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Die Suche nach dem Korallenschloß

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Tsü-Zse, die Schöne

In einem Dorf in der Nähe des Meeres lebte ein alter Fischer mit seiner Tochter. Schon als Kind war das Mädchen von außerordentlicher Schönheit gewesen, doch als sie erwachsen war, drang der Ruhm ihrer Schönheit in alle Welt und aus dem ganzen Lande kamen die jungen Männer, um um ihre Hand anzuhalten. Man sprach sogar davon, daß der Kaiser selbst sie zu seiner Konkubine machen wollte.
 

Das Mädchen, das Tsü-Zse genannt wurde, was 'Mondkind' bedeutet (und selbst dieser Name wurde ihrer Schönheit kaum gerecht), war jedoch nicht nur schön wie der Mond, sie war auch stolz: keiner der Freier konnte ihr Herz gewinnen. Er mochte zu Fuß oder auf einem edlen Pferd daherkommen, egal, ob er in geflickte Lumpen oder in prächtige Seide gekleidet war, sie wies jeden ab. Die Schönsten würdigte sie keines Blickes, die Wortgewandtesten stießen bei ihr auf taube Ohren und auch jene, die sie durch ihre Klugheit und Geschicklichkeit zu beeindrucken suchten, beachtete sie nicht.
 

Einem jeden, der in das kleine Dorf in der Nähe des Meeres kam, um Tsü-Zse's Gunst zu erlangen, stellte sie drei Aufgaben, doch jedermann verzweifelte daran, denn es schien ihnen unmöglich, sie zu lösen, und bald sprach sich herum, was die stolze Schöne von denjenigen forderte, die sie zur Gattin begehrten:
 

- die erste Aufgabe war, zwanzig armlange Schwanzfedern von den großen Möwen zu holen, die in Scharen über Menschen und Pferde herzufallen pflegten,

- die zweite Aufgabe war, in den ertraglosen Muschelbänken vor der Küste zwanzig kirschgroße, makellose Perlen zu finden und

- die dritte Aufgabe war, zwanzig goldene Schuppen von dem Haupt eines Drachens zu bringen.
 

Keiner der vielen hundert Freier hatte es bisher fertiggebracht, auch nur eine der Aufgaben zur Zufriedenheit Tsü-Zse's zu lösen. Viele versuchten ihr Glück mit Hilfe von allerlei Zaubersprüchen, die sie sich für viel Geld von Zauberern hatten beibringen lassen, die aus dem Verlangen der Jünglinge nach Tsü-Zse ihr Kapital schlugen. Andere versuchten, die schöne Stolze zu täuschen, indem sie in der Residenzstadt lange Möwenfedern und ebenso kirschgroße Perlen kauften und sich von Goldschmieden 'Drachenschuppen' anfertigen ließen, doch Tsü-Zse durchschaute jeden Schwindel, und der einzige Lohn dieser Männer war der Spott ihrer noch nicht geprüften Rivalen, die ihre eigene Vorgehensweise für die klügere hielten.
 

*
 

An einem regnerischen Tag kam ein sehr vornehm gekleideter junger Mann des Weges und fragte den alten Fischer, der vor der Tür seiner Hütte, unter deren vorspringendem Dach im Trockenen saß und ein Netz flickte (selbst fuhr der Alte nicht mehr aufs Meer hinaus, aber mit solcher Arbeit verdiente er sich das tägliche Brot für seine stolze Tochter und sich selbst), nach der nächsten Herberge.
 

"Oh, Herr, die ist noch weit und bei diesem Wetter sollte niemand unterwegs sein. Die Straße ist kaum mehr als eine große Schlammpfütze und Ihr habt kein Reittier. Kommt herein, trocknet Eure nassen Sachen an meinem Feuer und trinkt eine Schale Tee. Ihr könnt hier essen und zur Nacht wird Euch ein bequemes Lager bereitet", sagte da der Alte, legte seine Arbeit aus der Hand und öffnete, sich tief verneigend, weit die Tür seiner kleinen Hütte, in der er mit seiner Tochter lebte.
 

Da in der Residenzstadt gerade die Neujahrsfeierlichkeiten begangen wurden, waren zur Zeit keine Freier in dem kleinen Dorf, die sich um Tsü-Zse's Gunst bemühten, und so war auch die kleine Hütte, bis auf die Schlafstätten von Vater und Tochter, den offenen Herd und den schon etwas wackeligen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, leer. An anderen Tagen stapelten sich auf diesem Tisch und auf den einfach gezimmerten Hockern die Geschenke der von weit her angereisten Heiratslustigen, die ihr Glück bei Tsü-Zse versuchen wollten, und überall standen Diener mit randvoll gefüllten Kästen und Körben. Heute jedoch war allein Tsü-Zse in der Hütte, sie saß am Feuer und bereitete das Essen für ihren Vater, und eine fette Katze räkelte sich dicht neben dem Steinblock, auf dem eine große Kanne Tee warmgehalten wurde.
 

Als Tsü-Zse hörte, daß die Hüttentür geöffnet wurde, drehte sie sich um und erblickte den jungen Mann, und der junge Mann erblickte Tsü-Zse und war bezaubert von ihrer Anmut, trotz ihrer offensichtlichen Armut. Der alte Fischer führte seinen Gast an den Tisch, nahm ihm den nassen Mantel und die Stiefel ab, die er zum Trocknen in die Nähe des Feuers brachte, dann bot er dem jungen Mann eine große Schale Tee an, während er selbst mit einer wesentlich geringeren Menge vorlieb nahm. Und als der vornehme Gast seine Hände an der Teeschale wärmte und, Schlückchen für Schlückchen das heiße Getränk schlürfend, über den Rand des Gefäßes jede Bewegung der schönen stolzen Tochter des alten Fischers verfolgte, sagte dieser:
 

"Mein Herr, das ist meine Tochter Tsü-Zse. Im ganzen Land wird sie für ihre Schönheit gerühmt, doch sie ist so stolz, daß keiner ihr als Gatte genügt, nicht einmal die Edelsten der Residenzstadt und die Fürstensöhne fremder Länder. Sie hat geschworen, daß sie erst dann einem Mann als Gattin folgen wird, wenn dieser die drei Aufgaben gelöst hat, die sie jedem Bewerber stellt... doch wann wird das geschehen? Und da ihr Stolz auch nicht zuläßt, die Geschenke der abgewiesenen Freier anzunehmen, leben wir bis dahin im Elend, wo sie doch Konkubine des Kaisers sein könnte... und stellt Euch vor, ein Bettler, ein Tagedieb, löst die Aufgaben, dann ist es einer mehr, den ich mit meiner alten Hände Arbeit versorgen muß." Dann sah der Alte seinen vornehmen Gast aufmerksam an und dachte bei sich: 'Seine Gewänder sind außerordentlich prunkvoll, sein Aussehen makellos und seine Manieren tadellos. Sicher ist er der Sohn einer wichtigen Persönlichkeit', und er sagte zu dem jungen Mann: "Ihr würdet mir als Schwiegersohn gefallen, denn ganz offensichtlich seid Ihr aus einer wohlhabenden Familie und Eure gute Erziehung zeigt sich darin, daß Ihr ohne Murren und ohne ein Anzeichen von Langeweile mein langes Lamentieren ertragen habt."
 

