Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 25: *~Uppsögn~* ----------------------- "Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren." – Bertolt Brecht Kapitel 25 - Uppsögn -Resignation- *Welcher Weg ist zu wählen, wenn einen die Aussichtslosigkeit der gegenwärtigen Situation gefangen hält? Lautet die Devise fliehen um jeden Preis? Ausharren und nachdenken? Oder aber sollte man den Mittelweg zwischen diesen beiden suchen? Und was ist, wenn man gar keinen Ausweg sieht? Entscheidet denn jeder in solch einer Lage nach seinem Verstand?* ּ›~ • ~‹ּ Eine leichte Erschütterung weckte mich schließlich auf meinem friedlichen Schlummer, und meine Konfusion erreichte neue Höhepunkte, als mir - zu meiner absoluten Überraschung - auffiel, dass mich jemand trug. Um mich herum war alles in die finsterste Tuschenschwärze getaucht, und der Geruch von Nässe und Moder hatte kein bisschen nachgelassen. Demnach befanden wir uns noch immer unter der Erde, in einem der vielen Gänge der großen Höhle, die ich im Steinbruch entdeckt hatte. "Hast du gut geschlafen?" Ein erschrockenes Keuchen entkam meiner Kehle, und es dauerte seine Zeit, bis ich endlich realisierte, wer sich so unmittelbar in meiner Nähe aufhielt. Skuggi. Ich bejahte leise, suchte, von der unterirdischen Kälte der nackten Felsen geschüttelt, engeren Kontakt zu Skuggi, schmiegte mich an seinen warmen Leib. Denn anders als Flúgar sandte er eine angenehme, fast lockende Wärme aus, die mir das Gefühl von Geborgenheit und Schutz vermittelte. Womöglich war mein Eindruck eine Täuschung, und nur eine Folge meiner Benommenheit, die ich unter diesen Umständen kaum abzuschütteln vermochte, aber immerhin war es mir in gewisser Weise ein Trost, etwas, an dem ich in meiner innerlichen Verlorenheit festhalten konnte. Flúgar... was sollte ich nur tun? Ich hatte keinen Anhaltspunkt, nicht einmal eine vage Ahnung, nichts. Wie bloß sollte ich ihn in diesem Labyrinth, in dem jede Ecke wie die vorherige aussah, ausfindig machen? Wie? Verzweiflung begann sich meines Verstandes zu bemächtigen, und allmählich wusste ich weder aus noch ein... "Midoriko..." Die Äußerung des Drachen ließ mich zusammenfahren, und ich zuckte merklich zusammen, als er mich ansprach. Zögerlich spähte ich über seine Schulter, blickte in die schwarze Leere der Dunkelheit. "Habe ich lange geschlafen?" Ich rieb mir die Augen, unterdrückte ein ausgiebiges Gähnen, und versuchte meine noch immer bestehende Müdigkeit zu verdrängen. So, wie ich mich fühlte, konnte ich höchstens zwei oder drei Stunden mit Schlafen zugebracht haben. "Ziemlich lange... Askas Diener bereiten schon die Opferung vor. Wir müssen und beeilen. Bis jetzt haben sie anscheinend noch nicht bemerkt, dass du nicht mehr dort bist." Für einen Moment beherrschte mich die Fassungslosigkeit, doch ich fing mich wieder, festigte unbewusst den Griff um Skuggis breite Schultern. "Bitte?! Sie bereiten die Zeremonie vor...? Wie spät ist es denn?" Der Angesprochene entgegnete mir eine Weile nichts, und meine Hoffnung war beinahe zerschmolzen wie Eisblumen in der Sonne, als er wieder die Stimme erhob. "Draußen dürfte es dämmern, und zwar zur Nacht hin. Uns bleibt wirklich nicht mehr viel Zeit..." Er klang angespannt, seine Worte verrieten die Dringlichkeit der Lage