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A complicated Lady

Das ungewöhnliche Leben der Anthea Cook (Teil 2: Antheas erste Jahre)
von

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Kapitel 1

Die milde Sonne des angehenden Sommers schickte ihre goldenen Strahlen durch den Garten von Warwicks an der Themse gelegenem Palais. Auf den weiten, grünen Rasenplätzen blühten, kunstvoll angelegt, Rosen, Tulpen und Narzissen, die Insekten summten und Betty, welche die kleine Anthea an ihren Händen vor sich herführte, spürte den trockenen Kies unter ihren dünnen, roten Lederschuhen.
 

Im vergangenen Mai hatte Tabithas Tochter ihr erstes Lebensjahr beendet. Rund einen Monat davor, am neunzehnten April, hatte Betty ihr bei den ersten Schritten geholfen.
 

Mittlerweile konnte die Kleine bereits selbständig gehen, aber auf ihren kurzen, schnellen Beinchen fiel sie häufig hin und weinte, und da Betty wusste, dass John Dudleys Wohngemach zum Schlossgarten gelegen war und Warwick das Kindergeschrei zunehmend unerträglicher fand, hatte sie beschlossen, ihren kleinen Schützling noch eine Weile zu führen, so lange, bis Antheas Gang sicherer geworden war und sie keinen Grund mehr hatte, den Vormund in seiner Ruhe zu stören.
 

Auf halbem Weg durch den blühenden Garten begegneten sie Dudleys jüngstem Sohn. Robert war in Begleitung seines älteren Bruders Ambrose, welcher sich im folgenden Herbst mit Lady Susan, einer Tochter des Hauses Sussex, verloben sollte, und damit recht zufrieden zu sein schien.
 

Als Robert der neugierig um sich blickenden Anthea ansichtig wurde, lächelte er, ging zum Erstaunen seines Bruders in die Hocke und hielt die Arme auf.

"He, kleine Annie", rief er, und als das kleine Mädchen ihn sah, wurden ihre klaren Augen noch größer und sie begann zu strahlen.
 

Betty ließ die Kleine los, und Anthea rannte, ohne ein einziges Mal zu stolpern, hinüber zu Warwicks jüngstem Sohn, der sie lachend auffing und zu sich hinaufhob.
 

Betty betrachtete die Beiden eine Weile lang und musste herzhaft lachen, als das Kind mehrmals Roberts Namen sagte und dabei vergnügt gluckste. Erheitert musste die Erzieherin daran denken, dass "Robert" das erste Wort gewesen war, welches Anthea mit ihrer kindlichen Stimme fehlerlos ausgesprochen hatte, erst danach war sie an die Reihe gekommen und zum Schluss die Zofe Liz.
 

Der fast siebzehnjährige Robert hatte seinerseits unbestritten einen Narren an Thomas' unehelicher Tochter gefressen. Jedes Mal, wenn er das Kind mit den niedlichen, kastanienfarbenen Löckchen, in die Betty liebevoll feilchenblaue Schleifen geflochten hatte, zu Gesicht bekam, hob er es auf seine Arme und lachte und scherzte mit ihm.
 

"Mylord werden einmal einen glänzenden Vater abgeben", bemerkte Betty lächelnd, während Robert ihr die Kleine zurückgab. Bei ihren Worten jedoch verdüsterte sich sein schönes, schmales Gesicht mit einem Mal, und Betty, die sich denken konnte, warum, beschloss auf dem Rückweg zum Schloss, den sie gemeinsam gingen, zu schweigen.
 

Im vergangenen Februar hatte Warwick auch für seinen jüngsten Sohn eine Ehekandidatin gefunden; nach Beendigung seines achtzehnten Lebensjahres sollte Robert mit Amy Robsart, der Tochter eines reichen und begüterten Edelmannes, verheiratet werden. Der scharfsinnigen Betty jedoch, welche Robert besser kannte als all seine übrigen Geschwister, war nicht verborgen geblieben, dass jenes langweilige, farblose Mädchen durchaus nicht den Vorstellungen des jungen Mannes entsprach.
 