Da lachte der junge Mann fröhlich. "Ihr langweilt mich keineswegs, alter Mann. Ich höre mit Wohlgefallen, daß ich in Euren Augen Eurer Tochter würdig bin, denn ich bin bezaubert von ihrer unvergleichlichen Schönheit, neben der der Schein des vollen Mondes verblaßt. Nichts wäre mir lieber, als sie als meine Gemahlin in das Haus meiner Eltern zu führen und Euch als meinen Schwiegervater reich zu beschenken." Und dann fragte er Tsü-Zse: "Was sind das für Aufgaben, die Ihr den Männern zu stellen pflegt, die Euch für sich gewinnen wollen?"
 

Da kam Tsü-Zse mit dem Essen vom Herd zum Tisch herüber und sagte mit stolz erhobenem Kopf: "Als erstes bringt mir zwanzig armlange Schwanzfedern von den großen silbernen Möwen, die in den Klippen hausen. Als zweites bringt mir zwanzig kirschgroße Perlen von den Muschelbänken vor der Küste, und als drittes bringt mir zwanzig goldene Schuppen von dem Haupt eines Drachens. Und denkt daran: nicht mein Vater bestimmt, wer mich zur Frau nimmt, sondern ich allein, und ich sage: nur wer diese drei Aufgaben zu meiner vollen Zufriedenheit löst, wird mein Gemahl."
 

Der junge Mann grinste breit und sagte: "Wenn das alles ist, was Ihr fordert, warum seid Ihr dann nicht längst verheiratet? Morgen früh werde ich Euch das Gewünschte bringen."
 

* * *
 

Der vornehme Gast

Dem vornehmen Gast hatte man das Bett des Alten bereitet, während dieser sich mit einer in einer Ecke der Hütte aufgespannten Hängematte bescheidete. Früh am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne richtig aufgegangen war, stand der Gast schon am Brunnen und wusch sich. Tsü-Zse beobachtete ihn heimlich, als sie die Hühner fütterte und sah, daß er von angenehmer Gestalt war.
 

Nachdem er seine vornehmen Gewänder wieder angelegt und als Frühstück eine Schale Tee geleert hatte, machte der junge Mann sich auf zu den Klippen, in deren Spalten die großen silbernen Möwen hausten. Tsü-Zse folgte ihm, um zu überprüfen, ob bei der Lösung der drei Aufgaben auch alles seine Richtigkeit hatte, und so kamen sie am Meer an.
 

Sie standen auf einer der weit überhängenden Klippen, unter der, tief unten, die Wogen des Meeres rauschten. Der junge Mann gab sein kostbar besticktes Obergewand und seine aufwendig verzierten Stiefel in Tsü-Zse's Obhut, um sie nicht zu beschmutzen, dann kletterte er über den Rand nach unten und Tsü-Zse hörte das Kreischen der gestörten Vögel. Sie kniete sich auf den Boden und beugte sich über den Rand, um alle Vorgänge genau verfolgen zu können und sah, wie der junge Mann sich allein mit seinen nackten Zehen in die Spalten des Felsens gekrallt hatte und mit einer Hand die Beine einer der großen, wilden Möwen ergriff, um ihr mit einem Ruck die längste ihrer Schwanzfedern auszureißen. Die steckte er quer in den Mund und ergriff sogleich den zweiten Vogel, mit dem er ebenso verfuhr, wie auch mit achtzehn anderen, während er den überhängenden Felsen immer weiter nach unten kletterte, um an weitere Vögel heranzukommen, die vor ihm, durch das Geschrei ihrer Artgenossen gewarnt, zu fliehen suchten.
 

Schon oft hatte einer der Freier es fertiggebracht, die Möwen ihrer Schwanzfedern zu berauben, doch stets hatten sich die Vögel so energisch zur Wehr gesetzt, daß die Jünglinge schließlich arg zerschunden wieder über den Rand der Klippe zurückgeklettert kamen. Der vornehme junge Mann jedoch wies nicht einen einzigen Kratzer auf, als er Tsü-Zse die exakt gleichlangen Federn, eine jede so lang wie Tsü-Zse's Arm, überreichte. Nur sein Untergewand war von dem Dreck der Möwen, die schon seit Menschengedenken in den Höhlungen und Ritzen der Klippen lebten, etwas beschmutzt.
 

"Habe ich die Aufgabe zu Eurer Zufriedenheit gelöst?" fragte der junge Mann und erbat sich sein Übergewand zurück, nachdem er mit der Hand die gröbsten Verunreinigungen von seiner Unterkleidung abgebürstet hatte. Und Tsü-Zse mußte es widerwillig bejahen, denn alle Federn waren armlang und von der makellos silbernen Farbe, die das ganze Gefieder der großen Möwen aufwies.
 

Nachdem die erste Aufgabe also gelöst war, ging der junge Mann, wieder gefolgt von Tsü-Zse, hinunter zum Strand, an die Stelle, von der man die nahen Muschelbänke gut sehen konnte und einige Boote im Sand lagen. Eines davon ließ der junge Mann zu Wasser, dann ruderten er und Tsü-Zse hinaus zu den Muschelbänken, damit er die zweite Aufgabe lösen konnte.
 

Immer wieder sah der junge Mann in das klare Wasser, indem er die Hand als Sonnenschutz über die Augen hielt, hinunter auf die Muschelbänke, die nur magere Ernte versprachen. Einige Familien des Dorfes, in dem Tsü-Zse zu Hause war, versuchten, vom Ertrag dieser Muschelbänke zu leben, doch sie blieben arm und Perlen hatte man hier so gut wie nie gefunden. Die Perlenfischerei brachte nur wesentlich weiter im Süden einen dem Unterhalt der Muschelbänke angemessenen Gewinn.
 