und die Zeitnot, in die wir langsam hineingerieten; selbst seine Ruhe ebbte sichtlich ab. Ich war bemüht, mich von solchen Empfindungen abzuschotten, und versucht, sie zu ignorieren. Ohne einen klaren Verstand würde ich scheitern, ich musste mich zusammenreißen und meine Konzentration wahren. Denn das war womöglich Flúgars einzige Aussicht zu überleben. "Sag, gehört das hier zu dir?" Mit verwirrter Miene betrachtete ich das kleine, pelzige Etwas, das auf Skuggis Handfläche gelegen hatten, nun aufsprang und geruhsam schnurrte... "Kaneko-chan!" Der Nekoyoukai miaute freudig, und fügte sich geduldig meiner etwas übereilten Begrüßung. Erleichterung und ein ungemeines Gefühl der Freude und des Glücks wallten in meinem Körper auf, klangen jedoch genauso rasch wieder ab und erkalteten. Noch war die Angelegenheit nicht ausgestanden. "Sie kam mir auf halbem Wege entgegen. Bei ihrem Verhalten dachte ich mir, dass sie dich kennt..." Ein heiteres Lächeln zog schattengleich über meine Lippen, als ich durch das weiche Fell des Katzendämons strich und begann, ihm den Nacken zu kraulen. Allein Kanekos Reaktion darauf, allein der Klang ihres Schnurrens entfachte in mir ein seliges Gefühl. Ich schöpfte neuen Mut. Mit Skuggi und Kaneko an meiner Seite würde es mir gelingen, da war ich mir vollkommen sicher! Der Rest lag bei Flúgar; er musste noch ein wenig durchhalten... und obgleich ich bereits mehr als ein Mal erlebt hatte, dass der Loftsdreki unglaublich hart im Nehmen war, machte ich mir furchtbare Sorgen um ihn. Laut Skuggi war es nicht bloß Aska, die ihren Rachedurst zu stillen gesuchte... wenn dieser Vatnsdreki auch nur halb so besessen von seinem Hass war wie Shiosai, bestand kaum noch Hoffnung, dass ich Flúgar jemals wieder lebendig zu Gesicht bekam. Aber... Aska wusste, dass ich ihn kannte, und erst nachdem ich ihr den ersten Verdacht bestätigt hatte, war ihr die Idee mit der Opferung gekommen. Bei dem Eindruck, den ich von ihr gewonnen hatte, war sie sicherlich ziemlich sadistisch veranlagt, also würde sie Flúgar bestimmt nicht vor der Zeremonie sterben lassen oder selbst töten. Was hätte mein Tod für einen Sinn - für Aska und ihren Gehilfen - wenn Flúgar dem nicht persönlich beiwohnte? Keinen. Sein Youki mochte mir verborgen bleiben, ich spürte ihn nicht, aber er lebte, dafür hätte ich mit meinem Leben bürgen können. Wo dieses Gefühl herrührte, war mir unklar, aber es war da, und es war stark. Stärker als meine Angst, stärker als meine Sorge, stärker als mein rationales Denken... ּ›~ • ~‹ּ Ich musste ein weiteres Mal eingenickt sein, denn als ich erwachte, lehnte ich an der vorderen Flanke der großen Feuerkatze, die sich mit ihrer Atmung spürbar hob und senkte. Entgegen Kanekos Anwesenheit, glänzte Skuggi mit dauerhafter Abwesenheit. Er war nicht zugegen, aber wo konnte er sein? Dieses unendlich wirkende Meer der Finsternis, das mich und den Nekoyoukai einhüllte, das die gesamte Umgebung unerkenntlich machte, belastete zusehends mein Gemüt und drückte meine Stimmung. Trotz Kanekos Nähe fühlte ich mich einsam, auf gewisse Art verloren. Auf mich gestellt würde ich aus diesem steinernen Irrgarten nie wieder herausfinden, und ich zweifelte, ob es der Dämonenkatze glücken würde. Hieß das in unverblümten Worten, dass ich hier bleiben