Arashi to shizukesa - Orkan und Totenstille von irish_shamrock (Sato x Takagi - für Rizumu SW 2023) ================================================================================ Kapitel 1: Orkan und Totenstille -------------------------------- Arashi to shizukesa Orkan und Totenstille Die Ruhe war trügerisch. Nicht ein Vögelchen trällerte sein Liedchen und nicht einmal die Blätter an den Bäumen wagten es, sich zu rühren. Von dem schönen, hellen Blau des frühen Morgens war nichts mehr auszumachen. Nun, am späten Nachmittag, schoben sich die dunklen Wolkenmassen düster und bedrohlich über den Horizont. Fröstelnd schlang die Inspektorin die Arme um sich, doch die Hoffnung auf Wärme stellte sich nicht ein. Unter ihrem Blick versank die Stadt in Finsternis. Flackernd erwachte die Straßenbeleuchtung. Es erschien ihr ungewöhnlich, dass die Laternen zu dieser Zeit ihren Dienst aufnahmen. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass ein Unwetter aufzog und Tag und Nacht kaum voneinander zu unterscheiden waren, sollten diese kleinen Lichtinseln für Suchende wie Leuchttürme Sicherheit versprechen. Wie der Blitz, der über den pechschwarzen Himmel peitschte, zuckte auch die junge Frau zusammen. Kein Brodeln war zu vernehmen. Sekunden verstrichen, bis das erschütternde Donnergrollen ihr durch Mark und Bein ging. Mit banger Miene und doch erleichtert, dass sie sich im Trockenen befand, stieß Miwako Sato die angehaltene Luft aus. Sie wandte sich von der hiesigen Fensterfront ab und betrachtete ihren Schreibtisch. Megure hatte sie zum Innendienst verdonnert. „Diese Ironie ist doch fast zum Totlachen“, knurrte sie und ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Aktenwälzen, Archivarbeit. Für solche Tätigkeiten gab es Polizeianwärter. Doch wer nicht hören wollte, musste bekanntlich fühlen. Wieder war ihr der Übermut in die Quere gekommen. Sie war dem Kerl, einem kleinen Ladendieb, hinterhergehetzt und hatte sich auf ihn geworfen, ungeachtet dessen, dass sie sich und den Verdächtigen in Gefahr brachte. Wie ein Schulmädchen, das Tadel vom Direktor zu erwarten hatte, stand sie belämmert unter dem strengen Blick ihres Chefs da und nahm sich der Litanei nur bedingt an. Eigentlich, so ihr Gedanke, könnte Megure seine Moralpredigten auf Band aufnehmen und sie jedes Mal von neuem abspielen, wenn einem seiner Inspektoren wieder einmal ein Fehler unterlief. Vier Wochen waren eine lange Zeit zum Nachdenken, hatte Megure gemeint. Er ließ ihr durch einen jungen, übereifrigen Kollegen die Akten bringen, die geräuschvoll auf ihrem Schreibtisch landeten, der unter der Last gefährlich ächzte. Missmutig hatte sich das Fräulein Sato der Stapel im Laufe der letzten Wochen angenommen, sie durchgesehen, geordnet und Vermerke auf Beiblättern hinterlassen. Seufzend schnappte sie sich einen der Bürorollwagen und schob die Stöße Uraltfälle über den langen, großen Flur bis zu den Aufzügen. Nicht einmal Strafzettel durfte sie ausstellen. Gern wäre sie mit Yumi auf Patrouille gegangen, allerdings waren die Augen ihres Kommissars bekanntlich überall. Ein wenig Frischluft schnuppern, doch dann kam ihr das bevorstehende Unwetter wieder in den Sinn. Mit einem Pling kam der Lift zum Stehen. Keuchend hievte sie den Wagen in das stählerne Gefährt und drückte den Knopf für das Erdgeschoss. Unter quietschenden Rädern und darauf bedacht, für die Herrschaften am Empfang gut sichtbar zu sein, buckelte sie den Rollwagen durch die Eingangshalle. Die Archive befanden sich in den unteren Etagen. Ein Kollege nahm sich ihrer an, sobald Miwako mit dem schweren Wagen den Keller erreichte. „Muss schwer für Sie sein, hm?