Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 16: *~Shinyou~* ----------------------- "Vertrauen ist das Gefühl, einem Menschen sogar dann glauben zu können, wenn man weiß, dass man an seiner Stelle lügen würde." – Henry Louis Mencken Kapitel 16 - Shinyou -Vertrauen- *Wie stark ist die Bindung, die das Empfinden von gegenseitigem Vertrauen zwischen zwei Wesen schafft? Ähnelt es eher einem fragilen Netz aus seidenen Fäden, das durch eine minimale Unstimmigkeit zerreißt und nicht wieder geknüpft werden kann? Oder ist es ein unzerstörbares Tau, das sich durch nichts wieder lösen und somit zerstören lässt? Ist Vertrauen womöglich etwas, das man mit unseren gegebenen Maßstäben nicht zu erklären vermag?* ּ›~ • ~‹ּ "Afi..." Ich schrak auf, als ich Flúgars aufkommende Unruhe bemerkte und nahm ohne Umschweife wieder meinen Platz an seiner Seite ein. Er atmete wieder gepresster, sein Körper erlitt ein weiteres Mal die Tortur des puren Schmerzes, und unentwegt wiederholte er dieses Wort. Afi... ob es eine Bedeutung hatte? Rief er in dieser fast aussichtslosen, schrecklichen Lage nach jemandem, dem er vertraute? Flúgar tat mir unsagbar leid, aber ich konnte ihm nicht helfen; ich konnte ja nicht einmal seine Schmerzen lindern, geschweige denn ihn davon erlösen. Ich machte mir abermals Vorwürfe... "Miko-sama." Ich sah auf. Yumeji war zurück, durchnässt und recht erschöpft, aber redlich zufrieden mit ihrer Leistung. Stolz präsentierte sie mir die eigenartige Pflanze, deren Stiel und Blätter von silbrigem Flaum überzogen waren. Fragend runzelte ich die Stirn. "Das ist eine äußerst seltene und kostbare Pflanze, Miko-sama, die nur im tiefsten Herzen dieses Waldes beheimatet ist. Sie hat eine heilende Wirkung, aber... nicht unbedingt auf jeden... es besteht die Möglichkeit, dass sie in seinem Fall vollkommen nutzlos ist." Die Füchsin senkte den Kopf, setzte sich auf den trockenen Boden der von kräftigen Baumwurzeln zusammengehaltenen Höhlung. "Und was ist das?" Voller Neugier begutachtete ich die lederne Karaffe, die an einem braunen Gürtel locker um ihre Hüfte hing. Ein schwaches Grinsen vernahm ihre schmalen Lippen ein, als sie mit den Fingerspitzen über das Mitbringsel strich und es von dem Ledergurt löste. Dann legte sie es zwischen uns auf den Boden. "Kräuterschnaps!" Wozu das? Ein wenig verwirrt sah ich sie an, mein Blick von absoluter Unverständnis geprägt. Für diesen Moment verstand ich - ohne Übertreibung - überhaupt nichts. "Glaubt Ihr etwa, dass der da..." Mit einer beiläufigen Geste deutete sie auf Flúgar. "... sich als sehr kooperativ erweisen wird?" Meinte sie das ernst? Ich zuckte die Schultern, nachdem ich den verletzten Youkai noch einmal flüchtig angesehen hatte. Die Kitsune schüttelte energisch den Kopf. "Ohne diese kleine Hilfe werden wir nur erhebliche Schwierigkeiten bekommen. Ihr müsst wissen, Miko-sama, die Medizin, die man aus dieser Pflanze gewinnt, ist wirklich ungenießbar. Wenn er auch nur noch ein Fünkchen Leben in sich hat, wird er sich wehren." In meiner Verwirrung blinzelte ich einige Male, ehe mir langsam der Sinn dieses Vorhabens dämmerte. "Du willst ihn mit Alkohol gefügig machen?" Yumejis Grinsen wurde breiter, und sie gab einen bejahenden Laut von sich. Derweil fragte ich mich, ob das funktionieren konnte. Es erschien mir nicht der schlechteste Einfall zu sein, aber wie es sich mit Dämonen und Alkohol verhielt, wusste ich nicht. Sicher, mir war nur zu gut bekannt, was dieses Teufelszeug aus normalerweise