und sterben musste, wenn Skuggi nicht zurückkehrte? Iie, ich konnte nicht hier verweilen... ich musste Flúgar suchen, gleichgültig, ob der Drache wieder zu mir stoßen würde oder nicht. Davon durfte ich mich nicht beeinflussen lassen; selbst wenn ich alleine gehen musste, würde ich es tun. Für ihn, für Flúgar... zumindest das war ich ihm schuldig! Ich gestand mir ein, dass ich ihn vermisste, und obschon wir nun wahrlich noch keine lange Zeit voneinander getrennt waren, fehlte er mir. Was ich genau misste, wusste ich nicht zu benennen, aber eine unangenehme Leere klaffte wie eine breite Schlucht in meinem Inneren und dehnte sich stetig, unaufhaltsam aus. Mir behagte dieses Empfinden ganz und gar nicht... Vorsichtig stand ich auf, vergrub die Finger in Kanekos dichtem Fell und schwang mich auf ihren Rücken. Mit einem leisen Schnalzen leitete ich sie zum Vorwärtsgehen an, bedeutete ihr dem Verlauf des Ganges zu folgen. Ihre Schritte waren bedacht, ab und an hielt sie inne oder stieß mit den Pfoten gegen lose Geröllbrocken, die wahllos auf dem Boden verteilt lagen. Scheinbar benutzten Aska und ihre Untergebenen diesen Abschnitt ihres unterirdischen Versteckes nicht, demnach leuchtete mir ein, warum Skuggi uns hierher geführt hatte. Hier würde uns der Eldursdreki erst einmal nicht aufspüren können. Wie lange wir uns so fortbewegten, konnte ich bei bestem Willen nicht sagen, doch irgendwann drang ein schwacher Lichtschein bis zu uns vor, zeigte uns so das Ende des gewundenen Felstunnels. Kurz davor blieb meine Gefährtin plötzlich wie vom Donner gerührt stehen, stellte in höchster Aufmerksamkeit die Ohren nach vor, die Haare in ihrem Genick sträubten sich. Zeitgleich stockte mir der Atem. Vor uns lag ein riesiges, weiträumiges Gewölbe aus schiefergrauem Gestein, das nur von vereinzelten, massiven Säulen gestützt wurde, und auf mich keinen sehr stabilen Anschein machte. Die Pfeiler wirkten wie abgeschliffen, teilweise an den rundlichen Seiten ausgehöhlt. Ich vermutete, dass diese Höhle zu früheren Zeiten einmal unter Wasser gestanden hatte, und dieses verantwortlich für die außergewöhnlichen Felsformationen war. Skurrile Skulpturen aus Stein ragten aus dem Boden empor oder hingen von der Decke hinab, die karge, ausgeschwemmte Fläche unter dem Vorsprung, auf dem Kaneko und ich standen, teilte sich in zwei Ebenen, von denen sich die eine etwa zwölf Schrittlängen über der anderen auftat. Vor diesem plateauähnlichen Gebilde befanden sich mehrere kleine und mittelgroße Teiche, deren Tiefe ich nicht zu schätzen wagte; zu ihrer Mitte hin verfärbte sich das türkisfarbene Wasser schwarzblau, und diese Untiefen hatten etwas Bedrohliches an sich, das ich nicht so recht einzusortieren wusste. Die ungestalte Gefahr macht mich nervös; etwas hielt sich dort im Verborgenen, und ich vermeinte mich daran zu erinnern... Mein Blick schweifte durch die gigantische Saalhalle, über den ehemals rein alabasterfarbenen Opferaltar, über die grotesken Staturen zu den Gestalten, die sich auf dem erhöhten Plateau befanden. Stumm formten meine Lippen die Worte der Fassungslosigkeit, kein Ton entrang sich meiner Kehle. Träumte ich? "Flúgar..." Meine Hände, nein, mein ganzer Leib zitterte, meine Knie fühlten sich weich wie Butter an, und hätte mich nicht jemand