Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 21: *~Stolt~* --------------------- "Wer stolz ist, verzehrt sich selbst; Stolz ist sein eigner Spiegel, seine eigne Trompete, seine eigne Chronik!" – Shakespeare Kapitel 21 - Stolt -Stolz- *Welche unserer Eigenarten wird es letztendlich sein, die uns in den unvermeidlichen Tod treibt? Wird es unsere Verbissenheit sein? Unsere Angst? Unsere Naivität und Dummheit? Oder aber wird es unser Stolz sein, der uns zum Schluss ins Verderben reißt? Jener Stolz, der uns verbissen, naiv und dumm werden lässt, obwohl wir uns vor nicht mehr ängstigen als dem Verlust des eigenen Lebens?* ּ›~ • ~‹ּ Natürlich hatte es nicht lange auf sich warten lassen, bis die beiden Dienstmädchen und die Wirtin persönlich vor der Schiebetür meines Zimmers standen und sich ausgiebig nach meinem Wohlbefinden erkundigten. Ich beteuerte, dass mit mir soweit alles in Ordnung war und konnte sich schließlich dazu überreden, sich um das Frühstück und etwas Reiseproviant zu bemühen, damit ich mit meiner Begleitung möglichst bald aufbrechen konnte. Die zwei Tage waren um, und auch, wenn Flúgar mir wegen dem Vorfall der letzten Nacht ein wenig mehr Spielraum zugestanden hätte, wollte ich unseren Aufenthalt nicht weiter unnötig in die Länge ziehen. Ich verstand ohnehin nicht, warum er mir die Zeit hier zugebilligt hatte, ohne Aufforderung oder Nachfrage meinerseits. Jede Verzögerung bedeutete für ihn doch bloß, dass sich für ihn eine noch längere Wartezeit ergab, bis sein Schwert endlich repariert werden konnte. Oder lagen die Dinge auf einmal anders? Hatte er womöglich das Gefühl, dass Skýdis nicht mehr zu retten war? Dem Rat der alten Okashisa folgend, kleidete ich mich ohne Sparsamkeit aufkommen zu lassen an, bedankte mich aufs Herzlichste bei den Wirtsleuten, die nicht einmal nach einer Bezahlung für unseren Aufenthalt fragten. Kurz vor Mittag waren alle Vorbereitungen abgeschlossen, und ich schritt gerade zu Flúgar herüber, als sich gemächlichen Schrittes eine gebückte, wohlbekannte Gestalt näherte. Okashisa. Sie lächelte zufrieden, hielt Inazuma an seinem Zaum. Sie winkte mich zu sich herüber, drückte mir eher nebensächlich etwas in die Hand und musterte anschließend noch einmal mich und den Loftsdreki gründlich von oben bis unten. "Ich wünsche euch alles Glück, das man haben kann. Das Pferd wird es gut haben, und ich hoffe, du kannst etwas mit dieser kleinen Gegenleistung anfangen." Sie schenkte mir ein hintergründiges Lächeln, dessen Bedeutung ich nicht zu erraten wusste, und tätschelte dem großen Rappen die Flanke. "Lass uns gehen!" Ich wandte mich an Flúgar, bemerkte seinen abwartenden Ausdruck, auf den ich mir zunächst keinen Reim machen konnte. Hatte ich etwas vergessen? Oder schaute er mich so an, weil ich mit der Alten unsere Zeit vertrödelte? "Komm her." Hm? Was hatte er vor? Ich näherte mich ihm nur langsam, sah ihn skeptisch an, als er sich umdrehte und vor mir halbseitig in die Knie ging. Zuerst begriff ich nicht, was er von mir wollte, doch dann fragte ich mich, ob er das ernst meinen konnte. Wollte er mich wirklich tragen? Zögerlich trat ich an ihn heran, erwartete einen heftigen Ruck, aber seine Bewegungen waren geschmeidig, fließend, und ich spürte so gut wie nichts, als er aufstand. Behände legte ich meine Hände auf seine Schultern, sandte einen fragenden Blick an Kaneko, die wiederum auf meiner Schulter saß. Diese miaute heiser, kuschelte sich enger an mich. Auch sie hatte in der vergangenen Nacht lange nach mir gesucht, und da sie Kälte und Wasser absolut nicht vertrug, schien sie nun eine Art Erkältung zu haben, die sich insbesondere auf ihre Feuerkräfte auswirkte. Wählte er deshalb diese Option? Weil Kaneko sich nicht verwandeln und mich