Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 9: *~Tilviljun~* ------------------------ "Das, wobei unsere Berechnungen versagen, nennen wir Zufall." – Albert Einstein Kapitel 9 - Tilviljun -Zufall- *Ist alles, was um uns herum geschieht dem puren Zufall unterlegen? Lässt sich die Zukunft mit wahrscheinlichen und weniger wahrscheinlichen Ereignissen auslegen? Oder hat das Schicksal seine schwarzen Finger der Vorherbestimmung im Spiel, und entscheidet über die Geschehnisse in dieser Welt? Wer bestimmt also unser Leben - der Zufall, oder das Schicksal? * ּ›~ • ~‹ּ Der Morgen begann zu grauen, breitete sich langsam und schleppend über das Tal, über Kakougen No Kyou, aus, vertrieb die nächtlichen Schatten; der Himmel wurde bedächtig blasser, schüchtern lugte die Sonne über die hohen Talränder, sandte ihre ersten zarten Strahlen aus, die vage die obersten Blätter in der Baumkrone des Heiligen Sakaki nahe des Schreins berührten. Auf der Siedlung lastete eine gewisse Schwermut, eine Mattigkeit und Betrübung, die ausnahmslos um sich griff, die Menschen erschöpfte. Der Angriff der Youkai hatte ihnen schmerzhafte Verluste beigebracht und wertvolle Kraft gekostet, man war bedrückt, schweigsam, suchte in diesem so klaren Morgen nach Hoffnung, nach Belebung, Trost. Kaneko lag zusammengerollt neben der jungen Miko, die Ohren wachsam aufgestellt, auf jedes Geräusch, jede verdächtige Bewegung in der nächsten Umgebung horchend. Seit vielen Stunden lag sie auf ihrem Posten und hatte ihn nicht einmal verlassen, bewachte ihre Herrin, um sie im Notfall unter Einsatz aller Macht, die sie aufzubieten hatte, vor jedem Feind zu schützen. Der Nekoyoukai handelte nicht aus Sorge oder etwa Mitleid, etwas Derartiges zu empfinden war ihm nicht möglich, aber die doppeltgeschweifte Katze spürte, dass Midoriko nicht in Ordnung, verletzt war, roch das mittlerweile längst getrocknete Blut. Es weckte ihren Instinkt, dem sie willenlos gehorchte, befahl ihr gut aufzupassen, bis die Priesterin zumindest wieder zu Bewusstsein kommen würde. Außer ihnen beiden hielt sich niemand in Hinoes Hütte auf, sie waren allein. Die Alte war zum Gebet in den Tempel gegangen, schon ehe der erste Stern ausgeblichen war; jene Männer, die die junge Frau kurz nach dem Verschwinden des ominösen, unbekannten Youkai, mit dem sie am Nachmittag zuvor gekommen war, in die Behausung der betagten Dame gebrachte hatten, waren danach rasch wieder gegangen. Um ihre eigenen Wunden zu pflegen, im Schlaf Erholung zu suchen, sich ihrer Familie oder Angehörigen der zahlreichen Opfer anzunehmen. Kaneko hob den Kopf und öffnete ihre großen roten Augen, als sich ihre Besitzerin regte, ihre Liegeposition korrigierte. Ein gedämpfter, aber durchaus wohliger Laut verließ Midorikos Kehle, veranlasste den zierlichen Dämon ein leises Miauen zu äußern. Sie bekam bloß ein komplett unverständliches Murmeln zur Antwort. Beschwerlich drehte sich die Miko auf die Seite, gähnte ausgiebig, bevor sie sich letztendlich doch dazu durchrang, ihr müden Lider ein kleines Stück zu heben. Beigefarbenes, seidiges Fell, fein abgegrenzte, schwarze Zeichnung... "Kaneko-chan..." Zufrieden schnurrend schmiegte diese sich in die Armbeuger der jungen Frau, rieb den Kopf an ihrem Oberarm. Es nahm einige Zeit in Anspruch, bis sie sich vollkommen bewusste geworden war, wo sie sich befand, ihre Orientierung zurückerlangte und einige Bruchteile, vereinzelte Erinnerungen an die letzte Nacht in ihr Gedächtnis zurückkehrten. Plötzlich war ihr Geist hellwach. Sie hatte am Abend mit Flúgar gesprochen, er hatte ihr schlechtes Gefühl und die böse Vorahnung, die sie gehabt hatte, bestätigt. Kurz darauf hatten die Wölfe, die ganz