zurückgehalten, und meine Stimme dadurch gedämpft, dass er mir den Mund zuhielt, hätte ich den Namen des Loftsdreki aus Leibeskräften durch den gesamten Saal geschrieen. "Shht, sei leise, oder willst du, dass sie uns bemerken?" Instinktiv schüttelte ich den Kopf, und Skuggi zog seine Hand zurück, wich einige Schritte von mir weg, was mir den Halt raubte und mich kraftlos auf die Knie sinken ließ. Dort unten war er, Flúgar, kniete, gezwungen durch seine Fesseln - Eisenketten, die eng um seine Handgelenke saßen und ihm die Arme wohl recht schmerzhaft nach oben zogen - kurz vor dem steilen Überhang über den Wasserlöchern. Außer seinem Hakama trug er nichts mehr am Leib, und soweit ich es aus dieser Entfernung beurteilen konnte, sah er im Allgemeinen ziemlich zerschunden aus. Größere Wunden konnte ich nicht entdecken, aber er war bei weitem nicht unversehrt. Vermutlich war er bewusstlos, denn er regte sich nicht, sein Kopf war bis auf die Brust gesunken, und er verharrte genau in dieser unbequemen Lage. Eine der beiden Personen, die nahe bei ihm waren, trat nun näher, rammte ihm unwirsch das rechte Knie in den Rücken, was mich erschrocken zusammenzucken ließ. Was sollte das? Ob sie miteinander redeten oder aber schwiegen, war von hier oben unmöglich festzustellen, sie waren sich jedoch einig, was den Umgang mit ihrem wehrlosen Gefangenen betraf. Ihr Verhalten gegenüber Flúgar wurde immer gewalttätiger, sodass ich die Augen zusammenkniff um diesem Anblick zu entgehen, und eine halbe Unendlichkeit schien zu vergehen, ehe sich an den Muskeln des Loftsdreki endlich eine vage Regung abzeichnete. Erst dann ließen sie von ihm ab, und die zweite Gestalt, die sich in weiße Gewänder gehüllt hatte, näherte sich ihm. Aska. Unsanft packte sie ihn unter dem Kinn, zwang ihm den Kopf in ihre Richtung. Flúgar leistete keinen Widerstand, es erfolgte keine Resonanz seinerseits auf ihre eindeutige Misshandlung und Demütigungen, die sie ihm auferlegte. Er bewegte sich im Grunde überhaupt nicht, ertrug gegenwehrlos ihr Tun, dem in dieser Situation jeder Anlass fehlte. Das, was ich erblickte, brach mir fast das Herz, und eine unangenehme Übelkeit schlug mir auf den Magen. Was hatten sie ihm nur angetan, dass er sich dem so gar nicht entgegensetzte? Oder hatten sie etwas mit ihm angestellt, dass er sich eben nicht mehr verteidigen konnte? Ich musste doch etwas unternehmen können, irgendetwas... Skuggi fasste mich am Arm, schüttelte verneinend den Kopf, als ich ihm einen flehentlichen Blick zuwarf. Meine Sicht verklärte sich, verschwamm wie von Regen getrübt, und nur mit Mühe und viel Selbstbeherrschung behielt ich ein Aufschluchzen in mir selbst verwahrt. Ich fühlte mich so machtlos, nutzlos, verzweifelt... Flúgar hatte sich entschieden, sein Vorhaben war eine beschlossene Sache. Er würde sich weder Aska unterwerfen noch sich freiwillig weiter ihren und Rakuchous Erniedrigungen ergeben; er würde den einzigen Ausweg, der sich für ihn ergab, nutzen. Sein blockiertes Denkvermögen stellte ihn vor eine Wahl, die ihm in seiner Lage nicht sehr schwer fiel. Ihm war es lieber, dem Ganzen eigenhändig ein Ende zu setzen als sich von dem rachelüsternen Drachengespann langsam zu Tode foltern zu lassen, und somit alles zu verlieren, was er im Moment noch besaß. Seinen