somit nicht tragen konnte? "Halt dich fest." Glücklicherweise tat ich unterbewusst, was er so nüchtern von mir verlangte, denn ansonsten hätte ich bereits nach seinem ersten, schwungvollen Satz den Halt verloren oder vor Schreck losgelassen. Ich rätselte noch immer, aus welchem Grund er mich nun wirklich freiwillig auf seinem Rücken trug, zusammen mit dem Proviant und einigen anderen kleinen Dingen, die mir die Leute aus dem Gasthaus mitgegeben hatten. Außerdem trug ich meine Rüstung unter seinem Haori, den er mir stillschweigend für diese Exkursion geliehen hatte. "Bin ich dir nicht zu schwer?" Ich gab mir Mühe, meine Stimme etwas zu dämpfen, denn bei dieser Nähe musste ich nicht lauter sprechen als nötig. Wenn ich mir allerdings die Lautstärke meines Aufschreis ins Gedächtnis rief... ein Wunder, dass er keinen Gehörschaden davongetragen hatte. "Iie." In weiten Sprüngen ließ Flúgar das Städtchen rasch hinter sich und bewegte sich geradewegs auf das in Nebel und Dunstschleiern liegende Gebirge zu, das mit jedem weiteren Näherkommen größer und bedrohlicher vor uns emporzuragen schien. Es wurde beständig kühler, und ich konnte der Greisin nur zustimmen, dass warme Kleidung etwas war, an dem man hier nicht sparen sollte. Die Landschaft rauschte an mir vorbei wie das Wasser eines zügig strömenden Flusses, und meinen anfänglichen Bedenken zum Trotz, nahmen mein Magen und der Rest meines Körpers das stetige Auf und Ab, dass sich aus Flúgars weiten Sprüngen ergab, nicht weiter übel. Seltsamerweise fühlte ich mich in meiner Position vollkommen sicher, fast schon geborgen; Flúgar würde mich nicht loslassen und etwaige gefährliche Manöver so ausführen, sodass ich nicht zu Schaden kommen würde. Ich vertraute ihm. Die dichten, tiefgrünen Nadelwälder, die sich bis jetzt ausgedehnt unter uns erstreckt hatten, endeten abrupt, und die Klippen auf dieser Seite des Gebirges taten sich steil und schroff vor uns auf, die kleinen Felsvorsprünge waren kaum zu erkennen und lagen weit auseinander. Die Felswände waren so abschüssig, dass es fast senkrecht in die Höhe ging, doch trotz der widrigen Umstände schien Flúgar keinerlei Schwierigkeiten zu haben in Bruchteilen von Sekunden einen weiteren Vorsprung in der Mauer aus massivem Gestein zu entdecken und punktgenau darauf zu landen, um sich erneut abzustoßen. Im Nu bewältigte er dieses vermeintliche Hindernis, und weit unter uns, durch den feinen Nebel hindurch, erkannte man ein mit Schnee bedecktes Tal, dessen weitläufige Flächen mit Nadelgehölzen bewachsen waren, und durch das sich in weiten Bögen ein zugefrorener Fluss schlängelte. In dieser Kälte konnten sicherlich keine Menschen leben, und selbst Tiere hatten es hier oben schwer - der Schnee und das Eis hatten etwas an sich, dass es unnatürlich wirken ließ. Was, konnte ich nicht sagen, aber mein Gefühl war eindeutig. Das Klima hier war nicht normal... aber von wem oder was wurde es beeinflusst? Ich schloss die Augen, lehnte meinen Kopf an Flúgars Rücken und konzentrierte mich. Etwas trieb hier oben sein Unwesen, und ich spürte es deutlich... Seufzend verharrte ich so eine Weile, ehe ich wieder aufsah, vermisste augenblicklich das weiche Gefühl seines Haars an meiner Wange und den leichten Geruch, der ihm anhaftete... aber sein Körper war so eisig wie die Luft um mich herum, wie die vereiste Landschaft unter uns... Mit einem Mal erstarrte ich. Bildete ich mir das nur ein, oder...? Es kam näher, und das mit einer Geschwindigkeit, die mir mehr als bedrohlich vorkam. Flúgar jedoch blieb ruhig. Nahm er es nicht wahr? Oder ging keine weitere Gefahr von diesen fremden Energien aus? "Spürst du das?" Er schreckte sichtlich zusammen, als ich ihn ansprach, und just in diesem Moment ertönte ein