbereiten, ist kein Geheimnis. Ob sie eine zweite hier im Osten planen…?“ Wozu? Wollten sie Japans Inseln ihrem Territorium einverleiben? Zum einen würde sich Bundori damit wohl kaum einverstanden erklären, und zum anderen widersprach das Neistis Äußerungen über die Wiederherstellung der Ehre des Clans – und seines Bruders Hraunar. Nein, unwahrscheinlich. „Mit Bundori als einheimischen Landesführer? Vorstellbar. Aber was sollte dann diese vollends unterbesetzte Aktion? Zufall war das nicht, und Kundschafter vermeiden es, in Gefechte verwickelt zu werden, um ihre Missionen nicht zu gefährden.“ Wie konnte bloß ein stupides Unterfangen wie eben jenes den Feuerdrachen zum Vorteil gereichen? Nachdenklich schloss der Inu no Taishou die Augen, und erst jetzt bemerkte Súnnanvindur, dass sich sein Gegenüber dem Seelendieb aus der Hölle wieder angenommen hatte, die temporären Versiegelung aufgehoben; glücklicherweise bewies sich die unheilvolle Aura des Schwertes als ausnahmslos verloschen, die unmittelbare Gefahr als zunächst gebannt. „Also ein Ablenkungsmanöver?“ Daraufhin zuckte der Drache die Schultern. „Ablenkung? Von was? Einem Großangriff andernorts? Das ist unmöglich. Sie kennen unseren Hort nicht, so etwas wäre reine Zeitverschwendung und ziemlich dumm.“ Ratlos blickten die Dämonen einander an. Ihre Unwissenheit beschwor Nervosität herauf, und die klammheimliche Frage, ob die Möglichkeit bestand, längst vom Regen in die Traue geraten zu sein, schwirrte ihnen im Hinterkopf umher. Aus Ungewissheit geborenes Zaudern tötet… Nach einer Weile der Stille straffte sich plötzlich die Haltung des Hundedämons und sein Blick wanderte zum Himmel. Gehörte die Nekomata nicht eigentlich zu der Priesterin, der er in der Nähe des Orakelberges begegnet war…? Von der Präsenz der sympathischen Menschenfrau spürte er gegenwärtig nichts. Gar nichts. Auf dem Rücken des sich nähernden Katzenyoukai befand sich eine einzelne Person, sein Sohn Sesshoumaru, unversehrt, und offensichtlich verstimmt, wenn man nach dem säuerlichen Gesichtsausdruck urteilte. Etwas ungeschickt rutschte der Junge schließlich an der Flanke des Feuerdämons hinab, musterte die Anwesenden – seinen Vater natürlich ausgenommen – abschätzig aus den Augenwinkeln, ehe er das Haupt neigte und gehorsam auf die Erlaubnis zu sprechen wartete. „Sesshoumaru.“ Das Schmollen des Welpen vertiefte sich. „Sie haben mich alleine gelassen… Ihnen gebührt eine Strafe, ebenso wie dem blöden Gaul und den Ratten, die mich umbringen wollen.“ Súnnanvindur beobachtete mit einem Anflug von Erstaunen, wie abrupt sich die Mimik des Hundedämons veränderte, die Milde und die Wärme wiederkehrten, die er zuvor, als überflüssiges Hindernis im Kampf, aus seinem Bewusstsein verbannt hatte. Die unterschwellige Schwermut, die diesen Wandel trübte, erkannte er nicht. „Wen meinst du, Sesshoumaru? Wer hat dich begleitet?“ Tonlos seufzend billigte der junge Hund die kosende Hand in seinem Haar, verfluchte simultan die verräterische Röte, die ihm in die Wangen stieg. „Die unverschämte Miko und der Drachenjunge. Der rothaarige Youkai ohne Youki hat sie mitgenommen.“ Unwillkürlich zuckte der Loftsdreki zusammen. „Blævar…?“ Ein Unbekannter hatte Blævar… entführt…? Augenblicklich zwang sich der Drachenfürst auf die Beine, ungeachtet dem Schwindel, der in ihm aufwallte; die Panik in seinem Innersten überschattete seine Vernunft restlos. Welcher Feigling vergriff sich an einem wehrlosen Kind? Männlich, ausgewachsen, rothaarig, ohne Youki… Weder Neisti noch Bundori, die beiden konnte er gewiss ausschließen, die Beschreibung passte schlicht und einfach nicht auf sie, die Eigenmacht, die sie ausstrahlten zu auffällig. Demgemäß bestach eine der alternativen Schlussfolgerungen förmlich durch ihre Plausibilität: Bundori und Neisti hatten von Beginn an einen Komplizen gehabt, der mit ihnen angekommen war und sich danach von ihnen getrennt hatte. Perfekte Taktik… Während sie ihn und den Hundegeneral in eine halbherzige Konfrontation verstrickt hatten, war der Dritte im Bunde hinterrücks auf seinen persönlichen Beutefang gegangen… „Die Eldursdrekar haben Blævar in ihrer Gewalt…?“ Fassungslos starrte Súnnanvindur ins Nichts. Für einen Augenblick fürchtete der Inu no Taishou, der Drache würde an Ort und Stelle kollabieren oder einen Nervenzusammenbruch erleiden, und infolgedessen atmete er durchaus erleichtert auf, als eben dieser die Handfläche gegen seine Stirn presste und sich besann. „Bleib ruhig, Kaze. Sie wollen, dass du die Nerven verlierst.“ Nein, das war bloß die halbe Wahrheit. Sie wollten ihn erpressen - mit dem leiblichen und seelischen Wohl, mit dem Leben seines Sohnes. Soviel grausame Hinterlist hatte er den Feuerdrachen genau genommen nicht zugetraut. Bundoris Skrupellosigkeit hatte er nie bestritten. „Ich hole sie zurück.“ Die Nekomata spitzte die Ohren. Schemenhaft jagte eine bläuliche Energiekugel an ihnen vorbei, die Konturen verschwommen und verzerrt, bis sich gegen die Sonne ein definierter Schattenriss abbildete; ein schlanker Leib, das charakteristische doppelte Schwingenpaar… „Nicht, Fleygur!“ ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 50: >“Während das Meer sehnsüchtig rauscht, intensiviert sich die Hitze des Feuers unaufhaltsam. Was sich unter der Oberfläche der schwelenden Glut verbirgt, kann einzig der in Erfahrung bringen, der in ihre Fänge geraten ist. Doch die Motive dahinter verbleiben rätselhaft…“ *» Unki Kapitel 50: *~Unki~* -------------------- "Durch Bewegung überwindet man Kälte. Durch Stillhalten überwindet man Hitze. Der Weise vermag es, durch seine Reinheit und Ruhe alle Dinge der Welt ins Gleichmaß zu bringen." - Laotse Kapitel 50 – Unki -Hitze- *Wie lautet unser letzter Wunsch, bevor uns das Inferno verschlingt? Bitten wir schamlos um unser nichtiges Leben? Akzeptieren wir stumm das, was wir Schicksal nennen, und beugen uns? Oder flehen und betteln wir um das Fortbestehen unserer Liebsten, ungeachtet unseres Stolzes? Opfern wir unsere Existenz für die, die uns lieb und teuer sind? Und wenn wir es tun, verbergen wir dann hinter unserer selbstlosen Fassade wirklich keinerlei egoistische Hintergedanken?* ּ›~ • ~‹ּ Sanft spielte der Wind mit dem marineblauen Haar des Drachen in humaner Gestalt, verfing sich in den langen Strähnen wie die schüchternen Finger einer Geliebten, die am Morgen heimlich und von Neugier beflügelt deren weiche, seidene Beschaffenheit zu ergründen versucht. Das raue Gras der Hochebene wog in der salzigen Brise, und das Kreischen von Möwen erfüllte die Luft, stetig untermalt vom allgegenwärtigen Rauschen des Meeres, dem Brechen der Wellen an den Steilklippen. Seit einigen Tagen wartete er hier, regungslos, und übte sich in der Geduld, die er für gewöhnlich nicht besaß. Er hatte keine Wahl. Abermals ließ er seinen Blick schweifen, nahm die Kulisse von Landschaftimpressionen und Geräuschen bewusst in sich auf, prägte sich die kleinsten Details ein. Sinnlos, das wusste er natürlich, aber eine ihm durchaus willkommene Abwechslung neben der Eintönigkeit seines einsamen Verharrens. Da er sich jedoch beabsichtigt in diese Situation gebracht, sie gar eigens gewählt hatte, verbat er sich jedwede mentale Beschwerde. Ich vermisse dich… Im Grunde sollte er sich für seine Präsenz an diesem Ort schämen, für die tiefgehenden Empfindungen, die sein Verhalten nachhaltig beeinflussten – ein irrationaler Charakterzug, der seinem Sein als Drache spottete und das gefährliche Potential barg, ihn letztendlich aus seinem Innersten heraus zu zerstören. Dennoch lächelte er, unverhohlen. Konnte etwas, das ihn glücklich machte, ihn mit Wärme erfüllte, vollkommen falsch sein? „Das Risiko ist es mir wert…“ Denn der schwärende Schmerz in seiner Brust rührte definitiv nicht von einer berstenden Seele, sondern von Sehnsucht her – ein Gefühl, das über die Jahrhunderte, in denen er sein Gesicht nicht einmal hatte sehen können, rapide an Intensität gewonnen, ausdauernd und immer stärker seinen Verstand infiltriert hatte. Erzählt hatte er davon niemandem, nicht einmal Shiosai; anfangs aufgrund von Scham, und dem Wunsch, die penetranten Gedanken zu verdrängen, später aus der Überzeugung heraus, seine Privatsphäre somit zu schützen. Mittlerweile interessierte ihn das weniger. Zirruswolken wanderten träge über das ansonsten eisblaue Firmament, und die helle Scheibe der Sonne, die ihren Zenit dieses Tages bereits überschritten hatte, sandte ihre Strahlen glitzernd auf die ruhige Oberfläche des Ozeans, der sich bis zum Horizont dehnte. Ruhe und Einklang verbanden ihn mit den gigantischen Wassermassen, vereinigten sich in seinem Geiste zu einem identischen Bild eines einzigen Organismus, der atmete und lebte, das zweite Element. Dann streifte eine eisige Böe seine Wangen und Hände, drang mühelos bis unter den Stoff seiner Kleidung, und seiner Unempfindlichkeit Temperaturdifferenzen gegenüber zum Trotz, spürte er die Kälte wie Nadelstiche unter der Haut. Der Geruch von Kamille und wilden Bergkräutern stieg ihm in die Nase. Eigenartig… Verunsichert blickte er gen Westen, dem Inland des Kontinents entgegen, wo sich bis in weite Ferne zerklüftete Gebirgskämme und Felszüge erstreckten, ab und an von grünen Vegetationstupfen abgelöst, brillant schimmernden Formationen fragiler Flora inmitten schieferfarbener Kanten und Ecken. Beiläufig strichen seine Fingerspitzen über das pinke, rechtsläufige Muschelhorn, das er an der Hüfte trug, während meeresgrüne Iriden aufmerksam den Himmel studierten, erwartungsvoll nach der geringsten Bewegung suchend. Anspannung bemächtigte sich seiner Haltung – er spürte das Youki eines anderen Drachen. Kurzum festigte sich sein Griff, und er befreite die Muschel, ein uraltes Kriegsrelikt, aus der ledernen Fixierung, hob sie an die Lippen. Dumpf, aber markant und unverkennbar schallte der Klang des einstmaligen Signalhornes über die Ausläufer und Gipfel des Massives, vom wirren Raunen der Echostimmen verzerrt. Die Weißkopfmöwen verstummten, und nach einem vollkommenen Moment der Stille durchbrach das silbrige Schlagen unzähliger Schwingen das rhythmische Meeresrauschen; weiße Silhouetten lösten sich aus dem Panorama eines mäßig bewölkten Himmels, während die sonoren Rufe von Raben die kalte Luft färbten. Und ehe der Wasserdrachen den feinen Hauch des ihm wohlbekannten Youki erfasste, klärten seine Gesichtszüge auf, und eine vorfreudige Woge der Euphorie wühlte sein normalerweise überaus diszipliniertes Wesen auf. Das Meer hingegen schwieg dazu. Er hat nicht gelogen… Schließlich ertönte ein glockenheller Schrei, der nur von einem Luftdrachen stammen konnte, und ein schlanker, bläulich geschuppter Leib schob sich zwischen der Wolkendecke hervor. Wie gebannt starrte er empor. Das helle Sonnenlicht skizzierte das verzweigte Adernetzwerk in den Drachenschwingen als rötliche Linien gegen einen pergamentfarbenen Untergrund. Mit atemberaubender Geschwindigkeit näherte sich das Ungetüm der Küste, verringerte nach und nach seine Flughöhe. Doch je kontrastierter seine Sicht wurde, desto herber erfuhr seine muntere Erregung die dämpfende Wirkung der Erkenntnis; auf dem Rücken des Loftsdreki in seinem Hennyou saßen zwei Personen, und eine von ihnen war definitiv weiblich… Elegant segelte das große Reittier gen Boden, setzte sicher auf dem Plateau auf. „Kyouran…“ Dieser ahnte, befürchtete eine baldige Bestätigung seiner schlimmsten Prognose, seiner innigsten Furcht… ּ›~ • ~‹ּ Fahle Schatten flackerten geisterhaft über die Wände des unterirdischen Ganges, als er unsicheren Schrittes an den fluoreszierenden Kristallen, die mit dem spärlichen Licht, das sie aussandten, kaum zur Beleuchtung taugten, vorbei streifte. Dunkel erinnerte er sich an das entsetzte Gesicht des jungen Feuerdrachen, der ihm und dem Rest der Vorhut, in panische Hysterie verfallen, zu erklären versucht