eindeutig von irgendeiner Art Youkai besessen gewesen waren, die Siedlung angegriffen. Ihre Situation hatte sich rasch als beinahe aussichtslos erwiesen, trotz der großen Bemühungen und Kampfgeistes der Dorfbewohner. Sogar die alte Hinoe hatte um ihr Leben und den Fortbestand Kakougen No Kyous gekämpft, aber auch zusammen mit Kanekos und ihrer eigenen Unterstützung hatte es düster ausgesehen... selbst die stärkste Läuterung, die Midoriko in diesen Momenten fähig gewesen wäre heraufzubeschwören und auszusprechen, hätte niemals alle Youkai erreichen können. Sie hatte es am eigenen Leib zu spüren bekommen. Einer der vielen Wölfe, die sie nicht erfasst hatte, war so schnell so nahe an sie herangekommen, dass er sie mit völliger Sicherheit genauso zerfetzt hätte wie so viel der mutigen Dörfler, wäre er nicht gewesen... Sie erinnerte sich genau... Flúgar hatte sie gerettet, sie vor dem Tode bewahrt; aber wie war der Kampf ausgegangen? Und wie stand es um ihn? Ob die Bauern ihn angegriffen hatten? Angesichts ihres Aufenthaltsortes hatten offensichtlich zumindest ein paar der Leute aus dem Dorf überlebt, ansonsten würde sie nicht hier liegen, behütet von Kaneko, auf einem weichen Lager in Hinoes Hütte. ...und er? Die Schwarzhaarige schloss die Augen, konzentrierte sich... Wie sehr sie sich auch bemühte, sie spürte sein Präsenz nicht, entweder er war nicht mehr in der Nähe der Siedlung oder er... Sie schluckte; sie wollte sich gar nicht ausmalen, was alles passiert sein konnte, nachdem sie schließlich doch bewusstlos geworden war, aber sie hoffte innig, dass er wenigstens noch am Leben war. Die Vorstellung beklemmte sie... Sie zog Kaneko dichter an sich heran, vergrub das Gesicht in ihrem kuscheligen, weichen Fell; sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, die Gedanken erst einmal zurückschieben. "Midoriko... wie fühlst du dich?" Die Angesprochene schreckte auf und hob den Kopf. Ihr Blick traf den von Hinoe, die gerade die Hütte betreten hatte. "Wo ist er?" Sie war überrascht, wie leise und schwach ihre Stimme klang, die Worte an sich kamen ihr wie von selbst, völlig automatisch über die Lippen. Im Gesicht der Älteren machte sich ein fragender Ausdruck breit. "Von wem sprichst du?" Für einen Augenblick zögerte sie, aber da sie das Thema jetzt angeschnitten hatte, zwang sie sich dazu, es weiterzuführen, auch wenn sie vielleicht Antworten bekam, die ihr ganz und gar nicht gefallen würden. "Ich spreche von demjenigen, der letzte Nacht mein Leben rettete... Flúgar. Was ist mit ihm?" Die Alte kniete sich nebst Midorikos Lager auf den Boden, musterte deren von Sorge erfüllten Züge, den erwartungsvollen Blick, ihre dunkelbraunen Augen, in denen sich deutlich die Sehnsucht nach Auskunft und Gewissheit spiegelte. Hinoe schwieg eine ganze Weile, ehe sie zögerlich ansetzte. "Du meinst diese verabscheuungswürdige, blutrünstige Kreatur, die mit einem Hieb ihrer Klauen zwei Dutzend dieser Wölfe einfach so in Stücke riss? Diese Bestie in Form eines Menschen, die die Wölfe an Bösartigkeit und Rohheit noch in den Schatten stellte?" Sie brauchte einen Moment, um sich wieder einigermaßen zu fassen, die Gefühlswogen, die ungehemmt über sie hereinbrachen in den Griff zu bekommen. Ihre Stimme überschlug sich zum Ende hin fast, im konkreten Gegenteil zu dem ruhigen Ton am Anfang. Die Greisin nahm einen tiefen Atemzug, fuhr danach, mit einem bedrohlich schwankenden, wütenden Unterton, fort. "Ein paar Leute haben mir erzählt, dass du ihn hierher geführt, dass du ihn gestern Mittag selbst nach Kakougen No Kyou gebracht hast; sie sagten, du hättest es bewusst getan. Stimmt das, Midoriko?" Hass flackerte in ihren rotbraunen alten Augen auf, der