Zum Inhalt der Seite

Tausend Sünden

Was ist eine Sünde? Und was geschieht mit denen, die zu viele begangen haben?
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Prolog

Prolog

1. Kapitel: S.ucht

2. Kapitel: U.nterdrückung

3. Kapitel: E.nttäuschung

4. Kapitel: N.eid

5. Kapitel: D.rohung

6. Kapitel: E.nteignung

Epilog
 


 

Prolog
 

Paris im Jahre 1997. In Einem Haus abseits der Stadt lag in seinem Bett verträumt ein Mann. Aber es war nicht irgendein Mann: Auf dem Rücken hatte er zwei schwarze Flügel. Er hatte die Beine ausgestreckt und die Hände unter dem Kopf, der die Decke anstarrte, zusammengefaltet. Ein Bein war leicht angezogen und sorgte somit für leichte Falten auf seinem weißen Hemd. Sein kurzes, schwarzes Haar war etwas zerzaust. Die grünen Augen hatte er offen und war mit seinen Gedanken ganz woanders.

"Raphael? Darf ich eintreten?", ertönte eine Stimme von draußen. Der Mann verbarg seine Flügel: "Ja...tritt ruhig ein!" Zur Tür hinein kam eine junge Frau mit langen, blonden Haaren, die ihr locker über die sommerrote Bluse fielen. Sie war nicht besonders groß und schlank. "Raphael, du träumst doch schon wieder!", sprach sie. "Ach du bist es!", sagte der junge Mann und zeigte seine Flügel wieder. "Es wird Zeit, den Kindern endlich die Geschichte zu erzählen, oder willst du, dass sie irgendwann so enden wie die anderen?" - "Du hast ja recht, aber ich weiß nicht...", sagte der Mann, welcher Raphael hieß. "Es ist doch recht hart und heutzutage glauben die Kinder einem nichts mehr. Sieh sie dir doch einmal an, Jeanne! Sie sitzen den ganzen Tag vor ihrem Fernseher:" - "Das mag schon sein.", sagte Jeanne, die junge Frau, und ging auf Raphael zu. Sie setzte sich ans Bett und beugte sich über ihn: "Aber deine Geschichte ist doch wie ein guter Krimi im Fernsehen! Die Kinder werden dir schon zuhören!" - "Na gut...", seufzte Raphael und sah in Jeannes Augen. "Wir wollen sie ja nicht im Unwissenden sterben lassen. Hol' sie doch herein!" - "Ich danke dir. Das ist die richtige Entscheidung." Jeanne gab ihm einen Kuss.

Kurz darauf ging sie aus dem Zimmer. Raphael setzte sich aufrecht auf das Bett und senkte den Kopf ein wenig. Sollte er seinen Kindern wirklich die ganze Geschichte erzählen? Noch bevor er zuende gedacht hatte, kam Jeanne bereits wieder herein. Hinter ihr kamen zwei junge Menschen mit herein. Es waren die Kinder der beiden. Raphael hatte seine Flügel bereits wieder verborgen. "Elizabeth! Jean! Ich muss euch etwas erzählen. Ihr seid nun alt genug." Die beiden, etwa um die 15 Jahre alt, sahen sich fragend an. "Bitte bleibt ruhig und erschreckt euch nicht!" Raphael zeigte seine Flügel. Einige Federn flogen durch die Luft und segelten ruhig aufs Bett. Die Kinder blieben fassungslos stehen. "Papa?" Durch das Fenster zog ein leichter Lufthauch. Es war so ruhig, dass man von draußen die Vögel hatte singen hören. "Aber...Papa!" Die beiden gingen zu Raphael und berührten vorsichtig seine Flügel. So weich sie auch waren, die Kinder konnten ihren Augen nicht trauen. Raphael wartete ab, bis ihn die Kinder wieder ansahen: "Sicherlich habe ihr euch gefragt, warum ihr nichts über meine Vergangenheit wisst...nun, ich muss euch etwas erzählen, bevor ihr auch ein Opfer der Sünden werdet..." Raphael setzte sich auf einen Sessel, lehnte sich zurück und begann mit seiner Geschichte:

S.ucht

"Jedes Mal, wenn ein Mord geschieht, eine Bank überfallen oder ein Tier gequält wird, jedes Mal, wenn jemand mit Absicht verletzt wurde, enttäuscht wurde, ihm sein Besitz genommen wird, jedes Mal, wenn jemand einem anderen ein Leid zufügt, erhält er eigentlich vom Gericht eine Strafe. Aber was ihr nicht wisst...es geschieht weitaus mehr als das! Hattet ihr nie manchmal das Gefühl, verfolgt zu werden? Hattet ihr nie das Gefühl, jemand würde zu euch sprechen? Nun, das ist alles wahr! Es sind keine Hirngespinste! Jedes Lebewesen hat einen sogenannten Sündenengel. Er passt darauf auf, was für Sünden dieses Lebewesen begeht. Und wenn es seine tausendste Sünde vollbracht hat, so wird es von diesem Engel getötet. Es hört sich grausam an, aber man überlege einmal! Tausend Vergehen an anderen Lebewesen, zum Beispiel tausend Morde! Oder tausend Mal die Natur angegriffen! Dieser Sündenengel führt genau Protokoll, was das Lebewesen getan hat, das er überwachen soll. Wobei man allerdings sagen muss, dass sie meisten Sündenengel über die Menschen wachen. Somit sterben natürlich weitaus mehr Menschen an ihren Sünden als andere Lebewesen, da bei Tieren das Morden ja im Instinkt verankert ist. Und wenn nun ein Mensch durch seine Sünden gestorben ist, werden ihm zunächst seine Sünden vorgelesen. Danach wird er vor eine Wahl gestellt: Entweder er verbüßt seine Sünden im Fegefeuer oder er wird selbst zu einem Sündenengel. So lebt er über etliche Jahre, bis er selbst eintausend Menschen gerichtet hat, die selbst eintausend Sünden vollbracht haben. Dann ist er erlöst und kann in Frieden ruhen. Natürlich verändern sich die Sünden! Was früher eine üble Tat war, nennt man heute einen Kinderstreich! Nun...der hohe Rat der sieben Sündenengel schrieb alle gängigen Vergehen in einem Buch nieder. Das "Buch der Sünden". Es liegt auf einem Altar in der Welt, wo wir nach unserem Tode hinkommen. Und ihr habt es euch sicherlich schon denken können: Ich war einer dieser Sündenengel. Und um euch nicht in den Sündentod zu werfen, will ich euch nun erzählen, was euch alles erwartet, welche Qualen ich hinter mir habe und was euch erwarten wird, wenn ihr nicht anders als andere werdet. Also hört mir gut zu!

