Cassie von abgemeldet (Verrücktes Internatsleben (abgeschlossen!)) ================================================================================ Kapitel 16: Auf der Suche ------------------------- Hallo! So, die Story neigt sich dem Ende zu... Um genau zu sein: Dies ist das vorletzte richtige Kapitel. Es folgt noch Teil 17 und schließlich der Epilog. Also: Durchhalten! Ihr habt es bald geschafft! Wie immer bedanke ich mich bei allen Lesern, die der Geschichte immer noch so treu folgen und ganz besonders bei den Kommi-Writern, ohne deren Motivationshilfe es wahrscheinlich viel länger dauern würde, etwas aufs Papier zu bringen. Kapitel 16 – Auf der Suche Ein kurzer Moment des Schockes, dann fasste sich Cassie wieder. „Nick!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und wollte ihrem Freund hinterher rennen, doch eine Hand am Arm hielt sie davon ab. „Was soll das, Gil?“ Mit wütend zusammengekniffenen Augen starrte sie der Freundin ins Gesicht. „Lass mich los.“ Doch die schüttelte nur stumm den Kopf. „Gil, ich meine es ernst.“ Cassie versuchte, ihren Arm aus der Umklammerung des anderen Mädchens zu ziehen, doch Fehlanzeige. Pascal, der stumm hinter seiner Freundin stand beobachtete das Spektakel. „Du solltest ihn erstmal in Ruhe lassen.“ Gils Worte klangen ruhig, aber bestimmt. Es war dieser Ton, mehr als die Worte selbst, die das Fass zum Überlaufen brachten. Mit einem heftigen Ruck befreite sich Cassie, Gil fiel beinahe vorn über. „Ich mache, was ich will, kapiert? Wie kommst du dazu, mir sagen zu wollen, was ich zu tun habe? Hast du sie nicht mehr alle?“ Für einen Moment vergaß Cassie sogar, dass sie ihren Freund hatte verfolgen wollen. Die Wut auf Gil war zu übermächtig. „Was denn, hast du die Sprache verloren?“ Gil blickte der Freundin ruhig ins Gesicht. Cassie Augen flogen zu Pascal, der genauso abnormal ruhig schien. Langsam begann sie, den Kopf zu schütteln. „Nein“, flüsterte sie. Alle Wut war verraucht. Zurück blieb nur der Schock über das, was sie in den Gesichtern der beiden anderen las. „Nein“, wiederholte sie. Ihr Blick richtete sich auf Gil. „Wie kannst du nur…“ Für einen Moment wirkte die Freundin unsicher. Ihr Augen richteten sich gen Boden, dann wieder auf Cassies Gesicht. Doch sie sagte noch immer nichts. Verzweifelt durchsuchte Cassie ihr Gesicht nach einem Zeichen, einem Hinweis darauf, dass sie sich irrte. „Ich glaube das nicht!“, rief sie schließlich. Und leiser fügte sie hinzu: „Er hat das nicht getan.“ Blind stürmte Nick die Treppe hinunter, durch die Eingangshalle und hinaus ins Freie. Dort blieb er kurz stehen, versuchte sich zu sammeln. Das Gelände war leer, der Unterricht noch nicht zu Ende. Wohin jetzt? Ihm kam eine Idee. Im Laufschritt verließ er das Internatsgelände, achtete nicht auf den seltsamen Blick des Hausmeisters. Ohne nach rechts oder links zu schauen überquerte Nick Straße um Straße, rempelte Passanten an und überhörte deren Protestrufe. Schließlich stand er vor einer Telefonzelle. Nick betrat die gelbe Kabine und griff nach dem Telefonbuch. Mit der linken Hand stützte er es ab, mit der rechten suchte er nach einem Namen. Und wenn sie nun gar nicht hier wohnten? Was, wenn sie nicht im Telefonbuch standen? Nick stieß einen Erleichterungsseufzer aus, als er den Namen fand. Viermal stand er da. Zweimal befand sich die Adresse in einer Straße, deren Name ihm nichts sagte. Nick riss die Seite aus dem Telefonbuch und stopfte sie in seine Hosentasche. Dann machte er sich auf die Suche nach der ersten Adresse. „…stand die Weimarer Verfassung von Anfang an auf wackligen Beinen, so dass Hitler seiner Zeit wenig Probleme hatte, an die Macht zu kommen…“ Cassie hörte Herr Sanders Worte, konnte jedoch keinen Sinn hinein bringen. Die Minuten flossen so zäh dahin, dass Cassie sich fragte, ob die Stunde jemals enden würde. Und sie verfluchte Gil, die neben ihr saß, sie überredet zu haben, in den Unterricht zu gehen, anstatt nach ihrem verschwundenen Freud zu suchen. Die Szene vom Morgen war jetzt vier Stunden her und immer noch kein Lebenszeichen von ihm. Etwas berührte Cassie Arm. Das Mädchen drehte den Kopf und sah in Gils besorgte Augen. „Er kommt schon wieder.“ Cassie schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, wie sie mit ihrer Freundin umgehen sollte, seit sie sich auf Pascals Seite geschlagen hatte. Wie redete man mit einem Menschen der glaubte, ihr Freund sei ein Vergewaltiger? „Ich weiß nicht…“, murmelte Cassie und sah nach vorn zur Tafel. „Ich glaube nicht, dass er von alleine so schnell wiederkommt.“ Gil schwieg. Plötzlich hielt Cassie es nicht mehr aus. Sie hob den Arm. „Cassie?“ Die Stimme des Lehrers war sanft und nur eine Spur genervt, dass sie seinen Monolog unterbrach. „Darf ich auf Toilette?“ Herr Sander verdrehte die Augen. Ein Blick wie „Sind wie hier im Kindergarten?