Schließlich ließ der junge Mann seine Oberkleidung und diesmal auch seine Unterkleidung, bis auf sein seidenes Lendentuch, in Tsü-Zse's Obhut und glitt ins Wasser. Tsü-Zse sah, wie er zielstrebig weit nach unten, bis fast zum Meeresgrund tauchte, der, so nah an der Küste, erstaunlich tief lag. Mit bloßen Händen brach der junge Mann dort unten eine Muschel ab, kehrte mit ihr wieder an die Oberfläche zurück und schwamm neben das Boot, das Tsü-Zse gekonnt auf der Stelle hielt (nicht umsonst war sie die Tochter eines Fischers und seit frühester Kindheit im Umgang mit Booten erfahren). Der junge Mann zeigte der Schönen die große Muschel, dann brach er sie ohne sichtbare Schwierigkeiten mit seinen Fingern auf und reichte Tsü-Zse eine makellose, rosafarbene Perle, die so groß wie eine reife Kirsche war. Noch bevor die Stolze ihrem Erstaunen Ausdruck geben konnte, war der junge Mann jedoch schon wieder unter Wasser verschwunden und tauchte kurz darauf mit einer weiteren Muschel auf, die er auf die gleiche Weise öffnete und diesmal eine makellose schwarze Perle von Kirschgröße zum Vorschein brachte.
 

Jeder Tauchgang brachte ein weiteres Kleinod zutage, und fast fassungslos darüber, daß jemand hier tatsächlich auch nur eine einzige Perle finden konnte, starrte Tsü-Zse die immer größer werdende Perlenmenge an, die sie in dem feinen Seidenhemd des jungen Mannes auf ihrem Schoß sammelte. Bei jedem Tauchgang blieb der junge Mann jedoch länger unten, tauchte tiefer und schwamm weiter, um weitere Perlen zu finden, und Tsü-Zse bekam jedesmal Angst, er würde überhaupt nicht wieder auftauchen, da doch kein Mensch so lange unter Wasser zu bleiben vermochte. Doch jedes Mal schoß der junge Mann wie ein Delphin wieder aus dem Wasser und brachte eine weitere Muschel mit herauf, die eine weitere makellose, kirschgroße Perle enthielt, mal eine golden schimmernde, mal eine schneeweiße und auch eine bläuliche. Schließlich lagen neunzehn Perlen in dem seidenen Hemd auf Tsü-Zse's Schoß und der junge Mann tauchte mit der letzten Muschel auf, die er vor ihren Augen öffnete, um eine blutrote Perle zu den anderen zu legen, die tatsächlich wie eine Kirsche aussah.
 

Tsü-Zse betete zu allen Göttern, die ihr bekannt waren, daß der junge Mann auch die letzte Aufgabe mit so vollendeter Meisterschaft bestehen möge, denn endlich hatte sie jemanden gefunden, dem ihr Herz sich zuneigte, und sie hätte sogar ihr öffentlich gegebenes Wort gebrochen oder eine Täuschung geduldet, wenn dieser junge Mann, der nun um sie warb, nicht in der Lage sein sollte, die zwanzig Drachenschuppen herbeizuschaffen. Und so sagte sie zu dem jungen Mann, der neben dem kleinen Boot schwamm: "Ihr habt die zweite Aufgabe hervorragend gelöst. Keine dieser Perlen weist auch nur die kleinste Unebenheit auf und alle sind von der gleichen Größe." Und sie reichte dem jungen Mann die Hand, um ihm an Bord zu helfen.
 

Doch der junge Mann schüttelte den Kopf. "Noch muß ich die dritte Aufgabe lösen, doch vorher will ich Euch sagen: Ich bin Prinz Hen-Yüe aus dem Korallenschloß. Wenn Ihr mich tatsächlich zum Gatten wollt, bringt mir nach Bestehen der dritten Aufgabe drei Geschenke als Hochzeitsgabe:
 

einen von Euch selbst bereiteten Reiskuchen,

einen Krug voll Süßwasser und

ein Ei eines weißen Huhns."
 

Als er diese Worte gesprochen hatte, verwandelte sich der junge Mann plötzlich in einen Drachen und er schüttelte sein Haupt, von dem zwanzig goldene Schuppen klingelnd in das Boot fielen, das Tsü-Zse nur mit Mühe in dem aufgewühlten Wasser ruhig halten konnte. Und mit einem Brüllen, das klang wie ein großer Bronzegong, tauchte der Drache ins Meer und verschwand.
 

Als das Wasser sich wieder beruhigt hatte, schwamm neben dem Boot nur noch das seidene Lendentuch des jungen Mannes, der ein Drachenprinz namens Hen-Yüe war, was 'Perle des Meeres' heißt.
 

*
 

Mit unermesslichen Schätzen beladen, aber in von ihren Tränen durchnäßten Gewändern kam Tsü-Zse zurück in die heimatliche Hütte. Tsü-Zse war so unglücklich, daß es ihrem Vater kaum gelang, sie zu trösten, und nur mit großer Mühe erfuhr er schließlich, was passiert und warum seine Tochter in Tränen aufgelöst war.
 

Als Tsü-Zse sich wieder beruhigt hatte, entschloß sie sich, Hen-Yüe zu suchen. Die Aufgaben des Drachenprinzen zu lösen war nicht schwer und so buk sie einen Reiskuchen, schöpfte aus dem Brunnen hinter der Hütte einen kleinen verschließbaren Krug voll Süßwasser und nahm aus dem Gelege einer der zwei weißen Hennen, die sie und ihr Vater besaßen, ein Ei, für das sie eine Schale mit dem seidenen Lendentuch des Drachenprinzen auspolsterte, damit es die Suche nach dem Korallenschloß gut überstand. Doch bevor sie sich auf den Weg machte, verkaufte sie eine von den kostbaren Drachenschuppen um Lebensmittel für ihren Vater zu besorgen und den Rest des Geldes auf ihre Wanderschaft mitzunehmen. Die restlichen Schuppen, die Federn und die Perlen ließ sie, ebenso wie die Gewänder des Drachenprinzen, bei ihrem Vater zurück, allein die blutrote Perle nahm sie mit sich.
 

* * *
 

Die Suche nach dem Korallenschloß

Da Tsü-Zse nicht wußte, welchen Weg sie einschlagen sollte, um den Drachenprinzen und das Korallenschloß zu finden, wollte sie bei einem weisen Mann, der im Wald in der Nähe des Dorfes wohnte, Rat einholen und machte sich zuerst dorthin auf den Weg.
 

Der weise Mann lebte in einer finsteren Höhle. Tsü-Zse glaubte zuerst, einen Bären vor sich zu haben, als der bärtige Mann mit den verfilzten Haaren, in ein räudiges Bärenfell gewickelt, aus der Höhle trottete, um zu sehen, wer ihn in seiner Zurückgezogenheit störte. Doch als der Bär zu sprechen begann, erkannte Tsü-Zse ihren Irrtum.
 

