Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 17: *~Sjálfsstjórn~* ---------------------------- "Nach der Kraft gibt es nichts so Hohes als ihre Beherrschung." – Jean Paul Kapitel 17 - Sjálfsstjórn -Selbstbeherrschung- *Was ist Macht in ihrer reinen Form wirklich? Ist sie eine Bürde? Oder ein Segen, der uns unsere tiefsten Herzenswünsche erfüllt? Oder aber, ist es beides gleichzeitig? Kommt es womöglich auf die Ausgangsposition an, auf den Umgang mit ihr? Verzehrt sich der Machtlose nicht förmlich nach ihr, während der Mächtige sie zuweilen für einen Fluch hält?* ּ›~ • ~‹ּ Die Nacht und ein von sanftem Sonnenschein geprägter Morgen vergingen, der Himmel wurde wieder von grauen Wolken eingenommen, die aber glücklicherweise keinen Regen verhießen. Um die Mittagsstunde kehrte Midoriko von ihrer kleinen Exkursion an einen Bach ganz in der Nähe zurück, brachte frisches Wasser und gewaschene Kleidung zurück. Flúgar erkannte sie bereits von weitem, an ihrem Geruch, an der Art, wie sie lief und sich allgemein bewegte Den Nekoyoukai hatte sie zurückgelassen; sie traute diesem Wald einfach nicht, und seit Yumeji ihr von einem sprechenden Baum - Bokusenou - erzählt hatte, gefiel es ihr hier umso weniger. Irgendetwas konnte mit diesem Gebiet nicht stimmen, wenn es hier irgendwo tatsächlich Pflanzen gab, mit denen man eine gepflegte Konversation zu halten vermochte. Die Priesterin war sichtlich überrascht, als sie vor der Höhle ankam und ihren Begleiter aufrecht, mit geschlossenen Augen, an der Wand lehnen sah. Kaneko lag dicht neben ihm, den kleinen Kopf auf sein linkes Bein stützend, und schnurrte leise. Bis jetzt war der jungen Frau noch nicht aufgefallen, dass die zwei Dämonen sich so gut vertrugen. "Fühlst du dich besser?" Vorsichtig stellte sie den mit Wasser gefüllten Kessel ab und breitete die klamme Wäsche über dem Boden aus. Dann kniete sie sich kurz vor Flúgar, ermaß prüfend seine körperliche Verfassung. Der Großteil der kleineren Verletzungen und blauen Flecken waren bereits verschwunden, nur die große Wunde in seiner Seite war noch präsent. "Nicht unbedingt..." Mit Bedacht näherte sie sich ihm so weit, dass sie den Verband lösen und einen Blick auf die prägnante Stelle werfen konnte. Als sie begann, das verletzte Gewebe mit den Fingern abzutasten, presste Flúgar die Kiefer gegeneinander, hielt aber jeden aufkommenden Ton in sich verwahrt. Verunsichert sah sie auf. "Tue ich dir weh?" Das Gesicht des Dämons fügte sich unmerklich einer weiteren Schmerzenswelle, ehe er ihr darauf Antwort gab. "Du hast die Sensibilität und das Feingefühl eines Ackergauls..." Seine verächtlichen Worte gingen nicht spurlos an ihr vorbei, Verärgerung über seine absolut fehlplatzierte Ehrlichkeit fing an in ihrem Bauch zu brodeln. Mit einem neutralen Blick fixierte sie ihn. "So, ich bin also so feinfühlig wie ein Ackergaul... wenn du ein winziges bisschen vernünftiger wärst, hättest du dir so eine Verletzung niemals zugezogen! Idiot!" Damit verfielen sie beide in ein Schweigen, das keine der beiden Seiten zu brechen wusste. Seine Worte hatten sie dazu gebracht, präziser und vor allem gründlicher zu arbeiten, sie ließ sich Zeit. Noch immer haftete der Geruch der monatlichen Bereitschaft an ihr, und Flúgars Beherrschung stand gefährlich auf der Kippe. Ihre unmittelbar Nähe, die sanften Berührungen ihrer Finger auf seinem Körper machten die Sache nicht einfacher. Der Youkai biss sich auf die Unterlippe, drängte seinen Instinkt zurück und versuchte die abwegigen Bilder und Vorstellungen, die seine rationalen Gedanken überlagerten, aus seinem Verstand zu bekommen. Aber es gelang ihm nicht, sein animalischer Instinkt, seine tierischen Triebe gewannen wieder einmal die Oberhand, veranlassten ihn zu einer unüberlegten Tat, die seinem wahren Wesen eigentlich fern lagen. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr, ihr Geruch vernebelte ihm denn Sinn, er war in jenen Augenblicken nicht mehr klar im Kopf, und er wusste es. Er handelte so überstürzt, dass Midoriko überhaupt nicht darauf reagieren konnte. Urplötzlich spürte sie seinen Atem in ihrem Nacken, seine muskulösen Arme, die sie kurz unter der Brust und um die Hüfte fassten, seinen kühlen Oberkörper an ihrem Rücken. Im ersten Moment erachtete sie die Situation nicht als bedrohlich, da sie sie ganz und gar nicht einzuordnen wusste. Was tat Flúgar da? Oder hatte er ganz etwas Anderes vor? Ein grollendes, kehliges Geräusch drang an ihr Ohr. Es war ohne Zweifel ihm zuzuordnen, aber es klang seltsam, damit konnte sie nichts anfangen. Langsam schwand ihre Ruhe, Flúgars Griff lockerte sich nicht sonderlich, aber als sie schließlich seine scharfen Fänge in der Haut ihres Nackens wahrnahm, wurde ihr angst und bange. Panisch riss sie sich los und fuhr herum, und ohne dass sie wusste, was sie tat, versetzte sie ihm eine heftige Ohrfeige. Tränen standen in ihren Augenwinkeln, ihr war nicht klar, was dieses Ereignis für eine Bedeutung hatte, aber ihr fehlte die Beherrschung, um in irgendeiner Form Verständnis dafür zu entwickeln. Flúgars trüber Blick klärte sich auf, und er wandte sich sofort von ihr ab. Er zog sich in die äußerste Ecke der Höhle zurück, senkte den Kopf zu Boden und starrte angestrengt auf die harte Erde unter ihm. Wie hatte ihm das nur passieren können... Midoriko saß regungslos da, stützte ihren Körper noch immer mit der linken Hand ab, und versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen. Was für eine Annäherung war das eben gewesen? Er schien sich dafür zu schämen, entzog sich ihrer Reichweite. Sie hatte ihn nicht schlagen wollen, aber es hatte sie überkommen, einfach so, wie ein Reflex. Zugegeben, es hatte sie fürchterlich erschrocken, aber im Endeffekt war ihr nichts geschehen. Sie hatte wohl überreagiert... "Flúgar, ich..." Ihre Stimme zitterte, gestaltete sich uneben und verfänglich. "Sei dankbar, dass du mich zur Besinnung gebracht hast, bevor ich dir etwas antun konnte." Verschreckt sah sie auf. Hatte sie die Situation etwa intuitiv richtig eingeschätzt? Hätte Flúgar sie wirklich verletzt oder gar Schlimmeres getan? "Ich kann für nichts garantieren, halt dich besser fern von mir..." Midorikos Hände zitterten, ihr Atem ging unkontrolliert. Zudem wusste sie nicht, was hier vor sich ging. Was war mit ihm los? Was konnte denn nur sein, wenn er sie anwies sich ihm nicht mehr zu nähern? Zögerlich ging sie auf ihn zu, streckte die Hand nach ihm aus. "Ich habe keine Angst vor dir." Der Dämon zwang seinen Blick auf den Boden, hielt die Augen geschlossen und presste die Zähne aufeinander; einen weiteren Aussetzer seines klaren Verstandes würde sie nicht überleben, denn Drachen waren nicht unbedingt dafür bekannt, dass sie vorsichtig oder behutsam mit ihrem Gefährten umgingen. Nicht selten zierten ihre Leiber unzählige Verletzungen, wenn sie sich auch nur für eine Nacht zusammengefunden