Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 11: *~Óbeit~* --------------------- "Der Grund, weswegen wir neue Bekanntschaften so lieben, ist nicht, dass wir der alten müde sind oder das Vergnügen am Wechsel, sondern der Widerwille, dass wir von jenen, die uns allzu gut kennen, nicht genug, und die Hoffnung von jenen, die uns nicht so gut kennen, mehr geschätzt werden." - François VI. Duc de La Rochefoucauld Kapitel 11 - Óbeit -Widerwille- *In extremen Situation, vor allem denen, die tödliche Gefahr bergen, erkennt man sprichwörtlich den wahren Freund - doch entspricht dies der Wahrheit? Würde nicht jeder aus Verlorenheit oder schierer Verzweiflung um seines Wohlergehens Willen so handeln, dass ihm seine Führung erhalten bleibt? Wer würde anders reagieren? Und würden wir nicht eher das Leben unseres Feindes retten als unser eigenes zu geben?* ּ›~ • ~‹ּ Nicht mehr lange, und wir würden auf eine kleine Lichtung hinaustreten, aber selbst dort wollte es nicht ansatzweise aufhellen. Ich sah mich um. Mit dem schier ziellosen Laufen, das uns in jede beliebige Richtung geführt haben konnte, waren mein Zeitgefühl und meine Orientierung vollkommen verloren gegangen, ich hatte keinen Überblick mehr. Jetzt musste ich mich auf Flúgar verlassen, ohne ihn wäre ich mehr als aufgeschmissen. Mein ungutes Gefühl für diesen Ort hatte sich verstärkt, dieser Wald schien etwas zu verbergen. Diese anhaltende Stille war verdächtig und bis jetzt war uns kein einziges Lebewesen über den Weg gelaufen. Dieses Gebiet, dieser Forst war mir suspekt... aber vielleicht verstand ich ihn auch bloß nicht, vielleicht war es mir einfach nicht möglich, etwas so Altes zu begreifen. Unter Umständen war es besser so. Eine zuckende Bewegung, die ich am Rande im rechten Augenwinkel wahrnahm, zog mein Interesse auf sich. Ich hielt inne, wandte mich nach rechts. ... ein Schmetterling? Anmutig flatterte er von einem Grashalm langsam auf meine Augenhöhe, fasziniert beobachtete ich seine graziösen Bewegungen. Schon immer hatte ich sie gerne angeschaut, ihre hübschen Farben bewundert, sie um ihre Freiheit beneidet... Weiterhin folgte ich dem zitronenfarbenen Wesen mit den Augen. Er war nicht mehr weit von meinem Gesicht entfernt, näherte sich graziös, aber kurz bevor er mich erreichte, spaltete sie plötzlich sein winziger Körper in zwei Hälften. Verwirrt und gleichermaßen erschrocken starrte ich auf die nun voneinander getrennten gelben Flügel, die leblos wie verdörrte Blätter im Wind, zu Boden sanken. Dann sah ich auf. Meine Erkenntnis überfiel mich förmlich. Ungläubig streckte ich die Hand nach dem hauchdünnen Faden aus, der sich direkt vor mir, unfähig in jeder Schwingung, spannte. Abermals hob ich den Blick und schaute auf die Lichtung; sie waren überall, kreuz und quer über den baumlosen Teil des Waldes gespannt, einige hingen locker durch, aber andere waren zum Zerreißen gespannt. Das bedeutete... eine Falle! Panisch umklammerte ich die Zügel des Rappen, versicherte mich, dass Kaneko dicht neben mir am Saum der Lichtung verblieben war, und suchte danach sofort die Umgebung mit den Augen nach Flúgar ab... "Flúgar!" Mein Aufschrei bewegte ihn zum Innehalten, brachte ihn dazu, einen flüchtigen Blick über seine Schulter in meine Richtung zu werfen. Ich musste ihm so schnell wie möglich klar machen, was