Er ist gewiss bereits in eine andere verliebt, ging es ihr durch den Kopf, so gutaussehend, wie er sich entwickelt, laufen ihm die Mädchen ja in Heerscharen nach, mir würde er schließlich auch gefallen...

Und sie betrachtete bewundernd Roberts edles, von der Sonne leicht gebräuntes Profil, die schönen, schlanken Hände und das dichte, glänzende, kurz geschnittene Haar.

Er ist ein Idol, dachte sie, die Frau kann sich glücklich schätzen, in die er sich verliebt...
 

Was die junge Erzieherin nicht wusste war, dass Robert stets nur ein einziges Mädchen vor sich sah, und dieses war groß, schlank, mit langen, schmalen Händen, rötlich-blonden Locken und rehbraunen Augen von ungewöhnlicher Form. Wenn er ihr während der vergangenen Jahre begegnet war, hatte sie ihn immer bezaubernd angelächelt, aber - und das war der dunkle Punkt - er wusste genau, dass Prinzessin Elisabeth Tudor unerreichbar für ihn war. Und obgleich er schon jetzt beschlossen hatte, seiner künftigen Gemahlin ein guter Ehemann zu sein, würde diese doch nie Elisabeths Bild verdrängen können...
 

Mit jeder neuen Woche, die verstrich, lernte Anthea ein wenig mehr dazu, mit der Zeit begriff sie es, einzelne Worte zu kleinen Sätzen zu formen und ihre kurzen, hastigen Schritte wurden so sicher, dass sie eines sonnigen, heißen Tages Ende Juli allein durch die Gartenanlage des dudleyschen Palais tollen konnte, nur in ein dünnes, seidenes Kleidchen gehüllt und die winzigen Löckchen mit Perlen verflochten.
 

Betty und Pauline, eine der älteren Erzieherinnen, saßen in einiger Entfernung unter einem Kastanienbaum, unterhielten sich halblaut und beobachteten zwischendurch das Kind, welches über die Wiesen sprang und fröhlich lachte.
 

Leider fand Antheas ausgelassenes Spiel ein abruptes Ende, als der August in den September überging und es verfrüht bitterkalt im Land wurde.

An einem jener grauen, verregneten Nachmittage saß Antheas kleines Gefolge von Zofen und Erzieherinnen in den Gemächern, die man dem Kind zugewiesen hatte, und man wärmte sich gemeinsam an dem breiten, offenen Kamin.
 

Es herrschte eine beinahe erholsame Stille. Betty saß in einem Lehnstuhl und beugte sich andächtig über die lateinische Schrift eines Buches, unmittelbar neben ihr auf einem hölzernen Schemel hockte, mit einer Näharbeit beschäftigt, die etwa gleichaltrige Liz, die etwas ältere Pauline untersuchte gemeinsam mit ihrer Freundin Maud Antheas größer werdendes Repertoir an Kleidchen, Hauben, Mützen und niedlichen Hemden, und neben dem kleinen, extra für das Kind angefertigten Holzbett saß eine weitere Zofe, welche Anthea mit einem alten, französichen Lied in den Schlaf sang, wobei die leisen, dunklen Klänge ihrer Laute den Raum mit sonderbarer Wärme erfüllten.
 

Die geruhsame Stille wurde durch das Rascheln der vielen Röcke durchbrochen, die beim Knicksen auseinandergebreitet wurden, als Warwicks Gemahlin, Lady Maryan, den leichten Vorhang, welcher Wohn- und Schlafgemach trennte, mit einer raschen Bewegung zurückschob und das breite Zimmer betrat.
 