hatte, warum man im Inneren des Vulkans keinesfalls mit Feuer hantieren durfte, der Vielzahl an hochentzündlichen Gasen wegen. Ingenieur hatte er sich genannt – ein neumodischer Titel, mit dem er so gar nichts zu assoziieren vermochte – und darauf bestanden, ihre Arbeit penibel zu prüfen. Er selbst hatte für sich rasch den Schluss gefasst, dass der Kleine ein übereifriger Tunichtgut und wohl ein Menschenfreund war, dieses schier unbegrenzte Wissen über synthetische Sprengpulver und explosive Mixturen sowie seine vermaledeite Redseligkeit hatten ihn alsbald überzeugt. Zum Soldaten hätte es für den wirren Burschen niemals gereicht. Geistesabwesend fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund, verfluchte ächzend den bitteren Geschmack, der ihm noch immer penetrant an Zunge und Gaumen haftete. Nein, er war nicht bei Eldsvoði oder Aska gewesen, um den Missionsbericht zu erstatten; seit ihrer Ankunft auf der Vulkankette hatte er seine Zeit damit zugebracht, am Fuße des Felsplateaus zu kauern und sich zu übergeben. Wie lange, das konnte er nicht sagen, aber er bereute es ungemein, in seiner Not Salzwasser getrunken zu haben, denn sein Magen hatte es ihm übel vergolten. Dass der Flug über den Ozean im Endeffekt eine solche Strapaze für seinen Körper darstellen würde, hatte er nicht vermutet. Nun konnte er nachempfinden, wie es einem seekranken Kameraden vor Jahren auf der turbulenten Schiffsfahrt über das Schwarze Meer ergangen war. Ihn hatten das raue Wetter und der Wellengang damals nicht tangiert. Spötteleien rächen sich also doch… Unstet durchquerte er eine der großen Gewölbehallen, die Begrüßung einiger Genossen ebenso ignorierend wie das höhnische Gelächter anderer aus den hinteren Reihen. Ob dies ihm galt, oder den beiden halbstarken Idioten, die sich in ihrem Hennyou lärmend um einen Fisch stritten, interessierte ihn dabei wenig. Rangeleien unter den niederen der Loftsdrekar standen auf der Tagesordnung, und Verletzte waren keine Seltenheit. Man begegnete dem zumeist mit Gleichgültigkeit und schätzte sich glücklich, nicht involviert zu sein… Dennoch bezweifelte er, dass die schwarzen Flecken auf dem Boden von ihnen stammten, die Spur führte in die tiefer gelegenen Quartiere. Der metallische Geruch von Blut hing schwer in der warmen Luft, und wahrscheinlich versetzte das die ungeduldigen Gemüter in Aufruhr. Seufzend bog er um die nächste Ecke. Dort, im Kreuzgang zwischen dem schmalen Verbindungsschacht und einer abgegrenzten Kammer, drang ihm alsbald eine wohlbekannte Stimme an die Ohren, die in beachtlicher Lautstärke Zeter und Mordio schrie. Bundori… Mehr tot als lebendig, und dennoch zehrte die Präsenz dieses Bastardes unablässig an seinen Nerven. Wenn sich in der Nacht niemand erbarmte und dem Sonnenweber den Gnadenstoß gewährte, würde er persönlich dafür sorgen, dass der Lindwurm den nächsten Tag nicht erlebte. Der verquere Drachenfürst hatte wie ein Schwein geblutet als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, und Neistis Urteil nach unerbittlich mit unseligen Flüchen um sich geworfen. Insgeheim hoffte er, dass Bundori krepierte. Grummelnd schüttelte er den Kopf und stolperte voran, vermied halbherzig die besudelten Areale des Untergrunds. Die Erschöpfung lastete bleiern auf seinen Gliedern, er fühlte sich benommen und musste sich zeitweise an den Felswänden abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren; es dauerte, und er verlief sich mehrmals in dem Labyrinth aus querstrebenden Hohlwegen und weitläufigen Gewölberäumen, bis er den eigentlichen Ort seiner Bestimmung erreichte. Das glockenhelle Schimpfen, dass er nach einer Weile des fruchtlosen Herumirrens allzu deutlich vernommen hatte, war ihm auffallend vertraut vorgekommen. Zwischen oberflächlicher Schadenfreude und Anteilnahme schwankend, schlich sich ein gequältes Grinsen auf die Züge des Eldursdrekar, als er durch den Durchgangsbogen in eine der abgeschiedenen Räumlichkeiten spähte. „Verdammt, Neisti, halt endlich still!“ Hrafntinna, eine zierliche, attraktive Person mit eigenwilligem Haarschnitt, ihres Zeichens Heilerin, kniete neben, nein, eher über einem sehr unglücklichen Neisti, der sich in ihrem Griff um seine Handgelenke wand wie ein Aal, sich gegen ihre Behandlung vehement zur Wehr setzte. „Du tust mir weh!“ Mit dem Knie und einem Großteil ihres Gewichtes, fixierte der weibliche Drache den rechten Oberschenkel des Jugendlichen, ihr linkes Schienbein glich die Balance aus, während ihre freie Hand nach der abdominalen Wunde tastete. „Kein Wunder, bei dem Gezappel.“ Neisti bäumte sich keuchend unter ihr auf. „Hrafntinna…“ Der Kleine übertrieb, mit Absicht; er spielte seinen Kredit bei ihr maßlos aus, und sicherte sich auf diese Weise eine Entschädigung. Schmunzelnd lehnte sich der heimliche Beobachter an die angenehm temperierte Höhlenwand, musterte die leichtbekleidete Heilerin, die nachgiebig auf das klägliche Jammern ihres Patienten einging und sich an dessen Seite hockte, lediglich die Handfläche auf seinen Bauch legte. „Ist gut, verstanden. Als ob es meine Schuld wäre, dass ihr zwei Chaoten nicht den Hauch einer Ahnung von Wundversorgung habt… ne, Logi?“ Das vorwurfsvolle Funkeln in ihren Augen blieb ihm nicht verborgen, und seine Stimmung versank im Bodenlosen. „Es tut mir ehrlich leid, aber ich hatte keine Wahl, und bei allem Respekt, als Krieger ist meine medizinische Kompetenz beschränkt… Um jemanden zu töten reicht es.“ Ihm war bewusst, dass er sich auf dünnes Eis wagte. Sie hatte ihn nie sonderlich gemocht, nicht ausschließlich aus Gründen seiner Position und Einstellung, und die Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Es war ihm ein Rätsel, wie Hraunar die Sticheleien und ihr ununterbrochenes Gemecker hatte ertragen können. „Jemanden auseinander zu nehmen ist auch wesentlich einfacher, als ihn nachher wieder zusammen zu flicken. Sprich in meiner Gegenwart nicht so verherrlichend von deinesgleichen.“ Zu seinem Verdruss verdankte er gerade dieser Frau sein Leben. Daher erduldete er ihre Beleidigungen, und hütete sich, den Namen ihres verstorbenen Gatten, der ebenfalls ein vollblütiger, ambitionierter Krieger gewesen war, zu erwähnen. „Die Stärksten überleben. Du hast keine Vorstellung davon, was auf einem Schlachtfeld abläuft; wenn du nicht weißt, wohin mit deiner Wohltätigkeit, leb sie an Bundori aus. Der brüllt sich vor Schmerzen die Seele aus dem Leib.“ Logi vermied ihren Blick, verschränkte abweisend die Arme vor der Brust. „Keine Chance, selbst wenn er eine besäße. Der Sturkopf lässt nicht einmal seine eigenen Leute an sich heran. Solange er noch Kraft zum Schreien hat, mache ich mir da keine Sorgen.“ Ohne ihn eines weiteren Quäntchens ihrer Aufmerksamkeit zu würdigen, kehrte sie ihm den Rücken zu und überhörte gekonnt das unverständliche Murmeln aus Logis Munde. Wie kleine Kinder… „Könntet ihr damit aufhören?“ Um ein versöhnliches Lächeln bemüht – was, nebenbei bemerkt, fürchterlich misslang, und die verschwörerischen Intentionen dahinter nicht im Geringsten verschleierte – beugte sie sich über den schmollenden Jungdrachen; Logis verkappte Entschuldigung vermisste jegliche Überzeugung. „Sei du froh, dass du noch lebst, Neisti. Die Klinge hat nur knapp einen der zentralen Youkipunkte verfehlt. Reines Glück, mein Lieber.“ Eine abstruse Kombination aus Kopfschmerzen und einem dumpfen Hungergefühl in der Magengegend rief mich aus den Untiefen der Bewusstlosigkeit empor, geleitete, langsam aber sicher, meine Sinne zurück in die Wirklichkeit. Diese empfing mich mit unerwarteter Wärme, einer drückenden Schwüle, aus deren hitziger Umarmung es kein Entrinnen gab. Schweiß rann über meine Haut, überall, an meinen Schläfen, meinem Rücken hinab, und alsbald wurde mein Durst zu einem überwältigenden Bedürfnis, das mich die widrigen Umstände zunächst einmal vergessen ließ. Mühevoll hob ich die Lider, fühlte den warmen, pulsierenden Boden unter mir, erfuhr das massive Gewicht der stickigen Luft, die mich niederdrückte; wo in aller Götter Namen befand ich mich? Hatte ich unwissentlich die Gefilde der Unterwelt betreten…? Von leiser Panik befallen kämpfte ich mich schlussendlich mit einigen Schwierigkeiten in eine sitzende Position. „Ah… wo…?“ Orientierungslos und verwirrt blickte ich umher. Der Dämmerschein von blauen Wandkristallen tauchte den großen, offenen Raum in schummeriges Licht – hohe Wände, bestehend aus schwarz geädertem Gestein, umgaben mich, und die Decke verschwand zusammen mit den Konturen des Gewölbeverlaufes in leerer Finsternis. Unwohlsein stieg in mir auf, und ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich mir der zahlreichen Präsenzen in der unmittelbaren Umgebung gewahr wurde, die Schwingungen von Youki und die gedankliche Impression von Flammen und Rauch. Feuerdrachen… Eine schlimme Ahnung beschlich mich, und die Angst begann meinen Verstand zu vernebeln. Wie war ich in die Fänge der Eldursdrekar geraten? Und aus welchem Grund hatten sie mich hierher gebracht? Was war geschehen…? Ich erinnerte mich an den Anblick der Unmengen von Hinezumi und das Dämonenpferd, den Sturz, dann allerdings setzte mein Gedächtnis aus... Ob sich die Umstände in der Residenz des Tennô zum Schlechten gewandt hatten? Waren Flúgar und Kaneko, der Inu no Taishou womöglich…? Nein, nein, diese Überlegung verbannte ich postwendend aus meinem Kopf, ballte unterbewusst die Hände zu Fäusten. Das konnte, das durfte nicht sein. Tränen brannten in meinen Augenwinkeln, doch ich weigerte mich, mir die Blöße zu geben und zu weinen, sträubte mich gegen die Verzweiflung, die mich zu befallen drohte. Noch konnte ich die vermeintliche Ausweglosigkeit meiner Lage nicht gänzlich beurteilen, noch blieb ein Funken Hoffnung bestehen, denn die Unbekannten in meiner mentalen Rechnung verlangten nach Auflösung, bevor ich ein mögliches Resultat zu kalkulieren vermochte. Mit tiefen Atemzügen zwang ich mich zur Ruhe. Doch das Nachdenken erwies sich als erfolglos, ich wusste keinen Ausweg. Was sollte ich jetzt nur tun? Mutlos schloss ich die Augen und zog die Beine an, umfasste meine Knie mit den Armen. Was sollte nun werden…? Starr, von Hilflosigkeit übermannt, verstrich eine unbestimmte Weile, bis mich ein geplagter Laut, ein schwaches Husten zu meiner Rechten aufschreckte. Meine Augen weiteten sich vor Unglauben. Das war… „Blævar…?“ Was…? Was bedeutete das? Perplex starrte ich den Jugendlichen an, blinzelte mehrere Male, doch die Anwesenheit des Luftdrachen entpuppte sich, entgegen meiner Erwartungen, nicht als Traum. Zögerlich streckte ich die Hand nach ihm aus. Blævar reagierte nicht, weder auf Worte noch auf Berührungen; er lag reglos auf der Seite, sein Atem beunruhigend schwer und flach. „Oi, Blævar, kannst du mich hören? Bist du verletzt?“ Sachte, mit zittrigen Fingern fasste ich ihn ein wenig beherzter an der Schulter und drehte ihn auf den Rücken, sein leichter, nahezu fragiler Körperbau auffallend, wie zerbrechliches Porzellan, strich ihm das feuchte Haar aus dem bleichen Gesicht. „Blævar…“ Die verzerrten Züge des Jungdrachen beschrieben bildhaft, wie bedenklich seine Verfassung wahrhaft sein musste. Hilflos wohnte ich seinem leidvollen Ringen nach genügend Sauerstoff bei, heimgesucht von Schuldgefühlen und der Gewissheit, mit meinem Nichtstun, meiner Passivität womöglich meinen Beitrag zu der unweigerlichen Konsequenz zu leisten… Was quälte ihn so sehr? Keine Blutergüsse, er hatte keine erkennbaren äußeren oder ertastbaren Verletzungen – wie sollte ich ihm helfen, wenn ich nicht feststellen konnte, woran er litt? „…“ Seine Lippen bewegten sich, unmerklich, formten lautlose Worte, deren Klang und Zusammenhang mir alsgleich wieder entglitten. „Was hast du gesagt?“ Er öffnete die Augen, die Iriden verklärt und unfokussiert, starrte an mir vorbei an die Höhlendecke, oder ins Nichts. Ich vermochte es nicht zu interpretieren. „Oi, Miko-sama.