die Fakten waren, ansonsten würde es ihm wahrscheinlich so ergehen wie dem zitronenfarbenen Schmetterling... "Das ist eine Falle!" Ich brüllte mir die Seele aus dem Leib, er stand zwischen unzähligen dieser lebensgefährlichen Fäden; merkte er das denn nicht? Sein Blick wurde undurchsichtig. Erst, als er sich zu mir umwandte und einer der straff gezogenen Fäden ihm die Wange aufschnitt, wurde er sich seiner Lage bewusst. Er trat einen Schritt zurück, wodurch er eine der bedrohlichen Strippen festzog und ein durch Mark und Bein ziehendes Kreischen von den Bäumen, die um die freie Stelle herum standen, erklang. In Scharen verließen sie jetzt ihre Verstecke in den Baumkronen, sammelten sich auf dem Boden, kreisten Flúgar ein. Dieser rührte sich nicht mehr, etwas anderes stand ihm auch nicht mehr frei. Es gab aus diesem Netz keinen erkenntlichen Ausweg. Bei genauer Betrachtung sahen die Wesen aus wie überdimensionierte, haarige Raupen, die schwarze, mit einem roten Ring umrandete Kreise auf ihren dunkelgrünen Körpersegmenten aufwiesen. Sie hatten große schwarze Facettenaugen, genau wie jedes andere Insekt, und wohl eine sehr gute Übersicht, dafür aber nur kurze Saugnäpfe als Beine; sehr schnell konnten sie nicht sein. Ich zitterte, versuchte auf die Lichtung zu gelangen, aber überall, rundherum zwischen den Bäumen waren die Fäden so eng gespannt worden, dass es kein Durchkommen gab. Was sollte ich tun? Flúgar erschien mir ruhig, aber da er nichts unternahm, vermutete ich, dass er selbst nicht wusste, was er tun sollte. Hieß das, die Situation war aussichtslos? "Verschwinde von hier!" Was? Ich sollte gehen? Ihn einfach so hier alleine lassen? Für wen hielt er mich...? Das war die Möglichkeit, die ich nie im Leben gewählt hätte... "Ich lass dich hier nicht allein!" Wieder ertönte dieses fürchterliche Kreischen. Ich hielt mir die Ohren zu, den Blick streng auf diese Kreaturen gerichtet, die anfingen, ihre länglichen Körper zu schütteln. Was hatten sie vor? Wieder stieg die Panik in mir empor, das verhieß definitiv nichts Gutes. Ohne Zögern ergriff ich die unnachgiebigen Fäden, versuchte irgendwo eine Lücke zu finden, eilte um die Lichtung herum, aber es gab nirgends auch nur eine winzige Schwachstelle in der verhängnisvollen Konstruktion. "Hau endlich ab!" Ich verstand nicht, wie er so etwas von mir verlangen konnte... was sollte das? Glaubte er ernsthaft, ich würde ihn zurücklassen und einfach fortlaufen? "Iie!!" Ich schüttelte energisch den Kopf, sodass mir meine Haare für einen Moment die Sicht versperrten. Ein langgezogenes Schreien tönte durch den Wald; es ging von dem größten Laubbaum am Rande der ebenen Zone aus und mit einem Mal strafften sich alle Fäden, die zuvor lose und bewegungsfrei erschienen waren. Flúgar saß fest; die tödlichen Schlingen zogen sich ruckartig zu, hielten ihn gefangen, umfassten jede mögliche Stelle seines Körpers. Und soweit ich es ausmachen konnte, drohten sie ihm sämtliche Schlagadern und die Kehle aufzureißen. Derweil hielt sich seine Gegenwehr in Grenzen, beschränkte sich darauf, die scharfen Schnüre mit den Händen von seinem Hals fernzuhalten. Sonst regte er sich kaum; was war los? "Flúgar!" Meine Stimme überschlug sich. Ich konnte ihn doch jetzt nicht im Stich lassen, aber... Mein Herz raste vor Angst, ebenso mein Atem, ich