"Was willst Du hier, Mädchen? Hast Du Dich verlaufen?" fragte der weise Mann unfreundlich (er hatte sich schon vor langer Zeit von der Menschheit zurückgezogen, da sie ihn tief enttäuscht hatte).
 

"Ich habe mich keineswegs verlaufen, Weiser. Ich wollte zu Euch, denn ich hörte, Ihr wüßtet für fast Jeden einen Rat... ich suche das Korallenschloß", antwortete Tsü-Zse ihm.
 

Doch der Weise hatte ihr gar nicht zugehört. Mit seiner großen Nase schnupperte er wie ein leibhaftiger Bär und kam auf Tsü-Zse zu, die sich erschrocken ein paar Schritte zurückwich. "Hab keine Angst, Mädchen", sagte der Weise beschwichtigend und blieb stehen. "Aber ich habe lange nichts mehr von Menschenhand bereitetes gegessen und mir scheint, in deinem Beutel befindet sich Reiskuchen. Gib mir ein Stück davon, ich bin sehr hungrig."
 

"Aber das ist meine Hochzeitsgabe", protestierte Tsü-Zse, während der weise Mann sie mit flehenden Augen hungrig anstierte. "Du kannst doch einen Neuen backen. Gib mir den, den Du hast, und ich werde Dir ewig dankbar sein."
 

Und da sich Tsü-Zse Informationen über das Korallenschloß erhoffte, gab sie dem Weisen schließlich widerstrebend den Reiskuchen und sah, wie er mit seinen klauenbewehrten, tatzenartigen Händen danach grabschte und ihn mit großen Bissen verschlang.
 

Und während er Weise noch mit vollen Backen kaute fragte Tsü-Zse: "Wißt Ihr, wo ich das Korallenschloß finde?"
 

Nachdenklich kratzte sich der Weise an seiner großen Nase, dann sagte er: "Dem Namen nach müßte es sich in der Nähe des Meeres befinden... könntest Du nicht etwas genauer sein, Mädchen? Was ist das für ein Schloß? Was für Leute wohnen da?"
 

"Einer der Bewohner ist der Drachenprinz Hen-Yüe", antwortete Tsü-Zse.
 

Versonnen bohrte der Weise mit seinen krallenartigen Nägeln den Reis aus seinen gelben Zähnen. "Hen-Yüe? Nie gehört. Ein Drachenprinz sagst Du? Bist Du sicher?"
 

"Er erschien in der Gestalt eines jungen, vornehmen Mannes und verwandelte sich in einen Drachen", erklärte Tsü-Zse ungeduldig.
 

"Das spricht in der Tat dafür, daß es sich um einen Drachenprinzen handelt", gab der Weise zu. "Nun, um ehrlich zu sein, mit Drachen kenne ich mich nicht aus, aber es gibt einen Zauberer, der soviel über sie weiß, wie einem Sterblichen überhaupt möglich ist." In Gedanken versunken ging der Weise vor dem Eingang seiner Höhle auf und ab. "Dieser Zauberer wohnt in der Residenzstadt und nennt sich Lei-Sun, 'Herr der Geister'. Geh zu ihm und frage ihn nach Deinem Drachenprinzen." Und nach diesen Worten verschwand der Weise grußlos in seiner Höhle und ließ sich nicht wieder blicken, solange Tsü-Zse, die sich sofort auf den Weg machte, noch in der Nähe war.
 

*
 

Drei Tage nach ihrem Aufbruch von Zuhause erreichte Tsü-Zse zur Mittagszeit endlich die Tore der Residenzstadt, die im heißen Licht der Sonne träge vor sich hin brütete. Nichts war von der Geschäftigkeit zu bemerken, die man der Stadt nachsagte, niemand befand sich auf den Straßen zu den Stadttoren. Die einzigen Menschen, die außerhalb der hohen Häuser zu sehen waren, waren zwei Torwächter, die Tsü-Zse argwöhnisch beäugten, als sie sich näherte.
 

"Wohin willst Du?" fragte der eine, der einen dicken Bauch hatte und nach saurem Wein stank.
 

"Woher kommst Du?" wollte der andere wissen, ein schmächtiger Kerl, der sich durch einen buschigen Bart auszeichnete.
 

"Ich suche Lei-Sun, den Zauberer", antwortete Tsü-Zse und wollte sich an den Wächtern vorbeischieben.
 

"Was mag eine wie Du von einem Zauberer wollen?" fragte der Dicke und sah sie prüfend an. "Gegen solche Häßlichkeit kann selbst ein Zauberer nichts ausrichten und Lei-Sun schon gar nicht. Ein jeder in der Stadt weiß, daß es mit seiner Kunst nicht weit her ist... aber wenn Du nur einen Mann suchst...", mit zusammengekniffenen Augen taxierte der Dicke Tsü-Zse. "Wenn man Dich gründlich abschrubbt, wärst Du wahrscheinlich gar nicht mal so unannehmbar."
 

"Und was ist mit mir?" fragte der Kleine giftig. Der Dicke sah den Kleinen böse an. "Was soll mit Dir sein?" fragte er scheinheilig und für einen Moment schien er Tsü-Zse's Anwesenheit vergessen zu haben.
 

Diesen Moment nutzte Tsü-Zse, um durch das offene Tor zu schlüpfen. Erst, als sie einige Straßen heruntergerannt war, um etwas Abstand zwischen sich und die Wächter zu bringen, nahm sie sich die Zeit, sich über ihr sonderbar verwandeltes Äußeres Gedanken zu machen. Es war ihr kaum aufgefallen, daß niemand sich auf ihrer Wanderschaft nach ihr umgesehen hatte, denn sie dachte an keine anderen Männer mehr, alle ihre Gedanken kreisten allein um Hen-Yüe, den Drachenprinzen, den sie durch den Zauberer Lei-Sun zu finden hoffte.
 

In der Straße, in der sie stand und nach dem Lauf um Atem rang, war der Laden eines Metallwarenverkäufers, vor dem auf hohen Ständern auch einige frisch polierte Spiegel hingen. Tsü-Zse ging dorthin, um sich anzusehen und ihr blickte ein eher häßlich aussehendes Geschöpf, unter der dicken Schmutzschicht vermutlich weiblichen Geschlechts, entgegen. Erschrocken wich Tsü-Zse vor ihrem Spiegelbild zurück und da erschien auch schon der Verkäufer, um sie wegzujagen.
 

"Was ist nur geschehen?" fragte sie sich leise und ein Mann, der gerade vorüber kam, fragte: "Was sagtest Du?"
 