“ Erschöpft - von der anhaltenden Wärme, dem Stress der ungeklärten Situation, und Blævars Atemnot - hob ich den Blick. Aus der dumpfen Schwärze löste sich eine menschliche Silhouette, eingehüllt vom schwachen Schein eines Leuchtkristalls und dem steten Hall gemächlicher Schritte. Blævar schlief, einigermaßen ruhig. Nach einigem Zaudern hatte ich seinen Kopf auf meinem Schoß gebettet, damit zumindest ein Teil seines Leibes nicht schutzlos dem aufgeheizten Untergrund ausgesetzt war. „Miko-sama. Eldsvoði möchte dich jetzt sehen.“ Verständnislos schaute ich den sich nähernden Feuerdrachen an, meine aufkeimende Unsicherheit und Ängstlichkeit verdrängend, und aufgrund von Blævars Befinden unfähig, mich von der Stelle zu rühren. Ansonsten wäre ich vor der Intensität der Aura zurückgewichen. Das Youki des Eldursdreki kursierte in entspannten Wellen, ohne jedwede aggressive Tendenzen, doch die Macht, die gewaltige Feuerenergie, die dieser Drache in sich vereinte, schimmerte deutlich, und warnend, durch jene friedfertige Fassade hindurch. „W-was wollt… wieso? Und wer, was…?“ Stammelnd brach ich ab, verstummte, und die Beschämung färbte meine Wangen rot. „Du brauchst dich nicht zu fürchten.“ Er stand nunmehr zwei Schrittlängen von mir entfernt, und in diesem Moment wurde ich mir seiner Jugend gewahr, dem noch nicht gefestigten Schwingen seiner ausgeprägt knabenhaften Stimme. „Ich heiße Neisti, und ich möchte, dass du mit mir kommst. Bitte.“ Machte er tatsächlich gute Miene zu bösem Spiel? Oder hatte ich mich tatsächlich geirrt? Entgegen der Einschätzung meiner Wahrnehmung bekundete mir meine Rationalität konträres; die Milde seiner Worte und Gestik, die Nachgiebigkeit in den wachen Augen, und der weiche, undefinierte Ausdruck eines unbedarften Kindes… Mein beabsichtigter Protest erwies sich als unbegründet. Hinter seinem Antlitz lauerte keinerlei Hinterlist, dafür Aufrichtigkeit und die für Drachen offenbar charakteristische Reinheit der Seele. Jedoch empfindsamer, als ich die von Flúgar erlebt hatte. „Was ist mit Blævar…? Ich kann ihn nicht…“ Der Junge bot mir die rechte Handfläche dar. „Niemand wird ihm etwas tun, das verspreche ich dir.“ Zagend willigte ich ein und nickte, durchaus nicht von allen Zweifeln befreit, die durch meinen Verstand geisterten. Welche Wahl blieb mir letztendlich? Ich wollte keine gewalttätige Gegenwirkung provozieren, und so manövrierte ich den Loftsdreki vorsichtig von meinen Beinen und richtete mich auf, ließ mich widerstandslos von dem Jugendlichen aus dem Raum eskortieren. Die Decke der Gewölbekammer war niedriger als ich gedacht hatte, und die provisorische Gefängniszelle mündete in einem engen Gängegeflecht, das mich unvermeidlich an meine Stunden in Askas unterirdischem Verlies erinnerte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ob sie das hier mitveranlasst hatte? Immerhin stammte sie ebenfalls aus dem Clan der Eldursdrekar… Gesenkten Hauptes folgte ich dem Feuerdrachen, bemerkte lediglich am Rande, dass uns alsbald einer seiner Artgenossen begleitete. Und da dieser ein Schwert am Waffengurt trug, musste ich nicht lange grübeln, welcher Profession er sich wohl verschrieben hatte. Ein Wächter, Fluchtmöglichkeiten ausgeschlossen – besonders unter den hiesigen Konditionen. Ohnehin wusste ich nicht annähernd, wo ich mich befand, wohin hätte ich also fliehen sollen? Je weiter wir gingen, desto heißer wurde es, und ein beständiges Rumoren erschütterte den gemusterten Fels. Das Geräusch kam mir vertraut vor… Während ich in nebulöse Reflexionen versank, erreichten wir eine halbmondförmige Halle und bahnten uns einen Weg ins Zentrum, wo sich ein flaches Podest erhob. Exotische Aromen umströmten meine Nase, ein beständiges gedämpftes Murmeln drang an meine Ohren, die unerträgliche Gluthitze resultierte allmählich in vagem Schwindel. Dunstschwaden beeinträchtigten meine Sicht, schemenhaft rauschten Farben und Formen, Gestalten an mir vorüber. Ich fühlte mich benommen. Bronzene Leiber räkelten sich auf dem nackten Gestein, unanständig, lasziv, glänzende, schweißbedeckte Haut inmitten von lustvollem Stöhnen, und obszönen Praktiken, die mir die Schamesröte abermals ins Gesicht trieben. Rasch schlug ich die Augenlider nieder und fixierte angestrengt meine ineinander verkrampften Hände. Mit bunten Süßigkeiten gefüllte Schälchen säumten unseren imaginären Pfad, ab und an ein edles, aber wesentlich zu durchsichtiges Stück Stoff, und meinem Unwohlsein zum Trotz schwankte ich vorwärts, dem Ursprung des Irrsinns, der sich um mich zu entfalten schien wie eine Blüte in der Sonne, entgegen. Dass mich der jugendliche Feuerdrache indessen stützte, und ich ihn willig als Führung anerkannt hatte, wurde mir erst begreiflich, als er seinen Griff lockerte und ich beinahe stürzte. Verwirrt schaute ich auf. Auf der sanften Erhöhung, um die sich die ekstatischen Feuerdrachen in ihrem hedonistischen Treiben drängten, saß einer von ihnen, ein männlicher Drache mit tiefrotem Haar und unleserlichen Iriden. Er musterte mich, schier desinteressiert, ehe er in erstaunlich zärtlicher Manier mit den Fingerkuppen über meine Wangenknochen und meine Stirn fuhr. Schwielen von der Tsuka eines Schwertes… „Was…?“ Ich wehrte mich nicht, gestattete ihm, mich an sich zu ziehen, seine Präsenz lullte meinen Geist ein, verscheuchte jeglichen negativen Gedanken aus meinem Bewusstsein. Meine Furcht, meine Ungemach, alle meine Sorgen verblassten im Angesicht dessen, was er mir offenbarte, ehrlich und ohne Zurückhaltung; eine überwältigende Erfahrung wurde mir zuteil, nicht zu benennen, ähnlich der, die mir Flúgar ermöglicht hatte. Bloß entspannter, und gleichgültiger. Eldsvoði… Verschwommene Bilder der Vergangenheit, Krieg und Tod, in einem fremden Land, Feuer, der Kampf ums Überleben zwischen Brutalität und dem Rausch des Vergnügens, Ungerechtigkeit, familiäre Schwierigkeiten, insgesamt eine Flut von Eindrücken und Empfindungen, die nicht die meinen waren. „Midoriko.“ Eh? Er kannte meinen Namen? Konnte er etwa ebenso viel von meinen Erinnerungen erhaschen, wie ich von den seinen…? Wahrscheinlich. Abwesend lauschte ich dem gleichmäßigen Herzschlag, eingenommen von den vergangenen Wahrnehmungen aus dem Leben eines anderen Geschöpfes, vertrauensvoll an der Brust des Kriegers lehnend. Er roch nach Rauch und Alkohol, nach Opium. Der Jugendliche kniete derweil vor mir, zu meinen Füßen, sein Kinn ruhte auf meinen Oberschenkeln, neben ihm der bewaffnete Wächter, ein Eldursdreki mit kohlschwarzen Augen und der einzige, der sittsam, mit mehr als einem ledernen Waffenrock bekleidet war, ein düsterer Geselle, dessen Dämonenenergie nicht im Einklang floss, verschlossen, abgeneigt. Dennoch übermannte mich der Rausch der Masse, die sich in der Glorie ihres Oberhauptes sonnte, und er riss mich mit sich, unbarmherzig, in die Tiefen einer falschen Euphorie… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 51: >“Wenn die Umstände außer Kontrolle geraten, das Chaos über einen hereinbricht und der Himmel einem buchstäblich auf den Kopf zu fallen beginnt, geht es plötzlich nur noch um Leben oder Tod. Jeder kämpft auf seine Weise dagegen an, ob erfolgreich oder nicht…“ *» Stigmögnun Kapitel 51: *~Stigmögnun~* -------------------------- "Vertrauen ist eine Stille im Chaos." - Andrea Gerlach Kapitel 51 – Stigmögnun -Eskalation- *Warum genau gerät die Konstellation einer Situation letztendlich aus den Fugen? Welcher Umstand zählt so viel, dass der Funken von Unordnung zu totalem Chaos abrupt überspringt? Hängt dies tatsächlich von einer einzigen Handlung ab? Von einer bestimmten Reaktion, die einer der Beteiligten zeigt? Oder liegt der Anlass für die Eskalation bereits in der Idee an sich, die eine Konfrontation als unausweichlich deklariert?* ּ›~ • ~‹ּ „Eldsvoði…? Oi, Eldsvoði.“ Ungeduldig stieß der Jugendlich dem schlafenden Drachensouverän, der inzwischen halbwegs auf ihm lag, seinen Ellbogen einen Deut harscher zwischen die Rippen. „Eldsvoði!“ Leise fluchend wälzte er sich auf den Rücken, befreite sich mit einigem Kraftaufwand von dem Fremdgewicht, das Eldsvoði ihm – wohl unterbewusst – aufgebürdet hatte. „Bróðir? Wach auf.“ Noch schlaftrunken rollte er sich wieder zusammen, piekte seinem älteren Bruder halbherzig in die Flanke. „Lasst ihn, leiðtogarsbróðir.“ Am Ende des Felsabsatzes hockte Logi, zerknirscht und sichtlich übernächtigt, und bedachte den Jungen mit einem wohlmeinenden Blick. „Nenn mich Neisti. Ich mag diese hochtrabende Anrede nicht.“ Logi nickte und richtete sich auf, platzierte die Unterarme auf der Kante des Podestes. „Neisti. Lass ihn seinen Suff ausschlafen.“ Daraufhin presste der Jungdrache die Lippen aufeinander, die kindlichen Züge von tiefgründigster Besorgnis überschattet, und der Soldat befürchtete, dass der Kleine gleich in Tränen ausbrechen würde. „Logi… er hat so viel… so viel davon genommen…“ Er zitterte vor unterdrückten Emotionen, die schlanken Hände zu Fäusten geballt, die Knöchel blutleer. „Ich weiß. Trotzdem ist das nicht das erste Mal, und solche wie er stecken eine Überdosis locker weg.“ Dass er aus Erfahrung wusste, dass sich mindestens ebenso viele so eigenhändig zugrunde richteten und damit den Gnadenstoß gaben, musste er dem jungen Feuerdrachen nicht unbedingt verraten. „Aber-“ „Wenn du ihm etwas Gutes tun möchtest, sieh zu, dass er ordentlich isst sobald er zu sich kommt.“ Ihm fehlte der Sinn für aufmunternde Worte und Vertröstungen, und er fühlte sich ausnehmend unwohl in seiner derzeitigen Position, überfordert, und von sich selbst enttäuscht, da er Neistis Kummer nicht zu lindern vermochte. Seine kläglichen Versuche, ein wenig Trost zu spenden, erzielten keinen positiven Effekt. „Er bringt sich um…“ Logi schwieg. Was sollte er darauf erwidern? Es stimmte, bedauerlicherweise, Eldsvoði schaufelte sich sein eigenes Grab, als körperliches, ausgemergeltes Wrack, als nicht ernstzunehmendes Gegenüber für seine Rivalen und Feinde… Missmutig blickte er hinüber zum Eingangsbereich der Gewölbehalle, wo sich seit geraumer Zeit die Sonnenweberdrachen sammelten, tuschelten, und sogar Bundori hatte die Anstrengung auf sich genommen, sein Quartier zu verlassen, um das ausschweifende Szenario zu beobachten. Die sonderbare, Harmonie versprechende Ausstrahlung der menschlichen Priesterin musste sie angelockt haben. Ihm war bewusst, dass er gegen den Drachenfürsten aus dem Osten im Ernstfall nicht bestehen würde, allerdings hinderte dessen angeschlagene Verfassung ihn daran, nach dem ihm immanenten, verkappten Belieben zu agieren. Zum Glück. Dementsprechend belief es sich auf unterschwelligen Drohungen und feindseligen Blickduellen. ּ›~ • ~‹ּ Midoriko… Jemand rief nach mir. Seine Stimme war zu leise, das Wispern unverständlich und verloren in der Schwärze, die mich umgab. Ich kannte das Gefühl, das die kaum vernehmlichen Worte begleitete, und als ein schwacher, mir wohlbekannter Impuls meinen Geist streifte, erwachte ich blitzartig, schlug die Augen auf. Verwirrt blinzelnd sah ich mich um; ich befand mich noch immer im Zentrum der großen Halle, auf dem Podest, und neben mir lag Eldsvoði und schlief, wie auch die Mehrheit der anderen Drachen, die mit dem harten Felsboden hatten vorlieb nehmen müssen, nicht wenige mittlerweile in ihrem Hennyou. Langsam setzte ich mich auf, ordnete betreten meine verrutschten Kleidungsstücke, und fasste gedanklich den Schluss, dass Orgien unter Menschen nicht sonderlich von dieser abwichen. Oder zumindest glaubte ich das. Auf Erfahrungen aus eben dem Bereich konnte ich getrost verzichten. Ärgerlich rieb ich über meine geröteten Wangen, schalt mich für meine Unfähigkeit, dem Sujet mit angemessener Sachlichkeit zu begegnen. Midoriko… Dann spürte ich es wieder, jenes eigenartige Flüstern in meinem Unterbewusstsein, das mich beim Namen nannte, mich mit seinem Ruf zu erreichen versuchte, und eine enge Vertrautheit haftete dem Gefühl an, das sich in meinem Bauch ausbreitete. Eldsvoði regte sich nicht, und so beschloss ich kurzerhand, dem nachzugehen. Midoriko… Eine Seele, die um Hilfe bat, meinen Beistand erflehte… „Keine Sorge. Ich komme…“ Eilig strich ich mein Haar zurück und schlüpfte in meine Sandalen, verließ auf leisen Sohlen die Gewölbehalle und wagte mich in die verworrene Gängelandschaft hinaus. Ich folgte meiner Intuition, die mich zuverlässig, immer tiefer und tiefer unter die Erde leitete, bis hin zu einer dunklen, unbewachten Seitenkammer. Nicht ein einzelner Leuchtkristall war hier angebracht worden, Finsternis, die Hitze und der Schwefelgeruch unerträglich, sowie die schale, dumpfe Höhlenluft. Zögerlich trat ich näher, führte meine rechte Hand an der warmen Wand entlang, und hielt inne, als sie in eine Nische mündete und sich zu ihrer Rechten öffnete. „Midoriko…“ Diese Stimmlage, dieses Youki… Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag. Tränen der Freude stiegen mir in die Augen, mein Herz zog sich schmerzhaft und erquickt zugleich zusammen, und ich erinnerte mich – wie hatte ich das verdrängen, wie hätte ich ihn nur vergessen können? „Skuggi!