sittlichen Bürgern, vor allem Männern, machen konnte, jedoch war mir nicht geläufig, was es mit Dämonen anstellte. Würde es Flúgar genauso den Verstand vernebeln, wie es bei den Männern in den meisten Wirtshäusern der Fall war? "Ihr braucht Euch keine überflüssigen Gedanken zu machen, Miko-sama, es wird ihm nicht schaden. Allerdings kann ich nicht vorhersagen, wie sich der Schnaps genau auf ihn auswirken wird, hoffentlich wird er nicht allzu ausfallend." Ich zog die Augenbrauen zusammen und runzelte leicht die Stirn. Ausfallend? Was meinte Yumeji mit ausfallend? Womöglich wollte ich das gar nicht wissen... Die ganze Zeit über hatte sich Zuisou verdächtig ruhig verhalten, mir schwante es bereits, dass etwas nicht stimmte. Als ich mich umdrehte, bewahrheitete sich meine Vermutung, die Situation war offensichtlich. Flúgars leere, weiße Augen bohrten sich förmlich in den kleinen Kitsune, der - von Furcht erfüllt - es sich nicht wagte sich zu regen, denn dann würde Flúgar ihn sehen können, das wusste er; so hatte er zumindest die Hoffnung, dass der Blick des anderen Dämons zu verschwommen war, um seine unbewegliche Gestalt zu erkennen. Der junge Fuchs begann zu zittern, als sich Flúgar mit immensen Bemühungen auf die Seite drehte; ein glänzender, kleiner Gegenstand entkam dem Griff der linken Hand des Fuchses. Was...? Es war eine Art Anhänger, dessen aus seltenem, farbigem Gestein hergestelltes Mittelstück mit feinen goldenen Bögen eingefasst war. Wenn man aber genauer hinsah, war zu erkennen, dass es bloß ein Bruchstück, ein Teil eines Glücksbringers war, denn die Linien blieben zur anderen Seite hin unvollständig. Flúgar streckte die Hand danach aus, in seinen Augen fand ich sein Bewusstsein in keiner ersichtlichen Weise wieder. Seine Pupillen waren bloß schmale, senkrechte Schlitze, er blickte ins Leere als wäre er blind. Was trieb ihn an? Was, oder wer, brachte ihn zu so einer Anstrengung? Ich versuchte inständig ihn mit Worten zu beruhigen und davon zu überzeugen, dass sich niemand an seinem Eigentum vergreifen würde, aber es half nicht. Erst, als seine Kräfte ihn erneut verließen, und der Schmerz, den er sich selbst zufügte, weil er auf seiner verwundeten Seite lag, offensichtlich wurde, gab er nach - gezwungenermaßen. Was es wohl mit diesem kleinen Schmuckstück auf sich hatte? Ich war mir sicher, dass es ihm gehörte; er schien an den wenigen Dingen, die er bei sich trug, sehr zu hängen. Meine Augen trafen schließlich Zuisous Blick. "Woher hast du das?" Ich hielt den Anhänger in die Höhe, ließ meinen Ausdruck und meine Worte nicht zu mild werden. Er zögerte einen Augenblick, warf sich dann aber vor mir auf den Boden. "Bitte, Miko-sama, verratet ihm nicht, dass ich es war! Es tut mir leid, ich habe es in der Nähe des Schwertes gefunden... Miko-sama, ich flehe Euch an, sagt ihm bitte nichts davon..." Sein Schluchzen erstarb ebenso plötzlich wie sein tränenersticktes Flehen, als ich ihm behutsam die Hand auf den Kopf legte. Zuisou sah auf, in seinen feuchten Augen glimmte eine vage Hoffnung. Ein Lächeln schlich sie über meine Züge, tröstend fuhr ich ihm durch die Haare. "Ist schon gut, Zuisou-chan, ich sage ihm nichts, in Ordnung?" Der Kitsune nickte eifrig zur Antwort, trat daraufhin einen Schritt zurück und straffte seine Haltung. "Arigatou, Miko-sama." Seine Worte begleitete er mit einer höflichen, tiefen Verneigung, seine ernsthafte Förmlichkeit aufgrund dieses kleinen Gefallens meinerseits veranlasste mich zum Kichern. "Gib mir