Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 33: *~Samkoma~* ----------------------- "Lasse nie zu, dass du jemandem begegnest, der nicht nach der Begegnung mit dir glücklicher ist." – Mutter Teresa Kapitel 33 - Samkoma -Begegnung- *Wozu dienen die neuen, unvorhergesehenen Bekanntschaften, derer wir unendlich viele im Laufe unseres Lebens schließen? Was bedeuten sie für sich? Gilt aus ihnen eine Lehre zu ziehen, wie etwa aus Erfahrungen – gleich, ob gut oder schlecht? Verhalten sie sich nicht ähnlich? Oder aber sind Bekanntschaften unvermeidlich, ja gar essentiell für uns, da sie der beste Beweis dafür sind, dass wir existieren, nicht einsam durch eine fremde Welt irren?* ּ›~ • ~‹ּ Auch sie konnte sich dem Gefühl der Neugier nicht erwehren, doch zu welchem Preis würde dieses befriedigt? Sollte sie dem nachgeben und das Risiko auf sich nehmen? Oder sollte sie lieber zum Tempel zurückkehren und den hiesigen Priesterinnen Bericht über ihre Entdeckung erstatten? Womöglich handelte es sich um den Dämon, den Nikkou erwähnt hatte, und wenn dieser tatsächlich so machtvoll war, wie die junge Miko angedeutet hatte, dann hatte sie äußerst schlechte Karten. Sie wusste nicht wirklich um die Fähigkeiten der ansässigen Priesterinnen, doch sie bezweifelte, dass diese annähernd genug Macht besaßen, um einen solchen Youkai zu bannen. Allerdings war sie ebenfalls nicht ganz davon überzeugt, dass sie auf sich alleine gestellt viel ausrichten konnte… Bald entstand in ihr ein Wechselbad an Empfindungen, ein Ringen zwischen ihrem klaren Menschenverstand und dem, was ihre Sinne und ihr Bauch ihr sagten. Sie war hin und her gerissen, wurde sich der richtigen Antwort nicht bewusst. Ob richtig, oder aber falsch… war nicht beides reine Definitionssache…? Was war schon richtig… sie hatte nicht die Zeit, sich über solche Fragen den Kopf zu zerbrechen, es galt nun, einen Beschluss zu fassen. Sicher war es eine gewagte Sache, dem Dämon als Einzelperson gegenüberzutreten, aber war das nicht besser, als die Mädchen in Gefahr zu bringen, die keine zwanzig Sommer zählten, und denen es ohnehin an der notwendigen Erfahrung mangelte? Gut, sie musste einräumen, dass sie in dieser Hinsicht Unrecht haben könnte, doch hatte sie das Recht, eben dies herauszufordern? Nein. Einen Zug wie diesen zu verantworten, den Tod unschuldiger Menschen zu verschulden, das war nichts, was Midoriko mit ihrem Gewissen zu vereinbaren mochte. Mit Menschenleben spielte man nicht. Sie würde alleine gehen, sich dem Wagnis stellen. Ob ihre Entscheidung möglicherweise Konsequenzen nach sich zog, denen sie nicht gewachsen war, würde sie bald erfahren. Zumindest würden die Folgen ihres Handelns sie so nur selbst betreffen, und sonst niemanden. Auf höchste Vorsicht bedacht näherte sie sich mit langsamen Schritten der Quelle des dunklen Youki. Versucht - aus Furcht, es könnte sie verraten - dem unkontrollierten Schlagen ihres Herzens sowie ihrer hektischen Atmung Einhalt zu gebieten, schlich sie weiter voran, hielt sich in den Schatten der Schutz vermittelnden Stämme. Das Gelände wurde steiler, und letztendlich musste sie innehalten, als die Erde vor ihr abrupt abfiel, in einen Steilhang überging, der mindestens drei Schrittlängen in die Tiefe führte. Der Abstieg würde sich schwierig gestalten, denn selbst die Wurzeln, die hier und da aus dem Erdreich ragten, boten nicht annähernd genügend Halt. Sie würde sich wohl einen anderen Weg suchen müssen… Unwillkürlich versagte Midoriko der Atem, und eine eisige Kälte, die damit zu drohen schien, sich durch ihre Haut in ihren Körper zu fressen, sich ihrer zu bemächtigen, umfing sie, bedrängte sie wie ein Rudel ausgehungerter, gieriger Wölfe, die sie umkreisten, die Zähne bleckten und nach ihr