hatten. Flúgar hatte dies bei seinen Eltern beobachten können, nicht nur sein Vater musste in dieser Beziehung ein sehr ungestümes Temperament haben... "Das wird dich vor mir nicht retten." Kurz hinter ihm ging sie auf die Knie, berührte seine Schulter. Er zuckte zusammen, aber dem folgte keine weitere Reaktion. Midoriko wollte das Aufkommen einer neuen Distanz zwischen ihnen unterbinden, sie würde verhindern, dass er den Kontakt zu ihr ablehnte oder sogar mied. Sie mochte Flúgar, auf welche Art und Weise auch immer, und sie würde es nicht ertragen, wenn sie auch noch von ihm Ablehnung erfahren würde. Das kannte sie zur Genüge, dieses Gefühl sollte nicht zwischen ihnen herrschen... Ohne weiter darüber nachzudenken, legte sie ihre Arme um ihn, lagerte ihren Kopf auf seiner Schulter. Sie hatte nicht gelogen; sie hegte keine Angst vor ihm. Wieder liefen vereinzelte Tränen über ihre blassen Wangen, suchten sich einen Weg über ihr Kinn und schließlich über Flúgars Schultern und Brust. "Hör auf so etwas zu sagen... es ist in Ordnung..." Die Umarmung der Priesterin löste in ihm ein Gefühl von Geborgenheit, von Wärme, aus, das er lange nicht mehr verspürt hatte. Flúgar schloss erneut die Augen. Er genoss es, weil er genau wusste, dass dieser Moment nicht ewig andauern würde. Alles war vergänglich, und besonders die Dinge, zu denen man eine Verbindung aufbaute, nur ihm blieb es dabei verwehrt zu vergehen. Er würde ewig leben, der Preis dafür war hoch, alles um ihn herum würde sich verändern; in der Vergangenheit hatte ihn dieses Phänomen schon oft heimgesucht. Würde er allerdings entgegen seiner Bestimmung doch sterben, erwartete ihn ein noch grausameres Schicksal... Die zarten Strahlen der frühen Morgensonne geleiteten mich langsam aus meinem traumlosen, aber über die Maßen tiefen Schlaf. Noch leicht benommen setzte ich mich auf, streckte meine müden Glieder und rieb mir die Augen. So gut hatte ich lange nicht mehr geschlafen; kein Alptraum hatte mich heimgesucht, keine Sorge hatte meine Seele geplagt... ich fühlte mich gut, ohne jegliches Wenn und Aber. Schlaftrunken sah ich mich um, betrachtete eine Weile lang nachdenklich Kaneko, die außerhalb der kleinen Höhlung saß und aufmerksam die Luft prüfte. Zuweilen zuckten ihre schwarzen Ohren, aber der Nekoyoukai blieb ruhig, und somit gab es keinen Grund zur Beunruhigung. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich unsagbar weich gelegen hatte und ein flüchtiger Blick bestätigte mir meine Vermutung; ich hatte auf dem Futon geschlafen. Ich erinnerte mich an gestern... Zögerlich fuhren meine Finger über den tiefrot verfärbten Stoff... ich brauchte nicht aufzusehen, um mich zu vergewissern, dass ich alleine war. Flúgar war derzeit nicht hier, dessen war ich mir bewusst. Langsam legte ich mich wieder zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, starrte an die von Baumwurzeln durchsetzte Decke... ich hätte gerne gewusst, wo Flúgar war, denn soweit ich mich entsinnen konnte, ging es ihm noch nicht wieder richtig gut. Hoffentlich war er in Ordnung... Ja, ich gestand es mir ein, ich mochte Flúgar, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt keinerlei Gründe zu benennen vermochte. Es war einfach ein Gefühl, zugegeben ein starkes, aber nichts weiter. Aber warum nur...? Immerhin war er ein Youkai. Aber das war wohl kein Argument, denn schon Kaneko hatte bewiesen, dass es Ausnahmen gab. Woran lag es nur, dass