zitterte, versuchte mit allen Mitteln, diese dämliche Lichtung betreten zu können; dass ich mir dabei die Hände blutig riss, war nebensächlich. Das seltsame Ritual der Raupen dauerte an, während Flúgar auf die Knie sank. Er leistete keinen sichtbaren Widerstand mehr, rang nur noch halbherzig nach Luft... Hatte er nicht gesagt, er kannte diese Gegend? Hatte er das nicht?! Tränen stiegen mir in die Augen, die Verzweiflung begann von mir Besitz zu ergreifen, ich war vollkommen hilflos... was in aller Welt sollte ich denn bloß tun?! Ich sackte zu Boden, unterdrückte kraftlos ein Schluchzen; wie konnte man nur so hinterhältig, so grausam sein? Es blieb sich gleich, es war egal, wie oft ich die fast kreisförmige Stelle umrundete, an welcher Stelle ich versuchte, das verderbliche Netz zu durchdringen, nichts half. Er war in Sichtweite, ich spürte deutlich seine Präsenz und ich hätte jedes seiner Worte verstanden... nur wieso? Wieso konnte ich nichts, gar nichts tun? War ich so nutzlos? So schwach? Ratlos, verloren, nichtsnutzig, elend, so fühlte ich mich, aber... ich konnte doch nicht einfach zusehen... irgendwas musste ich doch tun können! ... noch hatte ich die Chance dazu, noch lebte er! Alle meine Anstrengungen gegenüber den absolut festsitzenden Strängen liefen ins Leere; Tränen liefen über meine Wangen. Das konnte doch einfach nicht wahr sein... warum war das Schicksal nur dermaßen grausam? Es war so ungerecht... Ich spürte, dass meine Verzweiflung und die Angst langsam in Wut übersprangen, ich war dazu entschlossen, dem Schicksal dieses Mal nicht nachzugeben. Niemals. Ich konnte nicht. Es ging jetzt um alles oder nichts, dazwischen existierte nichts! Wieder sah ich auf die Lichtung, die metallisch glänzenden, tückischen Schlingen, die tiefe Wunden in den Körper des wehrlosen Youkai schnitten... richtig, mir kam die entscheidende Idee: irgendjemand musste die Fäden ziehen, und diesen jemand musste ich so schnell wie nur irgend möglich ausschalten. Nur wer? Hastig sah ich mich um... die Raupen waren es nicht, keine von ihnen wies eine Verbindung zu den Strippen auf. Es musste noch jemand im Hintergrund agieren, mindestens einer musste also noch in seinem Versteck in einem der Wipfel sitzen und sich dort feiger Weise verstecken. Ich eilte bis zu dem großen Baum, aus dem vorhin der einzelne, schrille Schrei gedrungen war und zog mein Schwert. Jetzt spürte ich es: die Aura eines Dämons. Es gab keinen Weg hinein, also musste ich es von hier draußen versuchen, nein, ich musste es von diesem Punkt aus schaffen! Ich atmete tief aus, sammelte meine Konzentration und zog mein Schwert. Die Zeit wurde knapp. Flúgar... Ich transferierte alle Kraft, die ich zu jenem Zeitpunkt aufbieten konnte, alle Energie, die mir zur Verfügung stand, auf mein Schwert, erfasste die Auren der Youkai; ich hatte nur diesen einen Versuch. Und darauf legte ich es an. "Shinkon No Kori!" Ein gleißendes Licht tauchte die Lichtung in eine nie da gewesene Helligkeit, läuterte in seiner absoluten Reinheit alles, was es berührte. Die korrumpierten Seelen der Dämonen verloren in jenem Licht ihre Schwärze, büßten damit ihre Kräfte ein, wurden harmlos. Die Metallfäden lockerten sich sichtlich, ich hatte den verantwortlichen Dämon mit meinem Shinkon No Kori gereinigt. Mein Schwert entglitt automatisch meinem