Die Gräfin Warwick war eine große, schlacksige Dame, deren hoheitsvolles Auftreten in den prunkvollen Gewändern der Dienerschaft die nötige Ehrfurcht einflößte. Und doch war ihr altes, müdes Gesicht gezeichnet von der jahrelangen Beaufsichtigung und Erziehung ihrer sieben Kinder, und als sie nun lächelnd an das Bett ihres erst einjährigen Mündels trat, musste Betty unwillkürlich daran denken, wie gut es war, dass man Antheas Erziehung in die Hände jüngerer Frauen gegeben hatte.
 

"Nun, wie geht es unserer kleinen Lady Cook?" fragte die Gräfin und beugte sich tiefer über das Holzbettchen.

Betty trat zu ihr und betrachtete liebevoll das schlafende Kind.

"Sie entwickelt sich prächtig, Mylady", flüsterte die Erzieherin, dann jedoch verließ ein leiser Seufzer ihre Lippen. "Ich fürchte sogar, ein wenig zu prächtig. Sie ist heute wieder den ganzen Tag herumgetobt, und das in diesen engen Mauern! Wirklich, Mylady, es müsste das ganze Jahr hindurch Sommer sein, ginge es nach diesem anstrengenden Kind!"
 

Lady Dudley stand eine Weile lang in Antheas Anblick versunken da, dann wandte sie sich der jungen Miss Worchester zu.

"Nun, ich denke, dann ist es kaum vorstellbar, wie ein solches Energiebündel so ruhig und friedlich daliegen kann, nicht wahr, Miss Betty?"

"In der Tat, Mylady. Mit Verlaub, ich schätze, nicht eines Eurer zahlreichen Kinder wird so wild und ungestüm gewesen sein wie diese kleine Person."

"Ach, glaubt Ihr?" Lady Dudley zog ihre dünnen Brauen hoch. "Ihr irrt Euch, Miss Worchester. Ich erinnere mich noch gut an die ersten Jahre meiner kleinen Katharina, guter Gott, was war sie für ein Teufelchen! Kaum vorstellbar, dass dieser Wirbelwind jetzt bald schon selbst Nachkommen haben wird..."

Und sie dachte ein wenig verstimmt an die Hochzeit ihrer ältesten Tochter Katharina mit dem jungen Lord Giles, dem Neffen Sir Heny Greys, welcher wiederum mit der Nichte König Heinrichs VIII. verheiratet war.
 

Katharina hatte sich, gleich ihrer jüngeren Schwester Maria, zunächst heftig gegen die Heirat gewährt, und die alte Maryan wusste, obgleich sie natürlich den Wünschen ihres Mannes Folge zu leisten hatte, dass ihre Tochter in einen anderen verliebt war.

Wenn nur John nicht immer so sehr auf diese Ehen mit hochwohlgeborenen Persönlichkeiten Wert legte, dachte die Gräfin bei sich, dann wäre alles viel einfacher...Selbst Robert muss sich ja mit einem Mädchen verheiraten, dass er erst ein einziges Mal gesehen hat und überhaupt nicht liebt...und leise seufzend sah sie das junge, hübsche Profil ihres Lieblingssohnes vor Augen.
 

Als Lady Dudley die Gemächer der kleinen Anthea verlassen hatte, bemerkte Betty, dass die Dunkelheit hereingebrochen war. Langsam ging sie zwischen den großen, silbernen Leuchtern umher und zündete die Kerzen an, während Pauline und Maud das Zimmer verließen und nur Liz und die französische Marie-Claude mit Betty bei dem schlafenden Kind verharrten.
 

Gedankenverloren setzte sich die junge Erzieherin erneut ans Feuer und starrte eine ganze Weile lang in stummer Melancholie in die züngelnden Flammen.

Obwohl sich Betty nie sonderlich mit den politischen Problemen des Landes beschäftigt hatte, war es ihrer raschen Auffassungsgabe doch nicht entgangen, dass Warwick, in dessen Haushalt sie lebte, mit der Zeit immer mehr Einfluss und Ansehen im Regentschaftsrat genoss, wohingegen der Lordprotektor zusehends unbeliebter bei den Räten und vor allem bei der Bevölkerung wurde.
 