“ traf das Mädchen, doch schließlich nickte er mit dem Kopf. Cassie lächelte dankend und stand auf. „Wo willst du hin?“ Gil sah mit großen, misstrauischen Augen zu ihr hoch. „Auf Toilette. Hast du nicht zugehört?“ Und damit verließ sie das Klassenzimmer. Die letzte. War es nicht immer die letzte? Sichtlich angefressen, doch allemal ruhiger als vier Stunden zuvor stand Nick vor einem hellblauen, gewöhnlich wirkendem Mehrfamilienhaus. Die ersten drei Adressen waren Fehlanzeigen gewesen. Was, wenn hier auch nicht die Leute wohnten, die er suchte? Nick schüttelte den Kopf, versuchte, die Zweifel loszuwerden. Doch die schienen sich in seinem Verstand fest gefressen zu haben. Was, wenn er hier falsch war? Wie bei den drei Adressen zuvor? Was dann? Mit klopfendem Herzen streckte Nick die Hand aus und drückte die Klingel unter dem vertrauten Namen. Derselbe Name, der früher auf Pascals Klingel gestanden hatte. Früher, als er mit seiner Mutter seinen Vater, dessen Frau und seinen Halbbruder besucht hatte. „Ja?“ Es war eine freundliche, weibliche Stimme, die etwas verzerrt aus der Sprechanlage drang. Nick meinte, diese Stimme zu erkennen. Oder bildete er sich das nur ein? „Ähm, hier ist Nick.“ Schweigen. Dann: „Wartest du einen Augenblick?“ Nick wartete. Endlich war da eine andere Stimme. Eine, die der Junge hundertprozentig wieder erkannte. „Nick, bist du es?“ Die Stimme seines Vaters. „Ja.“ „Was machst du hier?“ Nick seufzte und drehte die Augen gen Himmel. Sollte er wirklich? „Kann ich rauf kommen?“ „Sicher. Zweiter Stock.“ Die Tür summte und Nick betrat das Treppenhaus. „Wo bist du nur?“ Cassie seufzte und starrte aus dem Fenster. Sie hatte ihre Tasche mit Handy und Portemonnaie gepackt und trug sogar schon ihre Jacke. Sie war bereit, sich auf die Suche nach Nick zu machen. Doch wo anfangen? Die Stadt war groß und wer sagte ihr, dass er überhaupt noch in der Stadt war? Jetzt, in dieser Situation wurde Cassie klar, dass sie im Grunde gar nichts über Nick wusste. Und sie bezweifelte, dass irgendjemand seiner sogenannten Freunde ihr Antworten auf die Fragen bieten konnte, die jetzt zählten. Wo ging Nick hin, wenn er Probleme hatte? Nach Hause zu seiner Mutter? Nick kam ihr nicht wie jemand vor, der bei Kummer heulend zu seinen Eltern lief. Cassie seufzte ein zweites Mal und drehte sich vom Fenster weg. Es hatte keinen Sinn, hier zu stehen und ihren trüben Gedanken nachzuhängen. Da hätte sie ihre Zeit genauso sinnvoll im Unterricht vertrödeln können. Entschlossen schnappte sich Cassie die Tasche und verließ ihr Zimmer. Auch das Wohnzimmer ließ sie hinter sich. Sie würde Nick finden, und wenn sie die ganze Stadt auf den Kopf stellen müsste. Ach was, und wenn sie ganz Deutschland auf den Kopf stellen müsste! Cassie lief den Flur entlang, die Treppe runter. Und was, wenn sie ihn fand? Dann würde sie endlich Klartext mit ihm reden! Und wenn ihr nicht gefiel, was Nick zu sagen hatte? Sie war sich sicher, dass er Lara nicht vergewaltigt hatte, doch irgendetwas…irgendetwas musste da gewesen sein. Cassie hatte es in Nicks Augen gesehen, jedes Mal wenn Laras Name fiel. Und sie würde herausfinden, was es war. Sie würde versuchen, Nick zu helfen. Doch zuerst musste sie ihn finden. Entschlossen setzte Cassie den Weg durch die Eingangshalle fort. Sie war noch drei Schritte vom Ausgang entfernt, als plötzlich jemand in die Halle hetzte und Cassie beinahe umrannte. „Hey!“, protestierte das Fast-Opfer empört und drehte sich nach der Furie um. Es war Jessica. Cassie runzelte die Stirn. Es war einige Zeit her, seit sie die ehemalige Freundin bewusst angesehen hatte. Das Mädchen sah gut aus: Glänzende Augen, rosige Wangen und ein glückliches Lächeln auf den Lippen. Letzteres minderte sich, als sie Cassie erkannte, seltsamerweise überhaupt nicht. „Hey“, meinte die Mitbewohnerin, mit der das andere Mädchen schon ewig, so schien es ihr, kein Wort mehr gewechselt hatte. „Tut mir leid. Wirklich.“ „Ähm…kein Problem.“ Cassie stand noch immer an derselben Stelle und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Sie verschränkte die Arme, dann ließ sie sie wieder an ihrer Seite baumeln. Wenn das keine groteske Situation war. „Gehst du wieder in den Unterricht? War dir nicht gut?“ Jessicas Stimme war weich und wie immer ein wenig schüchtern. „Ich…nein…“ Was sollte Cassie sagen? Die Wahrheit? Aber war sie mit Jessica denn nicht zerstritten? Der Blick der Exfreundin flog zu Cassies Tasche und zurück zu ihrem Gesicht. Auf einmal verschwand das Lächeln, doch seltsamerweise schien sie von innen immer noch zu strahlen. Cassie fragte sich, ob sie auch so ausgesehen hatte, als sie frisch verliebt und noch kein Problem in Sicht gewesen war. „Willst du ihn suchen gehen?