sich zu diesem Zeitpunkt direkt gegen die junge Priesterin richtete. Diese nickte bloß schweigend, starrte den Boden an. "Warum hast du das getan? Warum, Midoriko? Bedeutet dir das Dorf nichts? Hast du die Zeit hier, das, was war, bereits vergessen?! Bist du der Menschen so leid, dass du jetzt mit den Dämonen im Bunde bist!" Hinoe war außer sich, ihre Stimme bebte vor unkontrollierbarem Zorn und war so laut, dass man sie ohne jegliche Anstrengungen draußen noch klar verstehen konnte, jedes einzelne Wort. Die Verachtung, die aus ihren Worten sprach, war so prägnant wie niederschmetternd... Die Jüngere reagierte äußerlich nicht darauf, unmerklich, sie ging nicht darauf ein. Sie blieb ruhig, drückte Kaneko an sich, durchbohrte die gegenüberliegende Wand mit einem gleichgültigen Blick, eine gewisse Traurigkeit begleitete ihre Frage. "Wie kannst du nur so selbstgefällig, so leichtfertig über etwas urteilen, von dessen Umständen und Beweggründen du rein gar nichts weißt?" Der Ton gefiel der Anderen überhaupt nicht und die vermeintliche Ruhe der Verletzten schürte ihren Groll ins schier unermessliche; sie schnaubte wutentbrannt, krampfte die Hände in ihren roten Hakama und herrschte die junge Miko rücksichtslos an. "Da gibt es nichts zu wissen! Wegen dir ist das Dorf an den Rand seiner Vernichtung getrieben worden, du scheinst nicht bei Sinnen zu sein, geschweige denn zu wissen, wovon du redest!" Midoriko presste die Lippen aufeinander. Hinoe war im Unrecht, vollkommen, beharrte aber krampfhaft auf das Gegenteil, auf ihre Wahrheit. Sie würde sie nicht umstimmen können, ganz gleich, welche Argumente sie auch immer zu ihrer Verteidigung, der Rechtfertigung und Richtigkeit ihres Tuns hervorbrachte. Andererseits brauchte sie sich nicht zu rechtfertigen; zu welchem Zweck? Die Alte stellte gerade unter Beweis, welche Welten sie und ihre kurzzeitige Schülerin trennten; Hinoe war ein Mensch wie alle anderen, was hatte sie erwartet? Zufälligerweise einen Lichtschein im Dunkel dieser trostlosen Gesellschaft zu erspähen? Womöglich, diese Annahme war nicht abwegig. Aber an diese Art Zufälle glaubte sie schon lange nicht mehr, im Allgemeinen lag es ihr fremd, irgendetwas noch mit der Bezeichnung ,Zufall' zu versehen, es existierten bloß wahrscheinliche und weniger wahrscheinliche Vorhersagen denen die entsprechenden Ereignisse folgten; unmöglich erschien dagegen schwindend gering, wenn nicht sogar nichts. Mit Zufällen hatte das Leben nichts zu tun, es war Bestimmung und mit der Zeit hatte sie eingesehen, dass sie ihrem Schicksal nicht so leicht entkommen konnte. Sie hatte gelernt sich damit abzufinden keinen direkten Ausweg zu sehen oder überhaupt zu kennen. Midoriko hatte sich dem gefügt, was aber nicht bedeutete, dass alle ihr Zweifel erloschen waren... Der Tag schritt voran, die Sonne folgte ihrem gewohnten Lauf und wärmte Erde und Luft nunmehr mit ihren kräftigen Strahlen; der Himmel war hellblau und klar, wolkenlos an jenem Tag. Am späten Nachmittag lag eine angenehme Wärme über dem Dorf, der Wind schwieg, und die Bewohner genossen das ihnen heute freundlich gesinnte Wetter. Sie waren dankbar für solche Tage, denn sie wussten nur zu gut, wie schnell es umschlagen konnte. Die Taifunzeit lag nicht in allzu weiter Ferne und es versprach einen harten Winter in diesem Jahr zu geben, wenn man dem allseits bekannten Bauernspruch "Auf einen heißen Sommer folgt der härteste Winter." Glauben schenkte. Midoriko hatte die Hütte bereits verlassen und bewegte sich, in Begleitung von Kaneko, nun auf die Quelle hinter dem Dorf zu. Ein Unbehagen, das sich nicht so leicht abschütteln ließ, hatte sie erfasst und herausgetrieben. Die bösen Geister, von denen