Kein Wunder, überlegte Betty, es ist unglaublich, wie Eduard Seymour das Volk knechtet und ausbeutet, und seine Vorgehensweise mit den ihm unliebsamen Katholiken ist kaum mehr mit anzusehen...er ist ein religiöser Fanatiker, nun, dachte sie, dies ist wohl eine Tatsache, mit der wir leben müssen, aber, und eine Überlegung, welche der jungen Miss Worchester schon häufiger durch den Kopf gegangen war, meldete sich nun erneut, seit Anfang Juni war es zunehmend zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Warwick und Lord Somerset gekommen.
 

John Dudley, welcher die Mehrheit des Rates meist auf seiner Seite hatte, wurde nach und nach Führer einer Gegenopposition...großer Gott, dachte Betty, wenn das so weitergeht, und wenn sich auch die Aufstände im Inland häufen, muss über kurz oder lang mit einem Sturz des Protektors gerechnet werden, und dann...dann wird Warwick nach dem König der mächtigste Mann im Staat sein, und da König Eduard noch minderjährig ist, wird es ihm nicht schwer fallen, sich als dessen Vormund aller seiner Privilegien zu bemächtigen...
 

Und bei diesem Gedanken wurde Betty von einer unerklärlichen Angst vor dem Herrn ergriffen, dem sie diente, er ist die Nettigkeit in Person, ging es ihr durch den Kopf, aber hinter dieser freundlichen Fassade verbirgt sich eiskalt berechnende Grausamkeit...

Abermals schoss es ihr durch den Kopf, dass Anthea in ihren späteren Jahren nicht eben Gutes von ihrem Vormund zu erwarten haben würde.
 

Doch Antheas Gedanken galten viel eher John Dudleys jüngstem Sohn als dem strengen, traditionsbewussten Grafen selbst.
 

Ihm galt der Blick ihrer großen, runden Kinderaugen, wenn Betty sie an der dudleyschen Tafel in ihren Hochstuhl setzte und mit dem eigens für sie zubereiteten Brei aus Milch und Hafer fütterte, ihm galt ihr ständig währendes, schelmisches Lachen, wenn er sie in den Gängen des Palais' auffing und auf die Arme hob, und ihm galten auch die neuen Worte und Sätze, die sie lernte.
 

Betty und die übrigen Kinderfrauen amüsierten sich jedes Mal köstlich, wenn Robert mit der Kleinen vor dem großen Kamin in der Halle saß und mit Bauklötzen spielte. Und als er ihr in der Advendszeit aus einem großen Buch mit Weihnachtsgeschichten vorlas, wobei es der Kleinen wundersamerweise für mehrere Stunden gelang, ruhig auf seinem Schoß zu sitzen, gluckste Liz in Bettys Ohr:

"Unsere kleine Lady Cook hat sich doch tatsächlich in Lord Robert verliebt!"

Betty, ebenfalls kichernd, tat die Bemerkung mit einer Handbewegung ab.

"Kindereien, Liz, der junge Dudley sollte sich um seine angehende Karriere bei Hofe bemühen, anstatt einem einjährigen Mädchen Geschichten vorzulesen, die es ohnehin noch nicht versteht!"
 

Im Oktober des Jahres 1549 war es in ganz England zu schweren, innenpolitischen Unruhen gekommen, Aufstände gegen die herrschende Klasse waren ausgebrochen und gewaltsam niedergeschlagen worden, wobei John Dudley, Herzog von Warwick, sich besondere Verdienste erworben hatte.
 

Jene Unruhen trugen in den darauffolgenden Monaten entschieden zum Sturz des Lordprotektors bei, und die Ratsmitglieder wechselten nacheinander zu Warwicks Partei über.
 