“ Eine kaum hörbare Spur Neugierde schwang in Jessicas Stimme mit. Cassie atmete tief ein und nickte. „Ich glaube nicht, dass er…na ja, dass er getan hat, was alle denken, das er getan hat.“ Wieso hatte sie das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen? War es denn nicht normal, dass sie sich Sorgen um ihren Freund machte? Doch, natürlich, aber nicht, wenn dieser ein Vergewaltiger war. Jessica nickte nachdenklich. „Ich glaube es auch nicht.“ Cassie starrte das andere Mädchen an. „Nicht?“ Ihre Mitbewohnerin sah geschockt aus. „Natürlich nicht! Nick würde so etwas nicht tun. Niemals.“ Cassie brauchte einen Moment, um dieses unglaubliche Glücksgefühl zu verdauen, welches sich in ihrem Bauch breit machte. Es war einfach zu schön, endlich mal jemanden vor sich zu haben, der ebenfalls an Nicks Unschuld glaubte. „Na dann…“ Cassie sah unschlüssig in Jessicas Gesicht. „Dann sollte ich wohl endlich losgehen.“ Das andere Mädchen nickte. „Ja, mach das. Ich wünsche dir viel Glück.“ Cassie drehte sich um und durchschritt die Tür. Draußen wandte sie noch einmal den Kopf. Jessica sah ihr nach, abermals ein Lächeln auf dem Gesicht. In diesem Moment wusste Cassie, dass das Mädchen ihr verziehen hatte. „Also?“ Es war nur ein Wort, das einzige, das Nicks Vater gesprochen hatte, seit sein Sohn durch die Tür gekommen war. Kein Gruß, kein Angebot von etwas zu trinken oder einem Sitzplatz. Letzteres nahm Nick sich unaufgefordert. Sein Vater folgte ihm mit gerunzelter Stirn ins Wohnzimmer, wo sein Sohn es sich auf der Couch bequem gemacht hatte. Seufzend nahm er auf einem Sessel Platz. „Versteh mich bitte nicht falsch, Nick…aber-“ „Es ist deine Schuld“, wurde er von seinem Sohn unterbrochen. „Dass ich hier bin, meine ich. Wärst du heute nicht in der Schule aufgetaucht, wäre die ganze Sache nicht eskaliert und ich hätte nicht im Traum daran gedacht, zu dir zu kommen.“ Nick sah seinem Vater ins Gesicht, doch aus dessen Augen blinkten ihm nur zwei große Fragezeichen entgegen. „Er hat es mir gesagt“, erklärte Nick erregt. „Pascal hat mir erzählt, dass wir eine Halbschwester hatten.“ Der Ausdruck im Gesicht seines Vaters veränderte sich. Etwas wie Schock fraß sich in seine Züge, zerfurchte sein Gesicht. „Stimmt das?“ Nick sah, wie der Mann den Mund öffnete, um etwas zu sagen, doch kein Wort hervorbrachte. Schließlich beantwortete er die Frage seines Sohnes mit einem stummen Nicken. „Weiß Mama davon?“ Sein Vater schüttelte den Kopf. „Warum?“ Die Stimme, die Nick antwortete klang heiser. „Was meinst du?“ „Alles. Du hast dich nicht mehr um Pascal gekümmert, seit er neun war, von mir gar nicht zu reden. Du hast eine Tochter, aber auf die Idee, uns zu sagen, dass wir eine Halbschwester haben kommst du nicht.“ Mit jedem Wort wurde Nicks Stimme eine Spur aggressiver, doch es kümmerte ihn nicht. „Du wusstest doch, dass Lara eine Zeit lang mit uns auf dasselbe Internat ging, oder? Du musst es gewusst haben! Oder?“ Ein langsames Nicken. „Weißt du überhaupt, was du damit angerichtet hast?“ Noch bevor Nick sich selbst stoppen konnte war er auf den Beinen und hatte sich vor seinem Vater aufgebaut. Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, sich davon abzuhalten, auf seinen Gegenüber los zugehen. „Immer denkst du nur an dich und deine Bequemlichkeit! Drei Kinder hast du in die Welt gesetzt und denkst du, du bist auch nur für eines von ihnen ein Vater?“ „Er war Laras Vater.“ Nick fuhr herum und starrte die Frau an, die im Türrahmen stand. Laras Mutter trug eine Jeans und einen dicken, schwarzen Pullover. Sie lächelte Nick an und betrat das Zimmer. Nick stand da wie fest gefroren und folgte jeder ihrer Bewegungen. „Ich weiß, dass dein Vater vieles falsch gemacht hat.“ Sie setzte sich auf die Couch, auf der kurz zuvor noch Nick gesessen hatte. Ihr Blick war auf ihren Mann gerichtet. „Und er weiß das auch.“ Nick Blick sprang zwischen den beiden Erwachsenen hin und her. Er wollte nicht hier sein. Er wusste, er hatte hier nichts verloren. „Du kannst nicht die Fehler, die du an zwei deiner Kinder begangen hast ausbügeln, in dem du dich vernünftig um ein drittes kümmerst.“ Nick schüttelte den Kopf. Er ließ sich neben Laras Mutter auf die Couch sinken. „Es geht einfach nicht.“ „Da hast du Recht“, stimmte ihm die Frau seines Vaters zu. „Aber glaub mir, er hat sich nicht aus Bösartigkeit von euch zurückgezogen.“ Sie verstummte und warf ihrem Mann einen auffordernden Blick zu. Nick lehnte sich zurück und sah seinen Vater abwartend an. „Sie hat Recht“, murmelte er schließlich. Sein Blick schien am Boden fest zu kleben. Nick fand diese gespielte Scheu albern und wollte seinen Vater gerade auf die Lächerlichkeit seines Benehmens aufmerksam machen, als dieser fort fuhr. „Mein ganzes Leben lang war ich kein guter Vater. Nicht für dich und auch nicht für Pascal.