die Wölfe besessen gewesen waren, machten ihr Sorgen; ihr war, als wären sie noch immer in der Nähe und trachteten nach ihrem Leben. Sie fühlte sich seltsam unwohl, sie sehnte das Misogi herbei. Vielleicht hatte es einfach zu lange ausgestanden; mit Sicherheit würde es ihr danach besser ergehen und sie konnte sich wieder auf Wichtigeres konzentrieren. Im langen Gras am Wegesrand zirpten unentwegt die Grillen, die angenehm temperierte Luft war erfüllt von Insektengeschwirr, Vogelrufen, und dem Quaken von Fröschen, ab und an hörte man vom Dorf her das Wiehern eines Pferdes, bellende Hunde oder ein Rind erhob seine tiefe Stimme. Die hier vorherrschende Atmosphäre vermittelte einen harmonischen, beruhigenden Eindruck, unweigerlich begann sich die Priesterin zu entspannen. Eine alte, knorrige Salweide, umgeben von Nokongiku und Kiransou, stand unweit der Quelle, warf ungleichmäßige Teiche von Licht über ihre stille Oberfläche. Geruhsam murmelte der kleine Bach, der in die Wiese floss, das leise Plätschern verursachte das Wasser, wenn es aus einem Spalt in der Klüftung austrat und sanft über eine kleine Unebenheit sprang. Ihre Anspannung verflog, schien sich unter den herrschenden Umständen ganz von selbst aufzulösen, ihre Gedanken waren träge und ungerichtet, eigentlich dachte sie an nichts. Es kam ihr auch eher nebensächlich vor, dass sie ihren Hakama und die Baykue abstreifte, einen Moment absolut regungslos, bloß mit einem dünnen, weißen Yukata bekleidet, dastand und die Augen schloss. Kaneko lag mittlerweile schon zufrieden in der Sonne dösend im Gras, gelegentlich zuckten ihre Ohren, wenn ein Insekt sich darauf niederließ oder ihr Surren sie aus ihrem Halbschlaf zu holen drohte. An einer seichten Stelle setzte Midoriko prüfend einen ihrer Füße ins Wasser und stellte zu ihrer Zufriedenheit fest, dass es eine milde, lauwarme Temperatur hatte, nicht die Eiseskälte innehielt wie jenes, das fortwährend aus der wahren Quelle im Felsen hervortrat. Sie tauchte die mitgebrachte Tonschale behutsam unter und begann ihren Körper mit dem angenehm temperierten Nass zu benetzen. Ein heißes Bad hätte sie wohl bevorzugt, aber das hätte nicht den gewünschten reinigenden Effekt mit sich gebracht und ihr wohl nur zeitlich begrenztes Wohlbehagen gespendet. Gedankenverloren widmete sie sich ausgiebig dem Misogi, vergaß für einen Weile all das, was ihren Geist belastete... Der Angriff der Sálarsvipur auf diese Siedlung war keinem Zufall unterlegen, es war nicht ihre blinde Blutgier, nicht das Verlangen Menschen zu jagen und zu töten gewesen, das sie genau an diesen Ort verschlagen hatte. Nein... sie waren aus einem anderen Grund hierher gekommen... Eine dermaßen große Anzahl von Wölfen fand sich nicht in den umliegenden Wäldern, einige hatten den Geruch von Salz und Meerwasser mit sich gebracht, und die Küstenregionen waren weit von hier entfernt. Ich hatte den unbändigen Hass in ihren Augen sehen können, hinter dem die Angst vor einer einzigen Person gestanden hatte... Midoriko. Ihre Macht war außerordentlich für einen Menschen, ich hatte es am eigenen Leibe erfahren und in der letzten Nacht hatte ich ihre enorme Aura gespürt, die selbst das Youki eines mächtigen Dämons in den Schatten stellte... trotzdem... Dieser einfache Mensch trieb diese minderbemittelten Kreaturen in die reine Panik hinein, raubte ihnen den ohnehin kaum vorhandenen Verstand; sie fürchteten diese Priesterin wie nichts Anderes, ließ sie in einen Wahnsinn verfallen, der ihnen letztendlich allen das Leben gekostet hatte. Das Töten der Miko war ihr Ziel gewesen, der wahre Grund für diesen unüberlegten Zug; in ihrem Wahn hatten sie mein Youki vollkommen außer Acht gelassen