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STARRE

von

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Das Geständnis

Ich lag an diesem Nachmittag noch sehr lange wach und kann gar nicht genau sagen, wann ich eingeschlafen war. Bis heute frage ich mich, wie ich in der Situation überhaupt schlafen konnte, es muss wohl an der Erschöpfung gelegen haben. Als ich später aufwachte, war Marcus nicht mehr neben mir im Bett. Ich schaute mich hastig um und er war nirgends zu sehen. Ich bekam große Panik und rannte aus dem Zimmer. Als ich im Eingangsbereich des Bordells angekommen war, traf ich auf Monika. Sie bemerkte meine Anspannung, kam direkt zu mir rübergelaufen und fragte, was los sei. Ich war völlig außer Atem und bekam nur die Worte „Wo ist Marcus?“ heraus. Dann hielt sie mich an der Schulter und sagte mit einer beruhigenden Stimme: „Mach dir keine Sorgen, Marcus ist noch hier, er ist nur bei Herr Metz im Büro. Geh erstmal wieder hoch und mach dich ein bisschen frisch, danach können wir dann hier gemeinsam auf ihn warten". Ich nickte verstehend und ging wieder nach oben.
 

Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen Marcus und Herrn Metz in die Eingangshalle. Marcus sah völlig fertig aus, er hatte dicke Augenränder und seine Haut war leichenblass. „Ich werde mich jetzt stellen“, sagte Marcus nachdenklich. Weil ich selber nicht wusste, was das richtige war, nickte ich ihm einfach nur zu. Herr Metz klopfte ihm auf die Schulter, um ihm ein bisschen Mut zu machen. Dann verließen wir drei das Bordell und liefen zu dem Mercedes von Herr Metz.
 

Ich wunderte mich, dass Marcus sich nicht auf den Beifahrersitz gesetzt hatte, sondern mit mir auf die Rückbank. Dann nahm er meine Hand und ich verstand, dass er bei mir sein wollte und vermutlich auch große Angst hatte. Als wir schon eine Weile unterwegs waren, holte Marcus das Messer aus der Jackentasche und hielt es mir hin. Das Holz am Griff war stellenweise dunkler gefärbt und bei dem Gedanken, woher die Färbung kam, wurde mir sehr unwohl. Dann sagte Marcus: „Ich möchte, dass du für mich auf das Messer aufpasst. Die Polizei würde es direkt konfiszieren und dann würde ich es nie wieder sehen. Aber das ist nicht der einzige Grund. Ich weiß das dies nicht gerade der beste Gegenstand dafür ist, aber es ist das einzige persönliche, das ich gerade bei mir trage und ich möchte es dir geben, damit du dich immer an mich erinnerst. Ich weiß nicht, was gleich passieren wird, aber ich werde vermutlich für eine sehr lange Zeit weg sein“. Ich bedankte mich bei ihm und versprach ihm, gut auf das Messer aufzupassen. Anschließend fuhr er fort: "Weißt du, es tut mir leid, dass ich diese Entscheidung alleine getroffen habe, aber es wäre einfach inakzeptabel, wenn die Grundlage unseres gemeinsamen Lebens, ein Leben auf der Flucht wäre. Du musst wissen, ich liebe dich wirklich über alles und falls du bereit bist, auf mich zu warten, werde ich für immer bei dir bleiben“. Anstatt mit Worten zu antworten, gab ich ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Marcus schaffte es für einen kurzen Moment zu lächeln, doch dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder von Sorgen geplagt. Dann bemerkte ich, dass Herr Metz das Auto parkte. Waren wir etwa schon da? So schnell? War das wirklich die letzte Zeit, die ich mit Marcus hatte? Doch bevor ich mich versah, waren wir auch schon ausgestiegen und gingen Richtung Polizeiwache. Als wir vor dem Gebäude standen, packte Herr Metz Marcus an der Schulter und gab ihm folgende Worte mit auf den Weg: „Mein Junge, was du gerade machst, ist sehr mutig. Wir sind zwar streng genommen noch fremde, aber ich bin dennoch stolz auf dich. Weißt du, du bist noch viel zu jung, um dein Leben auf der Flucht zu verbringen und wenn du irgendwann mal eine große Zukunft anstreben solltest, ist es wirklich besser, das jetzt ein für alle Mal zu klären. Und mach dir keine Sorgen, ich werde mein Versprechen halten und mit deinem Maß an Courage, hast du auch nichts anderes verdient“. Marcus lief eine Träne über die Wange. Dann wischte er sie weg, bedankte sich bei Herr Metz und schüttelte ihm die Hand. Dabei hatte er einen entschlossenen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Herr Metz verabschiedete sich von Marcus und sagte zu mir, dass er im Auto auf mich warten würde, weil er mit der Polizei nicht so gut zurechtkam.
 

Marcus und ich liefen Händchen haltend in die Polizeistation. Dabei drückte er sehr fest meine Hand. Seine Hand war stark verschwitzt und leicht am Zittern. Ich konnte mir nur ansatzweise vorstellen, wie es ihm gerade ging. Doch das einzige, was ich gerade machen konnte, war seine Hand zu halten. Drinnen angekommen, gingen wir direkt zur Anmeldung. Hinter der Glasscheibe saß ein hübsches Mädchen. Sie war vermutlich Mitte zwanzig, hatte blonde Haare zu einem Zopf gebunden und trug eine Polizeiuniform. Sie fragte, was unser Anliegen sei und Marcus antwortete mit erstickter Stimme, dass er seinen Vater umgebracht hat und sie vermutlich bereits nach ihm suchen würden. Die Beamtin wurde kreidebleich und schaute uns mit offenem Mund an. Dann verließ sie ihren Arbeitsplatz und wies uns höflich an zu warten. Kurz darauf kamen zwei männliche Polizisten mit Waffen am Holster. Man konnte merken, dass sie sehr angespannt waren und nicht so recht wussten, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Sie begrüßten uns und geleiteten Marcus dann ohne Gewalt durch die Tür neben dem Eingang, aus der sie zuvor gekommen waren.
 