Auch ich war einmal ein Mensch. Ich lebte vor einigen hundert Jahren, ebenfalls hier in Paris. Jeder Mensch hat ja mit 20 Jahren seine ersten Sünden hinter sich...und das sind nicht gerade wenige! Allerdings werden einem Menschen erst seine Sünden angerechnet, wenn er weiß, dass er bestrafe wird. Kinder stellen Unfug an und wissen es nicht. Und da wundert man sich doch, wie viel Sünden so ein Mensch mit 20 Jahren schon haben kann! Allerdings war ich wohl eine Ausnahme: Mein Leben verlief nicht gerade sehr berauschend. Ich habe mich dem Alkohol hingegeben und als Betrunkener oft Leute angegriffen. Schließlich habe auch ich meinen Meister gefunden. Es war ein großer, wuchtiger Kerl. Niemand wollte seinen vollen Namen aussprechen. Er war der reichste, machtgierigste, gerissenste Angeber der ganzen Stadt. Auch ich habe nie seinen vollen Namen gekannt. Alle nannten ihn nur 'De Boilluard'. Er hat mich als Profi-Killer engagiert, weil ich als Betrunkener eine enorme Kraft besaß. Somit habe ich wohl viel mehr Sünden verbucht als manch anderer Mensch. Doch was wir beide, De Boilluard und ich, nicht wussten, war, dass und beiden die Sünden angerechnet wurden. Und eines Tages wunderte ich mich, dass ich De Boilluard nie wieder sah. Der Sündenengel hatte ihn geholt. Er muss Höllenqualen erlitten haben. Man sagte, er wäre an Herzversagen gestorben. Dabei hatte er nie Probleme mit dem Herzen. Vielleicht hatte er einen besonders grausamen Sündenengel, ich weiß es bis heute nicht. Nur De Boilluard hätte es wissen können. Ich habe ihn nur noch einmal schreien gehört und in sein angstverzerrtes Gesicht geblickt...damals habe ich das Fegefeuer gesehen...wie dem auch sei, als ich wenige Tage danach wieder mit dem Trinken anfing und wieder einige Mensch angriff, machte ich eine seltsame Entdeckung. Ich schien auf jedem Papierfetzen, der mir entgegenflatterte, die Zahl '999' zu lesen. Was hatte das zu bedeuten? Ein Kinderstreich, vielleicht? Ich wusste es nicht.

Schließlich traf ich an einem Abend auf einen guten, alten Freund. Wir gingen uns betrinken und kamen dabei in den Streit. Ich hatte herausgefunden, dass er es war, der mir damals die Frau ausgespannt hat. In dem Gerangel griff ich zu meiner Flasche. Das letzte, was ich gesehen habe, war sein wütendes Gesicht...und eine verschwommene '999' auf der Flasche. Dann beendete ich sein Leben. Schließlich kehrte ich zurück, zu meiner Ecke auf der Straße, wo ich immer schlafen ging. Ich trank noch einen Schluck auf die verlorene Freundschafe und einen auf die vergossene Liebe. Und dann drehte ich mich herum und legte mich auf der feuchten Straße schlafen.

Doch ich wachte auf. Eine Stimme rief meinen Namen. Ich stand auf und sah mich um. Vor mir sah ich eine Frau, etwa meine Größe und ziemlich schlank, lange, dunkle Haare und helle Augen. "Ich bin Julie. Komm, Raphael. Es wird Zeit, zu gehen!", sagte sie. Ich fragte, woher sie meinen Namen kenne..."Wenn du mir folgst, sage ich es dir." Mürrisch stand ich auf und ging ihr hinterher. Sie führte mich in eine gottverlassene Gegend. "Wir sind am Ziel." Völlig außer Atem fragte ich sie noch einmal, woher sie meinen Namen kenne. Doch sie zückte nur einen Degen: "Ich habe gesagt, folge mir. Noch sind wir nicht am Ziel!" Sie holte mit dem Degen aus. Ich rannte nur davon. Ich hörte nur noch ihre Schritte, wie sie auf der Nassen Straße aufkamen. Sie rief mir hinterher: "Du kannst mir nicht entkommen! Ich werde dich mitnehmen, hörst du?" Nun...ihr entkam ich...dann verschnaufte ich an einer Ecke hinter einem Haus. Was wollte diese Frau von mir?

Meine Gedanken wurden plötzlich von einem kleinen Stein unterbrochen, der von oben herunterfiel. Panisch schaute ich nach oben. Doch das letzte, was ich sah, war eine Steinstatue, die vom Haus über mir direkt auf meinen Kopf fiel und diesen zertrümmerte. Es wurde schwarz...

Als ich wieder aufwachte, stand wieder diese Frau neben mir. "Wir sind am Ziel.", sagte sie zu mir. Ich fand mich in einem riesigen Raum wieder. Der Raum war völlig verspiegelt und am Boden stand das Wasser. Ich fragte mich, ob das nicht nur ein Traum sei, aber es war Realität. Mehr oder weniger...

Durch eine Tür am anderen Ende des Raumes kam eine schattenverhüllte Gestalt. Als sie ins Licht trat, bemerkte ich, dass sie gar nicht besonders gekleidet war. Sie hatte einen Anzug an und sah - für die damaligen Verhältnisse - sehr modern aus. "Raphael!" Du hast eine Sünde zuviel begangen!" Ich fragte mich, woher sie alle meinen Namen kannten. Schließlich führte er mich ein in die Welt der Sündenengel: "Jeder Mensch kann tausend Sünden begehen, dann wird er sterben! Sein Sündenengel bringt ihn um. Mehr werde ich dir jetzt nicht erzählen, denn zunächst stelle ich dich vor eine Wahl: Entweder wirst du selbst ein Sündenengel für tausend Menschen, oder du verbüßt deine Sünden dort drüben!" Ich sah in die Richtung, in die er zeigte. "Du fragst dich doch sicherlich, was mit De Boilluard passierte...?", fragte er mich. Eine Tür tat sich auf und ich sah das hellrote Fegefeuer. Mittendrin schwebte De Boilluard und schrie erbärmlich. "Das ist das Fegefeuer. De Boilluard wollte kein Sündenengel werden:" Ich fragte den seltsamen Mann, was passiere, wenn ein Mensch keine Sünden mehr begehe. Er sagte: "Nun...bei deiner 999. Sünde wirst du vorgewarnt, aber das ist auch nur eine Andeutung. Dennoch gab es Menschen, die es verstanden haben. Die sind aber selten. Du wirst bis an ihr Lebensende bei ihnen bleiben. Und du kannst nur einen Menschen auf einmal beobachten. Genug des Geredes! Wo willst du hin?" Ich ahnte ja nicht, worauf ich mich einließ. Aber ein Sündenengel zu sein, so dachte ich, wäre viel einfacher, als im Fegefeuer zu büßen. Und so besiegelte ich mein Schicksal und sagte dem seltsamen Mann, dass ich ein Sündenengel werden wollte. Wenn ich gewusst hätte, was für ein Fehler das war...ich wäre freiwillig ins Fegefeuer gesprungen.