Griff, ungeachtet der scharfkantigen Beschaffenheit der noch immer kreuz und quer über die Lichtung verlaufenden Schnüre, rannte ich durch die potentielle Gefahrenzone, nur noch einen klaren Gedanken im Kopf. Jedes bloße Streifen hinterließ blutige Striemen in meinem Gesicht, auf meinen Armen, meinen Beinen und überall, wo mich meine Rüstung nicht schützte. Es kümmerte mich nicht im Geringsten. Ich stürzte in den zentralen Punkt der Schneise, warf mich neben Flúgar, der mittlerweile bewegungslos am Boden lag, sofort auf die Knie. Mit zitternden Fingern löste ich die unheilvolle Schlinge, die ihm nicht nur Hals und Hände übel verletzt, sondern auch das Atmen verwehrt hatte. "Flúgar...? Hörst du mich?" Der Angesprochene reagierte kaum, hustete schwach, gab keinerlei Zeichen von sich, die bestätigten, dass er noch bei Bewusstsein war. Aber er atmete, und ich hörte, dass sein Herz schlug, als ich den Kopf auf seine Brust senkte. Erschöpft verharrte ich in jener Position und schloss die Augen, lauschte schweigsam dem Herzschlag des bewusstlosen Youkai. Nun hielt ich es nicht mehr zurück, ohnehin gab es niemanden in der Umgebung, der meine offensichtliche Schwäche bemerken konnte. Kaneko und Inazuma zählten ebenso wenig wie die sichtlich verwirrten kleinen Raupendämonen, die ein wenig desorientiert in der Gegend umher krochen. Es dauerte eine ganze Weile, bis meine Tränen versiegten und ich nicht einmal mehr die Kraft aufbrachte zu weinen. Langsam richtete ich mich wieder halbwegs auf, musterte besorgt Flúgars momentane Erscheinung. Die feinen Schnitte übersäten seinen gesamten Körper, sein Atem ging flach, er regte sich nicht. Unsicher glitt mein Blick über seinen Leib, blieb schließlich an seinem Gesicht haften. Ohne wirklich darüber nachzudenken, barg ich sein Gesicht in meinen Händen, wischte ihm mit dem einen Ärmel meiner Baykue das Blut von der Wange. Zögerlich, aber wie von selbst, fuhren meine zerschundenen Fingerspitzen über die weiche, aber kalte Haut. Es war mir schon ganz am Anfang im Dorf der Drachentöter aufgefallen und mit der Zeit war ich ganz sicher geworden; Flúgar strahlte keine wahrnehmbare Eigenwärme aus, sein Körper war nicht warm wie der eines Menschen. Deshalb fror er auch nicht. Bis dato hatte ich mich noch nicht getraut, ihn deswegen anzusprechen. Ich setzte mich so, dass zumindest sein Kopf weich lagerte, bettete ihn auf meinem Schoß, denn ich konnte weder von Kaneko noch von Inazuma verlangen, die Lichtung zu betreten. Unschlüssig wechselte ich einen Blick zwischen meinen zwei anderen Gefährten, die vernünftiger Weise keine Anstalten machten näher zu kommen, und Flúgar; was sollte ich jetzt tun? Warten. Das war die simple Antwort. Warten, bis er wieder zu sich kam und hoffen, dass er keinen größeren Schaden genommen hatte. Warten... ּ›~ • ~‹ּ »Die ersten sanften Strahlen der Morgensonne überfluten zaghaft die ausgedehnte Wiese, als das Kind die Arme nach seiner Mutter ausstreckt und jetzt offensichtlich nach der längst überfälligen Zuwendung bettelt. Aber die Gestik wird ignoriert, die Reaktion bleibt aus, es folgt bloß ein kalter Befehl, nicht mehr und nicht weniger. "Warte hier bis die Sonne untergeht." Sie sieht ihn schon gar nicht mehr an, hat sich abgewendet und verschwindet im schieren Nichts. Ihr Interesse an ihm ist bereits