Der große Dämon (by fyl)
"Hi! - Äh, ... Yukino..., du siehst heute aber scheiße aus!"
Nichts trifft einen härter als die ehrlichen ungekünstelten Worte einer guten Freundin. Und
genau diese Worte waren es, die meine persönliche Katastrophe auf's Beste illustrieren.
"Hallo! Wie geht's?"
"Guten Morgen!"
"Guten Morgen, ihr Lieben!" oder gar "Guten Morgen, alle miteinander!"
Manche grüßen einen sogar nur mit einem einfachen "Hi!", so wie eben Tsubaki.
Jeden Morgen kann man in der Schule dieses immer wieder kehrende Ritual des
Morgengrußes beobachten, das aus fest stehenden und sich stets wandelnden Regeln
besteht: So grüßt jeder auf seine eigenen Art und Weise, die von Charakter, Bildung,
Situation und Stimmung abhängen. Der aufmerksame Zuhörer kann daraus schon vieles für
den kommenden Tag über seinen Gegenüber erkennen. Was mich betrifft, ich bevorzuge ja
eigentlich die Standardformel, aber heute schaffe ich es gerade mal zu einem Keuchen.
"Guten Morgen, Miyazawa!"-
Als ich die Stimme meines geliebten Arimas wahrnehme, versuche ich, mich schwungvoll
umzudrehen und ein, mehr oder weniger gelungenes, Lächeln aufzusetzen. Aber es gefriert
mir auf halbem Wege, denn während des kaum wahrnehmbaren Augenblicks, in dem Arima
gegen sein Erstaunen ankämpft und nach Worten ringt, ist es mir, als würde man mich in
einen Bottich mit flüssigem Eisen werfen: Wenn selbst mein geliiiiebter Arima von meinem
Aussehen geschockt ist, dann kann ich mir endgültig den Bleistift durch den Rachen stoßen...
Ich muss schrecklich aussehen! Ich weiß gar nicht, ob meine Uniform sitzt oder ob mein
Frisur in Ordnung ist. Doch die Angst davor, zu spät zu kommen an diesem so wichtigen
Tag, nahm heute Morgen meine gesamte Gedankenwelt in Anspruch und für das
Zurechtmachen blieben nur die über lange Jahre konditionierten Reflexe. Ich konnte ja nicht
einmal in den Spiegel schauen, so in Eile war ich!
Wie auch immer. Irgendwie habe ich Arima abgehängt und wandere wie ein Zombie durch
das Klassenzimmer. Der gewohnte Gang erscheint mir wie ein harter Kampf. Die Mitschüler
starren mich an. Als ob keiner von ihnen jemals in der Verlegenheit war, als schlaftrunkenes
Stück Fleisch zwischen den Tischen durch zu wanken! Der Boden scheint seine Ebenheit
verloren und meine Beine an Gewicht gewonnen zu haben, zusätzlich verklärt sich meine
Sicht und die Welt beginnt zu verschwimmen. Mir ist sooo elend...- Aber es geht noch
schlimmer. Kaum sitze ich nämlich an meinem Platz und reibe mir die Augen, -zuerst das
rechte und dann...- bemerke ich, dass mein linkes Auge völlig normal sieht. Auf die Probe
gestellt liefert mir aber das rechte Auge eine verschwommene Welt. Entweder hat sich meine
Fehlsichtigkeit explosionsartig verschlimmert oder ... Ich habe meine rechte Kontaktlinse
verloren!!! Die Schweißperlen beginnen, mir wasserfallartig herunter zu strömen. Wie konnte
das geschehen? Nicht nur, dass ich nicht einfach meine Brille aufsetzen kann (meine
Reputation wäre flöten), ich habe sie ja gar nicht dabei! Von Ersatzlinsen mal ganz abgesehen.
Nun heißt es entweder Rätselraten oder es dem Lehrer sagen und -ausgerechnet- die letzte
Stunde vor der wichtigen Prüfung zu verpassen. Oder ich -
"KREIIIISCH!!!!"
Arima ist nicht weniger überrascht als ich, die diesen Mark erschütternden Schrei ausstieß.
"Äh, Miyazawa-kun, du siehst heute nicht sehr gesund aus." (Schlaumeier!)
"Das ist nicht so schlimm. Innerlich bin ich völlig in Ordnung." (Ha, bin ich cool!)
"Trotzdem solltest du dich vielleicht mal kurz im Krankenzimmer ausruhen. Deine Stirn glüht
ja richtig." (Willst wohl, dass ich 'ne schlecht Klausur schreibe!)
"Nein, nein. Für die Schule muss man ab und zu Opfer bringen!" (schleim, schleim...)