deine Hand." Unsicher musterte er mich noch einmal genau, streckte mir langsam seine kleine Hand entgegen. "Diese Sache bleibt unser Geheimnis, verstanden?" Seine Züge hellten sich auf, ein freudiges Lächeln strahlte in meine Richtung, als unsere Hände - praktisch als Besiegelung unseres Paktes - sich berührten. Mein skeptischer Blick traf auf Yumejis. "Das riecht ja schon widerwärtig..." Ein eiskalter Schauer rann meine Rücken hinab, mein Körper schüttelte sich regelrecht, als mir ein weiteres Mal der beißende Geruch des Pflanzensaftes in die Nase stieg. "Ich versichere Euch, es schmeckt noch schlimmer als es riecht." Sie grinste wieder, machte eine wegwerfende Handbewegung. Ich beobachtete genau, wie sie die Tonschale unheimlich großzügig mit dem mitgebrachten Kräuterschnaps auffüllte. So oder so, auch jetzt kam ich noch zu dem Schluss, dass der Geruch dieses Gemischs kein bisschen angenehmer als der von vorher war. Unbewusst hatte ich schon die ganze Zeit versucht, dauerhaft durch den Mund zu atmen, aber es gelang mir nicht wirklich, und meine Gedanken hörten nicht auf um Flúgar zu kreisen. Da er nicht bei Bewusstsein war, und wahrscheinlich ohnehin ohne Mitspracherecht verblieben wäre, tat es mir wieder unsäglich leid, dass er dazu gezwungen wurde. Ich seufzte, es führte ja dann doch kein Weg daran vorbei. Yumeji kniete bereits neben Flúgar, doch ihr Gesichtsausdruck war von Nachdenklichkeit beherrscht und ihr Interesse galt etwas Anderem. "Yumeji?" Die Füchsin zog die Augenbrauen zusammen. Irgendetwas schien sie in seinen Bann gezogen zu haben und fesselte sie dermaßen, dass sie mich nicht mehr wahrnahm. Dann blickte sie auf. "Was für ein Dämon ist er?" Mir war zwar nicht bewusst, was sie mit dieser Frage bezweckte, aber ich hatte ohnehin keine Antwort darauf. Darüber war zwischen Flúgar und mir noch kein einziges Wort gefallen, aber wenn er mir nicht einmal sein Alter preisgeben wollte, würde er mir um nichts auf dieser Welt verraten, welcher Rasse er angehörte. Ratlos zuckte ich die Schultern, musterte Yumejis unveränderte Züge. Fragend neigte ich den Kopf zur Seite. "Sein Gegner war zumindest ein Drache..." Ungläubig starrte ich sie an und das absolut fassungslose "Was?!" platzte unaufhaltsam aus mir heraus. Die Kitsune hob die Hand und öffnete langsam ihre Faust. Eine bläulich marmorierte Kugel lag auf ihrer Handfläche, zeigte im fahlen Licht des herunterbrennenden Feuers einen matten Glanz. "Das ist das Herz eines Drachen... ein Heiligtum, dass sie nicht in die Hände Fremder kommen lassen..." Unfassbar... Shiosai sollte also ein Drache gewesen sein? Das konnte ich nicht glauben, irritiert schüttelte ich den Kopf. Flúgar hatte einen Drachen getötet...? "Aber..." Meine Stimme stockte, versagte mir den Dienst. Yumeji hielt einen Moment inne, schloss die Augen, dann betrachtete sie den verwundeten Dämon, der regungslos vor ihr auf dem Boden verweilte. "Ich befürchte, Miko-sama, dass er ebenfalls dieser Rasse angehört. Ein anderer Youkai hätte keine Chance gegen einen vollwertigen Drachen gehabt, und er sieht nicht nach einem aus dem Hundeclan aus..." Erstaunt sah ich sie an. Hundeclan? Flúgar ein Drache? Allmählich setzte sich diese Angelegenheit über mein Vorstellungsvermögen hinweg. In was war ich hier nur hinein geraten? Sie bemerkte rasch meine Abwesenheit, sah mich eindringlich an. "Habt ihr noch nie etwas von dem Hundeclan aus dem Westen gehört?" Ich schüttelte überfragt den Kopf. Hatte sich dieser Fuchs einmal vor Augen