schnappten. Das geringste Anzeichen von Schwäche, und sie würden nicht länger zögern, ihre eiskalten Fänge unbarmherzig in ihr warmes Fleisch schlagen, sich an ihrem aushauchenden Leben laben… Sie zitterte, die unstete Übelkeit in ihrer Magengegend wuchs. Erst ein einziges Mal hatte sie etwas Vergleichbares erlebt, etwas gespürt, dass ihrer jetzigen Situation ähnelte. Als sie das Dorf der Dämonenjäger, der Drachentöter, betreten hatte, indem Flúgar just zu diesem Zeitpunkt dabei war, dessen Bewohner abzuschlachten… auch dort war dieses Gefühl in ihr empor gekrochen, hatte sie frösteln lassen, Angst aufgewühlt, gegen die sie vollkommen machtlos war. Die Präsenz eines überdurchschnittlich starken Youkai also war es, die diese beängstigende Kälte heraufbeschwor… Die Priesterin wagte es kaum, den Kopf anzuheben und auf die Lichtung hinunter zu spähen, ihren Blick schweifen zu lassen. Der Anblick, der sich ihr darbot, ließ sie augenblicklich erstarren, ihre Muskeln sich weigern, ihren Befehlen zu gehorchen, ihren Verstand aussetzen. Ihr apathischer Blick war wie festgefroren. Auf der Lichtung direkt vor ihr, dort war er, der Dämon; ein Dämon in der Gestalt eines monströsen Hundes, dessen rubinrote Augen sich nur zu deutlich von seinem silbrig glänzenden Fell abhoben. Seine riesige Schnauze war blutverschmiert, und auch die Vorderläufe und seine Brust waren mit der roten Flüssigkeit besprengt. Der im Sonnenlicht noch feucht rosig schimmernde Knochen, der zwischen seinen riesigen Pfoten lag, und den er ausgiebig mit den Zähnen bearbeitete, konnte nicht von einem Reh oder einem Wildschwein stammen, dafür war er zu groß. Doch was hatte der Dämonenhund gerissen…? Ein Tier welchen Ausmaßes musste er getötet haben, um an solch einen Knochen zu gelangen…? Die junge Frau unterdrückte vehement den aufkommenden Würgereiz, presste sich die Hand auf den Mund. Es war keine gute Idee gewesen, alleine hierher zu kommen, um zu schauen, ob sie etwas bewirken konnte. Gegen einen Youkai wie diesen hatte sie nicht den Hauch einer Chance, ausgeschlossen. Müheselig kämpfte sie gegen die Lähmung ihres Körpers an, rang mit sich selbst um Kontrolle. Wenn sie hier weiter so regungslos verharrte, und sich kein Stück rührte, würde der weiße Dämonenhund sie früher oder später wittern, ganz gleich wie leise sie sich verhielt. Er war ein Hund, er musste sie nicht hören, nicht sehen und nicht spüren, um zu wissen, dass sie da war. Ob er ihre Angst riechen konnte? Noch immer steif und ungelenk vor Schreck zwang sie ihren Leib zu einer Bewegung, trat einen halben Schritt zurück. Doch anscheinend sollte ihr das Glück nicht hold sein, denn der trockene Waldboden unter ihren Füßen gab nach, riss sie mit sich den kleinen Abhang hinunter. Ein unsanfter Aufprall wenige Augenblicke darauf bescherte ihr die Vergewisserung, dass sie wieder auf festem Boden weilte. Ein tonloser Fluch löste sich von ihren Lippen, als sie sich ächzend auf die Arme stützte und sich in eine sitzende Position begab. Die Gebetsperlen rollten, schier ihrem eigenen Willen folgend, wahllos durch den Staub. Wieso passierte so etwas eigentlich immer nur ihr? Die kurze Zeit der Überraschung verging, und langsam aber sicher wurde sie sich ihrer Lage gewahr. Angst… wie ein Greifvogel stürzte sie auf Midoriko hernieder, packte sie mit ihren schwarzen Klauen und erlegte ihr ihren eisernen Griff auf. Es war aussichtslos, aus dieser Angelegenheit kam sie nicht lebendig heraus… Ihr gesamter Leib bebte, sie zitterte wie Espenlaub, obwohl ihr Körper wie paralysiert war, und sie wusste selbst nicht, warum sie aufblickte, den Kontakt zu dem Angesicht des Dämons anstrebte. Der riesige Hund schaute in ihre Richtung, hatte den Kopf leicht gedreht und betrachtete sie mit einem