Schnell fing Tsü-Zse sich wieder. "Ich suche den Zauberer Lei-Sun. Könnt Ihr mir sagen, wo ich ihn finde?"
 

Der Mann lachte fröhlich. "Was für ein Zufall, das bin ich selbst!" rief er aus. "Aber warum suchst Du mich? Damit ich diese Verzauberung von Dir nehme? Das kann ich nicht, das ist Drachenzauber."
 

Im Stillen fragte Tsü-Zse sich, wie sie zu einer solchen Verzauberung gekommen sein mochte, doch schnell trat sie dem Zauberer in den Weg, der sich bereits anschickte, fortzugehen. "Ich möchte Euch einige Fragen stellen... ich komme von dem weisen Mann, der als Einsiedler in einer Höhle in einem Wald nahe des Meeres lebt. Er hat mich zu Euch geschickt", sagte Tsü-Zse rasch.
 

Der Zauberer strich sich mit spitzen Fingern seinen langen, schmalen Kinnbart. "Tja... Geschäfte sollte man nicht auf der Straße besprechen, auch wenn ich Dir gleich sagen möchte: gegen diese Verzauberung kann niemand etwas ausrichten, allenfalls ein Drache."
 

"Ich will ja gar nichts über die Verzauberung wissen", wandte Tsü-Zse ein. "Wo wohnt Ihr, wo habt Ihr Euer Laboratorium?" fragte sie dann.
 

"Komm mit." Nachlässig winkte Lei-Sun mit der Hand, daß sie ihm folgen möge, dann durchquerte er mit raschen Schritten zielstrebig die halbe Stadt.
 

Das Haus des Zauberers wollte nicht so recht zu der doch eher prächtigen äußeren Erscheinung des Mannes passen. Seine Kleidung war nicht übermäßig wertvoll, aber reich geschmückt, sein Äußeres, besonders der Kinnbart, sorgfältig gepflegt, und alles an ihm zeugte von einem Menschen, dessen Wesen über einen guten Teil Eitelkeit verfügt. Das Haus dagegen stand in einem heruntergekommenen Teil der Stadt, die Wände des Gebäudes waren rissig, die graugrüne Farbe blätterte an vielen Stellen ab und die Fensterläden hingen lose in ihren verrosteten Angeln. Mit einiger Mühe schob Lei-Sun die aufgequollene Holztür auf, die ehemals wohl auch einen Anstrich besessen hatte und gab Tsü-Zse mit einer weitausholenden Armbewegung, die dem Ort spottete, den Weg frei. "Mein Palast", verkündete der Zauberer großspurig und im Innern des verfallenen Hauses stockte es Tsü-Zse den Atem.
 

Als der Zauberer die Tür geschlossen hatte, befanden sie sich in einer hellen, weitläufigen, marmorgepflasterten Halle, an deren Ende man ein zweiflügliges goldenes Portal erblickte, das von einem großen bronzenen Drachenrelief eines meisterhaften Künstlers umrahmt wurde. Die hölzernen Streben zwischen den Fenstern waren mit aufwendigen Schnitzereien verziert, die von höchster Kunstfertigkeit der Ausführenden zeugten. Staunend sah Tsü-Zse sich um und versuchte, die plötzliche Wandlung des Gebäudes zu verstehen, als Lei-Sun, der ihre Verwunderung sichtlich genoß, auf das von vier Drachen eingeramte Portal zuging und Tsü-Zse mit dem Winken eines Fingers bat, ihm zu folgen.
 

Hinter diesem prachtvollen Portal befand sich ein ganz gewöhnliches Zaubererlaboratorium mit den Globen, Sternkarten und Astrolabien, ausgestopften Eidechsen und Fledermäusen, wie man sie allerorten finden kann. An Leinen, die quer durch den ganzen Raum gespannt waren, hingen Büschel getrockneter Kräuter, die einen betäubenden Geruch verbreiteten. Auf bis unter die hohe Decke reichenden Regalen entlang der Wände standen wohl an die tausend kleinerer und größerer Porzellangefäße, die mit Aufschriften wie 'Sonnenmilch', 'Krötenwarzen' und 'Lotosblütentau' versehen waren. Ein von Sonne und Alter gedunkeltes Brett mit einigen undefinierbaren Flecken, daß unter einem kleinen Fenster montiert war, diente als Arbeits- und Schreibfläche, davor stand ein niedriger Hocker, den Lei-Sun sich nun heranzog, um sich auf ihm niederzulassen. Tsü-Zse bot er keine Sitzgelegenheit an.
 

"Nun, was willst Du von mir?" Dann sah er Tsü-Zse noch einmal sinnierend von oben bis unten an und schüttelte nachdenklich den Kopf. "Eindeutig ein Drachenzauber, was immer das bezwecken soll... also der Bär hat Dich geschickt", sagte der Zauberer dann plötzlich munter.
 

Tsü-Zse dachte, daß mit dem 'Bär' wohl der weise Einsiedler gemeint war und nickte. "Ich wollte fragen, ob Ihr wißt...", begann Tsü-Zse, doch Lei-Sun ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen.
 

"Deine Frage hat etwas mit Drachen zu tun, stimmts?" fragte er neckend. dann grinste er breit. "Ich bin der einzige anerkannte Drachenspezialist in diesen Breitengraden, auch wenn mein Talent hier praktisch verschwendet ist. Hier in der Gegend gibt es kaum Drachen... ich schätze, Du kommst aus der Nähe des Meeres, stimmts?" Wie von einem Bogen abgeschossen schnellte plötzlich der Arm des Zauberers mit ausgestrecktem Zeigefinger hervor und nahm sich Tsü-Zse's Nase als Ziel.
 

Tsü-Zse schluckte, dann nickte sie mühsam. "Ich komme aus einem kleinen Dorf in der Nähe des Meeres. Ich wollte Euch nach dem Korallenschloß fragen", sagte sie schnell, bevor der Zauberer sie ein weiteres Mal unterbrechen konnte.
 