U.nterdrückung

Am nächsten Tag erwachte ich bei meinem alten Schlafplatz auf der Straße. Ich stand langsam auf und fasste mir an den Kopf: Mein Schädel brummte sehr. Ich setzte mich auf und schaute mich um: Alles war noch so, wie ich es am Vorabend verlassen hatte. Ich dachte, es wäre alles nur ein Traum gewesen. Doch als ich aufstehen wollte. Bemerkte ich, dass etwas von mir an der feuchten Wand entlang glitt. Ich schreckte zurück, da ich eigentlich sehr weit weg von der Mauer gelegen hatte. Ich schaute ich um, aber es war nichts zu sehen. Doch dann wieder: Etwas glitt die Wand entlang. Wieder drehte ich mich um und wieder war nichts zu sehen. Das machte mich fast wahnsinnig! Ich schlug um mich und traf dabei etwas sehr weiches. Aber was ich auch tat, ich kam nicht heran. Irgendetwas war auf meinem Rücken. Also wollte ich losgehen, einen Spiegel zu suchen.

Plötzlich flog von oben ein Mann mit schwarzen Flügeln herab. Er selbst war auch komplett in schwarz gekleidet und seine stechend grünen Augen musterten mich gründlich. Ich wich ein paar Schritte zurück, weil mir dieser Fremde jede Menge Respekt einflößte.

"Hab keine Angst, ich bin nicht hier, um dir zu schaden!", sprach er. "Ich wurde gesandt, um dir zu helfen und..." In diesem Moment erfüllte ein Zucken seinen Körper. Danach wandte er sich mir wieder blitzschnell zu: "Warte einem Moment!" Er flog wieder gen Himmel.

Was hatte das alles zu bedeuten? Da fliegt jemand vom Dach herunter und verschwindet dann wieder ebenso schnell? Noch bevor ich alles richtig durchdenken konnte, kam der merkwürdige Fremde wieder auf mich zu: "Entschuldige, dass du warten musstest. Ich habe gerade meine Aufgabe erfüllt. Das war Nummer 528", sagte er und holte eine Liste heraus. Darauf schrieb er einen Namen und schrieb eine 528 darunter. Dann verstaute er die Liste wieder. Plötzlich schoss es mir durch den Kopf: Die Sündenengel!

"Du wirst sicherlich eine Menge Fragen haben, was? Nur zu! Stell' sie!", sprach er. "Wie heißt du? Wer bist du und was willst du von mir? Wo war ich letzte Nacht? Wo warst du gerade? Was..." - "Immer langsam!", unterbrach er mich. "Mein Name ist Jules. Und ich bin ein Sündenengel. Es war kein Traum! Ich wurde beauftragt, dich in die Welt der Sündenengel einzuführen. Du bist letzte Nacht gestorben und ich zog eben los, jemanden zu töten, der seine tausendste Sünde begangen hat. Sonst noch irgendwelche Fragen?", sagte er kalt. "N...nein." Ich war vollkommen starr.

Dann nahm er meine Hand: "Komm' mit!" Er führte mich zu einer Straße, abseits des Lärms, und hielt mir einen Spiegel vor. Jetzt sah ich endlich, was auf meinem Rücken war: Zwei große, schwarze Flügel. Ich war ein Sündenengel! Über diese Entdeckung war ich so bestürzt, dass ich zu schwanken begann und auf die Straße fiel. Voller entsetzen blickte ich immer noch in den Spiegel. Zunächst blieb Jules still, dann aber meinte er, er wolle mir beibringen, wie ich meine Flügel richtig nutze, da ein Sündenengel nutzlos ist, wenn er nicht weiß, wie er seine Flügel gebrauchen kann. "Sobald du von mir die Grundlagen gelernt hast, wirst du wieder vor Keith treten." - "Keith?", fragte ich erstaunt. "Oh, entschuldige...Keith ist die Person, die du gesehen hast, als du gestorben bist. Die, die dich gefragt hat, ob du ein Sündenengel werden oder im Fegefeuer büßen willst." Jetzt erinnerte ich mich: Der Mann im schwarzen Anzug. "Aber der hatte doch gar keine Flügel!", sagte ich erstaunt. Jules entgegnete: "Ja, er ist ja auch kein Sündenengel! Aber irgendeiner muss sich doch um den Papierkram kümmern, oder?" Er klang plötzlich so freundlich. "Also komm, lass' uns beginnen!", sagte er.

"Deine Flügel musst du zunächst einmal verbergen können! Konzentriere dich und klappe sie ein, dann werden sie unter deiner Kleidung verschwinden. Versuchs einmal!", forderte Jules mich auf. Das war eigentlich recht einfach; meine Flügel waren schon bald verschwunden.

"Du lernst schnell! Okay, auf zur nächsten Übung: Das Fliegen!" Ein bisschen mulmig war mir schon. Jules packt ich und trug mich auf ein Dach: "Spring' und flattere!", waren seine Worte. Ich schaute ängstlich nach unten: "Du kennst aber schon die Geschichte vom kleinen Spatz, der aus dem Nest geschubst wurde, nicht fliegen konnte, aufprallte und starb...?!?", fragte ich mulmig. "Nein.", entgegnete Jules und schubste mich herunter. Ich begann zu schreien und hörte immer wieder Jules' Stimme: "Flieg! Flattern!" Aber ich hatte zu große Angst. Schließlich stürze Jules auf mich zu und fing mich ab. Während ich noch vollkommen benommen war, sprach er: "Lass' es uns lieber anders angehen! Üben wir zunächst mit einer kleinen Hütte!"

Kurz darauf befanden wir uns auf dem Land, auf einem Hühnerstall. "Spring!", forderte mich Jules auf. "Ich kann das nicht...", entgegnete ich. Und wieder gab mir Jules einen Schubs. Ich stürze nach vorn herunter und fiel auf die Hühner. Weiße Federn verteilten sich im Morgengrauen und das Gackern weckte den Bauern auf. "Weg hier!", rief Jules und packte mich wieder. "Wo schleifst du mich jetzt schon wieder hin?", rief ich entgeistert.