aggressiver, heiserer Schrei, der sich unverkennbar gegen uns richtete und dessen Verursacher - meiner Meinung nach - nur ein Vogel gewesen sein konnte. Auf das, als was es sich schließlich herausstellte, war ich nicht gefasst gewesen; es war ein Vogel, aber er war gigantisch, mindestens doppelt so groß wie ein Pferd. Sein Gefieder war schneeweiß, und seine Schwingen glänzten wie Eiszapfen in der Sonne, die langen Schwanzfedern zogen eine Spur von feinsten Schneekristallen hinter sich her. Der Hals war kurz, aber sein bulliger Kopf und der kräftige Schnabel, zusammen mit den langen Klauen an seinen Beinen, erweckten in mir den Eindruck, dass bei diesem Biest äußerste Vorsicht geboten war. In seinen Augen waren wir ungebetene Besucher, die ohne Einladung in sein Territorium eingedrungen waren, und die es zu vertreiben oder gar zu töten galt. Sein erster Angriff verfehlte uns nur haarscharf, mit einer ruckartigen Reflexbewegung schaffte Flúgar es gerade noch so, uns aus seiner Fluglinie herauszubringen und der Begegnung mit seinen scharfen Klauen zu entgehen. Der Eisvogel machte Kehrt, seine Augen glühten kurzweilig rot und der hellblaue Federkamm auf seinem Kopf stellte sich auf, als er abermals auf uns herabstieß, dieses Mal jedoch versuchte, mit seinem Schnabel einen Treffer zu landen. Erneut musste der Loftsdreki ausweichen, aber diesmal fuhr er danach augenblicklich herum, benutzte den monströsen Leib des Ungetüms um sich daran abzustoßen und wieder an Höhe zu gewinnen. Verärgert ließ der Vogel ein langgezogenes Kreischen ertönen, fasste uns wieder in seinem Blickfeld und startete einen neuen Versuch uns zu attackieren. Ich spürte Flúgars plötzliche Anspannung; er machte sich zum Kontern bereit und würde jetzt keinen Gedanken mehr an ein Ausweichmanöver verschwenden. Mein Griff verkrampfte sich, ich klammerte mich buchstäblich an ihn, als ich der Wucht gewahr wurde, die Flúgar in den Hieb mit der rechten Hand legte. Seine Klauen schnitten durch den linken Flügel des Dämonenvogels, doch die riesige Schwinge verblieb letztendlich unversehrt, regenerierte sich mit Hilfe der eigens erschaffenen Eiskristalle. Hieß das, Flúgar konnte nichts gegen dieses Vieh ausrichten? Der Eisyoukai verringerte die Distanz, stürzte sich, die Krallen an seinen Beinen ausgestreckt, in unsere Richtung. Die Attacke schlug fehl, lief ins Leere, und der weiße Vogel geriet scheinbar jetzt erst richtig in Kampfeslust. In geringer Entfernung hielt er inne, und seine Augen leuchteten wieder glutrot, während er heftig mit den Flügeln schlug. Eine Salve faustgroßer Eissplitter löste sich aus seinem Gefieder, schoss drohend auf uns zu. Flúgar gelang es einen Großteil der gefährlichen Eisbrocken abzuwehren, ließ jedoch den Vogeldämon dabei ein wenig außer Acht, sodass der diesen unaufmerksamen Moment ausnutzte und wieder zum direkten Angriff überging, auf die Flanke seines Gegners zielend. Der Loftsdreki bemerkte ihn, doch die Zeit war zu knapp bemessen um uns beide völlig aus der Gefahrenzone zu bringen; und er entschied sich natürlich für das, was ihn selbst gefährdete... Flúgar wandte sich dem Vogel zu, dessen Klauen mich somit verfehlten, ihn jedoch am rechten Arm erwischten. Ich hielt einen Aufschrei zurück, betrachtete entsetzt die tiefen Striemen an seinem Unterarm, aus denen das Blut unaufhaltsam hervorquoll. Gegen dieses Monstrum würde er nicht gewinnen können, wenn dieses - wie nicht anders zu erwarten - jedes Mal wieder in der Lage war, seinen Körper mit Schnee und Eis zu regenerieren, er konnte ihm einfach keinen genügenden Schaden zufügen... mit einem Mal hatte ich die Lösung: ich würde den Dämon läutern, dann hätten wir nichts mehr vor ihm zu befürchten. Absichtlich unternahm er nicht einmal mehr den