eigenen Willen und seinen Stolz würde er ihnen um nichts in der Welt preisgeben, und damit zog er es vor, sich seine Ehre selbst zu nehmen... Unwillkürlich musste er an die Priesterin denken, Midoriko. Seine Lebensschuld bei ihr würde nie versiegen, und er empfand es als ungerecht und verantwortungslos, sich dieser so zu entziehen, aber die Aussicht darauf, seine Seele einzubüßen und niemals in Frieden ruhen zu können, erschien ihm Strafe genug. Er würde so enden wie Afi, und alle Drachen vor ihm, die gestorben waren... seine Seele würde sich auflösen, zu rastlosen Windgeister werden, die ewig darauf verdammt waren ziellos umherzuirren und keine Ruhe zu finden. Er hegte keine Angst vor dem Tod, oder dem Augenblick des Sterbens, er fürchtete bloß seine Folgen. In dieser Hinsicht beneidete er die Menschen, diese simplen Kreaturen, die nach einem kurzen Leben dahinschieden, ihren Körper zurückließen und als pure Seelen ins Jenseits einkehrten. Als Drache war es ihm nicht einmal vergönnt, ins Jenseits eingehen zu dürfen, er würde weiterhin auf dieser Welt wandeln müssen, als Geist, den ohnehin kaum ein Wesen zur Kenntnis nahm. Um diesen Preis wohnte ihm ein ewiges Leben inne... "Hörst du zu, Flúgar?" Askas Griff wurde fester, der Loftsdreki presste die Zähne aufeinander und öffnete andeutungsweise die Augen. Er musste seine Kräfte sparen, denn er hatte bloß einen Versuch, sich aus diesem Alptraum zu befreien... "Deine Freundin hat mir ihre letzten Worte auf den Weg gegeben, willst du sie hören?" Ein süffisantes Lächeln umspielte ihren wohlgeformten Mund, und ihre in tödlichen Klauen endenden Finger strichen beinahe zärtlich über seine Wange, ritzten feine Striemen in die dünne Haut. Seine Freundin...? Von wem sprach sie? Etwa von Midoriko?! Die unweigerliche Veränderung, die seine Züge ergriff, schien den Eldursdreki zufrieden zu stimmen. Befriedigt blickte sie ihn an, legte die Arme um seine bloßen Schultern, schmiegte sich eng an seine Halsbeuge, sodass ihre vollen Lippen beinahe sein linkes Ohr berührten. "Hör gut zu, Flúgar, denn ich werde es nicht wiederholen... ,Gegen das Schicksal wirst du mit deinem Willen und deinem Herzen niemals ankommen' - das ist ihre Botschaft an dich." Der Körper des Loftsdreki verkrampfte sich, und er wusste sich das abfällige Schnauben, das ihm entfuhr, nicht zu untersagen. Er glaubte ihr nicht, Aska log. Das klang so überhaupt nicht nach Midoriko... "Quäl dich nicht selbst, mein Hübscher, sie wird hier und jetzt vor deinen Augen für Hikage geopfert werden." Flúgar konnte dem nichts entgegenbringen, Askas Worte ließen ihn aus allen Wolken fallen, vernahmen den kläglichen Teil seines Verstandes ein, der unter jenen Bedingungen noch funktionierte. Sie wollten Midoriko töten? Aus welchem Grund? Weil sie bei ihm gewesen war? Weil sie etwas mit ihm zu tun gehabt hatte? Die Erkenntnis rüttelte an seiner Fassung, Unsicherheit keimte in ihm auf. Er konnte sie doch nicht sterben lassen und kurz darauf sein eigenes Leben beenden... aber wie galt es jetzt für ihn, sich zu entscheiden? Was wog schwerer? Genau genommen standen zwei Möglichkeiten offen: die erste, dass er zuließ, dass sie Midoriko opferten und er sich danach selbst tötete, und die zweite, dass er seine letzte Kraft dazu nutzte, um Midoriko