Noch gegen Ende Oktober wurden der gute Herzog von Somerset, William Cecil und einige Andere im Tower inhaftiert, im Februar 1550 entließ man sie, legte ihnen jedoch Geldbußen auf. Im Frühling wurde der Lordprotektor wieder in den Rat aufgenommen, erhielt einen Teil seiner Besitzungen zurück, und im Sommer schlossen er und Warwick Frieden und besiegelten diesen durch eine Heirat: Am 3. Juni ehelichte Warwicks zweitältester Sohn John des Protektors Tochter Anna.
 

Trotz der Aussöhnung mit Seymour blieb es eine unbestrittene Tatsache, dass Warwick zu Beginn des Sommers 1550 der mächtigste Mann im Staat war, allerdings ohne den Namen des Lordprotektors angenommen zu haben.
 

Im Frühjahr hatten Roberts heitere Vergnügungen mit Thomas Seymours kleiner Tochter ein Ende, denn im März verlobte er sich, auf die strenge Anweisung seines Vaters hin, mit Sir James Robsarts Tochter Amy, welche er im folgenden Juni heiratete. Kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag ernannte ihn der König zum ersten Kammerherrn und übertrug ihm außerdem das Amt des Oberhofjägermeisters, was ihn besonders erfreute, da die Jagd eines seiner liebsten Vergnügungen war.
 

Von diesem Zeitpunkt an verbrachten Robert und seine Brüder ihre meiste Zeit bei Hofe, während Betty in Dudleys Palais an der Themse nach wie vor mit der Erziehung der kleinen Anthea beschäftigt war.
 

Am 13. August des Jahres 1550 saß die junge Miss Worchester mit ihrem kleinen Schützling in der schwarzen Kutsche des Grafen, welche Richtung Enfield Court fuhr. Ihr gegenüber hatte sich die Zofe Liz in die dunklen Polster zurückgelehnt und schlief.
 

Liz hatte die Anweisung, Betty und das Kind nach Enfield Court zu begleiten, da sie lange Zeit in jenem Schloss gearbeitet hatte und sich gut auskannte.
 

Auch ihren Landsitz hatte Tabitha Cook vor ihrem Tod Warwick vermacht, und im vergangenen Herbst hatten Ambrose Dudley und seine Gemahlin dort ihre Flitterwochen verbracht.
 

Sie waren recht früh am Morgen losgefahren, sodass die brennende Mittagssonne hoch am Himmel stand, als das dunkle Gefährt durch den Torbogen in den äußeren Hof des Schlosses rollte. Betty stieß Liz vorsichtig an, und die Zofe, welche einen sehr leichten Schlaf besaß, erwachte sofort.

"Wir sind da, Liz, du musst aussteigen und dich darum kümmern, dass man uns empfängt."

Liz nickte. Sie verließ das Innere der Kutsche unmittelbar hinter Betty, welche die verwirrt um sich blickende Anthea auf dem Arm hielt, und lief hinüber in den inneren Hof, um der draußen beschäftigten Dienerschaft zu signalisieren, dass die kleine Lady Cook angekommen sei.
 

Der kleine, etwas untersetzte Mr. Eke, der seit gut einem halben Jahr neben ein paar anderen in den Stallungen arbeitete (der alte Jeff war wenige Monate nach seiner Herrin gestorben) runzelte die Stirn, als er die in Zofentracht gekleidete junge Frau erblickte.
 

"Lady Anthea Cook?" fragte er verwundert. "Aber Lady Cook...nun ja, Lady Cook ist doch..."

Liz sah ihn überrascht an.

"Wisst Ihr's denn nicht? Die ehemalige Besitzerin dieses Schlosses hat gut ein Jahr vor ihrem Tod einer unehelichen Tochter das Leben geschenkt. Lady Anthea ist das Mündel seiner Gnaden, des Herzogs von Warwick."

Bei der Erwähnung des Grafen schwand Mr. Ekes leicht dümmlicher Blick und ein Ausdruck vollkommener Ehrfurcht trat in sein rundes Gesicht mit der dicken Nase.