Kurz darauf stand ich an einer Bordsteinkante. Ich sah auf die Straße direkt unter mir: "Wie witzlos..." - "Wir können auch wieder aufs Haus..." - "Bloß nicht!" Also sprang ich in die Luft...und landete sogleich wieder mit beiden Beinen auf der Erde. Es brauchte einige Anläufe, bis ich endlich am Fliegen war...oder zumindest dabei war, was man als flattern bezeichnen kann: Wackelnd hielt ich mich in der Luft, bis ich endlich sicherer war. "Also dafür", sprach Jules, "dass du wie ein Schluck Wasser in der Luft hängst, bist du doch ganz gut...für den Anfang zumindest..." Sein Sarkasmus würde mir das Leben noch schwer machen, das spürte ich...

"Gut, kommen wir zum nächsten Kapitel: Dem Töten!" Ich fragte Jules, ob das wirklich sein müsse. Jules aber antwortete nur: "Wenn du einen Menschen bewachst und ihn nicht tötest, wenn er seine Tausendste Sünde begangen hat, wirst du ins Fegefeuer kommen..." - "Aber was, wenn ich's vergesse?" - "Fegefeuer." - "Und wenn ich zu der Zeit schlafe?" - "Fegefeuer." - "Und was, wenn ich..." - "Fegefeuer." - "Aber ich kann doch einfach so weiterleben, wie bisher. Ich gehe einkaufen, spiele Skat und hole mir keinen Auftrag für einen Menschen ab. Ich verstecke mich vor Keith, sodass er mich nicht finden kann. Und wenn du willst, kannst du a mit mir kommen, und wir könnten..." In diesem Moment hielt mit Jules ein soeben selbstgemaltes Bild vom Fegefeuer vor die Nase und schaute mich mit einem starren, monotonen Blick an. "Dann halt nicht! Also gut, auf zum töten!", sprach ich, hob entmutigt die Faust und stolzierte los. "Immerhin wirst du, wenn wir damit fertig sind, etwas von meinem Humor mitgenommen haben!", lachte Jules. Ich...fand das gar nicht witzig.

Jules holte eine Puppe und dazu noch Steine, Gift, Schusswaffen, Messer, Schlagringe, Ketten, einen Morgenstern, scharfe Klingen, einen Strick und einen Verbandskasten. "Wofür ist bitteschön der Verbandskasten da?!?", fragte ich. "Kann ja sein, dass du dich selbst verletzt...", entgegnete Jules. "Das würdest du mir zutrauen?" - "Deinen Flugversuchen nach zu urteilen, ja." Also willigte ich seufzend ein.

Schließlich brachte er mir einige schmerzlose, einige grausame Methoden zur Tötung bei, die ich hier allerdings nicht mehr erwähnen will...

Am nächsten Tag war das Trainingsprogramm auch schon abgeschlossen. "Gut, dann suche ich mir jetzt einen, den ich bewachen soll, was?" - "Tu' das. Das gehört schließlich auch noch zum Training!" - "Was?!? Ich dachte, das wäre hiermit abgeschlossen!" - "Aber nicht doch...jeder Sündenengel muss das ,S.U.E.N.D.E.-Training' Das heißt, es erwarten ihn sechs Teile des Trainings." - "Und für was steht S.U.E.N.D.E.?", fragte ich entgeistert. Jules antwortete mir: "Das ,S' steht für ,Sucht'. Die Sucht nach Sünden, die ein Mensch begeht. Er wird geboren, um unrein zu werden. Schließlich verfällt er in eine von uns Sündenengeln definierte Sucht. Der nächste Buchstabe steht für ,Unterdrückung'. Wenn ein Mensch sich für ein Sündenengel-Dasein entschieden hat, wird sein Wille zunächst etwas unterdrückt. Ich denke, dass du das gemerkt hast, als ich dich vom Haus gestoßen habe..." - "Und weiter?" - "Das ,E' steht für ,Enttäuschung'. Man hat plötzlich ein ganz anderes Bild, glaube mir. Zunächst denkt man, man läuft munter durch die Welt und bringt mal eben tausend Menschen um, aber so ist es nicht. Das wirst du noch früh genug erfahren." Jules' Stimme wurde plötzlich so ernst...das beunruhigte mich zutiefst. ",Neid' ist der nächste Buchstabe, denn man sehnt sich nach einem Menscheleben oder nach dem Fegefeuer. Schließlich die ,Drohung', dass man ermahnt wird, nicht wie die Menschen zu leben und Mitleid zu zeigen. Dafür gibt es für jeden eine eigenen Strafe." Ich musste schwer schlucken und traute mich kaum, nach dem letzten Buchstaben zu fragen. ",E'", sagte Jules, "wie ,Enteignung', weil erst dann das komplette Trainingsprogramm abgelaufen ist. Man verliert praktisch alle seine Ansichten und bekommt völlig neue. Das ist ungefähr beim fünften Menschen, den man umbringt. Aber einige von uns werden auch gar nicht damit fertig." Ich blieb wie angewurzelt stehen: "Aber...die Menschen wollen doch sicherlich noch weiterleben!" - "Mag sein..", sagte Jules kalt, "Aber es kann keine Welt mit unreinen Leuten geben. Wo soll das bitteschön hinführen?" - "Wer gibt uns das Recht, zu töten?" - "Keith. Du hast ja keine Ahnung, wie mächtig er ist..." - "Woher will er wissen, was eine Sünde ist und was nicht?" - "Wenn du dir einmal nicht sicher bist, was du anstreichen sollst, findest du das "Buch der Sünden" in der Nähe, wo du auf Keith gestoßen bist. Es hat ein eigenes Leben und aktualisiert sich ständig." - "Und wenn nun einer eine Sünde zweimal begeht, sie aber beim zweiten Mal als Kinderstreich niedergeschrieben ist?" - "...zählt nur die erste." - "Und wenn ich tausend Menschen getötet habe, bin ich erlöst...?" - "Ja." - "Aber das ist zu unlogisch!" - "Warum?" Ich setzte mich hin und erklärte Jules meine Meinung: "Ein Mord ist eine Sünde, aber wenn ein Sündenengel tausend Menschen umgebracht hat, hat er doch selbst tausend Sünden begangen! Dann kann er doch nicht frei sein...oder?" - "Da magst du Recht haben. Einige erhalten dann den Auftrag, einen anderen Sündenengel zu richten, andere werden von Keith in eine Kammer gebracht. Was dort passiert...das weiß keiner so wirklich. Zumindest keiner außer Keith, der danach wieder herauskommt und meint, alles sei in Ordnung; der Sündenengel wäre von ihm freigesprochen worden. Wieder andere sollen noch einen letzten Menschen bewachen und müssen Keith danach dienen."

Etwas verwirrt von diesen ganzen Informationen, spazierte ich abends umher. Und als ich so unter einer..."