und waren mit offenen Augen in ihr Verderben gerannt. Selbst Schuld... Der klägliche Rest, der es aus dem Dorf geschafft hatte und in die Wälder geflohen war, bettelte um sein Leben; selbst ihr Oberhaupt war vor mir im Staub gekrochen, hatte versucht, sein erbärmliches Leben zu retten. Für nichts waren sich diese niederen Wesen zu schade. Mit so einem feigen Pack kannte man keine Geduld und schon gar keine Gnade; bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, fielen sie einem in den Rücken. Eine Angewohnheit, die sonst vor allem Menschen aufwiesen und das wurde auch ihnen nicht selten zum Verhängnis... Aber es war nicht nur ihre Feigheit, die die Menschen so schwach machte. Nein, bei weitem war es nicht das Einzige. Leichtsinn, Arroganz, Selbstüberschätzung, Gier, Eifersucht... es gab so vieles, dass man sich die Begebenheiten schon nicht mehr vor Augen führen mochte und wenn man genau hinsah, waren keine Ausnahmen erkennbar. Sie waren alle so. Selbst sie fiel nicht aus dem Rahmen, bloß ein weiterer Mensch; sonst nichts. Ebenso wie der nichtsnutzige Dämon an ihrer Seite. Auch er nahm mich nicht einmal annähernd zur Kenntnis. Ein Leichtsinn, der einem schnell den Tod bescherte, aber aus ihrer Sicht nicht einmal ein Wagnis, da sie die Gefahr nicht einmal im Augenblick ihres eigenen Endes realisierten. Ein so törichtes Volk... Wie konnte es einem nur in den Sinn kommen, mit einem solchen Evolutionsfehler eine Allianz schließen zu wollen? Wie konnte man so blind sein, dass man alle Tatsachen einfach abtat? Es resultierten keine Vorteile für uns, für den Clan, daraus. Also was sollte das? Was dachte er sich dabei? Wohl nichts, wie bei allem anderen, was er tat... Des ClanOberhauptes höchste Pflicht lag im Schutz des Clans an sich, er selbst betonte es immer wieder. Ungerührt dessen sprach er stetig von der Arbeit an einem friedlichen Bündnis mit den Menschen... wie konnte man sich nur so dermaßen offen wiedersprechen? Warum verschwendete ich überhaupt noch meine Gedanken an diesen unwürdigen Narren? Undankbar... Ich hasste es, wie er mit mir redete, sein Blick, wenn er mich nur ansah, seine Worte, die er gegen mich richtete... undankbar/ib]... Aus welchem Grund sollte ich ihm dankbar sein? Für was? Meine Existenz? Für das, was ich war? Ich hatte nicht darum gebeten, es war nicht meine Entscheidung gewesen... Sollte ich seiner Ungerechtigkeit mit Dankbarkeit entgegenkommen? Was er von mir verlangte, war schlichtweg zuviel; ich kroch nicht vor ihm auf den Boden, nur, weil er mein Vater und dies sein Wille war... Undankbar... Ein plötzliches Rascheln in den Blättern der Salweide schreckte mich heftig auf, ließ mein Herz doppelt so schnell wie zuvor schlagen, wobei mir eher die Angst innewar, es würde womöglich stehen bleiben. Abrupt wandte ich mich um, den Blick auf den alten Baum gerichtet; auch Kaneko war aufgesprungen und musterte äußerst kritisch die große Astgabel, nervös zuckten ihre beiden in schwarzen Spitzen endenden Schweife von einer Seite zur anderen, jederzeit bereit sich zu verwandeln. Eigentlich hätte ich es mir denken können und es wissen müssen! Ein erleichtertes Seufzen löste sich schwer aus meiner Brust, ich schloss die Augen und machte beiläufig eine abwinkende Bewegung mit der Hand in Kanekos Richtung. "Es ist in Ordnung, Kaneko..." Noch immer raste mein Herz, obschon ich in diesem Moment feststellte, dass ich bis eben die Luft angehalten hatte, nur langsam wich die Spannung wieder aus meinem Körper, dieser Idiot hatte mich fast zu Tode erschreckt... Taktgefühl schien bei ihm ebenso wenig vorhanden zu sein wie Höflichkeit, Scham oder gutes Benehmen - in jeglicher Form. ... aber zumindest war ihm