zu befreien, und er sich dann den Torturen von Aska und Rakuchou so lange fügen musste, wie es ihnen beliebte... Seine Zukunft gestaltete sich in jedem Fall nicht rosig, aber sollte er bewusst den grausameren Weg einschlagen, um jemand anderen zu retten? Jemanden...? Nein, Midoriko war nicht bloß jemand... sie hatte nicht gezögert, nicht zu anfangs, als sie ihn selbst beinahe in den Tod geschickt hatte, und nicht, als er in die todbringende Falle aus Stahlfäden der Dämonenraupen geraten war. Sie hatte nicht lange überlegt, sie hatte gehandelt, ohne an die Konsequenzen für sich selbst zu denken. Selbstlos... Die Priesterin setzte ihr volles Vertrauen in ihn, und wenn er ehrlich war, wollte er sie nicht enttäuschen. Auch nicht, wenn das für ihn bedeutete, dass er seine Freiheit, seine Ehre als Loftsdreki und alles andere aufgeben musste. Midoriko... Flúgar spürte Askas sengenden Atem auf der Haut, ihre Hände in seinem Nacken. Aus seinen halbgeöffneten Augen begegnete er ihrem silbergrauen, Überlegenheit demonstrierenden Blick, der sich eindringlich an seinen haftete. Mit einer beiläufigen Bewegung streifte sie sich die weiße Kapuze von ihrem Kopf, legte diesen leicht schief und vereinigte ihre Lippen mit den seinen zu einem flüchtigen Kuss. Ruckartig riss der Loftsdreki sich los, verzog angeekelt die sonst so undurchdringlich steinerne Miene. Was wollte Aska nun wirklich von ihm? Allmählich ergriffen die Zweifel, die schon zuvor in ihm hochgetrieben waren, die Vorherrschaft in seinen Gedanken. Ein stummes Schaudern schüttelte ihn innerlich, wenn er darüber sann, was womöglich Askas wahre Absichten mit ihm waren. Dazu hatte sie doch diesen verächtlichen Vatnsdreki hier - was wollte sie dann mit ihm? Die niederen Triebe des weiblichen Eldursdreki waren anscheinend besonders stark ausgeprägt, und ihr schwebte es vor, sie an ihm auszuleben... Ein derber Schlag ins Gesicht holte Flúgar in die Realität zurück. Aska stand vor ihm, und die köchelnde Wut über seine eindeutige Ablehnung war nicht zu übersehen. "Undankbarer Mistkerl!" Ihre metallenen Augen funkelten vor Zorn, verärgert bleckte sie die weißen Fangzähne. Mit einem harschen Tritt in die Magengrube, wandte sie sich schließlich von ihm ab, beachtete das schwere, schmerzverzerrte Aufkeuchen, das sie ihm damit entlockte, keineswegs. Völlig zusammenhangslos klatschte sie zweimal laut in die Hände, bedeckte die dunkelroten Haare wieder mit der Leinenkapuze, ließ auf diese Weise ihr Gesicht in den Schatten verschwinden. "Lasst die Opferzeremonie beginnen!" Niemand rührte sich, und eine betretene Stille beherrschte die gesamte Gewölbehalle. Eine ganze Weile verging, ehe sich einer von Askas vielen Dienern unschlüssig mit den Händen ringend auf die Knie warf und demütig das Haupt bis auf den Boden neigte. Nervosität begann den Raum zu füllen, der Geruch von Angstschweiß wurde intensiver. "Kazanbai-sama, wir... es hat sich ein, nun ja, es gibt ein kleines... Problem..." Der schmächtige Leib des Dämons bebte vor Angst, und seine Stimme schwankte zwischen beinahe hysterisch und vollkommen ausdruckslos. Derweil hob der weibliche Eldursdreki fragend eine Augenbraue, bedachte ihren aufgelösten Untergebenen mit einem strikten Blick, der keine Widerworte oder Ausschmückungen mehr