erstorben, sie hat ein neues Objekt in ihren eigenen Mittelpunkt gestellt und schenkt ihm aus diesem Grund kaum mehr Aufmerksamkeit. Der Tag vergeht, die Sonne folgt ihrem gewohnten Pfad am Himmel entlang. Die Stunden quälen sich förmlich vorüber. Seit geraumer Zeit muss er sich damit abfinden, alleine gelassen zu werden; seine Zeit wird für jemand anderen benötigt. Für jemanden, der wichtiger ist als er. Niemand sagt es, aber jeder weiß es, selbst er. Aber er ist geduldig, lässt sich äußerlich nicht im Geringsten ansehen, dass ihm die Umstände nicht egal sind. Bloß der Wind lässt ihn nicht alleine, bleibt sein loyaler Begleiter und mit Missgunst beobachtet dessen einstiger Herrscher diese Entwicklung... Der Tag neigt sich seinem entgültigen Ende zu, die Sonne verschwindet nun vollkommen und hinterlässt ein mit dunkelgrauen, dicken Regenwolken verhangenes Firmament. Sehr bald hat der Regen die Ebene in eine nasse, matschige Landschaft ohne jeglichen Kontrast verwandelt, in der die Farben ineinander zu laufen scheinen, aus der sich alles Leben zurückgezogen hat. Dessen ungeachtet wartet er. Der Regenguss ist unbarmherzig, will sein Ende noch lange nicht finden, während sich im Hintergrund die Stimmen von Menschen mit dem leisen Donnergrollen vermischen. Die Männer kommen näher, Söldner, die kein festes Heim kennen und zuweilen ziellos durch die Lande ziehen. Er weiß, dass sie kommen, er kann sie nicht nur hören. Es ist unausweichlich. Im nächsten Moment stehen sie schon hinter ihm, mustern ihn mit kritischen Blicken, ehe sich auch nur ein Wort ihrer Lippen entrinnen mag. Das menschliche Trio ist sich ohne Besprechung einig und verzieht beinahe gleichzeitig die Lippen zu einem sadistischen Lächeln. "Dämonenbrut..." Er regt sich nicht, verharrt bewegungslos auf seinem Posten; nicht einmal sein Blick haftet auf den Männern. Hinter ihm erklingt das verdächtige Geräusch von Metallklingen, die man aus ihrem Schaft befreit. "Tötet den Bastard!"« Aus den Untiefen der Bewusstlosigkeit herausgerissen, fand ich mich noch eine ganze Weile in einem merkwürdigen Dämmerschlaf wieder, der unausgeglichen zwischen halbem Bewusstsein und Bewusstlosigkeit umherpendelte. Es bereitete mir Schwierigkeiten, mich an die letzten Stunden zu erinnern, ich schaffte es einfach nicht, die letzten Ereignisse in meinem Gedächtnis ausfindig zu machen. Ich gab es auf, ich kam zu keinem Ergebnis. Wenn ich meinem Bewusstsein näher kam, spürte ich deutlich, dass ich nicht alleine war, dass mich jemand berührte. Ansonsten blieb das Gefühl für meinen Körper aus, war einer bleiernen Taubheit gewichen, die zuweilen auch den Versuch zu unternehmen schien, meine Lunge zu befallen, um sich anschließend meines Herzens zu bemächtigen. Seltsamerweise beunruhigte mich meine Situation nicht ernsthaft. Warum wusste ich mir auch nicht zu erklären. Es kam mir so vertraut vor... Ich schob die Gründe beiseite, in meinem Zustand eine logische Verbindung zwischen zwei Faktoren herzustellen, war wahrlich ein Ding der Unmöglichkeit. Kein Zweck, es auch nur zu versuchen. Bewusst gab ich mich der Situation in ihrem jetzigen Bestehen hin, auch wenn es sonst nicht meiner Art entsprach, genoss ungeniert das kontinuierliche Streicheln, das man mir zuteil werden ließ. Ungeachtet allem; jede Form von Gegenwehr wäre mir letztendlich