"Mylord Dudleys Mündel, sagt Ihr? Nun, dann ist es natürlich etwas anderes. Ich werde mich sofort darum kümmern, dass die Pferde anständig versorgt und Eure Kutsche untergebracht wird, Miss...sagt, wie heißt Ihr überhaupt?"

"Ich bin Miss Elizabeth Thornton, ich habe der seligen Lady Tabitha bis zu ihrem Tod als Kammerzofe gedient."

"Miss Thornton? Ach, dann seid Ihr wohl Liz!" Mr. Eke betrachtete sie interessiert. "Mrs. Simons hat schon so viel von Euch erzählt!"
 

Liz riss vor Verwunderung ihre feilchenblauen Augen auf.

"Mrs. Simons?! Mit Verlaub, ich kenne nur einen Mr. Simons."

Eke kicherte.

"Achso, ja richtig...Ihr werdet sie wahrscheinlich noch als Miss Heather kennen. Der werte Colin hat sie letzten Sommer endlich geheiratet...wurde auch höchste Zeit, schließlich war Eure Freundin damals bereits schwanger."

Es dauerte eine ganze Weile, bis Liz sich gefasst hatte.

"Soll das...soll das etwa heißen, dass Heather...dass Heather ein Kind bekommen hat?"

"Mrs. Simons, mit Verlaub. Ja, sie hat am 28. Dezember ihren kleinen Amyas zur Welt gebracht...ein seltener Name für einen englischen Jungen, findet Ihr nicht auch? Klingt eher nach einem Schotten...nun ja, und mittlerweile erwartet sie schon ihr zweites Kind."
 

"Gütiger Gott...lebt sie denn noch immer hier in Enfield Court?"

"Ja, sie arbeitet nach wie vor hier und kümmert sich mit den anderen Dienern und Mägden um die Instandhaltung der Räume. Sie meint auch, dass dies der beste Platz für ihre Kinder sei, frei und unbeschwert aufzuwachsen...leider hat ihr Mann kaum Zeit für sie, Colin lebt inzwischen fast ausschließlich am Hofe und verrichtet Botendienste für seine Majestät." Und dabei klang ein stolzer Unterton in Ekes nasaler Stimme mit, der Liz signalisierte, dass der Stallbursche mit Tabithas ehemaligem Boten eng befreundet sein musste.

"Nun dann...habt vielen Dank für all Eure Auskünfte.Leider müssen wir Lady Anthea noch heute zurück nach London bringen. Ich hätte so gern einmal wieder eine Nacht im vertrauten Heim verbracht, und es wäre so schön gewesen, Betty alles zu zeigen...sagt mir, ist es möglich, dass ich mit Heather ein paar Worte wechseln kann?"

"Selbstverständlich, Miss Thornton. Um diese Tageszeit kümmert sie sich meistens um ihren Sohn, aber sie wird gewiss später nach unten kommen, und dann werdet Ihr sie ohnehin treffen."
 

Erneut ließ er einen flüchtigen Blick zu dem eisernen Tor schweifen, unter welchem Betty soeben hindurchschritt. Sie wies mit der einen Hand über den großen Innenhof, während ihr anderer Arm Anthea an ihren Oberkörper drückte, und sprach halblaut mit dem vor sich hinplappernden Kind.
 

"Ihr seid wohl gekommen, um Lady Cooks Grab zu besuchen...?" erkundigte er sich rasch bei Liz, welche eben im Begriff war, sich abzuwenden.

"Ja, weshalb auch sonst? Ich nehme an, man hat es mittlerweile bepflanzt?"

Eke nickte.

"Gewiss, Miss Thornton. Lady Tabithas Grabstätte liegt direkt neben denen von Mr. Jeff und Miss Johnes."
 

Während sie Betty über einen Kiesweg in den Schlossgarten führte, war sie kaum fähig, ein Wort zu sprechen. Mr. Ekes letzte Worte hatten wie eine Lähmung auf sie gewirkt.
 