nichts passiert, es beruhigte mich, dass er keinem hinterhältigen Angriff der Dorfbewohner zum Opfer gefallen war und immerhin den Anschein machte, als würde es ihm ganz gut gehen. Wo Flúgar wohl gewesen war? Und warum war er so lange - den Rest der Nacht und den halben Tag - fort gewesen? Er schaute mich nicht an, natürlich nicht - wie käme er dazu? Keine Regung zeichnete sich an seinem Leib ab, er spannte keinen einzelnen Muskel an. Ob er schon längere Zeit dort oben in der Astgabelung saß? Ich hatte ihn bis eben überhaupt nicht wahrgenommen, Kaneko ebenso wenig... bestand eigentlich die Möglichkeit, dass er eben erst gekommen war? Eher nicht... Sorgsam zog ich den Yukata etwas enger um mich, verschränkte die Arme vor der Brust, da mir gerade, als ich an mir heruntergesehen hatte, meine gegenwärtige Lage bewusst geworden war und mir der Fakt vor Augen trat, dass der dünne, weiße Stoff, wenn er mit Wasser in Berührung kam, an Undurchsichtigkeit verlor und so manchen Blick durchließ... Vorsichtig ließ ich mich am Rand des kleinen flachen Abschnitts der Quelle nieder, hob wieder leicht den Blick und betrachtete die von vollkommener Ruhe begleitete Erscheinung des Dämons hinter den Zweigen der Weide. Er hatte die Hände im jeweils gegenüberliegenden Ärmel seines Haoris verborgen, die Beine halbwegs überkreuz; das weiße Katana trug er an der linken Seite. Ich betrachtete ihn eine ganze Weile, schweigsam, schier unbemerkt. Es störte ihn nicht, denn ich war sicher, er wusste, dass ich ihn ansah. "Wo warst du so lange?" Er zeigte keine wahrnehmbare Reaktion darauf, verblieb in seiner unbeweglichen Position, ich war nicht einmal ganz sicher, ob er die Augen noch immer geschlossen hatte. "Die Angelegenheit mit den Sálarsvipur ist geklärt." Geklärt? Wirklich wissen, welchen Zustand er mit diesem simplen Wort beschrieb, wollte ich nicht. Nachdem, wie ich ihn bis jetzt einschätzte und dem, was Hinoe mir über seine Haltung im weiteren Verlauf des Kampfes gegen die Wölfe erzählt hatte, kam ich zu dem Schluss, dass er ihnen wohl gefolgt war und sie allesamt getötet hatte. Andere Möglichkeiten zog ich weniger in Betracht, aus welchem Grund hätte er auch nur einen von ihnen verschonen sollen? Flúgars Denkweise erschien mir sehr eigen, fremdartig und beinahe unverständlich; ihn hatten sie nicht angegriffen und die Dorfbewohner waren ihm ebenso gleichgültig wie das Summen einer Mücke am westlichen Ende des Festlandes. Aus welchem Grund war er diesen Wesen gefolgt und hatte sie restlos ausgemerzt? Je länger ich mir diese Frage stellte, desto unsinniger kam mir seine Handlung vor. Ich verstand ihn einfach nicht; vielleicht war das auch gut so. Zwischen uns lagen ganze Sphären, wenn nicht mehr; ich wagte es nicht, auch nur Vermutungen über seine Herkunft anzustellen, mir kam kein Ort, nicht einmal ein Land in den Sinn, das in Betracht zu ziehen wäre. Durch meine Fähigkeiten und die aktive Tätigkeit als Miko war ich schon sehr viel herumgekommen und hatte viele Geschichten über weitentfernte Länder in allen Himmelsrichtungen gehört, aber keine Beschreibung und keine der zahlreichen noch so bizarr klingenden Erzählungen mochte mit dem Bild dieses Dämons übereinstimmen. Und langsam fiel es mir schwer zu glauben, dass er von hier kam; seine Sprachkenntnisse erkannte ich nicht als Gegenbeweis an... ּ›~ • ~‹ּ ***>>> Kapitel 10: >"Ein Gewittersturm zieht über die Ebene hinweg, offenbart innere Schwäche bei den einen, und etwas wie Anteilnahme bei den anderen. Die Nacht birgt ein verwirrendes Geheimnis, und gespenstische Lichter tanzen auf der vom bleichen Vollmond beleuchteten Lichtung..." *» Yokaku Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)