geführt, dass ich ein Mensch war? "Aber du kennst doch sicher die Geschichten über den Weißen Hund von Kyûshu?" Diesen Begriff hatte ich schon einmal gehört, im Wirtshaus einer größeren Stadt im Westen hatte ich einige Worte aus der Konversation zwischen einem Dämonenjäger und einem hochangesehenen Priester erhaschen können. Die Dämonenjäger kamen von Kyûshu, waren aber auf dem Weg in den Osten, sie flohen, da sie eine weitere Auseinandersetzung mit dem Weißen Höllenhund befürchten mussten. Und auch der Priester trat auf den Rat des gesetzten Jägers den Rückweg in den Osten an. Ich nickte abwesend. "Bis jetzt habe ich nur einmal einen von ihnen gesehen, als er in den Tiefen dieses Waldes mit einem der alten Bäume sprach, aber dein Begleiter riecht auch ganz anders..." Irgendwie fühlte ich mich, als würde sie mich an der Nase herumführen. "Er sprach mit einem... Baum?!" Sie nickte bejahend, als wäre es das Normalste auf der Welt, dass man ab und an ein Pläuschen mit einem Baum hielt. So recht wollte mir das aber dann doch nicht in den Kopf. "Bokusenou ist ein weiser Youkai, der mit seinem Rat und seinem Wissen nicht geizt; er hat meiner Sippe auch schon geholfen. Allerdings wahrt er Stillschweigen über seine Gespräche mit diesem Hund..." Die Füchsin wurde wieder nachdenklicher. Diese internen Umstände interessierten mich nicht unbedingt, ich tat Yumejis Auskunft mit einem etwas gleichgültigen Schulterzucken ab. Daraufhin ließ auch sie das Thema 'Weißer Hund von Kyûshu' ruhen und wir wandten uns dem Vorhaben zu, das unumgänglich blieb. Flúgars Gegenwehr hielt sich in Grenzen, was mir aber im Grunde nur noch mehr Sorgen bereitete. Wie schlecht musste es ihm gehen, wenn er nicht einmal mehr die Kraft aufbrachte, sich gegen dieses abstoßend riechende - und laut Yuemji noch viel schlimmer schmeckende - Gebräu zu wehren? Selbst in der Sekunde meines Todes hätte ich mich mit aller Macht gegen diese Flüssigkeit zur Wehr gesetzt. Von seiner Seite kam so gut wie nichts, er weigerte sich bloß eine ganze Weile, das Pflanzensaft und Alkohol-Gemisch zu schlucken. Verständlich, jedoch hätte ich von ihm wesentlich mehr erwartet... Zudem fügte sich, dass die Kitsune mir noch einmal in aller Deutlichkeit ihre Prognose mitteilte, bevor sie ihr schlafendes Kind in den Arm nahm und in der mittlerweile längst herangebrochenen Dunkelheit der Nacht verschwand. "Gehabt Euch wohl, Miko-sama, Ihr seid bei den Kitsune jederzeit willkommen!" Es regnete nicht mehr, nur ab und zu perlten vereinzelte Regentropfen von den Blättern der Pflanzen leise zu Boden. Der Himmel versteckte sich weiterhin hinter einer dichten Wolkenfront, der Mond war so unerkennbar am Firmament wie die Sterne. Diese Nacht erschien mir trostlos und meine Müdigkeit verstärkte sich zusehends. Ich durfte nicht einschlafen... Inazuma döste vor sich hin, obwohl ihn die ganze Sache den Nachmittag über nicht wirklich gestört hatte, und Kaneko lag auf meinem Schoß, schnurrte leise. Ich saß neben Flúgar, beobachtete ihn besorgt. Yumejis Worte gingen mir abermals durch den Kopf, ich wollte sie dennoch nicht wahrhaben. Vehement wehrte ich mich gegen solche Gedanken, schüttelte sie ab. Er war jemand, der sich nicht so leicht unterkriegen ließ, und er würde nicht einfach resignieren und aufgeben... Sicherlich war es eine unbewusste Handlung, als ich meine Hand auf seine legte, mit den Fingerkuppen die weiche Haut erkundete und mir den Verlauf der Linien auf seiner Handfläche bewusst machte. Vor seinen