“ Ein schmallippiges Lächeln zierte ihr Gesicht. Also war ihre Degradierung sogar bis in die Archive vorgedrungen. Doch ob er nicht eher die Last meinte, mit der sie sich abplagte, vermochte die Inspektorin nicht zu sagen. „Ist ja nicht von Dauer“, gab sie zurück und spürte, wie sich ihre Mundwinkel an Ort und Stelle festzutackern drohten. Der Kollege, dessen Namensschild ihn als Ikeda Naoki auswies, hob beschwichtigend die Hände. Es fiel ihr schwer, sich daran zu erinnern, wann sie zuletzt durch die Kellerräume gekrochen war. Seit ihrem Aufstieg in eine höhere Gehaltsklasse, hatte Sato keinerlei Gedanken mehr an die Ablagetätigkeit verschwendet. Umso zerknirschter war sie, als sie sich von ihrem Mitarbeiter in die Räumlichkeiten hatte einweisen lassen müssen. Der ein wenig untersetzte Ikeda lief voraus, während Sato ihm die Akten- und Fallnummern nannte, die es einzusortieren galt. Es dauerte nicht lang, da pustete und japste Ikeda nach Luft. Das Röhren der Belüftungsanlagen dröhnte ihr in den Ohren, doch zum Glück blieb sie von weiteren, demotivierenden Worten des jungen Mannes verschont. Der Rollwagen leerte sich zusehends. Für Miwako ein gutes Zeichen, dass sie vielleicht die nächsten Stunden mit unnötigem Bleistiftanspitzen zubringen musste, doch der Feierabend rückte mit jeder Minute näher. Und das herannahende Ende der Schicht war gleichbedeutend mit dem Ende ihres Martyriums. Sowie sie das Transportmittel für Akten und anderweitiges Büromaterial wieder in einer Abstellkammer verstaute, schwebte Miwako geradezu leichtfüßig über den Gang, der sie in das Großraumbüro ihrer Dienststelle führte. Die gute Laune schwand schlagartig, als sie ihren Kollegen ausmachte, der tropfnass an ihrem Schreibtisch stand und sich suchend umsah. Takagis Miene erhellte sich, sobald er sich ihrer gewahr wurde. Noch ehe sie fragen konnte, plapperte er munter: „Ich wollte dich abholen, aber leider habe ich meinen Schirm vergessen.“ Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf. Ihr Blick glitt prüfend über den Mann vor sich. Tatsächlich hatte ihn der Schauer voll erwischt. Umsichtig kramte sie in einer Schublade ihres Schreibtisches und zauberte eine Box, gefüllt mit weichen, blütenweißen Taschentüchern hervor. Auffordernd hielt sie ihm die Schachtel hin. Unschlüssig zupfte er drei Tücher heraus und tupfte sich den Regen aus dem Gesicht. „Nicht, dass du mir krank wirst!“, mahnte Sato. „Dann muss ich deine Schicht nämlich auch noch übernehmen, sobald mich unser ehrenwerter Chef wieder in den Außendienst entlässt.“ Takagi neigte den Kopf, dann schob er den Ärmel des Sakkos den Arm hinauf, um sich der Uhrzeit zu vergewissern. „Noch gut zwei Stunden. Ah, verflixt, ich bin zu früh oder nicht?“ Ihre Mundwinkel zucken, dieses Mal jedoch aus purer Freude. „Ein bisschen, vielleicht. Aber ein wenig Abwechslung tut mir gut. Mir hängen diese ganzen Akten schon zum Hals raus!“ „Kann ich verstehen“, entgegnete Takagi und bemerkte, dass er auf die Auslegeware tropfte. Hastig sprang er von einem Bein aufs andere. „Ob er mir das vom Lohn abzieht?“ Miwakos Blick war kritisch. „Ganz bestimmt. Aber sag mal, hast du nicht eigentlich längst Feierabend?“ „Wie ich schon sagte“, gebot er ihr. „Ich wollte dich abholen. Bei diesem Mistwetter jagt man nicht mal einen Hund vor die Tür!“ Die Strenge in ihrem Gesicht schwand. Vielleicht mochte es unpassend erscheinen, doch sie langte sanft nach seiner kühlen Wange, die binnen weniger Sekunden leuchtend Rot glühte. „Glaubst du, sie werden sich irgendwann daran gewöhnen?