“ Nick öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch wurde unterbrochen. „Ich weiß, was du sagen willst! Neun Jahre war ich doch da für Pascal, war doch sein Vater. Aber du bist ja nicht dabei gewesen! Ich hatte kein Verhältnis zu Pascal, schon damals nicht. Ich wusste nicht, wer seine Freunde waren, was er am liebsten aß, welches sein Lieblingsfach in der Schule war oder ob er gerne Sport trieb. Und ich weiß nicht einmal, wieso das so war.“ Er zuckte mit den Achseln. „Es hat sich wohl einfach so entwickelt.“ „Und?“, warf Nick ein. „Viele Väter haben nicht so ein gutes Verhältnis zu den Kindern wie die Mütter. Du hast viel gearbeitet, da kann so was passieren. Das ist kein Grund, das Kind wegzugeben.“ Erst jetzt sah sein Vater auf. Zutiefst verzweifelte Augen starrten ihn an, bettelten um Verständnis. „Ich hatte Angst, Nick. Erst hatte ich Angst, ich könnte Pascal nicht gerecht werden. Und dann, als er zu euch kam hatte ich Angst, mich zu melden, weil ich dachte, er würde mich hassen.“ „Das tut er.“ Nick verschränkte die Arme vor der Brust. Es war nett, dass sein Vater zur Abwechslung mal die Wahrheit sagte. Aber das bedeutete nicht, dass man vergeben und vergessen musste. Dafür war zu viel passiert. Es folgte eine lange Pause, in der niemand etwas sagte. Nick wusste, das war der Moment, in dem man von ihm erwartete, zu gehen. Er hatte seine Wut raus gelassen, sein Vater hatte zugeben, alles falsch gemacht zu haben und er, sein Sohn, hatte durchblicken lassen, dass er nicht zum Verzeihen bereit war. So weit, so gut. Als Nick keinerlei Anstalten machte aufzustehen, räusperte sich sein Vater. „Sag mal, was willst du eigentlich hier?“ Sein Ton klang angenehm. Nicht wütend oder eingeschnappt. Nick würde es nie zugeben, aber es freute ihn, dass sein Vater zumindest keiner von den Menschen war, die keine Kritik einstecken konnten. „Ich weiß nicht, wo ich hin soll.“ Es war Abend geworden. Cassie trottete müde die Straße entlang. Schließlich blieb sie stehen und lehnte sich mit einem Seufzer an die Tür einer Telefonzelle. Was jetzt? Sie hatte überall gesucht, die ganze verfluchte Stadt durchkämmt. Nick war nicht da. Und das ließ eine Vermutung in dem Mädchen wachsen: Ihr Freund war nicht einfach drauflos gerannt, wie sie selbst es in solch einer Situation getan hätte. Nick hatte ein Ziel gehabt. Und genau dort hielt er sich jetzt auf. Die Frage war nur: Welches Ziel hatte ein achtzehn Jahre alter Junge, der gerade erfahren hat, dass ein totes Mädchen, an welchem er sehr hing und von dem man sagt, dass er es vergewaltigt hätte, seine Halbschwester war? Cassie schüttelte den Kopf. Ihr kam eine Idee. Eine Idee, die nichts mit Logik zu tun hatte. Doch was war schon logisch, wenn es um Nick ging? Und was hatte sie überhaupt für eine Möglichkeit, als es einfach zu versuchen? „Hier.“ Laras Mutter stand schon halb im Zimmer, hielt für Nick die Türe offen. Unsicher trat der Junge einen Schritt vor. Fünf kleine Lampen brannten an der Zimmerdecke, gingen von einer silberfarbenen Verbindungsstrebe ab. Das Licht wirkte so hell, als befände sich die Sonne direkt vor den Zimmerfenstern. Laras Mutter lächelte, doch es wirkte nicht glücklich. Sie ging voraus, näherte sich einem Schreibtisch, der vor den beiden großen Fenstern stand. Nick fühlte sich alles andere als wohl. Doch er war ja selbst schuld. Er hatte ja unbedingt Laras Zimmer sehen müssen. Sein Blick schweifte von dem hell braunen Kleiderschrank über das rot bezogene Bett. An der gelben Tapete hingen Poster von Rockgruppen und Filmstars. Nick musste lächeln. Alles in allem wirkte das Zimmer mehr wie ein Teenager-Zimmer, als wie das einer Achtzehnjährigen. Doch so war Lara gewesen. Sie hatte sich eine kindliche Seite bewahrt, die einen Großteil ihres Charmes ausgemacht hatte. Vorsichtig setzte Nick einen Fuß vor den anderen. Auf dem Boden lag allerlei Zeugs – von Zeitschriften über Sachbücher und amerikanische Romane. Lara war ein USA-Freak gewesen. Sie hatte davon geträumt, später in New York als Journalistin zu arbeiten. Sie wäre sicher gut darin gewesen. Nick verdrängte die Gedanken und schloss zu Laras Mutter auf. Sie hielt ein Spiralheft im DIN A5 Format in der Hand. Das Cover war blau, in der Mitte prangte die Skyline von Manhattan. Laras Mutter hob den Blick und sah Nick an. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, das ist ihr Tagebuch.“ Sie strich abwesend mit dem Finger über die Heftkanten. „Deshalb waren wir heute im Internat.“ Sie lächelte traurig. „Anscheinend hatte Lara es hinter ihrem Nachtisch versteckt. Erst gestern hat das Mädchen, das jetzt in ihrem Zimmer wohnt, es gefunden.“ Nick ging ein Licht auf. Die weiße Plastiktüte, die sie an sich gepresst hatte, als beinhalte sie die Kronjuwelen. Der Besuch im Internat und der Fakt, dass sein Vater seine Frau begleitet hatte, obwohl er fürchten musste, seinen Söhnen über den Weg zu laufen. Auf einmal machte alles Sinn. Außer einer Sache: „Sie haben nicht reingeschaut?