An der Tür klingelte es. Raphael erhob sich aus seinem Sessel und ging zur Tür: "Wartet hier, ich bin gleich wieder da!" Elizabeth und Jean schauten sich nur verdutzt an. War das jetzt eine Gute-Nacht-Geschichte oder war das alles Wirklichkeit? Immerhin hatten sie die Flügel ihres Vaters berührt. Aber was waren sie? Eine Mischung aus Sündenengel und Mensch? Würden sie auch irgendwann einmal Flügel bekommen?

Raphael kam zurück ins Zimmer und hatte eine Postkarte in der Hand: "Die Post war da! Schaut mal, das ist Jules' Handschrift!" Jeanne und die Kinder lasen sich die Postkarte durch: "Hallo Raphael! Wie geht's dir? Mir gut! Ich habe dir doch erzählt, dass ich meinen Urlaub doch noch in Wyoming verbringe, oder? Sobald ich wieder da bin, treffen wir uns mal! Es gibt so viel zu erzählen! Das dürfte nächste Woche oder so sein, denkst du, du kannst dir einen Tag freihalten? Bis dann und viele Grüße an deine Familie! Jules."

Jean schaute seinen Vater fragend an: "Jules...das ist doch der Mann, der nur drei Straßen weiter wohnt! Ist er etwa...?" - "Ja,", entgegnete Raphael, "er ist es. Der Sündenengel Jules." Mit großen Augen schaute sich Jean die Postkarte an. Derweil setzte sich Raphael wieder in den Sessel, trank einen Schluck aus seinem Glas, das mit Apfelsaft gefüllt war, und fuhr fort: "Wo war ich gleich? Ach ja, was mit Sündenengeln geschieht, die tausend Menschen auf dem Gewissen haben!" Jean legte die Postkarte zur Seite und hörte seinem Vater weiter zu.

"Als ich also an diesem Abend unter einer Brücke durchging, traf ich auf die Frau, die mich vor wenigen Tagen getötet hatte. "Bist du mein Sündenengel?", fragte ich sie. "Ja. Ich bin Catherine:" - "Angenehm. Raphael." - "Man merkt es, du hast schon einiges an Witz von Jules übernommen..." - "Warum?", fragte ich erstaunt, da ich mir dessen nicht bewusst war. "Begrüßt man seinen Mörder mit einem ,angenehm'?" - "Hast ja Recht..." Catherine kam auf mich zu und sah mir tief in die Augen: "Ich muss schon sagen, ich bereue es nicht, einen wie dich in unsere Welt geholt zu haben!", sagte sie und lächelte mich an. "Du solltest zu Keith gehen und dir deinen Auftrag abholen, sonst wird er noch sauer!"

Ich wollte gerade losfliegen, als ich bemerkte, dass ich gar nicht wusste, wie ich zu ihm kommen sollte. "Sprich' mit dem Wahrsager in der dunklen Ecke am Bahnhof. Das ist einer von Keiths Dienern. Beantworte seine Fragen hiermit!" Sie gab mir einen Zettel, auf dem einige vereinzelte Wörter standen. Ich steckte ihn ein und ging zum Bahnhof. Und es dauerte nicht lange, bis ich ihn sah: "Bist du der Wahrsager?", fragte ich. "Oh ja.", entgegnete er. "Was soll ich dir prophezeien?" Ich packte den Zettel aus, den mit Catherine gab und las laut vor: "Ich habe Hunger! Hast du nicht etwas zu essen?" - "Ich habe hier nur Brot und ein kleines Stück Käse." - "Hast du keinen Fisch?" - "Ich bin ein Wahrsager, ich lebe nur vom nötigsten! Wenn dir das nicht passt, kannst du gehen!" Auf dem Zettel stand, dass ich gehen wollte und nach zwei Minuten erneut nach Fisch fragen sollte. Ich tat es und der Wahrsager meinte: "Dann sollten wir einen Fisch holen gehen! Folge mir!" Ich nahm seine Hand.

Plötzlich erstrahlte ein helles Licht und ich befand mich erneut bei Keith. "Ich möchte meinen Auftrag abholen!", sagte ich. Keith gab mir zwei Listen mit den Worten: "Auf der einen trägst du den Name der Person ein, die du überwachst. Darunter schreibst du ihre Sünden. Auf der anderen Liste schreibst du ihren Namen hin, wenn du sie getötet hast und notierst die Zahl, dein wievieltes Opfer es war, was du gerichtet hast."

Auf der Liste stand bereits ein Name mit der Adresse. Ich wurde unverzüglich zurück zum Bahnhof gebracht und flog sogleich zu diesem Haus. Ich sah ein Baby, was in seiner Wiege lag und bemerkte, dass dies mein erster Mensch sei, den ich bewachsen sollte.

Jules stand stillschweigend hinter mir. Schließlich sprach er: "Die ersten Jahre hast du eigentlich fast immer deine Ruhe. Ab jetzt beginnt der langwierige, ernste Teil. Berühre das Kind und du wirst mit ihm verbunden sein. Dann wirst du merken, wann es eine Sünde begeht." Ich schlich mich also ins Haus und berührte das Kind. Schließlich spürte ich ein Zucken durch meinen Körper sausen. Als ich wieder herauskam, sah mich Jules an: "Von nun an bist du dazu verdammt, ein Sündenengel zu sein! Nun denn, ich muss wieder meiner Wege gehen." - "Warte! Hilfst du mir nicht?" - "Nein. Das darf ich leider nicht. Ich habe schließlich auch meine Pflichten! Ach...noch etwas: Wenn du die Menschen dazu anstiften solltest, Sünden zu begehen, damit du schneller fertig bist...na ja, du weißt ja, was dann passiert!" Mit diesen Worten verschwand Jules gellend lachend in der Dunkelheit und das einzige, was von ihm übrig blieb, war sein Bild vom Fegefeuer.

E.nttäuschung

Nun stand ich alleine in der Dunkelheit und wusste mit mir nichts mehr anzufangen. ,Irgendwann musst du diesen Menschen töten!', dachte ich.

Ich setzt mich also auf einen kalten Stein und schaute in die Nacht heraus. Es war eine Klare Sternennacht. Der Mond schien sehr hell und man sah nur hier und dort noch eine Kerze im Haus brennen. Und da, wo das kleine Kind lag, standen die Eltern an seinem Bettchen und erzählten ihm wohl gerade eine Gute-Nacht-Geschichte. Dann wurde die Kerze ausgeblasen. Ich legte mich schlafen.

Am nächsten Tag beschloss ich, mir zunächst eine Wohnung zu suchen. Ich fing auch an zu arbeiten und konnte mir bald ein warmes Bett und jeden Tag einige ordentliche Mahlzeiten leisten. Aber ich kam jeden Abend an dieses Haus und schaute mir das kleine Kind an, wie es unschuldig lächelnd in seinem kleinen bett lag und die winzigen Finger nach seinen Eltern ausstreckte. Und diese lachten nur. Sie waren so glücklich...