eindringlichen Blick. Er hatte von seiner Beschäftigung abgelassen, leckte sich das restliche Blut mit einer beiläufig erscheinenden Geste von den Lefzen. Für die schwarzhaarige Priesterin war eben dies ein Zeichen, dass jeden Gedanken an Zweifel in ihrem Hirn ausmerzte. Natürlich, was wollte diese Bestie ihr sonst damit zu verstehen geben? Jetzt war sie an der Reihe. Sie schluckte hart, blinzelte die Tränen aus ihren Augenwinkeln. Was musste sie doch für einen erbärmlichen Eindruck machen… Selbst von ihrer Position aus konnte sie ihr eigenes Antlitz sehen, dass sich in den roten Augen des hundegleichen Ungetüms widerspiegelte. Sollte es so enden? Würde sie als Mahlzeit für einen Hundedämon ihr Leben lassen? Ohne Vorwarnung wurde die baumlose Schneise auf einmal in gleißendes Licht getaucht, sodass Midoriko geblendet die Augen schließen musste, um die Helligkeit auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Verunsicherung trieb in ihr hoch; was sollte das? Wollte er ihr nicht sofort den Garaus machen? Beiden blieb indes verborgen, dass die Gebetsperlen, die auf dem Untergrund des Waldes verstreut waren, unheilvoll zu leuchten begannen… So rasch wie es erschienen war, verschwand das sonderbare Licht auch wieder, und als die Menschenfrau die Augen öffnete, gewann die Verwirrung in ihr die Oberhand. Der Höllenhund war fort, und anstatt seiner stand nun eine menschlich wirkende Gestalt mitten auf der Lichtung. Es war ein Mann mit silberweißen Haaren, bernsteinfarbenen Augen und einer dunkelblauen Markierung auf jeder Wange. Über der beinahe gänzlich weißen Kleidung trug er eine mit Dornen gespickte, über den Schultern verstärkte Rüstung, und das, was er sich auf den Rücken geschnallt hatte, war mit absoluter Sicherheit eine Waffe. Nur eine einzige Sache störte ihr Bild des perfekten Kriegers… sie wusste es nicht zu benennen, doch es sah aus, wie weiches, weißes Fell, das sich an seine Rüstung, seine Seiten und wohl auch an seinen Rücken schmiegte. Sie ertappte sich bei der Überlegung, wie es sich wohl anfühlte, wenn man es berührte… Ein fragender Ausdruck machte sich auf ihrer Miene breit, und je länger sie ihn anschaute, sein Gesicht, seine Erscheinung musterte, desto mehr vergaß sie ihre Furcht. Die Züge ihres Gegenübers verrieten ebenso wenig Härte wie Blutdurst und Grausamkeit, und obschon ihr bewusst war, dass es sich um einen Dämon handelte, so änderte dies nichts an dem Umstand, dass man aus seinen Augen, aus seinem Gesichtsausdruck… Güte und einen stummen Funken Wärme lesen konnte. Nein, bis jetzt war ihr noch niemals ein Youkai begegnet, der sie mit etwas Derartigem konfrontiert hatte, denn ohnehin fielen ihr nicht gerade viele Dämonen ein, die neben ihrer eigentlichen Form noch über ein humanes Äußeres verfügten. Flúgars Züge waren ebenmäßig, aber zumeist kalt, emotionslos, manchmal erschienen sie ihr auch bitter. Seine Augen ließen gleichermaßen wenig zu, gestanden an Gefühlen kaum etwas ein, was jedoch eher an seiner Art zu begründen war, als an ihrer hellen Färbung. Selbst bei Kyouran war ihr so gut wie keine eindeutige Regung aufgefallen, die man auf eine ehrliche, tiefer greifende Empfindung hätte beziehen können. Er unterschied sich maßgeblich von dem kühlen Loftsdreki, doch in dieser Hinsicht waren sie sich vielleicht gar nicht so unähnlich – auch, wenn Kyourans Wesen ein etwas sanftmütigeres zu sein schien. An die von Hass und Rachegelüsten entstellten Gesichtszüge des Eldursdreki Aska wollte sie sich gar nicht erinnern… Das hier… war es die Realität? Oder bloß ein Traum? Es wirkte so surreal, dass sie es zunächst nicht glauben konnte. Er war ein Youkai, ein Wesen der Dunkelheit, das sich finsterer Mächte bediente, um nach Lust und Laune seinen ganz persönlichen Neigungen auszuleben. Allein die Zugehörigkeit zu jener Rasse schloss doch von vornherein einen Charakterzug wie Barmherzigkeit aus, widersprach sich selbst. Unmöglich, das konnte schlichthin nicht wahr, nicht real sein. Niemals! Wie aus dem Nichts schoss aus heiterem Himmel ein heller Schemen aus dem Gebüsch, Feuer flammte auf, und ein aggressives Brüllen schallte über die Richtung. „Kaneko-chan!