“ „Nein. Und ich will auch nicht, dass du es tust.“ Ihr Stimme klang warnend, sie sah ihm dabei fest in die Augen. „Ehrlich gesagt weiß ich nicht so Recht, was ich damit machen soll. Es geht niemanden etwas an, was Lara in ihr Tagebuch geschrieben hat, aber ich will es auch nicht weggeben.“ Sie seufzte. Nick zuckte mit den Achseln. „Sie könnten es einfach hier-“ Er wurde von einem Klingeln unterbrochen. „Die Haustüre“, erklärte Laras Mutter, legte das Tagebuch auf den Schreibtisch und verließ das Zimmer. „Dein Vater wird mal wieder seinen Schlüssel vergessen haben. Ich bin gleich zurück.“ Nick hörte entfernt, wie Laras Mutter etwas in die Sprechanlage sagte. Er verstand den genauen Wortlaut nicht und es war ihm auch egal. Sein Blick war auf das kleine, blaue Büchlein auf Laras Schreibtisch gerichtet. Wie von selbst bewegte sich seine Hand darauf zu. Er bewegte seine Finger über das Cover, schloss die Augen. Aus diesem Heft könnte er alles erfahren. Alles, worüber er sich die letzten paar Monate den Kopf zerbrochen hatte. Gab es vielleicht sogar einen Eintrag vom Tag ihres Selbstmordes? Nicks zitternde Finger hoben vorsichtig das Deckblatt an. Er könnte ihn lesen, nur diesen letzten Eintrag, und erfahren, ob es wirklich seine Schuld gewesen war. „Nick?“ Der Junge zuckte so heftig zusammen, dass Laras Tagebuch zu Boden fiel. Mit noch immer bebenden Händen hob er es auf und legte es penibel genau an die Stelle zurück, an der es zuvor gelegen hatte. Dann erst drehte er sich zur Tür, fing den misstrauischen Blick von Laras Mutter auf. Nick fühlte, wie ihm heiß wurde und er hatte das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. „Ich hab nicht rein geguckt“, beeilte er sich zu sagen. „Nur...“ Ja, was? „Ehrlich gesagt, habe ich mit dem Gedanken gespielt“, gab er zu. Laras Mutter sah ihn nur an und nickte. „Da ist jemand für dich“, informierte sie ihn schließlich. „Ich hab ihr gesagt, sie soll rauf kommen.“ Ihr? Nick starrte perplex an der Frau vorbei und den Flur entlang, von dem die Haustüre abging. Sie stand offen. Und in exakt diesem Moment trat jemand hindurch. Dieser jemand war klein, blond und seit zwei Tagen seine Freundin. Cassie sah sich um und entdeckte ihn. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Ich gehe jetzt schlafen. Sagst du das deinem Vater, wenn er von seinem Spaziergang zurückkommt?“ „Sicher“, meinte Nick, ohne Laras Mutter anzusehen. „Gute Nacht.“ Für einen Moment drängte sich die Frau in sein Blickfeld, als sie aus dem Türrahmen verschwand. Dann war die Sicht auf Cassie wieder frei. Sie lächelte noch immer, doch er konnte noch etwas anderes auf ihrem Gesicht erkennen. Sorge? „Hey.“ Sie betrat das Zimmer und kam auf ihn zu. Nick trat einen Schritt zurück. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Verdammt, er wusste ja nicht mal, was er fühlen sollte. Er war hier, in Laras Zimmer, versunken in Erinnerungen an ein Mädchen, das er geliebt hatte. Und da stolperte ein zweites Mädchen in eben jenes Zimmer. Seine derzeitige Freundin. Ein Mädchen, das er auch liebte. Oder? Nick fühlte sich gefangen in einer gefühlsmäßigen Zwickmühle. Ein Teil von ihm wollte sie anschreien und ihr sagen, dass sie gehen sollte. Dass sie mit alldem nichts zu tun hatte und es ja nicht wagen sollte, sich in seine und Laras Vergangenheit einzumischen. Ein anderer Teil wollte Cassie in den Arm nehmen. Ihr dafür danken, dass sie ihn gesucht hatte. Sich entschuldigen, dass sie sich sorgen musste. Ihr alles erzählen und sich von ihr trösten lassen. Denn er fühlte, dass sie die einzige war, die das konnte. Vorerst tat er jedoch keines von beiden. Er sah sie nur an, blickte in die dunklen, graugrünen Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hey“, sagte er. „Wie geht’s dir?“ „Super“, log er. „Nick...“, begann Cassie, ihr Blick schweiften rastlos durch den Raum. „Du musst nicht...“ Auf einmal brach sie ab, ihre Augen weiteten sich. „Ist das Laras Zimmer?“ Nick öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Wie ein Fisch, der nach Luft schnappt. Cassies Gesichtsausdruck veränderte sich von besorgt und verständnisvoll in traurig. War traurig das richtige Wort? Nick war sich nicht sicher. Sie schwiegen für ein paar Minuten. Die Zeit zog sich hin wie ein Gummiband, welches sich mehr und mehr streckte, immer dünner und instabiler wurde. Nick sah Cassie nicht an. Er war zu beschäftigt, sein Gefühlschaos zu entwirren. „Hast du sie geliebt?