"Werd' bloß nicht sentimental!", hörte ich es aus der Dunkelheit heraus. Jules kam die Straße hochgelaufen. Schnell wischte ich mir die einzelne Träne weg.

Es war mittlerweile schon Winter geworden. Jules kam in einem Mantel und mit einem Schal daher. "Wenn du deine Aufgabe verweigerst,", sprach er, "wirst du leiden! Und du wirst mehr leiden als De Boilluard!" Er fing an, sarkastisch zu grinsen. "Dafür leg' ich meine Hand ins Feuer!" Schließlich fing er an, lauthals zu lachen: "Verstehst du? Ins Feuer!!!" Er beugte sich leicht nach hinten. Jedes Mal, wenn er lachte, kam eine Atemwolke aus ihm heraus und löste sich in der frostigen Nachtluft auf. "Jules! Hast du getrunken?", fragte ich. "Wo denkst du hin?", entgegnete mir Jules. "Ich hab schließlich auch mein Werk zu verrichten!" - "Aber du meintest doch, dass in den ersten Jahren nichts passiert! Warum muss ich jetzt schon auf diesen Jungen aufpassen?" - "Was weiß ich...? Frag' Keith!" Ich blickte wieder zum Fenster, wo das Licht ausging: "Jules?" - "Mmh?", sagte er verträumt und schaute in den Himmel. "Wir war das bei deiner ersten Person?" - "Wie meinst du das?" - "Fiel es dir schwer, sie zu töten?" - "Ich habe den Großteil meiner Sünden mit Morden verbucht...daher..." - "Sieht man dir aber nicht an!", bemerkte ich erstaunt. "Mag sein...aber die Leute verändern sich, was?" - "Hoffentlich auch dieser hier...ich will nicht...er ist so unschuldig, so klein und..." - "Und was?", raunte mich Jules an. "Er wird schon noch ein Sünder werden! Verlass' dich drauf!!!" Stillschweigend sah ich wieder zum Fenster hinein. Das kleine Kind hustete und drehte sich im bett herum. Er war wohl krank. So blieb ich dort stehen, bis mich Jules wieder unterbrach: "Komm,", sagte er und legte seine hand auf meine Schuler, "ich geb' dir einen aus." Schweigend folgte ich ihm.

Die ersten Jahre verliefen in der Tat sehr ruhig und ich sah mit an, wie das Kind sich entwickelte. Es tollte mit seinen Freunden herum, fiel auch mal hin. Aber im großen und ganzen war es sehr glücklich.

Dann, eines Tages, er war mittlerweile ein stattlicher Kerl geworden, traf er ein hübsches Mädchen. Er versuchte sein Glück bei ihr, aber sie ließ ihn eiskalt abblitzen. Daraufhin rannte er voller Verdruss in den Wald und riss Büsche aus, schlug gegen Bäume und tobte sch wild aus. Als er völlig erschöpft nach hause ging, beobachtete ich ihn von einem Dach aus.

Plötzlich stand Jules hinter mir: "Grüß' dich!" Völlig überrumpelt stürzte ich fast vom Dach: "Musst du mich immer so erschrecken?" - "Darfst dich halt nicht erschrecken lassen...was ist nun? Warum rechnest du ihm nicht die Sünde an?", fragte er mich. "Du hättest so was doch auch gemacht! Er wurde halt verletzt." - "Rechne es ihm an!" - "Ich drück' noch mal ein Auge zu." Jules war plötzlich ganz aufgebracht. Er packte mich am Kragen, flog mit mir auf die Straße und presste mich gegen die nächstbeste Wand: "Ich drücke dir gleich deine Augen zu!", fuhr er mich an. In seiner leicht gehauchten Stimme war ein gekratzter, drohender Ton zu hören. So aufgebracht habe ich ihn bis dahin noch nie gesehen! Er sprach weiter: "Sündenengel haben kein Auge zuzudrücken! Hör zu!", kratzte es in seiner Stimme, während er mich erneut gegen die Wand presste: "Ich habe nicht diese Zeit aufgebracht, um dich jetzt auf der Strecke zu lassen! Ich weiß, es fällt dir schwer, aber denkst du, Catherine hat bei dir auch nur ein einziges Auge zugedrückt? Nein, hat sie nicht! Und nun mach' endlich deine Pflicht!" - "Jaja, ich mach' ja schon, aber lass' mich los!", rief ich. Dann trug ich die Sünde ein und machte meinen ersten Strich auf der Liste. "Und noch etwas:", sagte Jules wieder etwas beruhigt, "Warne ihn nie vor, wenn du die Zettel mit der ,999' verteilst! Sündenengel haben straffe Regeln! Du wirst brennen, ich sag es dir! Brennen!" Seine Stimme erhob sich wieder leicht. Dann ließ er endlich von mir ab und ging ein paar Schritte von mir weg. Dann drehte er sich um und sagte: "Ich werde dich nicht noch einmal darauf hinweisen! Vielleicht werde ich dir noch einmal helfen, aber verlass' dich nicht darauf! Auch ein blutjunger Sündenengel muss sich irgendwie durchschlagen!" Dann flog Jules weg. Zitternd hielt ich noch die Liste in der Hand.

Die Jahre vergingen und die Sünden nahmen zu. Einiges durch Liebeskummer, einiges durch Alkoholismus und zu allem Überfluss zog noch der Krieg ins Land. Der Junge, welcher nun ein Mann war, musste an die Front. Und er schoss seine Widersacher nur so weg. Was für mich bedeutete, meine Striche immer schneller zu vervollständigen.

Da flatterte auf einmal ein Zettel mit einer ,999' an mir vorbei. Er wurde zu einem anderen Mann an der Front geweht. Er bemerkte ihn, warf ihn aber weg und schoss weiter. Und als auf der Gegenfront ein Mann auftauchte, erschoss er ihn. Da kam plötzlich ein weiterer Zettel auf ihn zu und wehte ihm ins Gesicht. Fast blind wirbelte der Mann herum. Ich schaute hinauf: Ein Sündenengel wachte über dieses Feld. Er winkte kurz mit der Hand und zeigte dann mit seinem Finger auf den Mann mit dem Zettel vor der Stirn. Eine Kugel traf ihn und er war tot.

"So kannst du die Person töten, die du bewachst!", sagte er zu mir und machte einen Strich auf seiner zweiten Liste und schrieb eine ,331' dahinter. Ich nickte nur und verfolgte meinen Menschen wieder.