ich mich um ihn sorgte, dass er mir nicht gleich war, dass ich ihm... vertraute... Ich schloss die Augen. Es war die reine Wahrheit, ich vertraute Flúgar... aber was veranlasste mich bloß dazu? Es gab so viele Gründe ihn nicht zu mögen, so Vieles, für das man ihn hassen konnte... vielleicht, weil er nicht immer so war? Weil ich mir immer sicherer wurde, dass sein Verhalten größtenteils eine Fassade war? ...oder vielleicht, weil er mir ähnlich war? ... ich wusste es einfach nicht... Kanekos freudiges Miauen holte mich aus meinen Gedanken, ich drehte den Kopf in ihre Richtung. Über dem Boden der Lichtung vor dem Hain schwebte eine Energiekugel, die sich umgehend verformte und schließlich eine humane Silhouette bildete. Das gleißende, energetische Licht verging, und ich erkannte die Person, die noch einen Moment regungslos dort verweilte. Erneut setzte ich mich auf, warf ihm einen neugierigen Blick zu, aber er reagierte nicht darauf. Als er sich mir näherte, stieg mir ein eindeutiger Geruch in die Nase; Salz, Seetang, Fisch... Das Meer war unendlich weit entfernt von hier... war es möglich, dass er in so kurzer Zeit so weit gekommen war? Ich war skeptisch, allerdings musste ich in Betracht ziehen, dass er sich nicht in dieser humanen Form fortbewegt hatte. Schweigend musterte ich ihn, seine Bewegungen, die teilweise noch einen Hauch von Schmerz verrieten. Anscheinend war die Wunde noch nicht ganz verheilt, jedoch hätte mich das wahrscheinlich auch bei ihm gewundert. Flúgar schien meinen Blick im Rücken zu bemerken, denn er setzte sich so, dass für ihn die Möglichkeit bestand mich anzublicken, auch wenn er in diesem Augenblick nicht tat. Nach einer Weile legte ich den Kopf schief; es kam mir so vor, als wollte er mich nicht ansehen. Ob es noch immer wegen der Sache von gestern war? "Hast du Hunger?" Er schüttelte andeutungsweise den Kopf, lehnte sich zurück gegen die Wand und schloss die Augen. Er ging einer Konversation mit mir aus dem Weg... ich seufzte. Es bedurfte einer Art von Aussprache, auch, wenn er nicht wollte. So konnte es unmöglich bleiben. Ich kniete mich genau vor ihn, merkte, wie sich seine Haltung verkrampfte. Sein Ausdruck verblieb ruhig, aber ich spürte seine Anspannung. "Hör zu, Flúgar... ich bin dir nicht böse, und ich mache dir keine Vorwürfe..." Meine Worte schienen an ihm vorbeizuziehen, ungehört, bedeutungslos. "Ich verstehe es nicht... Flúgar, bitte, ich bitte dich! Sieh mich an... ich möchte nicht, dass du mich meidest, mich ablehnst..." Mein Ton wurde neutral, monoton. Äußerlich hatte ich es nie an mich herangelassen, wenn mich jemand mied. Aber innerlich hatte es mir schon immer zu schaffen gemacht, dass die Leute mich ablehnten, und nur meine Dienste, meine Fähigkeiten annahmen. Als ich behutsam den Blick hob, traf ich auf den seinen. Vorsichtig streckte ich die Hand nach seiner Wange aus, beobachtete den leichten Wandel in seinem Blick, als ich ihn berührte. "Ich habe keine Angst vor dir... ich... vertraue dir, Flúgar..." Eine ganze Zeit lang geschah nichts, niemand sagte ein Wort, und zu meiner Verwunderung wich er meinem Blick nicht aus. Mein Zeitgefühl setzte aus, und ich verlor mich in Flúgars so blank erscheinenden weißen Augen, obwohl ich nicht zu deuten vermochte, was in den Abgründen, die sich dort auftaten, verbarg. Irgendwann packte er mein Handgelenk und zog mich mit sich auf die Beine. "Lass uns gehen." Uns? Meinte er das ernst? Ein