“ Cassies Stimme war leise, der Hauch eines Geräusches. Endlich sah Nick auf. Er musste daran denken, wie kurz sie sich eigentlich erst kannten und wie viel sie schon zusammen erlebt hatten: Unzählige Streitereien. Ihre Rettung durch ihn, Nick, vor seinem Bruder. Jessicas Schwärmerei für ihn, die sie auf Cassie abgeladen hatte. Die Nacht draußen, hinter dem Wohnhaus, als sie sich das erste Mal geküsst hatten. Tatjana. Das Treffen, ebenfalls mitten in der Nacht, im Krankenhaus. Die Vereinbarung. Der Tod von Cassies Bruder. Die Nacht auf dem Friedhof, die erste, die sie als Paar verbracht hatten. Und jetzt, schließlich, hatte sich die Situation gedreht. Auf einmal war es nicht mehr Cassie, die Probleme hatte. Auf einmal war er selbst es. Und Cassie war diejenige, die sich sorgte, ihn suchte, ihn fand. Und doch war das hier etwas völlig anderes. Es ging hier nicht um einen toten Bruder. Sondern um eine tote Geliebte. „Ja.“ Cassie spürte, wie sie blass wurde. Sie wusste nicht einmal, warum Nicks Antwort sie so mitnahm. Sie hatte es doch ohnehin schon gewusst. Verdammt, gleich am Tag ihrer ersten Begegnung hatte Scarlett erzählt, dass Nick in dieses Mädchen verliebt gewesen war. Warum also dieser Schock? Es ging nicht um ihre Eifersucht, stellte Cassie fest, als sie die Einrichtung des Mädchenzimmers in sich aufnahm. Dieses Gefühl war, zumindest für den Augenblick, verschwunden. Es war die Erkenntnis, was es für Nick bedeuten musste. Er hatte Lara geliebt, was immer zwischen ihnen gewesen war, er hatte sie geliebt. Seine eigene Halbschwester. „Es tut mir leid.“ Nick sah ihr aufgrund dieser Worte in die Augen. Schließlich schob sich sein rechter Mundwinkel minimal nach oben, ein winziges, halbes Lächeln. „Komm“, sagte er, ging um Cassie herum und hielt ihr die Tür auf. „Wir müssen reden.“ „Pascal wusste nichts davon. Aber Lara und ich waren ein Paar.“ Es war das zweite Mal an diesem Abend, dass Cassie alle Farbe aus dem Gesicht wich. Sie stemmte sich in eine sitzende Position und Nick ließ sie sofort los. Sie lagen auf Nicks Bett im Gästezimmer. Doch Cassie fragte sich, ob das wirklich die richtige Umgebung für ein Gespräch wie dieses war. Sie wollte nicht mit Nick kuscheln, während er ihr Dinge wie diese erzählte. Über ein Mädchen, das er geliebt hatte. Und da war sie wieder: Die spitze Nadel der Eifersucht. „Wie lange?“, fragte Cassie und bemühte sich, jede Emotion aus ihrer Stimme zu verbannen. Sie musste sich zusammenreißen. Endlich entschloss sich Nick, offen zu ihr zu sein. Da konnte sie ihm unmöglich eine Eifersuchtsszene machen. „Nicht lange. Knapp drei Wochen.“ Cassie nickte monoton, hauptsächlich deshalb, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. „Und...?“, fragte sie endlich, während sie sich zwang, ihren Kopf ruhig zu halten. „Und dann?“ Sie war froh, etwas Abstand zwischen sich und den Jungen gebracht zu haben. Jetzt konnte sie ihm wenigstens ins Gesicht sehen. Doch wollte sie überhaupt wissen, welcher Ausdruck in seinen Augen stand, wenn er von Lara redete? „Du weißt ja, dass Pascal Lara auch...“ Er stockte, schien nach den passenden Worten zu suchen. „Dass er an ihr interessiert war, um es mild auszudrücken. Das war auch der Grund, aus dem wir es zuerst geheim gehalten haben. Niemand wusste davon.“ Nick Blick richtete sich in die Ferne. Da war etwas Verträumtes in seinen Augen, in seiner ganzen Haltung, wie er da mit dem Rücken am Ende des Bettes lehnte, den Kopf leicht nach hinten gekippt. Cassie wurde übel. „Und in drei Wochen hat niemand...Verdacht geschöpft?“, fragte sie gegen ihren Wille. Wollte sie das alles überhaupt wissen? Nein. Aber Nick hatte nie zuvor mit jemandem darüber geredet. Alles hatte er mit sich selbst ausgemacht. Wenn sie nicht wollte, dass er irgendwann an diesem inneren Ballast erstickte, musste sie das jetzt durchziehen. Zu ihrer Überraschung lachte Nick kurz und vollkommen freudlos auf. „Verdacht geschöpft? In drei Wochen?“, fragte er ungläubig. „Bis heute hat niemand Verdacht geschöpft!“ „Aber...wie kann das sein?“ Cassie verstand es nicht. Die beiden hatten in einem Internat gelebt. Wie, um Himmels Willen, konnte man eine Beziehung dort geheim halten? Irgendwo musste man sich doch treffen. Außerdem fingen Jugendliche schon an zu lästern, wenn ein Junge und ein Mädchen nur Hallo zueinander sagten. „Weißt du nicht mehr, was Scarlett dir erzählt hat?“ Cassies Gehirn begann zu arbeiten und ihr ging ein Licht auf, im selben Moment, in dem Nick erklärte: „Vom ersten Tag an stellte Lara klar, dass sie lesbisch sei. Und zwar gegenüber jedem Junge, der sie auch nur ansah.“ Das erklärte einiges. Warum über ein Mädchen reden, das sich vielleicht mit Jungs trifft, jedoch ganz sicher nichts mit diesen hat? „Heißt das...sie hat gelogen?“ Nick sah sie an, als schien ihm diese Möglichkeit noch nie in den Sinn gekommen zu sein. „Nein, hat sie nicht. Zumindest nicht bewusst. Aber irgendwann hat sie eben festgestellt, dass sie wohl nicht nur auf Mädchen steht. Und das hat sie mir dann gesagt.