“ Vorsichtig tastete ich mich durch die Düsternis, meine Schritte beflügelt von Ungeduld und wachsender Heiterkeit, doch erst, als meine Handflächen schließlich flach auf der geschuppten Flanke des Schattendrachen ruhten, begriff ich die Situation. Deswegen hatte er sich nach meiner Anwesenheit gesehnt. Er… Ernüchtert senkte ich den Kopf. Die Betrübung, die sich wie flüssiges Blei über mich ergoss, einem plötzlichen Regengschauer gleich, erstickte die Keimlinge der Glückseligkeit. Skuggi atmete schwer, und die letzten Überbleibsel seines Youki verflüchtigten sich in unregelmäßigen Zirkulationsbahnen, konsumiert von der aggressiven Atmosphäre der Feuerenergie, die diesen Ort beherrschte. „…“ Ich brachte keinen Laut über meine Lippen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich konnte ihm nicht mehr helfen, und die Beklemmung, die mein Gemüt beschwerte, schnürte mir die Brust zusammen; Skuggi starb. „Es ist schön, dich noch einmal wieder zu sehen, Midoriko.“ Den Kummer, der mich zu überwältigen drohte, hinunter schluckend, bemühte ich mich um eine gefasste Haltung. Es war nicht gerecht, einen Sterbenden in seinen letzten Momenten mit Nichtigkeiten des Diesseits zu belasten, schon aus dem Grund heraus, kein unnötiges Bedauern in ihm zu schüren. Im schlimmsten Falle resultierte daraus eine bösartige Abart eines Rachegeistes… „Wieso…? Was machst du hier…?“ Mein schwankender Unterton verriet meine innere Aufwühlung. „Aska hat mich durchschaut… dass ich sie all die Jahre ausspioniert habe, im Dienste der Jörðardrekar. Mir war bewusst, auf was ich mich einließ. Ich mochte sie, ehrlich… he, und trotzdem war ich zu unvorsichtig.“ Aska hatte ihm das angetan? Ein Spion? Dennoch bereute er es nicht, und die Tragweite seiner Aussage wurde mir erst später bewusst, ich verstand zunächst nicht, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Insignifikant, im Anbetracht der Umstände. „Ich bin sehr froh, dass ich noch einmal mit dir sprechen kann… Midoriko, hör mir zu: Du bist etwas Besonderes. Du magst zwar ein einfacher Mensch sein, aber du besitzt, und da bin ich mir inzwischen sicher, eine alte Seele, Drachenseele… verstehst du? Darum stehst du uns näher als deinesgleichen, deine Seele befindet sich im vollkommenen Gleichgewicht mit der weltlichen Ordnung und den Elementen, du bist einzigartig… daher rührt deine Reinheit, die du auf andere zu übertragen vermagst. Es ist schwierig zu erklären, wie alles miteinander verquickt ist und einen Sinn in sich ergibt… Aber er hat es dir gezeigt, nicht wahr? Der Luftdrache. Flúgar. Ich kann fühlen, dass du die Wahrheit kennst…“ „Hübsch, wirklich, herzzerreißend. Ich unterbreche die geistreiche Konversation ungern, allerdings strapaziert dieses gefühlsduselige Geschwätz meine Nerven. Ich kann es nicht mehr hören, verdammt! Tu der Welt einen Gefallen und verreck endlich, du Bastard.“ Midoriko zuckte unweigerlich zusammen, und jedweder Muskel in ihrem Körper versteifte sich; die sonore Stimme des Drachenfürsten jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken, und sie konnte einen entsetzten Aufschrei nicht zurückhalten, als eine gewaltige Welle des maliziösen Youki den verbliebenen Funken Leben in Skuggis Leib auslöschte und sie zu Boden gehen ließ. Furchtsam rappelte sich die Priesterin wieder auf, wich vor der mächtigen Aura zurück, den unheilvollen Blick aus karmesinroten Augen meidend. „Wieso? Wieso habt Ihr ihn…?“ Sie zitterte, ihre Stimme überschlug sich unstet. „Er wäre doch ohnehin…“ Was bezweckte er damit? Was wollte er von ihr…? „Schweig, impertinentes Menschenweib! Überschätze deinen Wert nicht. Solange niemand fragt, hältst du gefälligst den Mund.“ Das gutturale Grollen, das sich daraufhin seiner Kehle entrang, wandelte sich alsbald in ein humorloses Lachen, morbide, verstärkt durch den Hall zwischen den hohen Felswänden, und durchtränkt von solcher Bosheit, dass es ihr durch Mark und Bein drang. Gemächlich schritt er auf sie zu, ließ provokativ seine Fingerknöchel knacken. Letztendlich übermannte sie die Panik, sie stolperte blindlings rückwärts, bis sie mit dem Rücken an das warme Gestein stieß, in die Ecke gedrängt und ohne Aussicht auf eine Möglichkeit zur Flucht. „Nicht! Kommt nicht näher, ich warne dich!“ Abwehrend hob sie die Hände und schloss die Augen, ihre verbalen Verlautbarungen nunmehr ein hysterischer Schrei nach der nicht existierenden Gerechtigkeit der Welt und der fruchtlosen Androhung einer Läuterung, woraufhin der Drachensouverän verstimmt die Miene verzog und sich spontan dazu entschloss, dem ohrenbetäubenden Lärm aktiv entgegenzuwirken und ein rasches Ende zu bereiten. Dazu kam er jedoch nicht. Bevor er sich der Miko auch nur auf mehr als vier oder fünf Schrittlängen nähern konnte, erfasste ihn eine Woge reinster Energie, die auf seiner Haut brannte wie Höllenflamme und an seinem Bewusstsein zerrte und riss wie ein ausgehungerter Wolf an einem Kadaver. Es schien sein Innerstes hinaustreiben zu wollen, er brüllte vor Schmerz und Verwirrung, und entwand sich unter höchsten Kraftaufwendungen dem schmerzlichen Einfluss, der, wie er erbost feststellen musste, von der menschlichen Frau ausströmte. Schnaubend hielt er sich auf Distanz, die Hände zu Fäusten geballt und fluchte lauthals auf sie, schleuderte ihr Youkiattacken entgegen, die sich allesamt in dem läuternden Bannkreis auflösten. Der Sonnenweberdrache schäumte vor Wut, und knurrte verdrossen, den noch immer nachteilig beeinträchtigten Zustand seines Leibes für diese Blamage verantwortend. Im Besitz seiner wahrhaftigen Stärke würde eine elende Sterbliche wie sie nicht den Hauch einer Chance verzeichnen… „Bundori…!“ Mit einem Mal ward das Gewölbe in glutroten Feuerschein getaucht, Eldsvoðis flammenumhüllte, einschüchternde Gestalt passierte den Durchgangsbogen, sein Ausdruck finster und unleserlich. „Rühr sie nicht an! Ich hätte dir falscher Schlange von Anfang an kein Gehör schenken dürfen. Ein intriganter, sadistischer Lügner, den nicht einmal die eigenen Untergebenen kümmern, jemand, der ausschließlich auf seinen persönlichen Machtstatus aus ist, ein Egoist sondergleichen, für den der Zweck alle Mittel heiligt… Du widerst mich an. Ich werde dafür sorgen, dass du kein Unheil mehr stiften können wirst. Ich schicke dich in die Hölle, wo ihr, du und dein verlogenes Pack, hingehört…“ Eldsvoði wandelte auf schmalem Grat zwischen Selbstbeherrschung und dem absoluten Verlust derselben, er bebte förmlich vor Zorn, und das Rumoren des Vulkans schwoll gefährlich an, der Höhlenkomplex erschüttert von Explosionen, die sich in den unteren Magmakammern in immer kleineren Intervallen ereigneten. Der Feuerdrache kontrollierte den Feuerberg, schoss es Midoriko durch den Kopf, er beschleunigte den bevorstehenden Ausbruch! „Ohne mich hätten du und deine lausige Bande von Hedonisten ebenso kläglich versagt wie deine lächerliche Schwester. Du solltest mir dankbar sein! Wenn du dich auf der Stelle entschuldigst, könnte ich vielleicht in Erwägung ziehen, dir zu verzeihen…“ Selbstgefällig grinsend verschränkte Bundori die Arme vor der breiten Brust, sich geflissentlich weigernd, dem Oberhaupt der Eldursdrekar mehr als seinen Rücken zu präsentieren. Eine bewusste Missachtung der Autorität des anderen, eine offene Provokation. Die hitzige Stimmung zwischen den beiden Drachen detonierte buchstäblich, als die Aggression plötzlich aus dem Feuerdrachen heraus brach, und die heftigen Schwingungen seines Youki jegliche Sinneswahrnehmung überreizten. Dann stürzte er sich unverwandt auf den Sonnenweber. ּ›~ • ~‹ּ „Oh man… das ist mit Sicherheit der langweiligste Posten, den man sich vorstellen kann…“ Nachlässig zog der Feuerdrache sein rechtes Bein an, betrachtete ohne wirkliches Interesse das sanfte Wogenspiel des Meeres, die weißen Schaumkronen der Wellen, die sich rauschend an den steilen Felshängen der Vulkankette brachen. „Du sagst es, Bruder, du sagst es.“ Sein Kumpan streckte gähnend alle Viere von sich und legte den Arm über die Augen. „Hier könnte man höchstens vor Langeweile sterben.“ „Was für ein dämlicher Tod.“ Die beiden nickten synchron, einander beipflichtend und ihr regelmäßiges Ritual des Lamentierens beendend. „Allerdings.“ Der Ältere der beiden schnippte einen Kieselstein über den Rand des länglichen Vorsprungs. „Vielleicht wäre ich besser zur Fremdenlegion in den Westen gegangen…“ Dass der Eldursdreki mit dieser Äußerung Recht behalten sollte, würde er sehr bald erfahren. „Uh oh…“ Schläfrig wälzte sich der zweite Feuerdrache auf die Seite, den schockierten Unterton, der die Lautäußerung seines Genossen prägte, geflissentlich ignorierend. „Was…?“ „Siehst du das nicht?“ Brummend sah der müde Drache auf, rieb sich über die Augen. „Was? Wo?“ Sein Kamerad packte ihn alsgleich an der Schulter, deutete mit der rechten Hand hinaus auf den Ozean. „Da drüben, diese Trichterwolke…“ „Huh? Das meinst- oh, ach du…“ Ungläubig starrten die beiden Wachen in die Ferne, die dusteren Wolken, die sich am Horizont über dem Meer auftürmten, und eine riesige, funnelgleiche Luftsäule formten, die nichts Gutes verhieß; wie ein unheilvoller Strudel, ein Mahlstrom, der alles mit verheerender Gewalt an und mit sich riss, förmlich in sich aufsog und erstickte, nichts als Verwüstung hinterließ… In atemberaubender Geschwindigkeit jagte die rabenschwarze Wolkenkonstellation auf ihren Standpunkt zu, und die aufkommenden Böen trugen die Signatur eines feindlich gesinnten Youki. Das Herannahen einer mächtigen Aura kündigte sich hiermit an, und so rasch, wie jener Vorbote eines Tornados heraufgezogen war, konnte er nicht natürlichen Ursprungs sein. Ein Winddämon. Nein, falsch: ein Drache. „Loftsdreki…“ Im nächsten Augenblick fegte ein gigantischer Sturmstoß über das Felsplateau hinweg, in deren Gewalt jedwede Materie verging, erdrückt von der massiven Druckwelle, zermalmt von den Fängen der Luft. Fels zersplitterte, Fleisch und Blut zerschmolzen förmlich in den Youkiverwirbelungen, die den stürmischen Wind kontrollierten. Der abschirmende Bannkreis zersplitterte wie fragiles Glas. Danach umfing eine trügerische Totenstille den Vulkanarchipel. Die See schäumte und brauste, aufgebracht, verkündete zürnend die nächste von Chaos und Wut erfüllte Woge, die das Bollwerk des Feuers alsgleich heimsuchen sollte. Nachlässig grüßte das Wasser den Verbündeten aus alten Tagen, die schlanke Silhouette eines fliegenden Drachen, die sich verschwommen vom Horizont abhob. ּ›~ • ~‹ּ Ihrer Stimme beraubt, überwältigt, und auf abnorme Art und Weise sogar von ihrer Angst verlassen, wohnte die Priesterin dem fiebrigen Schauspiel bei, das sich direkt vor ihren Augen zutrug. Bundori und Eldsvoði schenkten sich nichts. Ein Kampf auf Leben und Tod. Das Hennyou des Sonnenweberdrachen füllte die unterirdische Kammer nahezu vollständig aus, beschränkte seine Bewegungsfreiheit und schützte somit den wesentlich kleineren Eldursdreki vor der verhängnisvollen Gewalt des eisenharten Lindwurmkörpers. Mit Zähnen und Klauen vermochte er nichts gegen diesen auszurichten. Drohend baute er sich vor ihm auf, spreizte die Schwingen. Die Temperaturen innerhalb des Gewölbes stiegen drastisch, und der japanische Fürst stieß einen ohrenzerreißenden Schrei aus, schlug mit dem Schweif nach dem flinken Feuerdrachen, vergebens, erwischte lediglich die Höhlenwand. Staub rieselte infolgedessen von der Decke hinab und faustgroße Gesteinsbrocken lösten sich, feine Risse durchzogen mittlerweile den Felsboden, ein orange glühendes Netzwerk verzehrender Hitze. Im nächsten Moment ruckte Eldsvodðis Leib herum, er vollführte eine Kehrtwende und attackierte Bundori, in der Hoffnung, dessen Kehle, einen vermeintlichen Schwachpunkt, zwischen die tödlichen Kiefer zu bekommen. Doch sein Kontrahent wich beiseite, so gut es bei seinem Körpervolumen ging, unbeirrt, und die Wucht des Sprunges riss die beiden Drachen mit sich. Das Gestein gab unter der schieren Masse dröhnend nach, verlagerte das Gefecht in ein angrenzendes Gewölbe und der Raum versank wieder im Zwielicht. Das obszöne Fluchen des Drachensouveräns aus dem Osten hallte durch die Gänge. Und dann spürte Midoriko es. Dieses Youki… Aus ihrer Erstarrung erwacht, fuhr sie alarmiert zusammen. „Flúgar…“ Er war es, kein Zweifel. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, schien ihr, ehe ihr Verstand reagierte und sie mit beherzten Sätzen die Klüfte in der Felsplatte unter ihren Füßen überwand. „Ich lasse dich nicht hier, Skuggi.“ Kurzerhand sammelte sie die marmorierte Sphäre auf, umschloss sie fest mit der rechten Hand und lief los. Atemlos hastete die junge Miko durch die langen Korridore, die steilen Stollenpfade hinauf, ungeachtet ihrer schmerzenden Muskeln und brennenden Lungen – die Luft war zwischenzeitlich derart stickig, dass sie kaum atmen konnte, die omnipräsente Wärme unerträglich. Giftige Gase drangen aus den Spalten im Fels, verursacht durch die immer stärker werdenden Erschütterungen, und das erste, zähflüssige Magma quoll aus den klaffenden Rissen. Ihre Entschlossenheit hielt sie trotz allem auf den Beinen, trieb sie an, die Gewissheit, dass Flúgar ihr einen Weg zur Flucht bahnte, dass er sich für sie erneut in Gefahr brachte… Die Gelegenheit galt es zu nutzen. Ich werde dich nicht enttäuschen! Die verdutzten Blicke und Gesichter der Feuerdrachen, die sie in ihrer Eile bedenkenlos hinter sich ließ, ignorierte sie, zu eingenommen von ihrem Vorhaben. Midoriko fühlte die Agitation der Drachen, das Aufwallen der Feuerenergien, die sich hier vereinten, und auch, dass etwas in ihrem Inneren dadurch in Bewegung geriet. „Eine alte Seele, Drachenseele…“ Etwa eine Feuerseele…? Freilich, ihre Stärke wuchs, jedoch waren ihre läuternden Fähigkeiten bei Drachen nicht von Nutzen, und wie mochte sich diese Macht auf Flúgar auswirken…? Verbissen mahnte sie sich zur Eile, denn wenn sich jene gebündelten Aggressionen gegen den Loftsdreki entluden, war seine Niederlage, sein Scheitern, mit Sicherheit besiegelt, gleichgültig, wie geschickt er dem begegnete. Die gereizten Rufe der Eldursdrekar verbanden sich in einem missklingenden Kanon miteinander, und die Priesterin wusste, dass ihr die Zeit davon rannte. Blævar. Erschrocken hielt sie inne, keuchend, und sah sich hektisch um, suchte nach einem Anhaltspunkt, um sich zu orientieren. Wie hatte ihr das bloß entfallen können! Um ein Haar hätte sie ihn zurückgelassen, wie gedankenlos von ihr, und sie schämte sich für ihr überstürztes, ihr egoistisches Handeln. Midoriko presste die Lippen aufeinander und kehrte postwendend um, ohne einen weiteren kostbaren Moment zu verschwenden, versuchte vehement sich zu konzentrieren, eine Spur von Blævars Youki zwischen den lodernden Feuerschwingungen zu erhaschen. In ihrer vorfreudigen Aufregung hatte sie sich verirrt, hoffnungslos, stellte sie frustriert fest. „Verdammt!“ Kurz darauf hörte sie leichte Schritte, und diese näherten sich ihr beständig. Die mäßig verborgene Hektik bemerkte sie nicht. Ihr Atem stockte und erschrocken presste sie sich mit dem Rücken flach an die Wand, drängte die Vorzeichen ihrer Panik entschieden zurück. Sie konnte es sich nicht leisten, jetzt den Kopf zu verlieren, sie konnte es nicht verantworten. Schweißperlen rannen ihr von der Stirn über die Schläfen, das Brustbein, ihre Seiten hinab, und eine heimtückische Nervosität vergiftete ihr Verstand und Körper. Ob ihr rasendes Herz ihren Standort preisgeben würde? Die Anspannung zerrüttete ihre Fassung, sie zitterte, und in jenem Augenblick trat eine schattenhafte Silhouette um die Ecke auf den Gang. Totenstille. Reflexartig griff die Priesterin an ihre Hüfte, nach dem Schwert, aber ihre Finger fassten ins Leere. Nun offenbarte sich ihr Leichtsinn, und sie schwor sich, sollte sie überleben, würde sie ihr Quartier fortan nicht mehr unbewaffnet zu verlassen. Nie wieder. Und entgegen ihrer schlimmsten Befürchtungen geschah nichts. Die Gestalt verharrte regungslos, wartete. Auf was? Hatte sie sie entdeckt? Wie? Bereitete sie einen Angriff vor? Ein glimmender Feuerschein umhüllte den unbekannten Feind, die Form schrumpfte in sich zusammen, und Midoriko stutzte. Irgendwie kam ihr dieses Wesen, etwa so groß wie eine Katze, diese Energie, das es abstrahlte, und das sachte Miauen, das diesen Prozess begleitete, sehr bekannt vor… „Kaneko…-chan…“ ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 52: >“Noch ist die Schlacht nicht gewonnen, und die Wut des Windes prallt ungehindert auf den Furor des Feuers. In seiner Raserei kennt er weder Freund noch Feind, und jegliche Absichten bezüglich eines Rettungsversuchs sind vergessen. Wer dem zum Opfer fällt und wer der Gewalt des Wahnsinns besteht, ist reiner Zufall…“ *» Teiryuu Kapitel 52: *~Teiryuu~* ----------------------- "Halte ein, wenn es Zeit ist, innezuhalten! Handle, wenn es Zeit ist zu handeln. Ein Mann erzielt ruhmreiche Fortschritte, wenn er jeweils zur rechten Zeit einhält und handelt." – I Ging, chinesisches Weisheitsbuch Kapitel 52 – Teiryuu -Einhalt- *Wer, oder was, kann uns im Angesicht des Verlustes unseres Selbst wieder zur Besinnung bringen? Ist es aussichtslos, und wir verfallen zwangsläufig dem Wahn, der in unserem Inneren tobt? Zerstören wir uns auf diese Weise unweigerlich selbst? Oder gibt es gar einen Punkt, an dem eine Wiederkehr unmöglich ist? Was geschieht dann mit unserer Seele, wenn der Irrsinn siegt?* ּ›~ • ~‹ּ Rot. Scharlachrot. Rot wie die Schuppen meiner Widersacher, rot wie das Blut, das ich unentwegt vergoss, wie das Erbe meiner Ahnen, das durch meine Adern floss. Die Farbe des Lebens, ursprünglich, seit Ewigkeiten dieselbe Nuance, die Farbe des Todes und der Realität. Rot wie die Vergangenheit. Kein Zögern. Keine Zurückhaltung. Eine Vision der Welt in ihrer grausamsten Glorie, gnadenlos und unbarmherzig, ihr wahres Gesicht, roh, barbarisch, rot – und ich genoss es, hieß die Hitze willkommen, die mich von innen heraus konsumierte, eine weißrote Glut unbekannter Emotionen, die in mir schwelte. Es würde mich in den Wahnsinn treiben; es kümmerte mich nicht. Nur eines beherrschte meine Gedanken, ein Ziel, das mich wie einen Besessenen regierte und alles andere zu Nichtigkeiten reduzierte. Midoriko. Ich erlag meinem Blutrausch, mein Verstand verfiel in Raserei, als ich dem ersten Feuerdrachen die Kehle zerfetzte… Keine Zeit zum Nachdenken. ּ›~ • ~‹ּ Freudentränen benetzten meine Wangen, als ich den Grund des Kraters erreichte, erleichtert wie noch niemals zuvor in meinem Leben. „Kaneko-chan!“ Kraftlos klammerte ich mich an den Hals der Nekomata, vergrub das Gesicht in ihrem weichen Fell und atmete mehrmals tief durch, um meinen rasenden Puls zu beruhigen. Die frische Meeresluft tat meiner geschundenen Lunge gut und ich schloss für einen Augenblick die Augen, spürte den wilden Furor des Feuers unter mir, das Beben und Rumoren im Inneren des Vulkans. Möwen kreisten über dem kegelförmigen Krater. Ich blickte auf, direkt in das sanfte Blau des Himmels, wolkenlos, und ich war von Herzen froh, dem engen Geflecht aus Gängen und Korridoren letztendlich entronnen zu sein, und mir war bewusst, wie viel Glück mir die Götter hatten zukommen lassen. Nein. Das wurde den Umständen nicht gerecht – es war Flúgars Verdienst. Ohne ihn… Apropos Flúgar: sein Youki hatte den bedenklichen Pegel bereits überschritten, und der Hauch einer böswilligen Energie zeichnete sich in den wellenförmigen Strömungen seiner Aura ab. „Gefühle sind nichts für Drachen; zu starke Empfindungen – Wut, Hass, Trauer… Liebe - verzehren ihre Seele und rauben ihnen den Verstand…“ Kyourans Worte. Ich hatte ihren Wahrheitsgehalt nicht bezweifelt, doch jetzt erst verstand ich sie in ihrem vollen Ausmaß; das Ungetüm in den Untiefen von Flúgars Seele, ja, ich war mir sicher, jene Präsenz gehörte zu ihm. Und an sie würde Flúgar seinen Verstand verlieren, seine Persönlichkeit, wenn er dem nicht entgegenwirkte, und zu einer von Hass und Rachsucht zerfressenen Bestie werden, die vor nichts und niemandem Halt machte. Auch vor mir nicht. Der Grund dafür… „… bin ich.“ Erschrocken fuhr ich auf, zwang mich augenblicklich auf die Beine, beherrscht von einem einzigen Gedanken: ich musste ihn aufhalten, koste es, was es wolle. Mit einem Satz schwang ich mich auf Kanekos Rücken und trieb sie entschlossen mit den Fersen vorwärts. „Beeile dich bitte, Kaneko-chan.“ Auf flammenden Pfoten stieg die Feuerkatze an der steilen Felswand empor, immer höher und höher, elegant über den Kraterrand hinweg. Eine breite Kluft zierte die Flanke des Vulkankegels, und eine beträchtliche Gerölllawine hatte sich dort vor kurzem gelöst, eine frische Narbe im Gestein, die von einer brutalen Gewalteinwirkung zeugte. Gerade, fein säuberlich geschliffene Ecken, wie mit einem Schwert, von Meisterhand geführt, durchtrennt… Besorgt schaute ich mich um, Kaneko leise um eine geringere Flughöhe bittend, studierte das vulkanische Archipel, das hier einsam und schier vergessen mitten im Ozean lag. Während wir uns der Ostseite der Insel näherten, beschlich mich eine dumpfe Vorahnung, und ein Schauer jagte meinen Rücken hinab, als eine kühle Brise meine Haut streifte. Eine widernatürliche Böe, beseelt von grausamen Intentionen, die den Geruch des Todes mit sich trug. Flúgar… Dort stand er, auf einem flachen Felsvorsprung, vom Scheitel bis zur Sohle besudelt mit dem Blut seiner Kontrahenten, Skýdis in der rechten Hand, und im Zentrum eines Wirrwarrs aus Luftverwirbelungen, die sich um ihn wanden und an seinen Lieb anschmiegten als wären sie lebendig. Unverwandt wirbelte er herum, hob den Schwertarm, und er zögerte nicht, stürmte auf mich und Kaneko zu. Der manische Schatten, der sein Antlitz verzerrte, und das animalische Knurren, das er ausstieß, flößten mir Angst ein, und die Nekomata fauchte warnend. Das war nicht Flúgar, das konnte nicht sein… „Lass mich herunter…“ Wie ein Schlachtfeld, spukte es mir durch den Kopf, ehe ich von Kaneko glitt, das Plateau wie mit schwarzroter Farbe übergossen, eine Totenlandschaft des Jenseits, doch ich ließ mich nicht beirren und schritt auf ihn zu. Und er brach den Angriff tatsächlich ab, abrupt und offensichtlich verwirrt von meinem Verhalten, hielt inne, die Spitze seines Katana in einer eindeutigen Drohgebärde auf das Zentrum meiner Brust gerichtet. Dieses Mal schätzte ich mich glücklich, unbewaffnet zu sein. „Ich will nicht, dass du wegen mir zu einem Monster wirst. Weil ich nicht auf mich aufpassen kann, weil ich unfähig bin, weil-“ Mir fehlten die Worte, meine Verärgerung über mich selber auszudrücken. In den blanken Iriden spiegelte sich nichts als eine ungestalte Leere, keine Emotion, kein Anzeichen für ein annäherndes Verständnis der Situation. Schlichthin, er erkannte mich nicht. Unschlüssig verharrte ich in meiner Position, fixierte die hellen Augen des Loftsdreki, und er erwiderte den Blick. „Flúgar…“ Dann straffte sich plötzlich seine ohnehin zum Zerreißen angespannte Haltung und ein finsterer Ausdruck geisterte über die zeitlosen Züge. Ich folgte seiner Reaktion, und die Erkenntnis traf mich hart, gnadenlos. Neisti. Mit dem bewusstlosen Blævar in den Armen verweilte er unentschlossen am Abschluss des Kraterhanges, etwa fünfzig Schrittlängen entfernt, und es war mehr als einsichtig, dass er keinerlei feindselige Absichten hegte. Behutsam legte er den schlaffen Körper des Jugendlichen nieder und trat langsam einige Schritte zurück. Den Luftdrachen beobachtete er unablässig aus den Augenwinkeln, sich der Gefahr, die von diesem ausging, nur zu gewahr. Was sich genau im nächsten Moment veränderte, konnte ich nicht beurteilen, und ich wusste nicht, ob und inwiefern der Feuerdrache Flúgar mit einer ungewollten Gestik oder einer winzigen Bewegung provoziert hatte – jedenfalls preschte er los, ungehalten, auf den wehrlosen und ebenfalls sichtlich überraschten Neisti zu. „Flúgar! Hör auf damit! Das ist doch Wahnsinn!