klauenartigen Fingernägeln machte ich Halt, ich zögerte, doch meine Neugierde setzte sich durch. Dieses Mal konnte ich genauso wenig widerstehen wie das letzte Mal, als ich das graue Symbol auf seiner Stirn nachgefahren hatte. Er war kein Mensch, und diese Tatsache verfestigte sich mit jeder neuen Erkenntnis, die ich gewann. "Sei lieber vorsichtig..." Ich zuckte heftig zusammen, als ich die flüchtige Bewegung seiner Muskeln spürte und fast gleichzeitig seine tiefe Stimme erkannte, die mir in ihrer Intensität fast einen Schauer über den Rücken jagte. Den Versuch, sich aufzusetzen, brach er mit einem von Schmerz zeugenden Laut sofort wieder ab. Ich stufte ihn nicht als wehleidig ein, und deshalb nahm ich seine Äußerung ernst und legte ihm die Hand auf die Brust, er sollte sich in seiner Verfassung wohl besser nicht bewegen. Unverhohlen blickte er mir in die Augen, wandte sich nicht ab. "Warum heulst du schon wieder...? Shiosai ist tot." Weinte ich? Zögerlich berührte ich mit der rechten Hand meine Wange, spürte augenblicklich die Nässe meiner Tränen. Ich hatte es nicht einmal gemerkt... "Ich weine doch nicht wegen ihm..." Der Griff meiner linken Hand festigte sich um seine, als ich ihn ansah. Jetzt war es ohnehin egal, ich ließ den Dingen ihren Lauf, hielt die Tränen, die sich den Tag über angesammelt hatten, nicht weiter zurück. "Flúgar... ich weine wegen dir, um dich, weil ich dachte, du müsstest sterben..." Meine Stimme versagte, ging in ein hilfloses Schluchzen über, dass ich nicht zurückzuhalten wusste. Die Priesterin weinte wegen... mir? Sie vergoss Tränen, weil sie um mein Leben besorgt war? Konnte ich das so ohne weiteres glauben? Ich wusste es nicht... ihr Verhalten, diese ganze Situation begriff ich nicht, es war mir schlichtweg unverständlich... Von Anfang an war es mit diesem Menschen eine andere Sache gewesen als mit all jenen, die mir zuvor in meinem Leben begegnet waren. Sie hatte nicht die Absicht verfolgt, mich zu töten, selbst bei unserer ersten Begegnung nicht. Ich hatte keine ihrer Berührungen als unangenehm empfunden und auch niemals das Gefühl gehabt, dass sie mich auf irgendeine Weise verraten oder hintergehen wollte. Sie hatte mich selbst auf meinen Befehl hin nicht im Stich gelassen und mehr als einmal meinen sicheren Tod verhindert; sie vertraute mir... ich war ihr etwas schuldig... Gab es denn noch einen Grund für mich ihr zu misstrauen? Den Punkt, dass sie ein Mensch war, konnte ich unter diesen Bedingungen einfach nicht gelten lassen, und ich war unsicher, ob ich es überhaupt gewollte hätte. Warum sollte ich ihr nicht vertrauen? Die Priesterin würde mich nicht enttäuschen... Ich schloss die Augen, genoss für einen Augenblick ihre Witterung. "Es sind fast genau vierundzwanzig Jahrhunderte und sechsundzwanzig Jahre..." Ihr Schluchzen verstummte, und eine ganze Weile verging, ehe sie sich so weit gefasst hatte, dass es ihr gelang zu sprechen. "Was meinst du?" Ich seufzte, aber das Gedächtnis eines Menschen fand nun einmal keinen Vergleich mit dem eines Drachen, man konnte es ihr nicht übel nehmen. "Du wolltest wissen wie alt ich bin... etwas mehr als vierundzwanzig Jahrhunderte..." Ungläubig starrte sie mich an, ihre braunen Augen verrieten ihre Skepsis. Ich hatte ihr gesagt, sie würde es sich nicht vorstellen können; sie sollte sich hüten sich zu beschweren und meine Worte anzuzweifeln. "Dieser Tag ist wirklich... erst soll Shiosai ein Drache gewesen sein, und du ebenfalls, Hunde reden mit Bäumen und du