doch verwehrt geblieben, wieso sollte ich mich unnötig über etwas aufregen, von dem ich behaupten konnte, dass es angenehm war? Natürlich fand ich Gefallen daran... Nur vage erinnerte ich mich an Zeiten, in denen meine Mutter so zärtlich zu mir gewesen war... ich dachte nicht oft daran, denn auf mich wirkte diese harmonische Anfangszeit meines Lebens nur noch wie reine Heuchelei, eine verwerfliche Notlüge, damit das Kind nicht an der Lieblosigkeit seiner Eltern zu Grunde ging; abgeschoben, weil man ein besseres Spielzeug gefunden hatte, dessen Niedlichkeit das Interesse hielt. Die vollen Ausmaße des eigentlichen Hasses auf meine Eltern hatte aber er zu spüren bekommen; ich hatte mich zur Eifersucht hinreißen lassen - eine Eigenschaft, die mir hätte fremd sein und bleiben sollen. Denn Eifersucht war eigentlich etwas, dass man bloß Menschen und niederen Dämonen nachsagte... Es dauerte unglaublich lange, bis ich über die letzten Fragmente des erzwungenen Halbschlafs hinwegkam, diesen fahlen Zwischenzustand überwand und allmählich wieder zu mir kam. Als ich die Augen öffnete, zeichneten sich in langsam schärfer werdenden Kontrasten die Umrisse von hochgelegenen Ästen und Blättern ab; über mir schirmte ein dichtes Blätterdach alles darunter Befindliche von Sonne und Regen ab. "Flúgar..." Mein Blick traf auf ein tiefbraunes Augenpaar, das mich mit großer Besorgnis musterte; sie musste geweint haben. Ihre Augen wiesen bei genauer Betrachtung nur eine minimale Rötung auf, aber ich nahm in der Luft deutlich das Salz ihrer Tränen wahr. Für einen Moment schloss ich die Augen, schluckte schwerfällig. Ich brauchte unheimlich viel Zeit, um die Situation in ihrer Gesamtheit richtig zu erkennen, in allen ihren Einzelheiten, und schließlich zu deuten, was genau hier vor sich ging. Mein Körper war nutzlos, gelähmt vom paralysierenden Gift der Stálþráðarlirfur. Diese widerwärtigen Viecher waren gefährlicher als so mancher Dämon, ich konnte nichts Anderes, als mich selbst für meinen Fehler zu verfluchen. Es hätte mir einfach nicht passieren dürfen. Wie hatte ich nur so unvorsichtig und dumm sein können... ich war mit offenen Augen in die Klinge meines Gegners gerannt, mit dem Anschein vollkommener Absicht. Unter normalen Umständen wäre ich zu diesem Zeitpunkt tot gewesen... ich war bloß noch am Leben, weil sie sich meiner Anweisung so strikt widersetzt hatte. Ich war selbst schuld gewesen, ich hätte es verdient für meine grenzenlose Torheit mit dem Tode bestraft zu werden. Aber warum hatte sie es getan? Aus welchem Grund war sie nicht einfach davongelaufen? Wieso hatte sie ihr Leben für mich riskiert? Ich verstand es einfach nicht... wie tief konnte ich noch sinken? Kaum ein Seufzen mochte sich meiner Kehle entrinnen, mein Körper war ausnahmslos bewegungsunfähig; ich spürte nichts, nur diese schwere Taubheit, die selbst meinen Verstand lahm zu machen schien. Spät bemerkte ich die Hand der Priesterin, die mittlerweile still auf meiner Stirn ruhte. Dieses törichte Mädchen hatte sich bei dem Versuch, das Netz der Youkai zu durchdringen nicht nur ihre zarten Handflächen an den Stahlfäden regelrecht aufgeschlitzt, sie hatte weit mehr Wunden davon getragen. Und soweit ich es mit meinem eingeschränkten Sichtfeld ausmachen konnte, befanden wir uns noch immer in dieser Hölle aus stählernen