Wenn sie sich auf der Reise nach Enfield Court auf irgend etwas gefreut hatte, dann war es Cathys Reaktion gewesen, wenn diese die hübsche, kleine Anthea auf ihren kurzen Beinen zu Gesicht bekam.
 

Die Erkenntnis, dass Tabithas alte Erzieherin nicht mehr lebte, traf sie wie ein schwerer Schlag, als sie das mit Rosen, vereinzelten Narzissen und weißen und dunklen Lilien bepflanzte Grab sah.

Und dabei ging es ihr doch noch so gut, als ich Enfield Court damals mit Anthea verließ, dachte sie...
 

Es war jetzt eineinhalb Jahre her, dass sie das Kind nach London gebracht hatte. Im vergangenen Januar war Tabithas erster Todestag gewesen...

"Ach, kleine Anthea", sagte sie leise und ging in die Hocke, um mit dem Kind auf gleicher Höhe zu sein. "Wenn du doch nur wüsstest..."

Eine Weile lang standen sie andächtig an den drei Gräbern, betrachteten die Inschriften auf den hölzernen Kreuzen und lauschten dem Gesang der Vögel und dem Summen der Insekten über ihnen.
 

Schließlich hob Betty Anthea auf ihre Arme und sagte zu Liz:

"Komm, lass uns ins Innere des Schlosses gehen. Man wird uns dort sicher bewirten, außerdem vergehe ich hier draußen vor Hitze..."

"Du hast Recht", erwiderte Liz auf dem Rückweg, während sie langsam aus ihrer Lethargie erwachte und wieder einen klaren Kopf bekam. "Es kommt mir so vor, als sei dies der bisher heißeste Tag dieses Jahres."
 

Im Speisesaal des Schlosses brachte man ihnen kaltes Bier, Käse, Brot und Milch für Anthea, während das kleine Mädchen neugierig in dem großen Raum umherlief und schelmisch lachte.
 

"Anthea, Kleines, komm her und lass dich auf den Schoß nehmen, bevor du wieder irgend welchen Unsinn anstellst!" rief Betty und streckte ihre langen Arme in Richtung des Kindes aus.

Anthea war bei einem der wuchtigen Gemälde von ihrem Großvater mütterlicherseits stehen geblieben.

Glucksend drehte sie sich zu ihrer Erzieherin um, legte ihren dunklen Lockenkopf schief und steckte den Daumen in den Mund.

"Nun komm doch, Kind, komm zu mir!"

Die Kleine kicherte und schüttelte den Kopf.

"Nein." sagte sie laut und deutlich. "Nein, nein, nein..." Und lachend hüpfte sie durch den kühlen Saal. "Anthea hier bleiben, Anthea hier bleiben..." wiederholte sie immer wieder, so lange, bis Liz in lautes Lachen ausbrach und Betty resigniert den Kopf schüttelte.

"Der Himmel weiß, wohin das noch führt mit diesem schrecklichen Kobold!" seufzte sie, aber in ihren Augen lag unendliche Zuneigung und sie lächelte nachsichtig.
 

Wenig später betrat Heather langsamen Schrittes den Saal. Man sah noch nicht viel von ihrer Schwangerschaft, ihr schmaler Unterleib war erst leicht gewölbt.

Beim Anblick der niedlichen Anthea brach die Dienerin in Rufe des Entzückens aus.

"Bei meiner Seel', was ist sie für ein liebes, kleines Geschöpf geworden!"

"Wenn du dich mit dem lieben Geschöpf mal nicht täuschst...," sagte Liz, immer noch leise lachend. "Die Kleine ist ein Teufelsbraten par excelence, mir kommt es beinahe vor, als sei sie ein Trollkind!"

"So?" Heather hob die Brauen. "Ach, bei diesen Augen wird man ihr in Warwicks Haushalt mit Sicherheit Vieles vergeben, oder nicht?"

Betty winkte ab.

"Natürlich, natürlich..."
 