wenig stutzig sah ich ihm nach, mein Blick heftete sich auf seine Seite. Flúgar betrachtete mich bloß kurz aus den Augenwinkeln, schien aber sofort genau zu wissen, was mir derweil durch den Kopf ging. Ohne eine Aufforderung entblößte er seine linke Seite, erlaubte mir somit mir ein Bild vom jetzigen Zustand seiner Wunde zu machen. Wie ein roter, mit ungleichen Zacken bewährter Stern prangte sie über einem beträchtlichen Bluterguss, der sich beinahe über seine ganze Flanke zog. "Bist du sicher, dass..." Die Verletzung wirkte auf mich noch immer bedenklich, wäre es nach mir gegangen, hätte ich ihn sofort wieder auf den Futon verbannt, aber das konnte ich mir wohl sparen. Er würde es ohnehin nicht tun. Auf der anderen Seite... wenn er es schaffte von hier aus bis zum Meer und zurück zu kommen - auf welche Art und Weise auch immer - dann konnte es ihm nicht allzu schlecht gehen. "Ist gut!" Flúgar stellte die Ordnung seiner Kleidung wieder her, während ich zusammenpackte und die Satteltaschen befestigte. Die Vorräte gingen langsam aber sicher zur Neige, ich musste sie möglichst bald in einem Dorf oder einer Stadt aufstocken. Ob man hier in der Nähe so etwas finden konnte? Welcher vernünftige Mensch würde sich auch nur am Rande dieses unheimlichen Waldes aufhalten wollen? Ich sollte Flúgar fragen, vielleicht hatte ich ja wenigstens einmal Glück... Der Wald fand bald ein Ende, und in weiter Ferne türmte sich eine in dunstigen Nebel getauchte, mit weißen Gipfeln gekrönte Gebirgskette auf. Graue Wolkenfetzen hingen vor den verschneiten Wipfeln, erlaubten nur ab und an einen Blick auf den nächst höheren Berg dahinter. Das Gestein war nicht einheitlich gefärbt, die Frontseite präsentierte sich von einem hellen Ocker bis hin zu einem schmutzigen Dunkelblau. Die momentan von der späten Nachmittagssonne beschienene Seite erschien kupferfarben, die im Schatten liegende war tiefschwarz. Dieser Gebirgszug war markant, aber trotzdem hatte ich keinen Schimmer von unserem derzeitigen Aufenthaltsort. Wo waren wir hier? Der Weg dem wir folgten, führte am Waldrand entlang, fiel rechts in einem grasigen Steilhang tief hinab. Nachdem die mannshohen Hecken nicht mehr weiter die Sicht behinderten und in Wiese übergingen, erkannte ich eine kleine Stadt, einen Fluss und einige Felder. Wenn ich genau darüber nachdachte, erschienen mir die Felder und die Straßen der Siedlung leer, denn es war kaum ein Mensch dort unten zu erspähen. War das Dorf eventuell von Youkai heimgesucht worden? Oder von Räubern überfallen worden? Eher nicht, denn ich spürte weder die Präsenz einer bösen Energie, noch waren die Häuser beschädigt oder gar abgebrannt. Zu meiner Freude schien die idyllisch gelegene Siedlung ein Gasthaus zu beherbergen; die Besitzer solcher Behausungen waren mir freundlich und hilfsbereit in Erinnerung. Priester und Schreinjungfrauen waren dort höchst willkommen, denn sie zeigten den einfachen Leuten an, dass die Gaststätte vertrauenswürdig war. "Zwei Tage." Vor der Wegesgabelung hatte Flúgar angehalten und wartete nun auf mich. Es machte den Anschein, als wollte er den Weg über den schmalen Steg in die Stadt einschlagen. Ging es ihm gut? Seine nüchterne Aussage kam mir eigenartig vor. Das letzte Mal hatte ich eher das Gefühl gehabt, er würde am liebsten einen weitläufigen Bogen um jede menschliche Ansiedlungen machen. Hatte ich hier etwas übersehen oder war Flúgar einfach sprunghaft? Ich zuckte die