Nachdenklich spitzte Lei-Sun die Lippen und kraulte seinen Kinnbart. "Das Korallenschloß suchst Du, sosoahahmhm." Lei-Sun wackelte mißmutig mit dem Kopf, seine Fingerspitzen zwirbelten die Spitze seines Kinnbartes. "Das Korallenschloß", wiederholte er noch einmal. "Ich habe schon von ihm gehört, aber es zu finden wird mit einigen Schwierigkeiten verbunden sein. Aber wenn Du Deine Verzauberung loswerden willst, ist es natürlich der beste Weg, es gleich beim Kaiser der Drachen zu versuchen." Plötzlich schien der Zauberer zu einem Entschluß gekommen zu sein, er erhob sich mit einem Ruck und suchte sich aus den Gerätschaften, die auf den Regalen herumstanden, einen bronzenen Mörser und einige Porzellangefäße heraus. Von einem weiter entfernten Regal nahm er eine große Flasche, die sich zu seinem Erstaunen jedoch als leer herausstellte. "Es tut mir leid, aber ich kann Dir nicht helfen. Ich brauche unbedingt Brunnenwasser für diesen Zauber, aber mein einziger Vorrat ist verbraucht." Schicksalsergeben seufzte Lei-Sun und ließ sich schwer zurück auf den Hocker fallen.
 

"Aber was für Wasser nehmt Ihr denn für den gewöhnlichen Gebrauch?" fragte Tsü-Zse erstaunt.
 

"Wasser aus dem Fluß natürlich. Die Stadt ist auf massivem Fels gebaut, hier kann man nicht einmal mit Zauberei einen Brunnen bohren", erklärte Lei-Sun geduldig. "Brunnenwasser muß für teures Geld eingeführt werden... von der Küste zum Beispiel."
 

Tsü-Zse überlegte kurz, dann suchte sie aus ihrem Gepäck den fest verschlossenen Krug mit dem Wasser heraus, das sie aus dem Brunnen hinter der Hütte ihres Vaters geschöpft hatte, und das eigentlich für den Drachenprinzen Hen-Yüe als Hochzeitsgabe gedacht war. Schweigend reichte sie dem Zauberer den Krug und hoffte, daß das Opfer wenigstens den gewünschten Erfolg brachte.
 

"Was ist das?" fragte Lei-Sun und nahm den Krug entgegen. Er öffnete ihn und besah sich den Inhalt kritisch, dann sagte er befriedigt: "Brunnenwasser." Rasch mischte er Teile der Inhalte der verschiedenen bereitgestellten Gefäße in dem Mörser, dann schüttete er das gesammte Wasser aus Tsü-Zse's kleinem Krug dazu und rührte alles sorgfältig um. Von einem Regal ließ er sich dann von Tsü-Zse eine große, flache Schale geben und goß die ganze Mischung hinein, wartete, bis sich die Wellen geglättet hatten, dann bließ er über die trübe, hellblaue Flüssigkeit und betrachtete sie intensiv. "Es ist am... nein, im Meer. Eine Insel liegt in der Nähe, auf ihr wohnt der Torwächter. Nur er allein ermöglicht den Zutritt zum Korallenschloß... es ist Man-Yin-Tau, die 'Insel des Sonnenaufgangs'..." Der Zauberer verstummte und wandte sich wieder Tsü-Zse zu, die ihn fragte: "Ich muß also nach Man-Yin-Tau suchen?"
 

"Ja, und ich wünsche Dir dabei viel Erfolg, ebenso bei Deiner Entzauberung... gewöhnlich kostet dieser Zauber zwei Silberbarren, aber da Du das Brunnenwasser geliefert hast... sagen wir ein Silberbarren und zwei Kupferbarren." Mit einem gewinnenden Lächeln streckte Lei-Sun Tsü-Zse die leere Handfläche entgegen und wartete auf seine Bezahlung.
 

Tsü-Zse opferte die Hälfte ihrer Barschaft und verließ durch die marmorgepflasterte Halle das Haus, dessen Äußeres in so auffälligem Gegensatz zu seinem Inneren stand.
 

* * *
 

Die Suche nach Man-Yin-Tau, der Insel des Sonnenaufgangs

Da Tsü-Zse sich sicher war, Man-Yin-Tau in Richtung des Sonnenaufgangs zu finden, führte ihr weiterer Weg sie nach Osten und bereits einen Tag später hatte sie die Küste erreicht. Sie fragte die Fischer dort, ob sie schon von der Insel gehört hatten, doch niemandem war der Name Man-Yin-Tau bekannt.
 

Einer jedoch riet ihr: "Versuch es beim alten Hua-Sür. Man sagt, er habe alle Meere der Welt befahren." Und der Fischer zeigte ihr die armselige Hütte des alten Mannes, der sich 'Erforscher der Welt' nannte.
 

Hua-Sür war fast blind und hatte keine Zähne mehr. Wie ein mit Leder bespanntes Gerippe sah er aus, wie er, nur in ein grobgewebtes Tuch gewickelt, auf seinem Bett lag. Seine Stimme war zittrig und die Worte durch seine schlampige Aussprache fast unverständlich, als er fragte: "Bist Du es, Großenkelin?"
 

"Ich heiße Tsü-Zse und bin auf der Suche nach Man-Yin-Tau, der Insel des Sonnenaufgangs", sagte Tsü-Zse und setzte sich auf einen behelfsmäßig zusammengezimmerten niedrigen Hocker, der neben dem Bett stand.
 

"Wo ist sie nur, meine undankbare Großenkelin? Als sie klein war, hielt ich sie auf den Knien und erzählte ihr Geschichten über die märchenhaften Wunderwesen fremder Länder und nun läßt sie mich im Stich..." Ein heftiger Hustenanfall schüttelte den alten Mann und Tsü-Zse sah sich nach etwas um, mit dem sie ihm helfen konnte.
 

Auf dem Boden, in Reichweite des alten Mannes, stand ein Wasserkrug, aber der Inhalt stank verfault. "Gibt es hier einen Brunnen?" fragte Tsü-Zse, doch der Alte hustete nur als Antwort.
 

Tsü-Zse lief hinaus und ging um die Hütte. Sie entdeckte einen Brunnen und schöpfte Wasser, um es in ihren eigenen Krug zu füllen und dem alten Hua-Sür zu bringen, doch das Brunnenwasser war brackig. So kam sie ohne Wasser zurück in die Hütte, nahm eine Nadel aus ihrem Gepäck und wickelte das sorgsam gehütete Ei aus dem seidenen Lendentuch des Drachenprinzen. Sie stach es an beiden Seiten auf und hielt es dem alten Hua-Sür an die Lippen, damit er es aussaugen konnte.
 

"Ich danke Dir, Mädchen", sagte Hua-Sür schließlich, von dem Ei sichtlich gekräftigt. "Seit Tagen liege ich hier und niemand kommt, um sich um mich zu kümmern. Von meinen Verwandten lebt nur noch meine Großenkelin, doch sie hat sich schon lange nicht mehr bei mir sehen lassen. Ihr Mann ist so vornehm, daß sie sich meiner Existenz schämt."
 