Nach dem Krieg hatte er etwa 850 Sünden. Und auf seine alten Tage wurde er bitter und beschimpfte die Leute. Schließlich griff er auch zum Schlagstock. Da kamen einige Sünden zusammen! Und bald schon zog ich wie durch Magie mehrere Zettel aus der Tasche, auf denen eine ,999' stand.

Dieser Typ hat die Zettel einfach gesammelt und verbrannt. Und als das die Feuerwehr bemerkte, griff er sich nur einen Stock aus dem Feuer und schwang ihn wild um sich. Dabei traf er einen der Feuerwehrmänner. Seine eintausendste Sünde! Was sollte ich jetzt machen?

Blitzschnell stand Jules neben mir und rief: "Beeile dich! Wenn er auch nur noch eine Sünde begeht, wirst du brennen!" Völlig kopflos wusste ich nicht, was ich tun sollte. Jules rief mir immer wieder zu, aber ich konnte nur die Augen schließen. De Boilluard! Das Fegefeuer! Ich schüttelte meinen Kopf mehrmals hin und her. Schließlich griff ich in meine Tasche und holte einen seidenen Faden heraus. Was sollte ich nur damit anfangen? Er holte schon zum nächsten Streich aus! Was nun? Jules rief und rief, aber ich kauerte mich nur noch mehr zusammen.

Plötzlich stürzte ich auf den Mann zu. Der Faden schnürte sich um sein Herz. Schlaganfall, Röcheln, Tod. Alles ging sehr schnell. Kurz vor seiner 1001. Sünde. Das war knapp!

"Dass mir so was ja nicht noch mal vorkommt!", blickte Jules mich mürrisch an.

Nun merkte ich, was ich getan hatte: Ich hatte für meinen Vorteil bewusst gemordet! Und das berührte mich sehr stark. Stundenlang setzte ich mich still auf den kalten Stein, auf dem ich vor Jahren schon einmal saß und damals dieses kleine Kind kennengelernt hatte. Und nun war er ein Mann...ein ziemlich toter Mann! Wie viele Jahre waren eigentlich vergangen? Vierzig? Fünfzig? Noch mehr? Mein Zeitgefühl war verloren.

Stillschweigend wie einst vor vielen Jahren faltete ich die Hände zusammen und stützte meinen Kopf auf die Fingerspitzen. Traurig, aber auch irgendwie erleichternd, atmete ich aus.

Mein erster Auftrag war also vollendet!

N.eid

Ich saß zunächst Nächtelang da und wusste nichts mit mir anzufangen. Von jetzt an sollte ich also bewusst Menschen töten? Das konnte nicht das Richtige für mich sein! Denn abgesehen von meiner letzten Sünde, die ja auch ein Mord war, habe ich bisher keine Morde begangen.

Schließlich ging ich jede Nacht die Straßen entlang, auf denen ich früher wandelte. Am Platz, an dem ich normalerweise schlief, legte ich mich nieder. Er war nun verfallen und Überreste von Ratten erinnerten an meine Zeit. Eigentlich wäre ich ja schon tot gewesen, aber ich wollte ja unbedingt ein Sündenengel werden...

Ich hob meinen Kopf erst wieder, als Ich Jules traf. Er kam aus einem gelblichen Laternenschein aus dem Schnee hervor. "Was sitzt du hier rum?", fragte er mich. Aber ich schwieg ihn nur an. "Verstehe...das Problem hatte ich ja auch." - "Ich habe so viele Fragen..." - "Ich weiß viel! Dann stell' sie doch einfach!" - "Wie lange hätte ich im Fegefeuer gesessen? Wäre das mit diesem Dasein vergleichbar oder ist ein Leben als Sündenengel die härtere Strafe? Und kann ein Sündenengel sterben?" - "Du kannst Fragen stellen...", antwortete mir Jules völlig entgeistert. "Aber gut, ich werde versuchen, dir Antworten zu geben: Im Fegefeuer hättest du für tausend Jahre gebrannt; für jede Sünde ein Jahr. Sicher, das kommt zeitlich nicht mit einem Leben als Sündenengel gleich, aber dafür sind die Schmerzen umso größer. Da du schon tot bist, kannst du im Feuer nicht sterben und sie werden dich pausenlos quälen! Du denkst vielleicht, nach ein paar Tagen schon spürst du die Schmerzen nicht mehr...alles nur Einbildung! Ich weiß nicht wirklich, was sie da drin treiben, aber...frag' mich lieber nicht! So, wie sich in manchen Nächten die Schreie anhören, muss es wirklich schrecklich sein! Und wenn die Opfer wieder herauskommen...ich habe es nur ein einziges Mal bei Nacht gesehen...grausam. Bitte tu' mir einen Gefallen und erspare dir diesen Anblick!" Jules wurde wieder etwas ruhiger: "Ob Sündenengel sterben können, weiß ich nicht. Sie sind ja eigentlich schon tot...aber sobald du dich zum Beispiel an diesem Stein hier stößt, tut es dir ja weh. Das heißt, sie müssen trotzdem verletzbar sein. Ich glaube, jeder hat seine eigene Meinung darüber. Meine ist, dass die Sündenengel verletzbar sind und wenn sie einmal tödlich verunglückt sind, werden sie wohl ins Fegefeuer geworfen und müssen dort ihre tausend Jahre absitzen. Daher nimm' dich in Acht!" Auf Jules' Lippen zeichnete sich ein hässliches Grinsen ab: "Stell' dir vor, du stirbst bei deinem tausendsten Einsatz! Ich würde sagen, dann hast du ziemlich großes Pech gehabt, was?" Mittlerweile hatte ich einen Sinn für seinen Humor bekommen und musste auch grinsen.

Aber auch der beste Witz half nichts auf Dauer. Irgendwie wollte ich doch nicht der sein, der ich war.

Trotzdem, kurz darauf erhielt ich meinen nächsten Auftrag. Und auch bei der Erfüllung dieses Austrages hatte ich meine Probleme. In der Hoffnung, diese Person würde nach ihrer tausendsten Sünde sterben, steckte ich das Haus in Brand. Das war wohl keine so gute Idee...ich wurde vor Keith geladen.