erzählst mir, du seiest über zwanzig Jahrhunderte alt... sonst noch etwas, dass ich wissen sollte?" Die Kitsune war hier gewesen, ihr Geruch war noch deutlich in der Luft wahrzunehmen. Scheinbar war das Leben an der Priesterin bis jetzt vorbeigezogen... immerhin war sie ein Mensch, und die liefen bekanntlich vollends blind durch ihr ganzes Dasein. "Was hast du denn erwartet?" Unentschlossen zuckte sie die Schultern, wischte sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. Dann galt ihr durchdringender Blick mir. "Und wie kommt es, dass du plötzlich so redselig bist?" Misstrauisch verengten sich ihre Augen. Aber sie wollte keine Antwort hören, sondern setzte gleich selbst dazu an. "Das muss wohl am Kräuterschnaps liegen..." Schnaps...? Was hatten die Füchsin und sie bitte den Tag über getrieben? Es interessierte mich nicht wesentlich und der Alkohol war eine plausible Erklärung für mein vermindertes Schmerzempfinden. Vermutlich spürte ich den Schmerz meiner Wunden deshalb nur ansatzweise... "Hier." Ich wandte mich in ihre Richtung, und war recht erstaunt, welchen Gegenstand sie mir reichte. Es war die Hälfte des Anhängers, die mir Blævar als Talisman geschenkt hatte. Obwohl ich mit derlei abergläubische Riten nichts anzufangen wusste, hatte ich es angenommen und nahm es mit mir, wenn ich das Zuhause meiner Eltern oder das meinige verließ. Meine Bewegungen waren matt, ich merkte, dass ich zitterte. Der Grund dafür war mir nicht bewusst, aber sie äußerte sich nicht dazu und legte mir das kleine Schmuckstück in die Hand. Eher zufällig streifte mein Blick Skýdis... ich erinnerte mich, Shiosai hatte sie mit Sui No Rinrou schwer beschädigt. Ob man sie reparieren konnte? Wohl oder übel würde ich mich mit diesem stupiden Schmied auseinandersetzen müssen, bei dem mein Vater nach Afis Tod Skýdis in Auftrag gegeben hatte. Bis jetzt war ich um einen Besuch bei ihm herumgekommen, da an Skýdis keine Reparaturen nötig gewesen waren, aber nun sah die Sache anders aus. In diesem Zustand konnte ich sie nicht lassen, das konnte ich Afi nicht antun... "Yumeji hat es gebracht... man kann es doch sicher reparieren, oder?" Ich war müde, legte den Kopf auf die Seite. Vielleicht schaffte ich es gerade noch, ihr Skýdis Wert ein wenig näher zu bringen. "Skýdis ist ein besonderes Schwert, und nur der Schmied, dessen Hand sie entsprungen ist, hat vielleicht die Möglichkeit, sie zu reparieren, ansonsten..." Mein Geist driftete langsam ab, ich konnte mich kaum noch bei Bewusstsein halten. Meinem Körper musste es schlechter gehen, als ich es zu spüren vermochte. Augenblicklich riss sie meine Hand an ihre Brust und intensivierte den Druck ihres festen Griffs. "Flúgar..." Ihr schien nicht ganz klar zu sein, was sie gerade tat... Glücklicherweise war ich unschuldig an dieser momentan offensichtlich prekären Position meiner linken Hand. Natürlich hätte ich diese Situation ausnutzen können, zumal sie nicht einmal ihre Rüstung trug, aber mein Zustand erlaubte es mir nicht einmal mehr zu sprechen... ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Afi - Großvater ***>>> Kapitel 17: >"Sich im Zaum zu halten, Herr seiner innersten Gelüste und Empfindungen zu sein, ist eine Fähigkeit, die nicht unbedingt jedem innewohnt. Zuweilen reicht das Bemühen des Einzelnen auch einfach nicht mehr aus, um seine Gefühle in sich zu verwahren und unwillkürlich steigen diese in großen Blasen zur Oberfläche auf..." *» Sjálfsstjórn Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)