“ Das war es. Ich war machtlos, ich konnte nichts tun; eine schmerzliche Wahrheit, die ich anerkennen musste und dennoch verfluchte. Gefangen in meiner Hilflosigkeit und aufkeimender Verzweiflung schreckte ich fürchterlich zusammen, als jählings ein glockenheller Schrei die tödliche Stille zerfetzte. Gleichzeitig fühlte ich mich von einem sanften Windhauch erfasst, und unmittelbar danach schien die Zeit zu stocken. Flúgar rührte keinen Muskel mehr, wie erstarrt in der Bewegung, und an seiner Attacke gehindert durch eine fremde Person, die ihn in einem eisernen Griff an seinem rechten Unterarm hielt. Wer…? Der Neuankömmling ähnelte Súnnanvindur, konstatierte ich verblüfft, nach eingehender Betrachtung, und nachdem ich einen Blick auf das Gesicht und die schneeweißen Augen des Unbekannten erhascht hatte, verflogen meine Zweifel. Diese Gemeinsamkeiten waren mitnichten zufällig, die Mimik, die Körpersprache glichen einander ungemein. Ihre Blutsverwandtschaft unleugbar. Über was sie sich unterhielten, kurz und knapp, in einem sachlichen, unterkühlten Ton, ging an mir vorüber. Am Firmament zog indessen ein gräulich gemusterter Drache mit zwei Flügelpaaren seine Kreise, ein Loftsdreki, und sogar auf die Distanz konnte ich die zwei Gestalten ausmachen, die auf ihm saßen. Neisti war verschwunden. Flúgar starrte ins Nichts, hinaus auf das ruhige Blau des Meeres. Damit verblasste der rote Schleier der seine Wahrnehmung umfangen hatte, nun ohne Fokus, ohne Ziel, und Flúgars Besinnung kehrte wieder. „Ísvængur…“ Ein feines Rinnsal seines Blutes floss Skýdis’ Klinge hinab – er hatte sie tatsächlich mit der bloßen Hand abgefangen, ohne Furcht oder Rücksicht, lockerte jetzt jedoch seinen Griff und gab Flúgars Arm frei. „Ein wehrloses Kind ohne feindselige Absichten zu töten, ist kein ehrenwerter Verdienst. Und das weißt du.“ Ein weiteres Mal hatte er die Kontrolle über sich verloren, verantwortungslos, sein blutrünstiges, tierisches Ego hervorbrechen lassen, und sein eigenes Leben gefährdet, ebenso wie Blævars und Midorikos, und er schämte sich dafür. „Ja.“ Schuldbewusst senkte er den Kopf und schob das Schwert zurück in die weiße Scheide, sein Blick verweilte auf Blævars lebloser Gestalt. Beinahe hätte ich- „Ich habe Skýdis’ Ruf vernommen.“ Ich nicht. Es war ein Vorwurf, eindeutig. „Was tust du hier?“ Ísvængur ging auf Distanz, musterte die blutbesudelte Kleidung seines Gegenübers, und schwieg dazu. Um die Feuerdrachen tat es ihm nicht im Geringsten leid. „Ich bin auf Befehl von leiðtogi Nístandisúgur hier, um mit Súnnanvindur über die derzeitige Lage zu sprechen.“ Sein Unmut darüber schwang deutlich in seiner Stimme mit, und Flúgar begriff, dass er dieses heikle Thema besser nicht vertiefen sollte. Zögerlich trat er an seinen jüngeren Bruder heran, berührte ihn an der Schulter; er atmete, er lebte. „Du hast das Schwert umschmieden lassen…?“ Was hatte er erwartet? Natürlich konnte er es spüren, immerhin stammte das Youki aus den Kristallen der alten Okashisa ursprünglich von ihm… Der Loftsdreki vermochte sich eines hintergründigen Schmunzelns nicht zu erwehren. Wer wusste schon, wann ihm jenes Druckmittel zugute kommen würde…? „Gezwungenermaßen.“ Den Teil mit Shiosai und der Wasserlanze, an denen er um Haaresbreite gescheitert wäre, sparte er wissentlich aus, da er Kyourans Energiesignatur bereits erkannt hatte, und auch nachträglich keinen Streit vom Zaun zu brechen suchte. Mit dem Erben der Wasserdrachen war er quitt. „Huh? Etwa in Schwierigkeiten geraten, kleiner Bruder?“ Grummelnd warf Flúgar ihm einen warnenden Schulterblick zu, hob Blævar vom Boden auf und wandte sich um. „Zumindest verbringe ich keine Schäferstunden mit aufdringlichen Menschenweibern.“ Der Loftsdreki aus dem Westen verzog keine Miene, zuckte lediglich die Schultern. Daher wehte also der Wind. Wie Flúgar das wohl herausgefunden hatte…? Vergessen hatte er besagtes Mädchen nicht, wie auch? Sie war ein hübsches Ding gewesen, er hatte seinen Spaß gehabt – was kümmerte ihn da die Rasse? Eine Nichtigkeit, keine große Sache. „Ich muss gestehen, deine Wahl ist wesentlich interessanter. Ein Mensch, dem eine Drachenseele innewohnt. Gegebenenfalls ist sie sogar eine Art von diesseitigem Elementar-Avatar.“ Darauf erwiderte der Jüngere nichts und gab dem noch immer über dem Archipel kreisenden Luftdrachen einen Wink, bedeutete diesem somit zu landen. Schwarzer Rauch stieg aus dem Vulkankrater empor, verdunkelte den Himmel und die Sonne, und der Geruch von Schwefel und geschmolzenem Gestein erfüllte die sich erhitzende Meeresluft; die ersten Vorläufer des Ausbruchs, unscheinbare Eruptionen noch fernab vom Kern, schleuderten Asche und Felsbrocken bis weit auf den Ozean hinaus. Gedankenverloren verfolgte die Miko das spektakuläre Naturschauspiel, vom Rücken des fremden Loftsdreki aus, der sie zurück zur japanischen Küste brachte, und sie konnte sich nicht davon freisprechen, dass sie um Neistis Wohlergehen bangte. Wenn seine Kameraden von seiner Mithilfe bei der Befreiung und Flucht der beiden Gefangenen erfuhren… was würden sie mit ihm anstellen? „Ein Funke genügt, um etwas zu bewirken, suche nach dem Guten hinter der Fassade des Bösen.“ Kaneko miaute leise und rollte sich auf ihrem Schoß zusammen. Insgesamt waren es sechs Drachen: Flúgar, Blævar und Kyouran, die sie kannte, der Luftdrache in seinem Hennyou, eine in weite Roben gehüllte Frau, deren Augen stets an dem Ebenbild Súnnanvindurs hafteten, und selbstverständlich dieser selbst – eine eigenartige Kombination, und niemand äußerte ein Wort. Irgendwie fühlte sie sich überflüssig und fehl am Platz. Flúgar saß neben ihr, angeschlagen und gleichermaßen abwesend, Blævar war bewusstlos, und Kyouran, der kreidebleich etwas weiter vorn kauerte, schien der Flug gar nicht zu bekommen. Was er überhaupt hier tat, blieb fraglich. „Wir gehen.“ Verdutzt blickte Midoriko den Drachen neben sich an, viel eher überrascht von seiner Hand auf ihrer als von dem plötzlichen Bruch des Schweigens. Verdutzt fügte sie sich und nickte. „Kaneko-chan, komm.“ Keine Abschiedsgrüße, keine Wünsche für eine gute Reise. Eigenartig. Oder auch nicht. Womöglich war ihr stilles Dulden der Tatsachen bereits mehr, als die beiden sich zu erhoffen hätten wagen sollen, und so trennten sich ihre Wege ebenso rasch wie sie sich gekreuzt hatten. Flúgar blickte ihnen nicht hinterher. ּ›~ • ~‹ּ Eldsvoði… Die Intensität seines Youki schwand rapide, und Neistis Herz zog sich mit jedem Schritt, den er tätigte, schmerzhafter zusammen. Das ist nicht wahr, das kann nicht sein, das- „Neisti!“ Tränenblind und der Umgebung nicht mehr bewusst, prallte der Jungdrache unverwandt auf ein unnachgiebiges Hindernis, stolperte rückwärts und bereitete sich auf eine unsanfte Landung vor – aber er fiel nicht. Jemand hielt ihn fest, umfasste seine Oberarme mit einem sicheren Griff. „Neisti, wo willst du hin?“ Kraftlos ließ er den Kopf gegen die Brust des anderen Feuerdrachen sinken, grub die klauengleichen Finger in den Stoff von dessen Kleidung und das Schluchzen, das danach aus ihm herausbrach, erschütterte sein Gegenüber mindestens so sehr wie ihn selbst. „Logi, er…“ Seine Stimme versagte. Wieso? Wieso jetzt…? Wieso er…? Aus welchem Grund verließen sie ihn, Mal um Mal aufs Neue? Mutter, Vater, Hraunar. „Ich weiß, Neisti… ich…“ Beschämt wandte er den Kopf zur Seite, sein Gestammel eines Kriegers unwürdig, zog den Jugendlichen in eine feste Umarmung. „Geh. Ich kümmere mich hier um den Rest.“ Damit stieß Logi ihn etwas harscher als nötig von sich und entfernte sich raschen Schrittes. Dass ihre Operation auf diese Art und Weise zu einem Ende kommen würde, derart erbärmlich... es war nicht fair. Ist das die Strafe für den Größenwahn eines als selbstsüchtig verschrieenen Individuums? Dafür, andere ins Unglück stürzen zu wollen um den internen Frieden zu wahren...? Neisti verstand Logis Güte zu schätzen. Einen zittrigen Atemzug nach dem nächsten schöpfend, fuhr er sich über die Augen und schluckte seine Zerrüttung hinunter. Er zwang sich zu einer aufrechten Haltung und eilte so schnell wie irgend möglich tiefer in den Vulkan hinein, in Richtung der rumorenden Lavakammern. Ist es meine Schuld? Treibe ich sie, allesamt, ohne es zu wissen, in ihr Verderben? „Eldsvoði!“ Immer wieder rief er seinen Namen, verzweifelt, um den letzten Funken seiner Fassung ringend, schrie bis zur Heiserkeit durch die langen Gänge und erhielt dennoch keine Antwort. „ELDSVOÐI!!“ Ich hätte etwas tun müssen. Ich hätte es verhindern können. Es tat weh, und seine Seele drohte unter dem immensen Druck seiner Furcht zu zerbersten; das Band, das zwischen ihm und seinem älteren Bruder nach Hraunars Tod entstanden war, aus engen, unentrinnbaren Maschen geknüpft, erwies sich als stärker als jegliche andere Empfindung, die er zuvor verspürt hatte. Ihre Verbundenheit schadete ihnen beiden, das Echo von Eldsvoðis Qual marterte seinen Körper während seine Kopflosigkeit dessen Konzentration behinderte. Ein Teufelskreis. Würden sie beide an diesem Ort scheitern und zugrunde gehen? Was war mit Aska? Keuchend kämpfte sich Neisti vorwärts, das Glühen der Lava der einzige Lichtschein und Wegweiser in der Dunkelheit, stolperte über den von Geröll bedeckten Boden der Kammer und zwängte sich zwischen den Felsbrocken hindurch, die den Durchgang zum nächsten Gewölbe blockierten. Dann hielt er inne, wie erstarrt. „Eldsvoði...“ Dort lag er, Eldsvoði, in seiner wahren Gestalt, auf der Seite und atmete schwer, der Grund unter seinem zerschlagenen Leib glänzte feucht, schwarz. Am anderen Ende der Gewölbehalle saß Bundori in seiner humanen Form, die Beine überkreuz und den rechten Ellbogen darauf aufgestellt, das Kinn auf seine Handfläche gestützt. Ein makaberes, aber abwesendes Grinsen verunstaltete die attraktiven Züge des Drachenfürsten, während er den Feuerdrachen anstarrte – das faszinierte Leuchten in den dunklen Iriden zeugte von dem morbiden Interesse, das er an Eldsvoði, nein, an dessen langsamen Ableben hegte. Neisti registrierte er in seinem triebgesteuerten Rausch nicht. Widerwärtig. Der Jugendliche widerstand dem Drang, ihn als das kranke, perverse Schwein zu beschimpfen, das er war. Irgendetwas in Bundoris Kopf lief gehörig falsch. Diese verlogene Schlange war ihnen in den Rücken gefallen, er- „Hör auf zu weinen, Neisti... nicht um mich.