“ Kampfbereit hatte sie sich in ihrer pferdegroßen Gestalt vor ihrer Herrin aufgebaut, stellte sich dem weißhaarigen Dämon feindselig entgegen. Doch dieser kümmerte sich wenig um das beherzte Einschreiten des Nekoyoukai, denn er war mit etwas anderem beschäftigt, das seine volle Aufmerksamkeit erforderte. Nachdenklichkeit zeichnete sich in seinen Augen ab, beeinflusste seine Haltung, und sie vermeinte, dass er etwas ratlos dreinschaute. Und schlagartig erkannte sie auch, warum dem so war. Die Gebetsperlen… nein, sie befanden sich wahrhaftig nicht mehr dort, wo sie nach ihrem Absturz hingekugelt waren. Denn nun zierten sie nicht mehr den Waldboden, sondern den Hals des Hundedämons, fügten sich als Zusammenschluss zu einer Kette, die er offensichtlich überfragt genauer in Augenschein nahm. Warum formte sich vor ihrem inneren Auge bloß das Abbild eines jungen Hundes, dem sein Herr das erste Mal ein Halsband anlegte…? Dem Youkai fehlte wohl das Wissen, was ein Rosenkranz wie dieser bedeutete. Ob sie sich dafür glücklich schätzen oder es eher bedauern sollte, würde sie noch früh genug erfahren. Es war keine Absicht gewesen, und trotz dessen musste ein unterbewusster Reflex ihrerseits die schwarzen Kugeln aktiviert haben. Schließlich traf sie sein bernsteinfarbener Blick, aus dem das naive, unschuldige Unverständnis eines Kindes sprach. Die Priesterin war am Ende ihres Lateins; sie fand so gar nichts Dämonisches an ihm, einfach nichts, dass man als ‚böse’ hätte brandmarken können. „Was ist das?“ Seine Stimme war tief, und besaß einen angenehmen Nachklang, der in ihren Ohren beinahe sanft widerhallte. Meine vorherige Angst erschien mir unbegründet, und ich konnte nicht mehr nachvollziehen, wovor ich mich so schrecklich gefürchtet hatte. Die dämonische Aura, die ich gespürt hatte… konnte es überhaupt die seine gewesen sein? Er strahlte keine Bedrohung aus, zumindest für den Moment nicht, was jedoch nicht belegte, dass er ungefährlich war. Mitnichten, ein Unschuldslamm war er sicher nicht, doch er hatte mich verschont, und dieses Verhalten zeugte von nobler Gesinnung, von Anstand und einem gewissen Stolz. Ich war bloß ein Mensch, somit schwächer als er, aber seiner Reaktion nach zu urteilen fand dieses Argument bei ihm keine Geltung. Grundlos tötete er nicht – zu meinem Glück. Nur langsam stand ich auf, achtete auf jedwede Bewegung, als ich an Kanekos Seite trat und meine rechte Hand beschwichtigend auf ihre Schulter legte. Der Katzendämon warf mir einen flüchtigen Seitenblick zu, ehe er gehorsam den großen Kopf senkte und sich zurückverwandelte. Zögerlich wandte ich mich anschließend wieder an dem Hundedämon. Er beobachtete mich fortwährend, seinem von Ruhe und Gelassenheit geprägtem Blick jedoch Stand zu halten, war mir unmöglich. Warum wusste ich selbst nicht. Das Versehen mit dem Rosenkranz bereitete mir ein schlechtes Gewissen. Verlegen starrte ich die Stiefel meines Gegenübers an, spielte mit einer der kohlschwarzen Strähnen meines Haars. Wie fing ich es am besten an? Was sollte ich nur sagen? Entschuldigung…? Das war wenigstens ein Anfang. „Gomen…“ Mehr brachte ich nicht hervor, mehr brauchte es auch wahrlich nicht. Ein unheilvolles Leuchten ergriff die Gebetsperlen, und wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, riss es den ahnungslosen Dämon augenblicklich mit Brachialgewalt zu Boden. Feiner Staub wirbelte in die lauwarme Luft. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, was gerade eben geschehen war. Hatte Eki-sama diesen Vorgang mit ‚Unterjochung’ gemeint? Die Kugeln hatten unmissverständlich auf etwas reagiert. Bloß auf was…? Der unglückliche Youkai richtete sich auf, schüttelte sich wie ein Hund, bevor er mir einen Blick schenkte, der sich von entgleist und überrascht zu vorwurfsvoll wandelte. Ich zuckte die Schultern; es war mir so rätselhaft wie ihm. „Was zur Hölle ist das?!“ Verärgert packte er den schwarzen Rosenkranz, versuchte unnachgiebig, ihn auf jegliche Art und Weise loszuwerden, die ihm in den Sinn kam. Erfolglos, denn die Kette wehrte sich wirksam dagegen, wieder von seinem Hals entfernt zu werden, weigerte sich loszulassen und leuchtete grell auf, wenn sie gegen seinen Willen rebellierte. So, als würde sie ihn für seine Machtlosigkeit verhöhnen… mein Kichern blieb mir im Halse stecken, als ich realisierte, dass das meine Schuld war. „Gomen, ich…“ Abermals fand sich der Weißhaarige auf dem Waldboden wieder, stieß ein verächtliches Schnauben aus. Das vage Knurren, das dem folgte, verhieß definitiv nichts Gutes. Wenn mir mein Leben etwas wert war, musste ich etwas unternehmen. Sofort. Äußerste Anspannung beherrschte meinen Körper, als ich auf ihn zuschritt, mich ihm näherte. Mir durfte kein noch so kleiner Fehler unterlaufen, denn vor der aufwallenden Wut des Hundeyoukai würde mich auch der Rosenkranz nicht ewig schützen können. Zudem würde dessen weiterer Gebrauch seinen Zorn nur noch weiterhin anstacheln, und darauf konnte ich getrost verzichten. Nur knapp eine halbe Schrittlänge Distanz war es, die noch zwischen ihm und mir lag, als ich mich neben ihm auf den Boden kniete. Die Mühe, sich aufzusetzen, hatte er sich dieses Mal gar nicht mehr gemacht. Abwartend ruhte sein Blick auf mir. Ich verneigte mich, schöpfte Atem, doch ehe bloß eine einzige Silbe sich von meinen Lippen löste, spürte ich die Hand es Dämons auf meinem Mund. „Sei still, sag einfach nichts, verstanden?“ Es war eine flüchtige Berührung, und seinen Worten war keine Drohung zu entnehmen. So nickte ich stumm, schloss kurzfristig die Augen. Warum hätte ich etwas anderes tun sollen? Seine Finger stahlen sich unter mein Kinn, strichen zärtlich über meine Wange. „Du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten. Ich werde dir nichts tun, versprochen.“ Er lächelte. „Wie heißt du?“ Ein unvergleichliches Lächeln, das so viel Wärme, so viel Ehrlichkeit vermittelte… „Midoriko.“ Meine Stimme war nur ein leises Flüstern, und ich drehte den Kopf leicht ab, versuchte, die verräterische Röte, die meine Wangen färbte, vor ihm zu verstecken. Was war nur los mit mir? Wieso errötete ich wie ein kleines Mädchen, das gerade seinen ersten Kuss bekommen hatte? Nun, vielleicht, weil es eben diesen Moment in meinem Leben nie gegeben hatte… Aus den Augenwinkeln wanderte mein Blick noch einmal über die Gesamtheit seiner Erscheinung. Ich musste mir eingestehen, dass er von Nahem noch mehr Eindruck auf mich machte, als aus der Ferne. Er war ein außerordentlich hübscher Mann, dem man als Frau wohl nur zu gerne verfiel. Nein, es behielt sich nicht bei seinem Äußeren, ich spürte das Wesen seiner Seele, und dieses glich nicht annähernd dem eines Dämons… „Also, was ist das?“ Ich schrak auf, blinzelte perplex. Er deutete auf die Kette aus matt glänzenden Perlen, die – anders als er – einen zufriedenen Anschein an ihrem neu gefundenen Platz erweckte. „Ein Rosenkranz aus Gebetsperlen, der zur Unterjochung dient. Gomen, ich…“ Zu spät schlug ich die Hände vor den Mund, und ein weiteres Mal riss der Rosenkranz seinen unfreiwilligen Träger schmerzhaft in Richtung des harten Untergrundes. „Es war nicht meine Absicht, Euch unter seinen Bann zu stellen.