Versuch zu verhindern, dass er auf dem Boden aufkam, setzte sanft zwischen ein paar Tannen auf dem von einer dichten Schneedecke überlagerten Boden auf. Blut färbte sein Untergewand rot, tropfte lautlos auf das reine Weiß des Schnees. Er setzte mich ab, suchte am Himmel nach seinem Gegner. "Bitte Flúgar, lass mich das erledigen. Wenn ich ihn läutere..." Mit einer Handbewegung untersagte er mir jedes weitere Wort. Nagte es an seinem Stolz, dass dieses Biest so zäh war und im Grunde unbesiegbar schien? Ich senkte stumm den Kopf... ich würde nicht auf ihn hören, würde mich ihm wissentlich widersetzen, und das tun, was ich für richtig erachtete. Schon jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil er wegen mir verletzt war. "Misch dich nicht ein." Damit war er zwischen den Bäumen verschwunden, und kurz darauf erschall wieder das angriffslustige Schreien des Eisvogels. Warum wollte er sich nicht helfen lassen? Wie konnte man nur so stur sein? Warum verhielt er sich in solch einer Situation wie ein Idiot? Mir brauchte er doch nichts zu beweisen, also warum...? Mein Atem stockte. War es möglich, dass Flúgar mich zu beschützen versuchte? Dass er nicht wollte, dass mir irgendetwas zustieß? Immerhin hatte er für meine Sicherheit einen Treffer in Kauf genommen ohne lange darüber Nachzudenken... Ich musste ihm helfen. Meine Konzentration sammelnd, schloss ich die Augen, führte meine Hände vor meiner Brust zusammen, trat innerlich der totalen Ruhe entgegen. Die zwei Kontrahenten waren nicht sehr weit von mir entfernt, ich spürte sie beide. Ich musste präzise sein, ansonsten würde ich vielleicht Flúgar mit meiner Läuterung treffen, obwohl ich daran zweifelte, dass es anders ausgehen würde als das letzte Mal. Die Energie wallte auf, bündelte sich, ich fasste mein Ziel... just in diesem Moment brach der Vogelyoukai durch die Bäume vor mir, spreizte drohend die Flügel und fixierte mich mit den Augen. Natürlich hatte er mich wahrnehmen können, genau genommen hatte ich es darauf angelegt und besser hätte sich das Biest nicht positionieren können... Ich steckte all meine Kraft in diesen Angriff, und ließ den Energien ihren Lauf, erlaubte ihnen zu fließen. "Shinkon No Kori!" Ein helles Licht verschlang den feindlichen Dämon für einige Augenblicke, strahlte durch die Reflektion auf dem Schnee so grell, dass ich den Arm schützend für meine Augen hielt, mich auf mein Gespür verließ. Die Läuterung war geglückt, und als ich die Augen schließlich wieder öffnete, war der Eisyoukai verschwunden, doch vermeinte ich am Horizont seine langen Schwanzfedern zu erkennen, zwischen denen die schüchtern hinter den Wolken hervorblinzelnde Sonne einen blassen Regenbogen spannte... ּ›~ • ~‹ּ Es dauerte eine ganze Weile, bis Flúgar wieder in Sichtweite auftauchte. Er war nicht unbedingt weit weg gewesen, trotzdem hatte Midoriko nicht im Geringsten die Lust verspürt, ihm zu folgen. Sie konnte sich denken, was er die ganze Zeit über getrieben hatte, und diese Überlegung bestätigte sich, als sie ihn, zwei nahestehende Tannen und einige Matsu passierend, erblickte. Er war jagen gewesen, hatte seine Wut und seinen Frust an einem oder auch mehreren unschuldigen Tieren ausgelassen. Er würdigte die Priesterin keines Blickes, lehnte sich an den breiten Stamm eines großen Sugi, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Sein abweisendes Verhalten bestätigte ihr nur weiterhin, dass er ihr wegen dieser Einmischung böse war, sich gar beleidigt fühlte. Der Loftsdreki war ein Krieger, und als solcher war es eine schändliche Sache, wenn eine Frau ihm half. Zudem war er nicht einmal ein Mensch, sondern ein Youkai, und von einer Menschenfrau Hilfe zu erhalten, obwohl er ihr unmissverständlich befohlen hatte sich