zuließ. "Kazanbai-sama... der Mensch, den ihr als Opfer auserkoren hattet... sie, sie ist fort..." Askas Gesichtszüge verfinsterten sich verdächtig, und ein heller Feuerschein, der die Luft flimmern ließ, bildete sich rings um sie herum. Die Rothaarige ballte die Fäuste, ihr Atem beschleunigte sich von selbst, und ihre Augen erfasste ein rötliches Glühen. "Was sagst du da? Willst du mir etwa erzählen, dass ihr das Menschenweib entkommen lassen habt?!" Ihre Stimme war ruhig, zu ruhig. Heftiger Groll und tiefste Erbitterung brodelten gefährlich in ihr, und ihr nächster Gefühlsausbruch stand kurz bevor. Rakuchou lächelte kalt, und trat wissend einen Schritt zurück. Aska würde ihrer Entrüstung sehr bald Luft machen, und dann saß hier womöglich kein Stein mehr auf dem anderen. "J-ja, Herrin..." Schuldbewusst drückte sich der niedere Youkai noch mehr an den Boden, kniff in stummer Erwartung seiner Strafe die Augen zusammen. Für diesen Fehler würde er mit dem Leben bezahlen, Aska machte keine Ausnahmen... In diesem Moment eile ein weiterer Diener herbei, kniete sich hastig neben dem ersten in den Staub. "Aska-sama, es gibt schlechte Neuigkeiten!" Die Angesprochene atmete hörbar durch, eine Antwort jedoch blieb aus. "Hikage-sama... wie soll ich sagen... er konnte fliehen, er ist weg." Askas Geduld war erschöpft, und mit einem Mal brach all der angestaute Zorn aus ihr heraus. Ohne Vorwarnung fegte ein lodernder Feuersturm durch den Steinsäulengetragenen Saal, riss alles und jeden mit sich in den Flammentod, was ihm in die Quere kam. Dicker schwarzer Rauch stieg zur Decke auf, schlug sich dort am Gestein als rußfarbene Flecken nieder. "Was ist nur los mit euch allen? Bin ich denn nur von unfähigen Vollidioten umgeben?!" Außer Rakuchou und Flúgar, die unbehelligt geblieben waren, war niemand mehr anwesend, der ihr unkontrolliertes Schreien und Toben hörte, doch den impulsiven Feuerdrachen interessierte das überhaupt nicht, und lebte sich so nach Herzenslust in seiner entfachten Weißglut aus. Währenddessen rumorte es bedenklich in Flúgars Eingeweiden, und ein ziehender Schmerz breitete sich von seinem Magen über sämtliche andere Organe aus, sodass die Wogen der Pein, die durch seine Nervenbahnen jagten, jedes erneute Mal noch weiter anschwollen. Übelkeit und ein furchtbares Schwindelgefühl machten sich schleichend bemerkbar. Flúgar konnte sich dagegen nicht behaupten, stöhnte gequält auf, als die krampfartig auftretenden Anfälle in immer kürzer werdenden Zeitspannen wiederkehrten. Aus welchem Grund ging es ihm plötzlich so schrecklich miserabel? Hatte er irgendetwas getan, das er besser unterlassen hätte? Zumindest war Midoriko in Sicherheit, sie hatte offensichtlich fliehen können und befand sich hoffentlich in der Zwischenzeit weit genug entfernt von diesem Ort, irgendwo, wo Aska sie nicht ausfindig machen konnte. Ein bitteres Lächeln vernahm die blassen Lippen des Loftsdreki ein. Jetzt musste er sich nicht weiter um Midorikos Wohlergehen sorgen, er konnte sich darauf konzentrieren, seine anfänglichen Überlegungen zu realisieren. Es gab schlichtweg keinen Grund mehr zu zögern. Flúgars Atemzüge wurden tiefer, aber ebenfalls ungleichmäßiger. Ein letztes Mal zog er seine vollkommene Konzentration heran, mobilisierte die jämmerlichen Überreste