“ Konsterniert zuckte der Jungdrache zusammen, die Augen auf den Körper seines Bruders gerichtet. Er konnte seinen Schmerz fühlen, den Herzschlag, der stetig schwächer wurde. Wie ein doppeltes Echo in seiner Brust. „Du musst für die neue Zeit stark sein, also zeig wegen mir keine Blöße. Besonders jetzt nicht, da der Clan sich einigermaßen zusammengerafft hat. Sie stehen hinter dir, solange du ihnen das Gefühl gibst, mit dir eine Chance zu haben, was die Machtbalance betrifft.“ Es hatte zwangsläufig so kommen müssen. Eldsvoði hatte den Lauf der Dinge vor langem akzeptiert, wissend, wie es für ihn ausgehen würde. „...“ Neistis Lippen formten stumme Widerworte, und als er gerade Luft holte, um zum Protest anzusetzen, fasste ihn jemand behutsam um die Taille. „Shhht, Neisti.“ Seine Schwester, Aska. „Sie wird dir beistehen, darauf kannst du vertrauen, Neisti. Ich habe einen letzten Befehl an euch: Verschwindet von hier. Zumindest eines werde ich mit diesem verlöschenden Leben noch zustande bringen: ich nehme den Bastard von einem Sonnenweberdrachen mit mir, dazu reicht es noch.“ Alles für die Feuerdrachen, alles für den Clan – unser Blut, unser Herz, unsere Seele. Alles für unseren Fortbestand. Kälte. Leere. Es raubte ihm sein Feuer, seinen Willen. Sie würden ohne Eldsvoði zurückkehren, erfolglos, alleine. Sie hatten versagt, von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Wie sollte er die Lücke, die Hraunar damals mit seinem Tod hinterlassen hatte, nur jemals ausfüllen? Würde ihn die Stimme des Feuers leiten? Er hatte sie nie vernommen – hatte Hraunar gelogen? Nicht das erste Mal. Neisti entglitt das Bewusstsein, als sich sein Bruder in den finalen Zügen noch einmal aufbäumte und Bundori mit sich in die Schmelze des gleißenden Magmasees riss... Während dessen schloss Logi, der oben am Vulkankrater stand, die Augen und lauschte dem Hall des Ausrufs einer neuen Ära. ּ›~ • ~‹ּ „Vier Seelen – Luft, Wasser, Erde und Feuer – fügen sich wie die Fragmente eines einstmals zersplitterten Mosaiks im Geiste eines Menschen zusammen. Eine Priesterin, um es präzise auszudrücken, deren spirituelle Fähigkeiten es vermögen, sie zu umfassen, die Drachenseele zu bändigen. Und nun ist sie erwacht, und das einzige Rätsel, das noch zu lösen gilt, ist jenes, ob sie ihre Macht zu gebrauchen weiß. Wird sie ihre innere Balance nutzen, um diese an ihr Umfeld weiterzugeben? Oder stürzt sie sie ins Chaos? Wie stark ist der Einfluss der personifizierten Elemente, die ihr Menschenherz berührten? Wird sie der vermeintlichen Sanftmut des Wassers verfallen? Der Geborgenheit der Erde? Der bedingungslosen Stärke des Feuers? Oder der Freiheit des Windes?“ Die Alte lachte leise, faltete die Hände in ihrem Schoß. „Manches auf dieser Welt kann man eben nicht voraussehen, was? Selbst wenn sie ihre Grenzen rechtzeitig erkennen sollte, ist es längst zu spät, zu spät. Das Ende der Reise ist besiegelt, daher gilt es sich auf den Weg zu konzentrieren.“ ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 53: >“ Aus den Fängen des Feuers entflohen, kehrt in der vertrauten Heimat Ruhe ein. In den Wäldern ist es still, und unter dem tröstlichen Blätterdach der alten Bäume lassen sie vergessen und vergeben. Doch so glatt und ruhig die Oberfläche auch scheinen, wie gut sie die Gefahr, die unter Wasser lauert verbergen mag, Sicherheit gewähren weder der Wald noch der See…“ *» Sál Kapitel 53: *~Sál~* ------------------- "Es ist unglaublich, wie viel Kraft die Seele dem Körper zu leihen vermag." – Wilhelm von Humboldt Kapitel 53 – Sál -Seele- *Was macht unser Wesen, unsere Seele aus? Ist unser Charakter nicht bloß das Resultat von Eindrücken und Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens gesammelt haben? Eine Reihe von Bildern, die schier ewig, bis zu unserer Geburt, zurückreicht? Oder existiert in uns auch eine andere Komponente, ein von uns nicht beeinflussbarer Faktor, der uns angeboren ist, nicht vererbt durch unsere Ahnen, sondern viel mehr eine Laune des Schicksals? Und wenn, ist dies Zufall? Oder verbirgt sich dahinter ein geheimer Plan, der das Geschick der Zeit heimlich und unbemerkt aus der Distanz lenkt?* ּ›~ • ~‹ּ Schäumend rollten die Wellen über den Kiesstrand der Küste, das Rauschen der Brandung allgegenwärtig. Wattvögel tummelten sich in den seichten Abschnitten der kleinen Bucht. Midoriko kundschaftete die unmittelbare Umgebung aus, studierte den Küstenverlauf und das Gelände; weitgehend flach und karg bewachsen, die Dünen nur mäßig hoch, waren sie hier vollkommen ungeschützt, ohne Deckung, hier konnten sie nicht bleiben. Auf den Sandbänken in der Ferne sonnten sich Robben. Besorgt schaute die Priesterin zu Flúgar, der etwas abseits im weißen Sand saß und sich zu konzentrieren versuchte. Seine Müdigkeit zehrte zu allem Überfluss an seinen Nerven, von Geduld konnte keine Rede mehr sein. Übellaunig war eine Untertreibung, und so ließ sie ihn. Sie musste es nicht unnötig herausfordern. Eine silbrige Eidechse huschte durch den Strandhafer, hielt kurzzeitig inne, um ihre Sandalen zu inspizieren und kroch schließlich auf ihren Fußspann. Midoriko rührte sich nicht. Ob sich das Reptil nach ihrer Wärme sehnte...? Oder verwechselte es sie bloß mit einem der umliegenden Felsen? „Beweg dich.“ Die Priesterin gehorchte dem harschen Kommando, schluckte die Widerworte, die sich unwillkürlich in ihrer Kehle formten, hinunter. Es hatte keinen Sinn, jetzt mit ihm über Manieren und Umgangsformen zu streiten. Bei seinem sturen Schädel... Innerlich murrend folgte sie dem Luftdrachen. So wanderten die Miko und der Drache schweigend nebeneinander her, weg von Meer und Strand über die felsigen Ausläufer eines Bergkamms, der die Bai wie ein schmaler, steinerner Gürtel schützend umschloss. Dahinter eröffnete sich ihnen das Panorama einer ausgedehnten Grasebene, das sich bis zum Horizont zu dehnen schien, sanftes Grün gegen das Azurblau des klaren Himmels. Doch als eine sachte Brise das Gras in ihren Armen wog, stockte Midoriko abrupt. Perplex presste sie den Ärmel ihres in Mitleidenschaft gezogenen Yukata vor Mund und Nase, blinzelte die Tränen aus ihren Augen. Was zur...? Ihre Augen weiteten sich vor Unglauben. „Oh Kami-sama... das ist-“ Flúgar wirkte weniger beeindruckt, verzog lediglich geringfügig das Gesicht, als ihm der bestialische Geruch ebenfalls in die Nase stieg; es roch nach Verwesung, nach Blut und Tod. „Mir ging es das erste Mal genauso.“ Nur am Rande ihrer Wahrnehmung bekam die menschliche Miko dies mit, und des leisen Trostes, der in der Bemerkung mitschwang, wurde sie sich erst später bewusst, als die Übelkeit abklang und sie nicht mehr neben einem Busch kauerte, weil sie fürchtete, sich auf der Stelle übergeben zu müssen. Ruhig lag das ehemalige Schlachtfeld vor ihnen, und Midoriko empfand es als ausgenommen bizarr, es bedenkenlos, ohne eine Andacht oder dergleichen, zu passieren. „Die Krähen erledigen den Rest.“ Das war alles, was der Loftsdreki dazu zu sagen hatte. Beruhigt fühlte sie sich dadurch nicht unbedingt. Allerdings begriff sie, dass sie der schieren Menge der toten Leiber hätte niemals Herr werden können. Zwecklos, den Versuch zu unternehmen, sie alle zu begraben, zu riskant, sie zu verbrennen. Midoriko wandte den Blick ab, gedachte der Verstorbenen im Stillen. Versengte Banner und zerfetzte Fahnen, ausgeblichen von der rauen Witterung, leblos, schlaff, zeugten noch von dem Konflikt der verfeindeten Fraktionen; welcher Tote für welche Seite gekämpft hatte und gestorben war, konnte man nicht mehr erkennen. Die meisten von ihnen hatten nicht einmal Rüstungen oder richtige Waffen getragen. Vermutlich Bauern, Söhne und Väter. Hatte nicht einer der älteren Männer auf dem Feld vor Okashisas Dorf von einem Feldzug erzählt...? Für wen waren sie in die Schlacht gezogen? Warum? Hatten die vermeintlichen Soldaten es wenigstens gewusst? Ihr vergängliches Leben aufs Spiel gesetzte, für etwas, das auf sie weder Einfluss hatte noch verständlich für sie war... Nichtsdestotrotz hatten sie sich dem Aufruf zum Kampf gebeugt, dem Willen eines Fremden, wohl eines Adeligen. Wie verantwortungslos. Unbeteiligte in den Tod zu schicken, und das ohne schlechtes Gewissen. Jung und naiv, wie die meisten sicherlich gewesen waren, die an einen falschen Kriegerstolz geglaubt hatten, eher starben als davon zu laufen. „Was nützen Stolz und Ehre, wenn sie einen umbringen? Lieber stolz sterben, als diese Oberflächlichkeit kurz zu vergessen und dafür weiterzuleben...?“ Besser ein toter Held als ein lebendiger Feigling? „Du bist kein Krieger. Das verstehst du nicht.“ Damit hatte er Recht. Dennoch... Wählte man mit dem Heldentod nicht den einfachsten Weg? Sich töten zu lassen, zu sterben, war immerhin leichter, als sich dagegen zu wehren und weiterzuleben, ungeachtet der Einstellung und abfälligen Worte anderer. Was für ein Dilemma. ּ›~ • ~‹ּ Erst, als wir ein gutes Stück von der Küste entfernt in einen dichten Wald gelangten, wagte ich es wieder aufzuatmen. Die Energien der Feuerdrachen, darunter auch Askas und Neistis, verschwanden über das Meer, in Richtung Kontinent; ein anderes, düsteres Youki floh in den Norden der japanischen Inseln, und ich hatte eine relativ genaue Vorstellung davon, um wen es sich dabei handelte. Doch ich schwieg dazu, ich konnte ohnehin nichts tun. Früher oder später wird es böse mit ihm enden... Auf einer kleinen Lichtung, am Rande eines kristallklaren Sees, gesäumt von jungen Erlen, machten wir Rast. Mittlerweile sah jeder Laie Flúgar seine Erschöpfung an, und das mochte etwas heißen, und ich bemerkte erleichtert, dass der sture Loftsdreki seine Grenzen von sich aus heute nicht ausreizen würde. Dieser Anflug von Vernunft war beruhigend. Schwerfällig ließ sich der Drache vor dem Stamm einer knorrigen alten Eiche nieder, dabei das Schwert samt Scheide aus seinem Obi ziehend, und lehnte den Kopf gegen die raue Borke. Als ich ihm schließlich noch mit einem Wink bedeutete, sich zu entspannen und das Beobachten des Umkreises mir zu überlassen, schloss er die Augen. Kaneko verwandelte sich derweil wieder zurück in ihre Schoßkatzenform und bezog an der Seite des Luftdrachen ihren Posten. Lächelnd studierte ich das einträchtige Bild vor einer friedlichen Kulisse, und das erste Mal seit meinem eher zufälligen Zusammentreffen mit Flúgar fragte ich mich, ob meine Zukunft weiterhin eine solch turbulente Note aufweisen würde. Insgeheim hoffte ich, dem entgehen zu können – ich mochte keine gewalttätigen Konfrontationen, Streit jeglicher Art behagte mir absolut nicht. Drachen, Dämonen und auch die Menschen schienen jedoch die fatale Neigung zu derartigen Auseinandersetzungen in sich zu tragen. War das schlichtweg der Lauf der Dinge auf dieser Welt? Ein Kampf ums Überleben, gleichgültig der Methoden, und je höher entwickelt der Verstand, desto grausamer agierten die Lebewesen, um sich ihren Platz an der Spitze zu sichern. Was für eine Bilanz! Nur die Stärksten überleben. Zumindest konnte ich mich damit trösten, dass es ebenfalls Menschen gab, die sich für Frieden einsetzten und ein harmonisches Zusammenleben anstrebten; Dämonen schloss dies zwar nicht mit ein, doch es war ein Anfang, ausbaufähig. „Flúgar?“ Freilich schlief er nicht, döste anstatt dessen vor sich hin; ob das auf mangelndes Vertrauen zu mir gründete, oder aber mit seinem Instinkt, der ihn zur Vorsicht mahnte, zusammenhing, konnte ich schwerlich beurteilen. „Hm…?“ Mehr ein Laut als eine Erwiderung. Er klang matt und abwesend, doch mitnichten ablehnend. Vermutlich besaß er nicht mehr die nötige Energie, um sich über mich zu beschweren und nahm es notgedrungen hin. „Was bedeutet das: Drachenseele…?