nicht einzumischen, musste ihn maßlos verärgern. Und das tat es offenbar auch. Midoriko bereute ihr Eingreifen nicht, aber es tat ihr leid, Flúgar auf diese Art verletzt zu haben, ihn in seiner Ehre, seinen Stolz als Krieger mehr oder weniger beschämt zu haben. Immerhin hatte sie den Eisvogel in die Knie gezwungen, ihn geläutert und damit harmlos werden lassen, während er sich gegen so einen Gegner schwer getan hatte. Sie war nicht sicher, ob Flúgar überhaupt eine Aussicht auf einen Sieg gehabt hatte. Aber wie sollte sie jetzt reagieren? Er zeigte ihr unverkennbar die kalte Schulter, ignorierte sie geflissentlich, jedoch das Problem war damit nicht aus der Welt. So konnte es nicht weitergehen, denn diese Situation war absolut keine Lösung, und so weit sie die Sache verstanden hatte, waren sie hierher gekommen, um Flúgars Schwert reparieren zu lassen. Wenn er sich so anstellte, würde er dies nur weiterhin aufschieben, und das war sicherlich nicht das, was er damit beabsichtigte. Als sie sich ihm zögerlich näherte, und schließlich fast neben ihm stand, fiel ihr sein abwesender, konzentrierter Ausdruck auf. Ob er eine ungewöhnliche Präsenz spürte? Das Youki eines mächtigen Dämons? Oder aber versuchte er bloß Midorikos Aufmerksamkeit von sich auf etwas, das gar nicht existierte, umzulenken? "Flúgar...?" Vorsichtig berührte sie ihn am Arm, darauf bedacht, ihn weder zu verschrecken noch seine Verletzung mit einzubeziehen. Fragend musterte sie sein Gesicht, wartete geduldig auf eine Reaktion. "Sei still." Sie hatte gerade dazu ansetzen wollen, sich zu entschuldigen, doch er gebot ihr Schweigen, verharrte weiterhin regungslos. Leichter Missmut stieg in ihr hoch, was bildete er sich eigentlich ein? Sie gedachte sich zu entschuldigen, ihm nach seinem Befinden zu fragen und er wehrte sie so eiskalt ab. Was sollte das? "Dieses Youki..." Midorikos Blick schweifte in die Ferne. Youki? Der Vogelyoukai konnte es nicht sein, denn durch die Läuterung waren die dunklen Energien gewichen, und von einem Youki war nicht mehr zu sprechen. Was meinte er bloß? "Wir gehen." Der Loftsdreki löste sich aus seiner Erstarrung, blickte sie fordernd an. Verwirrt gab sie diesen Blick zurück. "Und was ist mit deiner Wunde?" So allmählich wurde sie seinem Verhalten überdrüssig; warum benahm er sich nur so eigenartig? Und aus welchem Grund rückte er nicht einfach heraus mit der Sprache und erzählte ihr, was los war? "Dafür ist keine Zeit." Die junge Priesterin zog die Augenbrauen zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust; ihre Züge vernahmen flüchtige Verärgerung und Skepsis ein. Es war also keine Zeit, sich um seine Verwundung zu kümmern, aber es war genügend Zeit vorhanden, dass er seinen Zorn abreagieren ging und hier vor sich hin schmollte...? Ehe sie dem noch etwas entgegensetzen konnte, hatte sich Flúgar der Sache angenommen und viel mehr, als sich festzuhalten, damit sie nicht herunter fiel, vermochte sie für den Augenblick nicht zu tun. Sie ärgerte sich über dieses Betragen, er verhielt sich wie ein verzogener Bengel, bei dem immer alles nach seinem Willen allein ablief. Wenn sie einigermaßen Halt gefunden hätte, würde sie ihn zur Rede stellen, denn zurzeit konnte er ihr nicht wirklich aus dem Weg gehen. Der Tag neigte sich seinem Ende zu, und klammheimlich legte sich die Dämmerung über das von hohen Gipfeln und verschneiten Tälern geprägte Gebirge. Die Sonne stand tief, bedrohlich rot und orange flackernd am Horizont, verschwand zur Hälfte bereits hinter einem der hohen Bergspitzen. Es kühlte weiterhin herunter, und Midoriko spürte, wie die Kälte allmählich in ihren Körper kroch, ihre Müdigkeit überzugreifen drohte. Das Zusammentreffen mit dem Schneevogel war kräftezehrender gewesen, als