seiner enorm abgeschwächten Kräfte. Nun lag es einzig an ihm, ob er fähig war die Sache durchzuziehen oder nicht. Gelang es ihm tatsächlich, würde er nichts bereuen... Mit aller Macht, die er noch aufzubringen wusste, und dem Einsatz seines vollen Körpergewichtes stemmte er sich gegen seine eisernen Kettenfesseln, übte einen solch überbelastenden Druck auf deren Glieder aus, dass sich das eine, schon von vornherein angeschlagene aus dem festen Verband löste und der Gliederstrang riss. Der Rost hatte auch keinen Halt vor diesem Eisen gemacht, und durch Flúgars leichte Beihilfe war der Vorgang erheblich beschleunigt worden. Zu seinen Gunsten. Er kippte sofort nach vorne über, sein nun fast vollends entkräfteter Leib war gegen die Gewalt der Schwerkraft, die ihn geradewegs in die Tiefe zerrte, absolut machtlos. Ungehindert stürzte er die senkrechte Felswand hinab, und der harte Aufprall, den ihm der Sturz bescherte, trieb ihm nicht nur die Luft aus den Lungen sondern auch beinahe das Bewusstsein aus dem Körper. Nach Atem ringend schüttelte er die nun losen Fesseln von seinen aufgerissenen Handgelenken, griff blindlings nach einem der flachen Steine, die um den kleinen Teich vor ihm herum angeordnet waren, der ihm an der Kante halbwegs scharf genug erschien, um eine nicht allzu weit unter der Haut verborgene Schlagader zu durchtrennen. Mühselig streckte er den seinen linken, durch den Aufschlag taub gewordenen Unterarm vor, platzierte die provisorische Klinge des Steins an den Pulsadern seines gefühllosen Handgelenks. Bis dato hatte er Aska und Rakuchou außer Acht gelassen, hatte nicht im Ansatz realisiert, wie sie auf seine überstürzte Aktion reagierten. Im Grunde war es ihm gleichgültig, aber als ihn plötzlich jemand mit aller Gewalt den Arm in die Höhe riss und ihn unsanft in die nächstgelegene Ecke schleuderte, wurde ihm der Fehler in seiner Rechnung schlagartig bewusst. Das grässliche Geräusch, das Flúgar nach der Kollision mit der steinernen Wand unaufhörlich in den Ohren summte, war das splitternde Bersten seiner Knochen. Welche genau es erwischt hatte, konnte er nicht mehr sagen. Es blieb sich ohnehin gleich... "Lass es bleiben, Loftsdreki. So viel Mumm hast du sowieso nicht!" Der Vatnsdreki starrte ihn missbilligend an. Flúgar senkte die Lider, schloss die Augen, festigte den Griff um den Stein, den er noch immer mit den Fingern seiner rechten Hand umfasste. Er spürte, wie seine Kraft versiegte, schleppend aber bestimmt aus ihm wich... eine schwache Barriere war das Letzte, das er noch zustande brachte, bevor er sich selbst einen tiefen Schnitt zufügte, der die zarten Gefäße seiner Schlagadern am linken Handgelenk zerriss. Die Barriere würde ausreichen, um ihn die wenigen Augenblicke zu schützen, die ihm noch blieben. Er konnte fühlen, wie sein Körper den Kampf aufgab... ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 26: >"Ungeahnte Ereignisse treten ein, der Verlauf der Dinge beginnt sich zu verschieben. Mit den aufwallenden Fluten des Wassers erhebt sich ein allzu vertraut erscheinender Unbekannter, der dem Kommenden eine neue Gestalt verleiht. Ob dies als positiv oder negativ zu sehen ist, liegt allein im Auge des einzelnen Betrachters..." *» Jiboujiki Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)