"Was hast du nur getan?", fuhr er mich an. "Du hättest andere Menschen umbringen können! Und was, wenn sie nicht gestorben wäre? Was hättest du dann gemacht?" - "Ich..." - "Na? Jetzt bist du still, oder?" - "Ich weiß es nicht..." - "Immer diese Neulinge!", seufzte Keith. Ich jedoch fing jetzt erst an zu bohren: "Hast du jemals Menschen umgebracht? Und wer hat diese Sündenengel überhaupt einberufen? Wozu sitzt du eigentlich hier?!?" Keith stand auf und schlug mich nieder. Ich hielt mir noch meinen schmerzenden Kopf, als er begann, mich anzuschreien: "Ich habe etliche Generationen vor dir gelebt und nach meiner tausendsten Sünde habe ich mich selbst umgebracht, damit die Welt rein von mir ist! Und was denkst du, wo ich hingebracht wurde? Ich hatte die Wahl zwischen Paradies und diesem Leben, ewig verdammt sein, ein Sündenengel zu sein! Ich bin nicht wie du nur irgendein Sündenengel, der tausend Mensch bewachen muss; ich lebe so lange, bis es keine Menschen mehr geben wird! Ich habe zehn Menschen hintereinander bewacht und mit ihnen diese Welt hier erschaffen!!! Und damit du es weißt: Jules war einer der ersten!" Er wurde immer lauter: "Und wenn du wissen willst, warum ich hier sitze, so ist die Antwort, dass irgendwer die Kontrolle und den Überblick über euch Pack behält! Und wenn dir das nicht passt, spring' doch ins Fegefeuer, aber dann werde ich dafür sorgen, dass du doppelt so langen brennen wirst!!!"

Völlig fassungslos stapfte ich davon und kam zurück zur Erde. Ich flog umher und suchte nur einen Mann: Jules. Ich fand ihn an einen Baum gelehnt. Wortlos packte ich ihn mir und schleuderte ihn herum, riss an seinen Kleidern und warf ihn gegen den Baum. Er stieß einen Schmerzensschrei aus. Schließlich fing er an, leise zu reden: "Keith hat es dir also erzählt, hm? Dass ich einer der ersten war...irgendwann musste es ja so kommen..." Ich schlug immer weiter auf ihn ein. Er war für mich ein Lügner. Irgendwann spuckte er Blut, welches in meinem Gesicht landete und sank zusammen. Er schaute mich nur grinsend an: "Sündenengel können also wirklich sterben..." Ich stand nur über ihm und habe ihn herablassend angeschaut. "Warum wehrst du dich nicht, Jules?", schrie ich ihn an. "Vielleicht hab ich diese Strafe ja verdient..."

Plötzlich ging ein Zucken durch seinen Körper. "Seine...tausendste Sünde...so ein Mist! Und ich lieg' hier!" Er fing an zu lächeln: "Tja, ich kann wohl nicht zu ihm...das war's dann wohl für mich..." Als ich ihn sah, wie er immer noch lächelte, packte mich das Mitleid. Aber er konnte wirklich nicht mehr aufstehen, so, wie ich ihn zugerichtet hatte...

"Bist du dir jetzt deiner Schuld bewusst?", fragte er mich. "Dank dir werde ich nun im Fegefeuer leiden!" - "Kann ich nicht doch was für dich tun?" - "Es ist ein Ausnahmefall...ich bin verhindert...du kannst mich vertreten...aber beeile dich! Flieg! Flieg, so schnell du nur kannst! Los, verdammt!!!"

Kaum war sein letztes Wort verhallt, flog ich schon hoch in der Luft. Tränen fielen nach unten.

Als ich bei Jules' Menschen ankam, legte dieser sich gerade schlafen. Ich nahm mir ein Schwert und betrat sein Schlafzimmer. Langsam hob ich das Schwert und ließ es über ihm baumeln. Jules...für ihn! Als würde ich mir selbst den Todesstoß geben, stieß ich ebenfalls einen kleinen, aber heftig gedrückten Schrei aus und ließ die Klinge in seinen Brustkorb fahren. Der Mann wachte wieder auf und fing an, zu röcheln. Im Todeskrampf griff er nach mir, was mich so sehr erschreckte, dass ich das Schwert aus ihm herauszog und ihm die Hände abschlug. Plötzlich fing er an zu schreien. "Ruhe!!!", schrie ich und schlug ihm den Kopf ab, welcher direkt vor meine Füße rollte. Aus seinem Hals spritze Blut und befleckte mein Hemd. Seine Arme fielen herunter. Er war tot. Endlich.

Schließlich flog ich zu Jules zurück, welcher immer noch am Baum lag. Er sah mich an: "Dem Blut auf dir nach zu urteilen, hast du mich entweder hintergangen oder deine Arbeit sehr sauber gemacht!", grinste er mich an. Ich musste auch grinsen. Schließlich half ich ihm auf und stützte ihn auf meiner Schuler. Auf unserem Weg zu ihm nach Hause fragte ich ihn, wer nun den Strich bekomme. "Keiner.", meinte Jules, "Ich habe ihn bewacht und du ihn getötet. Das war umsonst gewesen." - "Das...tut mir leid...dass du so lange umsonst gearbeitet hast..." - "Macht nichts! Jeder macht mal Fehler, oder? Und keine Angst, wegen dieser Prügelei wird dir keine Sünde mehr angerechnet.", lächelte er. "Warum hast du mir nicht gesagt, dass du Mitbegründer der Sündenengel bist?" - "Ich wollte dich nicht in Aufruhr versetzen..." - "Ach was..." So liefen wir hinkend in die Dunkelheit hinaus.

Von jetzt an kam ich mit der Tatsache zurecht, Menschen zu töten, wenn sie ihre tausendste Sünde begangen hatten. Und nach sehr langer Zeit hatte ich schon mehrere hundert Menschen zusammen. Jules war mir natürlich um einiges voraus und hatte schon um die achthundert Leute auf seiner Liste stehen, aber das störte mich nicht weiter.

Die Jahre, ach, was sag ich, die Jahrhunderte zogen an uns vorbei. Wir haben den Maschinenbau mitgemacht, haben Könige und Kaiser gesehen, wie sich die Menschen veränderten und somit immer häufiger Sünden begingen. Mittlerweile wurden auch sehr oft Jugendliche umgebracht, weil sie sich immer so stark fühlen mussten. Und zu allem Unheil wurden sie auch noch Sündenengel! Da sie sich jedoch nicht an die Regeln hielten, gab es immer mehr Zufluss im Fegefeuer...

Schließlich jedoch bekam ich einen Auftrag, den ich mein Leben lang nicht vergessen sollte...



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Tekota
2004-08-05T18:42:17+00:00 05.08.2004 20:42
Ey, du hörst mitten in der Erzählung auf! T_T
Von: abgemeldet
2004-08-03T21:00:59+00:00 03.08.2004 23:00
ya! schreib weiter x'3~~
Bah dein Stil wird aber auch immer besser ^0^/)
~coco
Von: abgemeldet
2004-08-03T17:27:16+00:00 03.08.2004 19:27
Raphael... hm... ich liebe diesen Namen!
Es ist sehr schön geschrieben ud ich möchte unbedingt weiterlesen, wenn du es zulässt, indem du weiterschreibst
^-^

*chu*
Hiromi


Zurück