Spinnenweben. Mein Kopf lagerte auf dem Schoß der jungen Miko, die unmittelbare Nähe zu ihr ließ mich nicht nur der Wärme ihres Leibes gewahr werden, sondern verriet mir auch ihren Geruch in allen Einzelheiten. Anders als bei dem Großteil ihrer Artgenossen empfand ich den nunmehr leichten Hauch von Schweiß nicht als scharf und unangenehm. Sie roch nach einer Mischung aus würzigen Waldkräutern, feuchter Erde, Kiefernadeln, frischem Reisstroh und einer geheimen Mixtur körpereigener Düfte, die ich nicht genau zuzuordnen wusste. All das zusammen verlieh ihr ein unverkennbares, wohliges Aroma, das ich wohl unter jeden Umständen wiedererkennen würde. Unbewusst beobachtete ich sie aus den Augenwinkeln. Sie war sichtlich erschöpft, machte einen unsicheren Eindruck, wagte sich scheinbar nicht, ihre rechte Hand von meiner Stirn zu nehmen und schon gar nicht, sie wieder ihrer vorigen Aktivität zuzuführen. Es war keine Einbildung gewesen, ich hatte die sanften Berührungen ihrer Hand bis in mein Unterbewusstsein gespürt. Vielleicht, weil ich mich nach eben diesem Gefühl der Zärtlichkeit ab und an sehnte; es war lange her, dass mich jemand gestreichelt hatte. "...fáviti..." Ich drehte den Kopf zur Seite, schloss die Augen erneut. Es würde - für meine Verhältnisse - viel Zeit in Anspruch nehmen, bis ich mich wieder vollkommen von dieser äußerst starken Paralyse erholt hatte. Ich musste mich unbedingt ausruhen... Aber mehr als ein mittelmäßiges Dösen war mir anscheinend nicht vergönnt, ich fand in meiner Unfähigkeit mich auch nur ein wenig zu rühren keinen Schlaf; es war sicherlich besser so, denn ein richtiger Tiefschlaf hätte mir im Endeffekt wohl selbst jetzt noch den Tod bedeutet. Mit Sicherheit lag jener Ausdruck der absoluten Neugierde, den nur Menschen an den zu Tag legen wussten, in ihren Zügen, als sie die störenden, kürzeren Strähnen beiseite schob und ihre Fingerkuppen das Symbol auf meiner Stirn behutsam nachfuhren. Eigentlich hatte ich mit diesem Verhalten gerechnet, vielleicht nicht in dieser speziellen Form, aber die leise Forschheit in ihren Augen vermeinte ich fast immer auszumachen, wenn sie mich ansah. Mir war fast klar gewesen, dass sie ihre Hände nicht still bei sich behalten konnte. Ich erinnerte mich nur an eine Person, die es jemals gewagt hatte, solch eine Unvorsichtigkeit zu zeigen und das graue Abzeichen des Clans in völliger Unschuld mit den Fingern nachzuzeichnen. Im Gegensatz zu ihr hatte er damals Todesängste ausgestanden, nachdem ihm bewusst geworden war, dass ich nicht geschlafen hatte. Unweigerlich entkam mir ein tiefer, normalerweise von absolutem Wohlempfinden zeugender Laut; dabei wusste ich selbst nicht so genau, ob ich nun wollte, dass sie aufhörte oder fortfuhr. Mein Verstand riet mir eindeutig etwas anderes, als mein - zurzeit äußert eingeschränktes - körperliches Empfinden. ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Stálþráðarlirfur - Stahlfadenraupen fáviti - Idiot ***>>> Kapitel 12: >"Die Nacht hüllt den Wald in tiefe Dunkelheit, silberne Blitze zucken leblos, aber verhängnisvoll durch die alles verschlingende Schwärze. Zeit hat für Menschen eine andere Bedeutung als für Dämonen, und ihr Lauf verändert die Dinge manchmal nachhaltiger, als man glauben mag..." *» Maguchi Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)