Schultern und folgte ihm still in mich hinein lächelnd über die kleine Holzbrücke, die über den Fluss führte. Zwei Tage in dieser Stadt - und in dieser Gaststätte - sollten genügen um ausreichend zu essen und zu schlafen, ein heißes Bad zu nehmen... diese Siedlung war ein Segen! Ohne jemanden anzutreffen passierten wir den Steg und erst auf einem der letzten Felder, das nahe bei den Häusern lag, trafen wir zwei alte Herren an, die sich mit der Arbeit auf dem Acker sichtlich schwer taten. Als die zwei Greise uns erblickten, ließen sie plötzlich ihre Werkzeuge fallen und warfen sich demütig auf die Knie, beugten ehrfürchtig die Köpfe bis zum Boden. "Gyousei-sama!" Meine Augen weiteten sich, als mir der Sinn dieser Anrede dämmerte. Gyousei-sama? Der Gyousei-sama? Damit sprachen sie Flúgar an? War ich denn so blind?! Flúgar hielt inne und bedachte die vor ihm im Staub kauernden Gestalten mit einem missgünstigen Blick. Scheinbar konnte er damit nicht allzu viel anfangen, oder es war ihm gleichgültig, auf jeden Fall äußerte er sich nicht dazu. Ich ließ die Zügel des Packpferdes los und brachte mich vor Flúgar, musterte ihn mehrmals von oben bis unten. Wie kamen diese alten Männer nur auf Gyousei-sama...? "Miko-sama, habt vielen Dank, dass Ihr Gyousei-sama zu uns geleitet habt, aber wir waren darauf nicht vorbereitet. Die jungen Männer dieser Stadt sind alle im Krieg, und nun sind nur wir Alten, die Frauen und Kinder noch hier... wir werden uns umgehend um einen angemessenen Empfang für Euch bemühen!" Sie verneigten sich noch einmal so tief wie es nur möglich war und eilten dann in Richtung des Gasthauses davon. Währenddessen warf ich meiner Begleitung einen kritischen Blick zu. "Du bist nicht wirklich ein... Kami, oder?" Eigentlich war es unvorstellbar, aber... Für einen Moment hüllte sich der Dämon in Schweigen, die Augen abwesend auf das riesige Gebirge, das, von Nebelschleiern umgeben, im Hintergrund steil aufragte, fixiert. Dann schüttelte er den Kopf. "Iie, nicht direkt." Verständnislos sah ich ihn an, verschränkte die Arme demonstrativ vor der Brust. "Was meinst du mit nicht direkt? Es steckt wohl doch ein Körnchen Wahrheit darin, hm?" Flúgar schaute wieder in die Ferne. "Ihr Menschen seid eine seltsame Rasse... ohne Glauben könnt ihr nicht existieren, und gleichzeitig verurteilt ihr den eines anderen. In dieser Gegend verehrt man den Clan meines Großvaters als Kami, wobei das nicht auf ihn, sondern auf meinen Vater zurückfällt." Ein Hauch von Bitterkeit sprach aus seiner Stimme, die Verächtlichkeit, mit der er das Wort Vater aussprach, stimmte mich nachdenklich. Hieß das, sein Vater war der wahre Kami? Ein richtiger Kami in dem Sinne, dass er die Menschen hier beschützte? "Gyousei-sama ist also... dein Vater?" Flúgar der Sohn eines Kami? Zumindest schien er mir die Ansichten seines Vaters nicht zu teilen, es missfiel ihm merklich, dass man diesen hier verehrte. Bedeutete dies, dass sein Vater die Menschen nicht verachtete? "...ja." ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Gyousei - Morgenstern Kami - shintôistische Götter ***>>> Kapitel 18: >"Nach all den Strapazen und Mühen, die man im Leben auf sich nimmt, folgt auch irgendwann eine Ruhepause, eine kurze Zeit der Entspannung. Jedes Individuum nutzt diese nach seinem Belieben, hängt seinen Gedanken nach, beugt sich dem Drängen seiner Neugier..." *» Chikan Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)