sie zunächst angenommen hatte - zumindest für sie. Flúgar schien sich nicht weiter an seiner Wunde zu stören, setzte unbeirrt seinen Weg durch abgrundtiefe Schluchten, über steile Felswände und von riesigen Gesteinsbrocken und Geröll verschüttete, schmale Buchtungen fort. Die Priesterin hatte die Hoffnung, dass sie heute noch an jenem bestimmten Ort ankommen würden, aufgegeben, doch als über dem nächsten Bergkamm eine dunkle Rauchwolke in Sicht kam, schöpfte sie neue Zuversicht. Der schwarze Qualm musste von einem Feuer herrühren, und dort, wo ein Feuer brannte, war es warm. Sie kamen der Quelle der dicken schwarzen Wolke beständig näher, und als Flúgar schließlich das letzte Stück des hohen Kamms mit einem gewaltigen Satz übersprang, erkannte Midoriko in der kargen, ansonsten leeren Talmulde ein riesiges Gebäude, das von ihrem hohen Aussichtspunkt wie eine geöffnete, rote Blüte aussah. Die große, aus karmesinfarbenen Steinen gefertigte Kuppel wurde von unzähligen kleineren derselben Art umgeben, elfenbeinfarbene, leicht gekrümmte und zu den Enden hin spitzzulaufende Pfeiler stützten den massigen Komplex. Vier Torbögen - einer für jede Himmelsrichtung - zeichneten die am weitesten außen gelegenen Kuppeln, bildeten den Zugang zum Inneren des blumenförmigen Gebildes. Der schwarze Rauch entstieg einem halbhohen, stark verrußten Schornstein, der aus dem Mittelpunkt des zentralen Kuppelgewölbes aufragte. Die junge Frau ertappte sich bei ihrem beinahe fassungslosen Staunen; wo waren sie hier? Und was war das für eine prachtvolle Baute? Flúgar war wegen seinem Schwert, Skýdis, hier... ob dies hier der Ort war, wo man sie geschmiedet hatte? Hauste hier etwa der Schmied von Skýdis? "Atemberaubend..." Sie konnte sich kaum zurückhalten, und ungeduldig wartete sie darauf, dass der Loftsdreki endlich auf dem Boden aufsetzte und sie dieses faszinierende Bauwerk näher und ausführlicher begutachten konnte. Als Flúgars Füße den Boden berührten, sprang sie sogleich auf, Kaneko mit ihr, und lief auf die vor ihnen liegende Außenwand zu, legte vorsichtig eine Hand auf den roten, lauwarmen Stein. Dann trat sie einige Schritte zurück, betrachtete das vor ihr emporragende Kunstwerk noch einmal eindringlich. Sie runzelte die Stirn. "Und das ist eine Schmiede?" Midoriko warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, gerade noch rechtzeitig, denn Flúgar war so gut wie aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Eilig schloss sie wieder zu ihm auf, blieb jedoch ein wenig hinter ihm zurück; sie wollte nichts respektlos erscheinen - zum ersten - und zum zweiten wollte sie ihn nicht noch weiterhin verärgern. Sie folgte ihm schweigend zu einem der reichlich mit eigenartigen Schriftzeichen und fremdartigen Symbolen verzierten Tore, blieb in einiger Entfernung zurück - sie ahnte, was jetzt passieren würde. Und die Priesterin behielt Recht, zuckte mit einem atemlosen Keuchen leicht zusammen, als er die beiden massiven, mit Metall verstärkten Torflügel so ohne Weiteres aufstieß - das verdächtige, heftige Geräusch von berstendem Eisen störte ihn dabei wenig und bestätigte Midorikos Vermutung, dass jene Pforte abgeschlossen oder verriegelt gewesen sein musste. Ein Schwall heißer Luft drang aus dem Inneren des Gebäudes, und der goldgelbe Schimmer von erhitztem Stahl leuchtete Flúgar, Midoriko und Kaneko entgegen. "Was zur...?!" ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 22: >"Wo Rauch ist, dort brennt für gewöhnlich auch ein Feuer. Die erbarmungslosen Flammen, die ihren Ursprung in der Hölle zu finden scheinen, reißen alles Leben mit sich in einen schrecklichen Tod - und alles, was bleibt, ist nichts als Asche..." *» Kemuri Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)