“ Warum? Warum hatte sich dieses eigentlich vom anderen Ufer stammende Mädchen ausgerechnet in Nick verguckt? Wenn Cassie ihrem Freund in die Augen sah fiel ihr die Beantwortung dieser Frage nicht schwer. Nick war einfach jemand, der es einem unheimlich leicht machte, sich in ihn zu verlieben. Ihr Freund seufzte. „Bis heute dachte ich eigentlich, dass Pascal es wusste. Das von mir und Lara. Und dass er deshalb so wütend war. Dass er die Vergewaltigung nur vorschiebt.“ „Weißt du denn-?“ „Ich hab keine Ahnung, wer es getan hat. Lara hat sich immer geweigert, darüber zu reden.“ Und scheinbar hatte sie dieses Geheimnis mit in den Tod genommen. Cassie schüttelte fassungslos den Kopf. Wie hatte Lara es niemandem erzählen können? Hatte sie keine Rache gewollt? Ein bisschen Gerechtigkeit dahingehend, dass, wer immer sie vergewaltigt hatte, wenigstens dafür verurteilt wurde? Aber das hörte man ja immer wieder. Dass Opfer solcher Taten sich schämten, darüber zu reden. Und jetzt? Jetzt war es zu spät für Lara. „Du hast gesagt, dass du dachtest, Pascal wüsste Bescheid...“, nahm Cassie den Faden des Gespräches wieder auf. Es gab immer noch einiges, das geklärt werden musste. „Wie kommst du darauf?“ Nick schien sich mit einem Mal sehr unwohl zu fühlen. Er setzte sich auf, faltete seine Finger ineinander, nur um sie sofort wieder zu lösen. „Ich wusste nicht, was an diesem Tag passiert ist“, erklärte er. „Ich dachte, sie hätte es ihm gesagt.“ Sein Blick war flehend und Cassie konnte nicht anders, als verständnisvoll zu nicken, obgleich sie keine Ahnung hatte, wovon der Junge sprach. Sie rutschte wieder näher zu ihrem Freund. Sanft nahm sie seine Hände in ihre. „Welcher Tag?“ fragte sie. Nick sah sie stumm an. Er brauchte nicht mehr antworten. Sein Blick sagte alles. Der Tag, an dem sie sich das Leben nahm. Cassie streichelte beruhigend Nicks Handrücken. Endlich fuhr er fort: „Wir wollten es nicht mehr geheim halten. Und Lara sagte, sie wollte, dass Pascal es zuerst erfuhr. Ich dachte wirklich, sie hätte es ihm gesagt.“ Das Mädchen hörte beinahe, wie ihre Gehirnwindungen arbeiteten und schließlich spuckten sie tatsächlich ein Ergebnis aus: Lara war zu Pascal gegangen, um ihm von ihr und Nick zu erzählen. Stattdessen passierte das, was Pascal schon erläutert hatte: Lara sah ein Foto und auf einmal war ihr Freund ihr Halbbruder. Was für ein Desaster. „Ich dachte die ganze Zeit, sie hätte das mit der Vergewaltigung einfach nicht verkraftet. Aber das stimmt nicht. Sie hat sich wegen mir umgebracht.“ Nicks Stimme war belegt. Er starrte die Bettdecke an, so dass Cassie kaum etwas von seinem Gesicht sehen konnte. Sie beugte sich vor und schlang die Arme um ihren Freund. Presste ihn an sich, wiegte ihn, wie ein kleines Kind. Sie stellte fest, dass Nick nicht weinte. Er tat gar nichts. Er saß still in Cassies Armen und ließ sich trösten. „Du musst nicht eifersüchtig auf Lara sein“, sagte er plötzlich und befreite sich sanft von seiner Freundin. Er sah Cassie in die Augen. Das Mädchen fühlte, wie sie rot wurde. „Ich bin nicht...war nicht...“ „Doch, du warst. Und bist es immer noch.“ Es klang nicht wie eine Anschuldigung. Eher wie eine sanfte Feststellung. Cassie wollte das Gesicht ins Kissen pressen und am besten gleich ganz unter der Decke verschwinden. „Es ist dumm, ich weiß“, flüsterte das Mädchen gepresst und wagte nicht, ihren Freund anzusehen. „Ja, ist es“, gab dieser auch postwendend zur Antwort. „Vor allem, weil ich nicht einmal weiß, ob es zwischen Lara und mir auf längere Zeit geklappt hätte. Ich bezweifle stark, dass, selbst wenn sie noch da wäre, wir heute noch zusammen wären.“ Cassie sah auf. Und war mit einem Blick konfrontiert, der sie lesen ließ, wie in einem offenen Buch. Diese Ehrlichkeit verschlug ihr die Sprache. Du, sagte dieser Blick, du bist der Grund, warum ich mir da so sicher bin. Lara hätte mich nicht davon abgehalten, mich in dich zu verlieben. Für einige Momente war es Cassie unmöglich, zu atmen. Sie fühlte sich, wie auf einer Achterbahn, die mit 100 km/h steil nach unten saust. Es dauerte eine Zeit lang, bis das Mädchen wieder sprechen konnte. „Wirklich?“ „Ja.“ Nicks Augen waren ernst, er sah ihr direkt ins Gesicht. „Aber...das Problem ist, dass es nie soweit kam. Ich weiß nicht-“ Cassie legte ihm einen beruhigenden Finger auf die Lippen. Er musste nicht weiter reden. Ihr war klar, was er meinte. Wenn er und Lara sich irgendwann getrennt hätten, aus welchen Gründen auch immer, dann wäre es okay gewesen. So würde Nick jedoch niemals erfahren, was vielleicht noch gewesen wäre. Es war der brutale Abbruch seiner Beziehung zu Lara, die Ungewissheit, die es ihm so schwer machte, los zulassen. In gewisser Weise, so verstand Cassie jetzt, spielte es keine Rolle, ob man einen Bruder oder eine Geliebte verlor. Es war dasselbe. Möglicherweise hätten Chris und sie sich eines Tages sowieso auseinander gelebt. Das war sogar sehr