"Ich kann dir ja das, was du verpassen würdest, erzählen." (So schlecht hört sich dies ja nicht
an...) "Das wäre unnötig. Du sollst ja nicht meinetwegen eine schlechte Note bekommen!"
(Was sage ich da?!) Knirsch! Der eintretende Lehrer hat gerade meine letzte Chance auf
Rettung vereitelt! Noch dazu ist durch mein Aufschrecken die verbliebene Kontaktlinse raus
gefallen.
Wieso können Lehrer nicht größer auf die Tafel schreiben.
Meine Nerven liegen blank! Noch hat er keinen dran genommen, aber es ist bisher kaum
geschehen, dass er mich nicht dran genommen hat. Die Chance ist also relativ groß, dass-
"Miyazawa, könnten Sie bitte für uns diesen Satz vorlesen und analysieren!"... (Schweigen) ...
"Miyazawa-san?"
Ganz langsam erhebe ich mich. Mein Ohr ist von einem lauten Rauschen erfüllt. Ich bin völlig
auf den sich bewegenden dunklen Fleck, der der Mund des Lehrers sein musste, fixiert.
Was mache ich nur hier?! Angestrengt versuche ich, die verschwommene Schrift an der Tafel
zu entziffern. Aber ich sitze zu weit hinten, um mehr als nur einen weißen Schimmer zu
erkennen. Die Zeit und meine schulische Karriere rauscht an mir vorbei, genauso wie mein
Verstand. Kein nützlicher Gedanke will mir in den Sinn kommen. Schon spüre ich die klamme
Hand der Verzweiflung aufkommen. Die Luft bleibt weg. Mein Hinterkopf vibriert. Meine
Hand zittert. Mein Rücken ist schweißgebadet. Die dunkle Tafel scheint sich zu bewegen.
Ihre Dunkelheit erwacht zum Leben. Tentakeln gleich streckt sie sich nach mir aus. Sie
beginnt, sich um mich zu schlängeln und mir die letzte verbliebene Luft auszupressen. Wie
ein Tonnen schweres Gewicht drückt sie auf meine Brust- Sollte ich vielleicht eine plötzlich
Krankheit vortäuschen??? Aber der dunkle Schleier, der sich nun über alles legt, nimmt mir
die Entscheidung und wiegt mich in eine wohltuende Bewusstlosigkeit. Da beginne ich zu
träumen. Oder erwache ich?
Wie war es überhaupt dazu gekommen? Ich beginne, in meinem Gedächtnis zu kramen.
Ach ja! Meine unnütze Schwester Tsukino kam vor einiger Zeit mit so 'nem ganz hippen
Anime an. Es ging da um drei Mittelschüler, die an verschiedenen geistigen
Unzulänglichkeiten litten, aber trotzdem in große Roboter stiegen, um die Erde vor riesigen
biomechanischen Eindringlingen aus dem Weltall zu beschützen.
Obwohl ich ja anfangs ziemlich skeptisch dem gegenüber war (große Roboter mit kleinen
Jungen gibt es ja wie Sand am Meer...), so wandelte sich meine Meinung nach einigen Folgen.
Als jedoch der Tag kam, an dem sie zurück gegeben werden mussten, hatte ich gerade einmal
die Hälfte der Folgen gesehen. Aber es wurde soooo spannend (ich wollte um jeden Preis
wissen, welches der Mädchen zum Schluss den Jungen bekommt...)!
Also zog ich mir 13 (dreizehn!) halbstündige Episoden in nur einer Nacht rein!!! Und als die
letzte Folge geschafft war, war ich völlig am Ende: Nicht nur dass keines der Mädel den
Jungen bekommen hat und ich körperlich völlig fertig war. Nein, ich hatte auch noch völlig
vergessen, dass über-, nein, morgen schon (es war längst nach Mitternacht) die Prüfung war!
Wie konnte ich eines Zeichentrickfilmes wegen, meine schulische und gesellschaftliche
Karriere aufs Spiel setzen?! Einschlafen konnte ich natürlich dann nicht mehr, auch weil
schonder Morgen graute. Oder doch?
Ich erwache in einem wohlig weichen Bett. Ich schaue zur Decke. ES WAR NUR EIN
TRAUM!!! Man kann meine Erleichterung nicht in Worten fassen. Zufrieden, erfrischt und
voller Zuversicht greife ich nach meiner Brille. Aber sie ist nicht da! Da fällt mir ein, dass ich
überhaupt nicht in einem Bett, sondern mit meinen Schwestern zusammen auf Futons schlafe.
Und überhaupt, was machen Arima UND die Krankenschwester so früh hier im Zimmer...