"Bei Gott, ihre selige Ladyschaft hätte gewiss ihre wahre Freude an ihrer kleinen Tochter gehabt."

Bei Heathers Worten verdüsterten sich Liz' spitze Gesichtszüge.

"Das arme, kleine Ding...so ganz ohne Mutter und Vater aufwachsen zu müssen...ich weiß nicht, was diese Gewissheit ausmacht, Heather, aber ich glaube, dass jener Umstand dem Kind eines Tages Schwierigkeiten bereiten wird."

Heather runzelte nachdenklich die Stirn, während sich Betty schweigend über ihren Teller beugte und Anthea auf ihrem Schoß fütterte.

"Schwierigkeiten? Nun, es kommt ganz darauf an, wie die Kleine sich entwickelt...bedenke, auch ihre Gnaden, Prinzessin Elisabeth, ist fast gänzlich ohne Eltern aufgewachsen, und meines Wissens nach ist sie ein sehr kluges und beherrschtes Mädchen, bei der Seymour-Affäre hat sie gezeigt, aus welchem Holz sie geschnitzt ist..."
 

"Das mag sein, aber man muss auch bedenken, dass die Prinzessin bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr noch einen Vater hatte, den sie zwar nicht häufig sah, der ihr aber immerhin ein gewisses autoritätsbewusstsein verlieh, sie wusste, dass es da jemanden gab, vor dem sie Ehrfurcht haben musste... außerdem bin ich persönlich der Ansicht, dass, wenn Heinrich VIII. noch länger gelebt hätte, die junge Elisabeth jetzt vielleicht von anderen, schöneren Erinnerungen geprägt wäre als der unglücklichen Romanze mit einem Landesverräter und monatelangen Verhören, bei denen sie um ihr eigenes Leben bangen musste..."
 

"Du meinst, seine Majestät hätte die zweitälteste Tochter besser im Auge gehabt, sodass so etwas nicht passiert wäre?"

"Ja, genau das wollte ich damit sagen. Siehst du, und unserer kleinen Anthea fehlen jetzt schon sowohl Vater als auch Mutter...ich frage mich, zu welchen Tollheiten sie sich wird hinreißen lassen, wenn sie aus dem Kindesalter herauskommt..."

Heather zerkrümelte lachend etwas Brot auf ihrem Holzteller.

"Ach Gott, Liz, du verleihst der Situation eine Tragik, die sie nicht verdient! Anthea ist erst etwas über zwei Jahre, man sollte in Ruhe abwarten, wie die Kleine sich entwickelt. Sollten später tatsächlich Probleme auftauchen, kann immer noch abgewogen werden, was zu tun ist...wir müssen uns schließlich und endlich ins Gedächtnis rufen, dass Anthea nur die illegitime Tochter eines Adligen und einer Bürgerlichen ist, die man geadelt hat, und nicht die Tochter eines Königs, die von machtgierigen Politikern für deren persönliche Interessen missbraucht werden kann."
 

Liz betrachtete eine Weile lang das schmatzende und plappernde Kind auf Bettys Schoß, ließ ihren Blick über den verschmierten Mund und die großen, unschuldigen Augen wandern und konstatierte, dass Heather Recht hatte.

Sie plauderten noch eine lange Zeit über dieses und jenes, Liz fragte die Freundin über ihre erste Geburt aus und erkundigte sich, ob ihr Sohn gesund sei, schließlich mischte sich auch Betty in das Gespräch ein, und so war es bereits spät am Abend, dämmerte schon fast, als die schwarze Kutsche des Grafen den Hof von Enfield Court verließ.
 

Auf der Rückfahrt zum dudleyschen Palais schlief Anthea in den Armen ihrer Kinderfrau ein, und Betty starrte nachdenklich aus dem Kutschenfenster, dachte an das Gespräch, welches Liz und Heather beim Essen geführt hatten und wünschte ihrem kleinen Schützling von ganzem Herzen Glück für die Zukunft.



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