wahrscheinlich. Nach ihrem Abschluss hätte Cassie vielleicht an einer Uni studiert, die noch weiter weg war von zu Hause als das Internat. Oder Chris hätte sich verliebt, eine Familie gegründet. Womöglich sogar im Ausland. Chris hatte sich immer schon für andere Kulturen interessiert. Außerdem, im Ernst: Wie viele geschwisterliche Bindungen blieben ewig so stark wie in der Jugend? Irgendwann wäre wohl die Zeit gekommen, in der andere Menschen wichtiger gewesen wären. Doch jetzt würde Cassie sich immer fragen, ob es tatsächlich so gekommen wäre. „Ich weiß, was du meinst“, flüsterte sie und ersetzte ihren Finger auf Nicks Lippen durch ihre eigenen. Sie berührte seinen Mund nur hauchzart. Ein Kuss, der als Trost gedacht war. Doch als sich Cassie von Nick lösen wollte, war da plötzlich eine Hand in ihrem Nacken, die das nicht zuließ. Die Lippen des Jungens pressten sich gegen ihre, verzweifelt, als würde er nach einem Rettungsseil greifen. Cassie holte scharf Luft und gab Nicks Begehren nach. Sie öffnete ihre Lippen und schmeckte kurz darauf Nicks Zunge. Sie spielte mit Cassie, war zugleich fordernd und verführend. Der Junge brach den Kuss, nur um seine weichen Lippen über Cassies Wange streicheln zu lassen. Sie erkundeten ihre Nase, ihre Stirn und die geschlossenen Augenlider. Cassies Atem ging schneller, doch sie selbst realisierte es nicht. Sie konzentrierte sich auf Nicks Berührungen, die sich besser anfühlten, als alles bisher Erlebte. Cassies Hand krallte sich in sein dunkles Haar, zog seinen Kopf noch näher an ihren Hals. Denn das war der Ort, an den ihr Freund sich mittlerweile vorgearbeitet hatte. Während seine Finger ihren nackten Bauchnabel umkreisten, leckte seine Zunge hier und da über die dünne Haut an Cassies Hals. Das Mädchen bog den Kopf zurück, um Nick mehr Spielraum zu geben. Es war in dem Moment, als Nicks Hand ihren Bauch verließ und anfing, die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen, als Cassie das erste Mal dämmerte, wo das hinführte. Sie gab sich eine mentale Kopfnuss, weil sie so lange dazu gebraucht hatte. In ihrem bereits lustvernebelten Verstand versuchte das Mädchen, klar zu denken. War es klug, es jetzt geschehen zu lassen? Hier? Unschlüssig nahm sie ihre bebenden Hände aus Nicks Haar. Doch Cassies Überlegungen schienen sich auf ihrem Gesicht abgezeichnet zu haben, denn Nick hielt plötzlich inne, sah sie an. Seine sonst so hellen Augen leuchteten dunkler als sonst und besaßen eine Tiefe, die Cassie nach Luft schnappen ließ. „Sobald du nein sagst, höre ich auf.“ Er lächelte. Wartete. Seine Hände schwebten bewegungslos über Cassies Blusenknöpfen. Das Mädchen lächelte ebenfalls. Sie sah Nick fest in die Augen, als ihre Finger nach dem Saum seines Pullis griffen und ihn anhoben. Mit einem Grinsen auf den Lippen hob ihr Freund die Arme und Cassie zog ihm das Kleidungsstück über den Kopf. Kaum eine Sekunde später pressten sich ihre Lippen auf seine. Cassies Hände fuhren über Nicks Rücken, erkundeten jeden Zentimeter makelloser Haut. Zeichneten die Wirbelsäule nach, die Rippen, die Schulterblätter. Irgendwie schaffte Nick es, trotz der immensen Nähe ihrer beider Körper sein Werk zu ende zu führen und Cassie die Bluse von den Schultern zu streifen. Für einen Augenblick löste sich Cassie von ihm, sah ihm in die Augen. Beobachtete fasziniert das Begehren darin. Ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. Ja, es war klug es jetzt geschehen zu lassen. Hier. Mit ihm. Sie griff ins Nicks Nacken, führte ihn zu sich, um ihn zu küssen. Dabei ließ sich Cassie nach hinten fallen und zog ihren Freund mit sich. Ein seliges Lächeln auf den Lippen und an der Schwelle des Schlafes lag Cassie neben Nick. Ihr Arm ruhte quer über dem Brustkorb des Jungen. Seine Wärme und die Hand, die noch immer sanft über ihren Rücken strich ließen Cassie an den Himmel glauben. Sie wusste, es würde nicht mehr lange dauern, bis sie der Schlaf eingeholt hätte. Schon fühlten sich ihre Gedanken wie ein Klumpen zäher Masse und ihr Körper schwebend leicht an, als Nicks Stimme sie vom Rand der verdienten Ruhe zurück riss. „Ich gehe nicht mehr zurück ins Internat.“ Fassungslos riss Cassie die Augen auf. Sie war hellwach. Okay, also erstmal: Tut mir soooooooooo leid! Das ging an alle, die sich eine Lemonszene erhofft haben. Aber ich hab so was erst einmal geschrieben und glaube dementsprechend nicht wirklich an mein Talent in diesen Dingen. Und bevor ich die schöne, romantische Story dadurch ruiniere, dachte ich, belasse ich es besser bei Andeutungen. Trotzdem hoffe ich, ihr führt die Szene, die ich so frech abgebrochen habe in eurer Fantasie zu Ende. Ihr macht das bestimmt um einiges besser als ich! Ansonsten: ich hoffe, es hat euch gefallen. Bis zum nächsten Kapitel! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)