“ Skuggis Worte beschäftigten mich zunehmend, wollten nicht aus meinem Verstand weichen – was meinte er damit? Ich hatte diesen Begriff niemals zuvor gehört, meine Vorstellung versagte an eben jenem Terminus. Drachenseele. Seufzend fuhr ich mir durch das schwarze Haar, bedachte Flúgars regungslose Gestalt mit einem Hilfe ersuchenden Blick; dass der das weder sehen konnte noch sehen wollte, war zweitrangig. „Keine Ahnung.“ Das- ... hatte ich nicht erwartet. Verdutzt blinzelnd stand ich einen Moment da und sagte nichts, unfähig zu einer angemessenen Reaktion. Von wegen eine gute Figur abgeben, das war blamabel. „Ich hatte leider keine Zeit mehr... zu fragen. Ich... ich habe Skuggi getroffen, er erzählte mir davon und jetzt ist er-“ „Tot.“ Dem musste man nichts mehr hinzufügen. Betroffen neigte ich das Haupt und wandte mich ab, kurzerhand beschließend, das Seeufer ein wenig zu erkunden. Eine Ablenkung, nichts weiter. An die Geschehnisse bei den Eldursdrekar wollte ich momentan nicht denken. Die Böschung war nicht sehr steil, sodass ich mühelos hinunter steigen konnte, um meine Hände und mein Gesicht zu waschen. Zwar haftete darüber hinaus der Schwefelgeruch noch hartnäckig an meiner Kleidung, doch aufgrund der kühlen Brise und dem Fehlen eines Wechselyukata schob ich dieses Unterfangen lieber auf. Unsicher blickte mir mein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche entgegen: wie würde es weitergehen? Ich fühlte mich seit geraumer Zeit, als hätte ich das Ziel aus den Augen verloren, orientierungslos, und ich ertappte mich erneut bei der Frage, wo und wann unsere gemeinsame Reise enden würde. Schließlich hatte Flúgar vor unserer Begegnung ein anderes Leben geführt, unter seinesgleichen, und auch das meinige hatte sich drastisch geändert. Ob zum Guten oder Schlechten, dass konnte ich bei bestem Willen nicht eindeutig beantworten, aber ich würde es nicht ungeschehen machen wollen. Wie es Flúgar damit wohl erging? Empfand er genauso? Oder dachte er über so etwas überhaupt nicht nach? Verfolgte er mitunter ein anderes Ziel? Verdrängte ich es, scheute die Auseinandersetzung, weil mir die Ungewissheit etwas versprach, dass mir anderweitig verneint worden wäre? Unsere Wege würden, nein, sie mussten sich irgendwann trennen. Floh ich vor der Realität? Vergeblich. Was Kyouran und seine Begleiter gerade wohl taten? Hoffentlich hatte Blævar das – glücklicherweise kurze – Intermezzo mit den Feuerdrachen unbeschadet überstanden. Flúgar vertraute ihnen, oder zumindest seinem Verwandten, ansonsten hätte er ihm seinen jüngeren Bruder niemals so bedingungslos überantwortet. Meine Verwandtschaft bestand einzig und allein aus meiner Schwester – seit unserem Bruch und durch meine Wanderschaft hatten wir lange nicht mehr miteinander gesprochen. Nun fragte ich mich, ob sie noch in unserer alten Hütte wohnte, etwas außerhalb eines winzigen Dorfes westlich der Musashi-Gegend, oder ob sie unser Zuhause, wie ich, tatsächlich verlassen hatte. „Soreiyu...“ Ob sie wohlauf und gesund war? Bis jetzt, musste ich mir ehrlich eingestehen, hatte ich sie nicht vermisst... Schillernde Fische zogen ihre Kreise unterhalb der Wasseroberfläche, andere wühlten in dem weichen Sandgrund nach Nahrung. Fasziniert von dem geschäftigen Treiben, welches sich dort, abgeschirmt und unbemerkt von der Außenwelt, abspielte, vergaß ich alles um mich herum. Meine Aufmerksamkeit wie zerstreut. Umso überraschter fühlte ich mich, als sich in der Tiefe plötzlich etwas bewegte, unangekündigt und ruckartig, sodass die Fische in Panik auseinander stoben. Im nächsten Augenblick teilte ein massiger, grauer Leib tosend das Wasser, und das längliche Etwas schoss auf mich zu, ließ mir keinerlei Zeit, um zu reagieren. Ich hatte das Youki des Dämons nicht gespürt. Ich wurde gepackt und gewaltsam in die Höhe gerissen, und als ich um Hilfe zu schreien versuchte, füllte kaltes Wasser meinen Mund. Es ging viel zu schnell. Das längliche Ungetüm zerrte mich unermüdlich tiefer in den See, und alsbald herrschte vollkommene Finsternis um mich herum, mir schwanden die Sinne. Aus und vorbei, endgültig. ּ›~ • ~‹ּ Eine Drachenseele...? Flúgar wusste wirklich nicht, was das zu bedeuten hatte. Einzig das Gefühl von Harmonie, einem allumfassenden, inneren Frieden, das ihn erfasste, wenn er in ihrer Gegenwart verweilte, konnte er benennen. Sie gab ihm die Ausgeglichenheit zurück, die ihm vor vielen Jahrzehnten abhanden gekommen war, sie beruhigte das Biest in ihm, das sich damals von seinen Ketten losgerissen hatte, das seinen Verstand zu verschlingen drohte. Ob es anderen Drachen in ihrer Nähe ebenso erging? Gleich, welchem Element sie angehörten...? Möglicherweise hatten die Eldursdrekar sie gerade deswegen entführt und für sich beansprucht. Eine Art Avatar... Zumindest wäre es der Ansatz für eine Erklärung, was die Auswirkungen ihrer Präsenz betraf. Was auch immer. Momentan interessierte ihn das wenig, zum Nachdenken war er zu müde, zu unkonzentriert. Spielte es denn überhaupt eine entscheidende Rolle? Nein. Nicht für ihn. Solange sich nichts änderte, war es ihm gleichgültig. Sein Bewusstsein driftete zwischen Wachen und einem leichten Halbschlaf, eine längst überfällige Auszeit, die sein Körper und sein Youki dringend benötigten. Hier im Wald war es ruhig und windstill, und die nahezu betörende Ausstrahlung der Miko wob seinen Geist mehr und mehr in eine liebliche Illusion der absoluten Sicherheit, wie die warmen Arme einer Mutter, die ihr Kind in den Schlaf wiegt. Als das Aufglimmen einer fremden Dämonenenergie durch die Trübnis seiner Sinne schimmerte, fuhr er schlagartig auf, die Hand am Schwert bevor er stand. Was...? „Midoriko!“ Die Nekomata war ebenfalls aufgesprungen, verwandelte sich von grellen Flammen umhüllt in ihre robustere Gestalt, und als er den Kopf nach rechts, zum See wandte, wusste er, dass ein Feueryoukai in dieser Situation seiner Machtlosigkeit rasch erliegen würde. Ein Wasserdämon. Elegant glitt das riesige Monstrum in sein Element zurück, die gräulichen Schuppen blitzten ein letztes Mal im schwindenden Sonnenlicht auf, bevor der Leib des schlangenähnlichen Youkai gänzlich unter der Wasseroberfläche verschwand. Flúgar stieß ein dumpfes Grollen aus. Verdammt. In dieser Form konnte er nicht schwimmen, nicht einmal ansatzweise, und so fiel seine Entscheidung binnen weniger Augenblicke. Er schleuderte Skýdis beiseite und schloss die Augen, zwang sich verbissen zur Mobilisierung seiner übrigen Kraftreserven – die letzten Reste seiner Konzentration sammelnd, entgegen seiner rebellierenden Raison und seinem schwachen Körper, beschwor er abermals an diesem Tag die Bestie in seinem Inneren. Ein Risiko, gegen jedwede Vernunft. Unverständlich wispernd gewährte im der Wind seinen Wunsch, und sein animalisches Ego brach verstimmt und brüllend aus ihm hervor, verzerrte die Proportionen des Menschenleibes ins Unerkenntliche. Dann stürzte er sich in den See. Schäumend schwemmten die entstehenden Wellen über das Seeufer hinweg, und es herrschte wieder allumfassendes Schweigen. Mithilfe seines doppelten Flügelpaares gelang es Flúgar relativ leicht, bis auf den Grund abzutauchen, und das Youki des Dämons war derart offensichtlich, dass er nicht lange zu suchen brauchte. Ohne zu zögern attackierte er den Youkai, verbiss sich wahllos im Mittelteil des Schlangenkörpers und zerrte ihn mit aller Gewalt in Richtung Oberfläche zurück. Wie viel Zeit ein Mensch ohne atmen zu können zu verschmerzen imstande war, entzog sich seines Wissens. Nicht viel. Er musste sich beeilen. Entschlossen kämpfte er sich nach oben, seinen unkooperativen, sich gegen ihn windenden Gegner im Schlepptau, bewegte sich mit kräftigen Flügelschlägen in die ufernahen Bereiche des Gewässers, wo er festen Halt unter den Klauen fand. Begierig sog der Loftsdreki die frische Luft in seine Lungen als er mit der Schnauze die Wasseroberfläche durchbrach, hütete sich jedoch gleichzeitig, seinen Biss zu lockern und vergrub anstatt dessen seine Fänge fester im Fleisch seines Kontrahenten. Das graue Etwas war eine hässliche Mischung zwischen Schlange und Wels, die ihn erbost anfauchte, ein Wesen mit Flossen, einem Rücksensegel und Barteln an der flachen Schnauze, und zu allem Überfluss besaß es zwei voneinander unabhängig agierende Hälse und Köpfe, und es versuchte krampfhaft, sich seinem Griff zu entziehen. Ohne nennenswerten Erfolg. Aus dem Maul des linken Kopfes ragte ein Zipfel von Midorikos Kleidung hervor, während der rechte nunmehr ins aktive Geschehen eingriff und auf ihn zuschoss. Er konnte nicht ausweichen. Nicht, ohne von seinem Kontrahenten abzulassen. Der Schlangenwels biss zu, und Flúgar registrierte postwendend, dass er einen Fehler begangen hatte – es tat nicht weh, der Schmerz des Bisses zerschmolz in flüssiges Blei, und verflüchtigte sich in seinen Adern. Gift. Der süßliche Geruch stieg ihm in die Nüstern, und er schlug die Zähne in den Nacken des rechten Kopfes, presste die Kiefer zusammen, bis er befriedigt das Bersten der Knochen hörte und spürte. Jetzt gab es kein Halten mehr für ihn. Rücksichtslos warf er sich mit seinem gesamten Körpergewicht auf den grauen Schlangenkörper, setzte ihm erbarmungslos zu, bis der Wels schrie und tobte, sich in seinem Schmerz, seiner Agonie aufbäumte. Flúgar ließ ihm keine Chance. Dann ward es ruhig auf der Lichtung. ּ›~ • ~‹ּ Die Nacht brach wesentlich schneller über sie herein als er erwartet hatte. Und während er langsam aber sicher in einen komatösen Heilschlaf abzudriftete, schien die Zeit zu stocken, zu verrinnen, gleichzeitig, gegen ihn arbeitend. Es würde ihn Stunden kosten, das Gift, das in seinem Körper kursierte, zu neutralisieren, und bis dahin war er... hilflos. Vollkommen hilflos, der Willkür seiner Umwelt und allem, was dort lebte - und jagte - ausgesetzt. Verflucht! Was auch immer geschehen sollte, er würde Midoriko nicht beschützen können, keinesfalls. Insgeheim klammerte er sich an die Zuversicht, die Nacht unbehelligt zu überstehen, und sich im ärgsten Notfall auf die Nekomata der Priesterin verlassen zu können. Ansonsten sah es schlecht für sie aus. Midoriko lag blass und reglos auf dem weichen Waldboden, aber sie atmete, anscheinend bloß bewusstlos, und der Katzenyoukai wachte an ihrer Seite wie eine Statue aus Stein, wie die Füchse vor Inaris Tempel, wich nicht vom Fleck. Flúgar fühlte unterdessen, wie ihm das Bewusstsein immer mehr entglitt. Sein Fokus verschwamm, die Farben und Konturen der Bäume um ihn herum verloren sich, und seine restlichen Sinne verschworen sich ebenso gegen ihn; in der Stille eines undefiniertes Nichts wunderte er sich zwar über die gedämpften Stimmen, die raschen Schritte und das allgemeine, geräuschvolle Treiben, das wie durch eine dichte Nebelwand zu seinem Verstand vordrang, doch es alarmierte ihn nicht. Selbst wenn, sein Körper hätte ihm nicht gehorcht. Er vermeinte, durch das Stimmgewirr hinweg eine vereinzelte, prägnante Stimme wispern zu hören, fern und so leise, dass er die Worte nicht verstehen konnte. Eine Frauenstimme, die er nicht kannte. Ihr Flüstern schwoll mit der Zeit zu einem inbrünstigen Singsang an, der Klang der Stimme wurde harscher, regelrecht aggressiv, und allmählich begann er zu stutzen. Wie konnte er im Sanktuarium seiner Seele, verborgen in seinem tiefsten Inneren, eine ihm fremde Stimme vernehmen? Das war unmöglich, das bedeutete- Bis er bemerkte, was mit ihm geschah, war es längst zu spät. Eine unsichtbare Macht schnürte ihm die Kehle zu, lähmte seine Glieder, seine Gedanken, seinen freien Willen... ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 54: >“Von einem unbekannten Feind im Deckmantel der Nacht überwältigt, findet sich die Priesterin am nächsten Tag in einer prekären Lage wieder. Auf sich allein und vor eine schreckliche Wahl gestellt, muss sie sich zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart entscheiden. Auf schmalem Grat wandelt sie jedoch auf beiden Wegen, die ihr offen stehen…“ *» Toraware Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)