Tsü-Zse setzte sich wieder auf den Hocker neben Hua-Sür's Lager und fragte ihn noch einmal nach Man-Yin-Tau. "Einmal war ich da", erinnerte Hua-Sür sich verträumt. "Es gibt dort wunderbare Bambuswälder, klare Quellen und fruchtbare Reisterrassen. Ein glückliches Volk lebt dort, doch der Weg dahin ist lang und gefährlich. Die Insel liegt am Ende der Welt."
 

"Wie komme ich dorthin?" wollte Tsü-Zse wissen.
 

"Folge dem Sternbild des Drachen, nach dreißig Tagen erreichst Du die Insel." Der alte Hua-Sür schloß die Augen und schien eingeschlafen zu sein, aber Tsü-Zse befürchtete, daß es ein tieferer Schlaf als der gewöhnliche war, aus dem man stets wieder erwachte.
 

Leise verließ Tsü-Zse die Hütte des alten Mannes und machte sich auf die Suche nach einer öffentlichen Küche. Auf dem Weg dorthin entdeckte sie, daß im Dorf gerade Markt abgehalten wurde, und so kaufte sie alles, was sie zur Zubereitung von Reiskuchen benötigte. Sie kaufte auf dem Markt auch drei Eier von einem weißen Huhn, denn sie wußte nicht, wann sie noch einmal vor ihrer Ankunft im Korallenschloß die Gelegenheit bekam, die Hochzeitsgaben neu anzufertigen oder zu beschaffen. Am Dorfbrunnen, der direkt vor der öffentlichen Küche stand, füllte sie auch ihren Krug wieder, dann buk sie drei Reiskuchen.
 

Später ging sie wieder zu den Fischern und fragte sie, wer sie mit seinem Boot zur Insel des Sonnenaufgangs bringen könne, aber keiner war dazu bereit, denn es sollte eine lange Reise werden, und die Fischer wagten nicht, außer Sichtweite der Küste in unbekannte Gewässer hinausfahren. Endlich fand Tsü-Zse jedoch einen jungen Fischer mit einem eigenen Segelboot, der keine Familie hatte, die sich grämen würde, wenn er lange Zeit ausblieb, und abenteuerlustig genug war, nach einer Insel zu suchen, von der er noch nie gehört hatte.
 

Noch am gleichen Tag wurde von Tsü-Zse's restlichem Geld alles Nötige für die lange Reise besorgt und früh am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg nach Man-Yin-Tau, der Insel des Sonnenaufgangs.
 

*
 

Die ersten paar Tage verlief die Reise ruhig, der Wind stand günstig und die Fahrt ging gut voran. Am vierten Tag jedoch gab es eine Flaute und drei Tage wurde das Schiff durch die Strömung vom Kurs abgetrieben, so daß sie schließlich fast sieben Tage brauchten, um die verlorene Strecke wieder gutzumachen. Eines Tages gab es einen starkten Sturm, der das Segel zerriß, so daß nur noch Fetzen am Mast hingen, doch Tsü-Zse und der junge Fischer flickten es wieder, verwandten dazu sogar das seidene Lendentuch Hen-Yüe's, in das Tsü-Zse die drei Eier gewickelt hatte, und setzten dann ihre Fahrt fort. Und endlich, nach fast vierzig Tagen erreichten sie eine grün überwucherte Insel, über der gerade die Sonne aufging, während das Sternzeichen des Drachen über ihr im Tageslicht langsam verblaßte.
 

"Ob das Man-Yin-Tau ist?" fragte der Fischer Tsü-Zse, doch sie kannte die Insel des Sonnenaufgangs genausowenig wie der Fischer.
 

Sie erreichten den Strand und packten Tsü-Zse's Gepäck aus, doch als sie ihre Hochzeitsgabe aus der Kiste holen wollte, in der sie bei Aufziehen des Sturmes alles sicher verstaut hatte, erschrak sie, denn dort saßen drei junge Hühnchen eng aneinander gedrückt und halb verhundert in einer Ecke, obwohl sie die drei Reiskuchen aufgefressen und das Wasser aus Tsü-Zse's Krug getrunken hatten.
 

Tsü-Zse krümelte etwas von dem Brot, das der Reiseproviant der beiden Menschen war, auf den Boden der Kiste und stellte eine Schale voll Wasser aus dem Voratsfaß des Bootes dazu und die Hühnchen machten sich hungrig darüber her.
 

Ein Kind kam den Strand entlang gelaufen, als Tsü-Zse zwei der Hühnchen aus der Kiste nahm und sie an Land brachte, das dritte ließ sie dem Fischer zurück. Als das Kind sie erreichte fragte es: "Wer seid Ihr?"
 

"Ich bin Tsü-Zse. Ist das hier Man-Yin-Tau?"fragte Tsü-Zse zurück.
 

"Aber ja", erwiederte das Kind. "Wen sucht Ihr?"
 

Tsü-Zse winkte dem Fischer, daß sie tatsächlich das Ziel ihrer langen Reise erreicht hatte und er zurückfahren konnte, dann wandte sie sich wieder dem Kind zu. "Ich suche den Torwächter, denn ich will zum Korallenschloß."
 

"Ich bin der Torwächter", sagte das Kind ernst. "Ich lasse Euch nur in das Schloß, wenn Ihr mir ein Geschenk gebt."
 

Und da Tsü-Zse nichts mehr an Wert besaß, außer der blutroten Perle die sie in einem Beutelchen auf dem Herzen trug und den beiden Hühnchen, gab sie dem Kind eines der Hühnchen.
 

"Ist das genug?" wollte sie dann wissen und das Kind nickte und kraulte das flaumige Gefieder des jungen Vogels.
 

"Folgt mir", sagte das Kind und lief den Strand entlang, den Weg zurück, den es gekommen war. Tsü-Zse hörte, wie der Fischer zum Abschied rief und das Segel sich mit lautem Knallen in der aufkommenden Brise spannte. Darum drehte sie sich kurz um und winkte dem Fischer, aber dann rannte sie, mit ihrem Gepäck beladen, dem Kind nach, das sein Hühnchen unter dem Arm trug und flinken Fußes durch den Sand lief.
 

Vor ihnen erhob sich ein Felsen, der steil zum Meer abfiel. Dorthin lief das Kind und auf eine dunkle Öffnung am Fuße des Felsens zu, in die ein Sandweg führte. Einige Schritte hinter dem Eingang in die Höhle wartete das Kind im Halbdunkel auf Tsü-Zse. "Geht hier entlang und bleibt auf dem Weg, dann werdet Ihr sicher das Korallenschloß erreichen."
 