Wie in Trance ging ich zurück zum Auto und Herr Metz fuhr mich nach Hause. Ich schloss die Tür auf und meine Mutter kam mir entgegen, noch bevor sie etwas sagen konnte, brach ich vor ihren Augen zusammen. Ich kniete auf dem Boden im Eingangsbereich und die Tränen liefen mir nur so herunter. Ich erzählte ihr, was passiert war und sie nahm mich fest in den Arm. Danach ging ich sofort in mein Zimmer und blieb bis zum nächsten Mittag wach im Bett liegen. Dann stand ich auf und ging ins Bad, um mich frisch zu machen. Ich schaute in den Spiegel und hatte Probleme, mich selbst zu erkennen. Ich war genauso blass wie Marcus gestern, hatte dicke Ringe unter den Augen und war total verheult. Anschließend ging ich nach unten, um etwas zu Essen, als ich hörte, wie meine Mutter an das klingelnde Telefon ging. Noch bevor ich unten angekommen war, kam meine Mutter mir entgegengerannt und sagte hastig: „Hier, nimm schnell das Telefon, es ist Marcus“.
 

Als ich Marcus Stimme hörte, musste ich direkt wieder weinen. Es war einfach nur schön, mit ihm zu reden. Wir waren zwar nicht einmal 24 Stunden getrennt, aber mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Nachdem wir uns begrüßt hatten, erzählte Marcus mir, was bisher alles passiert war. Nachdem er durch die Tür verschwunden war, wurden ihm erst einmal Handschellen angelegt. Danach ging es direkt in ein Verhörzimmer, wo Marcus genau den Tathergang und die Zeit danach schilderte. Anschließend wurde er über Nacht in eine Zelle der Wache gebracht, bis dann heute Morgen der Termin mit dem Haftrichter stattgefunden hatte. In dem Termin wurde entschieden, dass Marcus nicht freigelassen wird, was mich auch gewundert hätte, sondern bis zum richtigen Gerichtstermin in Untersuchungshaft bleiben sollte. Seitdem war nichts Spannendes mehr passiert, er wurde wieder in der Zelle untergebracht und aß zu Mittag, bis er mich dann endlich anrufen durfte. Durch die ganzen Erklärungen war unsere Telefonzeit dann leider schon vorbei, aber ich war froh, mit Marcus geredet und einen Überblick über die Situation bekommen zu haben.
 

Nach dem Telefonat ging ich in die Küche und machte mir eine Schale Müsli. Während ich die erste Schale aß, erklärte ich meinen Eltern noch mal im Detail von Marcus seiner Vorgeschichte, was in Essen alles passiert war und auch was er mir gerade am Telefon berichtet hatte. Dann machte ich mir eine zweite Schale Müsli, setzte mich an den Wohnzimmertisch und schaltete aus Gewohnheit den Fernseher ein. Als ich so durch die Programme zappte, fiel mir auf einmal der Löffel in die Milch. Marcus Bild war im Fernsehen. Ich hatte zufällig auf einen Nachrichtensender geschaltet und er wurde als der Junge präsentiert, der seinen Vater erstochen hatte...
 

Es dauerte nur wenige Tage bis Marcus Geschichte in aller Munde war. Sämtliche Nachrichtensender und auch im Internet wurde gefühlt nur über das eine Thema berichtet. Es war für mich unerträglich, sein Bild in diesem Kontext überall sehen zu müssen. Ich war einfach fertig mit den Nerven, ich konnte weder essen noch richtig schlafen. Und ganz gleich, was ich auch tat, ich konnte nur an Marcus denken. Vor unserer Tür hatten sich inzwischen auch schon Leute von der Presse breitgemacht. Was auch kein Wunder war, immerhin hatte Marcus bis vor kurzem noch hier gelebt. Wir beschlossen die Zeit auszusitzen, ließen die Rollläden im Erdgeschoss unten und meine Eltern verließen nur ab und an das Haus, um die wichtigsten Besorgungen zu machen. Mit der Presse redeten wir aber kein Wort.
 

Ich für meinen Teil verließ nie das Haus. Ich lag viel im Bett und dachte nach. Zog immer wieder das Messer, das er mir geschenkt hatte, aus der Hosentasche und schaute es mir an. Ich hütete es wie einen Schatz. Ich war so wütend auf die Presse, die Wahrheit interessierte sie gar nicht, es ging ihnen nur um Quoten. Denn eines steht fest, wenn Marcus mir nicht das Leben gerettet hätte, wäre ich jetzt nicht hier und für mich war er ein Held und nicht der kaltblütige Killer, den die Medien aus ihm machen wollten.
 

***
 

Ich war der Bezugsbetreuer von Michael und Jennifer Starre. Nach dem Verhör auf der Polizeistation machte ich mir große Vorwürfe, dass ich nicht sofort das Jugendamt angerufen hatte, als die beiden sich mit ihrem Bruder Marcus getroffen hatten. Vielleicht hätte ich so den Mord an ihren Vater verhindern können… Denn ich wusste ja, dass Marcus von zu Hause ausgerissen war und eigentlich in ein Heim gehörte. Hätte ich mich nach den Vorschriften verhalten, wäre all dies nicht passiert. Keine Ahnung, wie ich damit leben und das wiedergutmachen kann, aber es ist das Mindeste, mich möglichst gut um Michael und Jennifer zu kümmern. Die drei Kinder taten mir unendlich leid...



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