“ Die Bestürzung auf meinem Gesicht und die Anrede, die ich gebrauchte, amüsierten ihn. Wieder schlich sich dieses markante Lächeln auf seine blassen Lippen, als er sich aufrappelte, mit der Hand abwinkend gestikulierte. „Nimm mir das verflixte Ding ab, und ich vergesse den kleinen Zwischenfall.“ Ich nickte bejahend, schloss behutsam die Finger um die Perlen und entwirrte den Bann, den ich in meinem Unterbewusstsein gewoben haben musste. Sichtlich erleichtert atmete der Youkai auf, als die Bindung zwischen den Kugeln erlosch und sie zurück in meine Handflächen glitten. „Chichi-ue.“ Huh? Ein Kind…? Es hatte dieselben weiß-silbernen Haare, dieselben bernsteinfarbenen Augen… sein gleichgültiger Blick streifte mich nur kurz, bevor es sich seinem Vater zuwendete. „Was ist, Sesshoumaru?“ Ich stutzte. Sesshoumaru? Ein solcher Name für ein Kind…? Nun, immerhin war er der Sohn eines Dämons… Der Angesprochene vergrub die kleinen Finger im weißen Fell seines Vaters, gähnte herzhaft, als der ältere Hundeyoukai ihm durch die Haare fuhr. Ich schmunzelte. Natürlich, der niedliche Kleine war müde, hundemüde. Kaneko rieb sich an meinem Bein, doch die Spannung war noch nicht aus ihr gewichen, sie traute dem Frieden nicht. Schließlich war sie eine Katze, und er ein Hund; was hatte ich erwartet? „Gehört das dir?“ In seinen Augen flackerte Neugier auf, als er das Stück Pergamentpapier, das er vom Boden aufgelesen hatte, in seiner Hand genauer begutachtete, es entfaltete und den Inhalt studierte. Augenblick! War das nicht der Brief, den ich erhalten hatte, die persönliche Einladung des Tennô? „Was für ein eigenartiger Zufall…“ Der Hundedämon schaute auf. „Kennst du den Weg?“ Ich schüttelte den Kopf. Was bezweckte er mit dieser Frage…? Die Erkenntnis traf mich wie ein Bogenschuss, ein meisterhafter Bogenschuss mitten ins Schwarze. Aber was hatte ein Dämon mit dem Tennô zu schaffen? Hatten sie geschäftliche oder politische Verbindungen? Ich wusste nicht, was ich über diese Angelegenheit denken sollte. Spielte er mit mir? Oder meinte er es ernst? Es klang so absurd… all das, was mir in der letzten Zeit widerfahren war, stufte ich bereits als unbegreiflich ein. Mir war, als hätte ich eine andere Welt betreten, eine fremde Welt, die mich an meine Grenzen trieb, sich meinem Vorstellungsvermögen entzog und die ich nicht zu ergründen vermochte. War das hier noch die Realität, die Wirklichkeit, in der ich die Jahre über aufgewachsen war? Selbst ein klarer Verstand half an dieser Stelle nicht mehr weiter. Ich schaffte es einfach nicht, mit diesen Schwierigkeiten richtig umzugehen. Was hätte ich zu jenem Zeitpunkt für etwas Vertrautes gegeben… ein Gesicht, das ich kannte, oder eine Stimme, die mir vertraut war… Flúgar… warum war er ohne ein Wort der Erklärung fort gegangen? Aus welchem Grund hatte er mich allein gelassen? Flúgar… natürlich, im Endeffekt lief alles auf ihn hinaus. Mit ihm hatte alles begonnen. Ihn zu beschuldigen, führte wohl zu weit, doch er trug einen Teil der Schuldenlast. Wäre es besser gewesen, ihn sterben zu lassen? Was wäre gewesen, wenn ich ihn seinem Schicksal überlassen hätte und weiterhin meiner eigenen Wege gegangen wäre? Würde es mir heute anders ergehen? Besser? Oder vielleicht schlechter? Bereute ich es, ihm das Leben gerettet zu haben? ּ›~ • ~‹ּ ***>>> Kapitel 34: >“Niemand würde vermuten, dass sich in der Residenz des mächtigsten Menschen Japans Dämonen befinden, und das ausschließlich; ein humanes Äußeres ist nicht gleichbedeutend mit der Gesinnung. Die Schwierigkeit besteht darin, zu erkennen, wer im Inneren einen Dämon verbirgt und wer nicht…“ *» Tenma Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)