"Ich danke Dir", sagte Tsü-Zse und machte sich auf den Weg, der in großen Abständen von Geisterfeuern an den Wänden des Tunnels erhellt wurde. Sorgfältig achtete Tsü-Zse darauf, den Sandweg nicht zu verlassen, der sich durch die Düsternis schlängelte. Im Dunkel neben dem Weg hörte sie das Rauschen von Wellen und das drohende Fauchen von Ungeheuern, die sie aber glücklicherweise nicht zu Gesicht bekam.
 

Nach langer Zeit endlich wurde das unwirkliche Licht heller und Tsü-Zse erblickte einen großen, goldenen Torbogen, der sich über den Sandweg spannte. Zu beiden Seiten des Bogens standen auf hohen Steinsockeln aus Jade geschnittene Drachen, ein jeder so hoch wie zwei Männer. Und als sie an ihnen vorbeiging, schien es ihr, als wären sie lebendig und schauten sie an, doch als sie sich nach ihnen umdrehte, saßen sie bewegungslos auf ihren Sockeln und starrten geradeaus, auf den Weg aus weißem Sand, den sie entlanggekommen war und auf dem sich ihre Fußspuren deutlich abzeichneten.
 

Und plötzlich war das Korallenschloß vor ihr, ganz aus Korallen erbaut und mit kostbaren Perlen geschmückt, und ein Wächter, der aussah wie ein Mensch, dessen Augen jedoch funkelten wie die Augen der großen Jadedrachen hielt sie auf. "Was willst Du hier?" fragte er mit donnernder Stimme und sie klang wie schwere Wellen, die gegen einen Felsen branden.
 

"Ich suche den Prinzen Hen-Yüe. Ich habe ihm die Hochzeitsgaben zu bringen", antwortete Tsü-Zse und versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.
 

Doch ohne eine weitere Frage ließ der Wächter sie passieren und sie trat in die Halle des Schlosses, deren Wände ganz aus weißen Korallen gebaut waren. Lautlos kam ein Diener heran, der sich vor ihr verneigte und sagte: "Ihr seid sicher Tsü-Zse. Prinz Hen-Yüe trug mir auf, Euch zu seinen Eltern zu geleiten, dem Kaiser und der Kaiserin der Drachen." Der Diener ging Tsü-Zse voran und führte sie in einen riesigen Thronsaal, in dem auf prächtigen, mit Gold, Jade und Perlen geschmückten Thronen zwei große Drachen saßen.
 

Zögernd näherte sich Tsü-Zse den beiden Thronen, als der Diener sie mit einer Handbewegung dazu aufforderte, und als sie noch etwa zwanzig Schritte von dem Thronpodest entfernt war, warf sie sich auf den Boden, um dem Kaiser der Drachen und seiner Gemahlin so die ihnen schuldige Achtung zu erweisen.
 

Eine liebliche Frauenstimme erklang: "Aber mein Kind, warum kniest Du vor uns? In kurzer Zeit werden wir Deine Schwiegereltern sein, und bei aller Ehrerbietung die eine junge Frau ihren Schwiegereltern erweisen sollte, es ist wirklich nicht nötig, daß Du vor uns kniest."
 

Als Tsü-Zse aufsah hatten sich die beiden Drachen in einen würdigen alten Mann und in eine vornehme alte Frau verwandelt, die nun aufstand und auf Tsü-Zse zukam, um ihr selbst vom Boden aufzuhelfen. "Mein Sohn hat mir viel von Dir erzählt, und auch von Deiner Schönheit sprach er, doch ich hätte nicht gedacht, daß die Wirklichkeit seine Erzählung so weit übertreffen könnte. Du bist nicht nur schön von Gestalt und anmutig in Deinen Bewegungen, sondern man merkt Dir auch Freundlichkeit und Güte an. Sicherlich werden Du und unser Sohn glücklich werden."
 

Und noch bevor Tsü-Zse sich darüber wundern konnte, daß sie offenbar ihre alte Gestalt wiederhatte, nahm die Kaiserin sie schon am Arm und führte sie vor ihren Gatten, der noch immer auf seinem Thron saß und sie streng ansah. Und als er seine Stimme erhob, war es, als würde der ganze Palast zu ihr sprechen und jede Welle des Meeres die selben Worte flüstern: "Hast Du die Hochzeitsgabe gebracht?"
 

Tsü-Zse nahm das Hühnchen aus ihrer Tasche, in der sie ihm ein Nest gebaut hatte, damit sie es gut tragen konnte und sagte: "Dieses Hühnchen ist aus dem Ei geschlüpft, das ich bringen sollte, es fraß den Reiskuchen, den ich gebacken hatte und trank das Süßwasser, das ich aus einem Brunnen geschöpft hatte." Und sie reichte dem Kaiser das Hühnchen, das ihn mit schiefgelegtem Kopf aus seinen gelben Augen mißtrauisch ansah und schüchtern anpiepste.
 

Da lächelte der Kaiser der Drachen milde, nahm das Hühnchen entgegen und kraulte sein weiches Gefieder kurz hinter dem Kopf am Hals, während das Hühnchen genießerisch die Augen schloß. "Du bist von großer Ausdauer und Willenskraft, Du bist schön und klug... ich wüßte nicht, was der Hochzeit mit unserem Sohn noch entgegenstünde. Sofort sende ich einen Boten aus, Deinen Vater zu holen."
 

Und da trat Hen-Yüe plötzlich hinter dem Wandschirm hervor, der hinter den Thronen aufgestellt war und lief auf Tsü-Zse zu, um sie in die Arme zu schließen, was sie sich gerne gefallen ließ. Doch dann fragte sie ihn: "Hast Du mich verzaubert? Mir schien es, als hätte ich während meiner Wanderschaft hierher eine andere Gestalt gehabt."
 

Da lachte Hen-Yüe laut und sagte: "Ich war eifersüchtig und fürchtete, ein anderer könne Dein Herz gewinnen, während Du auf dem Weg hierher warst. Darum gab ich Dir die blutrote Perle, die Dir in der Welt der Menschen Deine Schönheit nahm. Doch hier, im Reiche des Drachenkaisers, wirkt ihr Zauber nicht."
 

Da nahm Tsü-Zse schnell die blutrote Perle, die wie eine Kirsche aussah, aus dem Beutelchen, in dem sie sie den ganzen Weg über sorgsam gehütet hatte und warf sie dem Hühnchen zu, das der Kaiser neben seinem Thron auf den Boden gesetzt hatte. Der Vogel besah sich die Perle nicht lange (auch wenn er noch nie eine Kirsche gesehen hatte, so schien ihm dieses kugelige Ding doch sehr schmackhaft), sondern knackte sie mit seinem spitzen Schnabel auf und verspeiste die Bruchstücke mit sichtlichem Genuß.
 

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