“, fragte er und erntete ein mildes Lächeln. „Wohl kaum“, murmelte sie verlegen. „Wenn ich mich noch nicht einmal daran gewöhnt habe.“ Das schrille Läuten des Telefons ließ die traute Zweisamkeit zerplatzen, wie die bekanntliche Seifenblase. Takagi stieß einen langen Seufzer aus. Miwako langte nach dem Apparat, hob ab und sprach hastig die geübte Begrüßungsfloskel, ehe sie den Hörer abrupt auf Armlänge von sich hielt. Unfreiwillig übergab sie das Telefonat an ihren Kollegen. Skeptisch das Gesicht verzogen, beobachtete Sato, wie Takagi innehielt und sich zu den Fenstern umwandte. Noch immer war der Tag düster und von sintflutartigen Regenfällen begleitet. Das Lächeln auf seinen Lippen verrutschte. Takagi sprach, wenn Kommissar Megure ihn denn ließe, hastig, fast abgehakt. Dann glitt sein Blick zu ihr und er kehrte ihr den Rücken. Die Augen schmälernd, schlich Miwako um ihn herum wie eine listige Katze. Das Kabel des Telefons schlang sich mit jeder Drehung um den Bauch des Polizisten. Es gelang ihr, nur Bruchstücke des Gesprächs aufzuklauben wie leidige Krümel. Doch was sie vernahm, weckte ihren kriminalistischen Spürsinn. Unter klammen Fingern legte Takagi auf und bemerkte, dass seine Aktion nicht fußen wollte. „Miwako!“, jaulte er, doch die junge Frau ließ ihm nicht eine Sekunde, um diesen Fauxpas auszuräumen. „Was hat er gesagt?“, verlangte sie zu wissen. Wataru Takagi sah dieses bekannte, fordernde Glitzern in ihren Augen, das ihm Unbehagen bereitete. „Er – ähm“, haspelte er und wickelte sich unbeholfen und umständlich das Kabel vom Leib. „Nichts, er ...“ „Red keinen Unsinn, Takagi!“ Empörend warf Sato die Hände in die Luft. „Ich habe etwas von Mord gehört!“ „Ach, ja?“ Sein ausweichendes Lachen würde diese Frau nicht von ihrem Plan abbringen. „Miwako, hör doch: Du hast immer noch Innendienst!“ Takagi vergrub das Gesicht in den Händen. „Er wird mich feuern!“ „Das wird er nicht!“, widersprach sie und zupfte am Kragen ihres Trenchcoats. Sonnenbrille, langer Mantel und einen Hut, den sie aus dem Fundbüro entwendet hatte, sollten ihr Tarnung genug sein. „Es klang, als wolle er das gesamte Präsidium zusammenbrüllen“, nuschelte er und linste neben sich. „Es wird ihm nicht gefallen, dass du einfach flüchtig bist!“ „Und ich bleibe flüchtig“, sagte sie mit einem Augenzwinkern. „Vielleicht fällt es ihm gar nicht auf.“ Sein aufschnaubendes Lachen verlor sich in einem Krächzen. „Dein Wagen ist zu auffällig!“ „Ich parke in einer Seitenstraße und mogel mich unter die Schaulustigen“, gebot sie ihm und unterstrich ihre Worte mit zuversichtlichem Lächeln. „Er wird uns das Gehalt kürzen oder uns gleich einen Kopf kürzer machen!“, jammerte ihr Partner. Sato verdrehte die Augen, während die Absätze ihrer Stiefel über den Betonboden der Tiefgarage hallten. „Hab mehr Selbstvertrauen! Du darfst immerhin zu diesem Einsatz. Wenn er hier jemandem das Gehalt kürzt, dann mir!“ „Ja, weil du dich einfach davonstiehlst!“, beharrte Takagi. „Und mich wird er wegen Beihilfe drankriegen!“ Sato stöhnte auf und schüttelte den Kopf. „Du bist so ein Hasenfuß, Takagi!“ Vor ihrem knallroten Sportwagen hielt sie inne. Es schien ihm, als wäge sie ab, ob ihr Mazda RX-7 nicht doch zu auffällig sei. „Willst du den Bus nehmen?“, hakte er nach. Miwako wandte sich zu ihm um. Ein zerknirschter Ausdruck zeigte sich auf ihrem Gesicht. Nervös tippelte sie von einem Bein aufs andere. „Das ist nicht fair!“, jaulte sie auf. „Jetzt bin ich so gut getarnt und dann darf ich nicht einmal meinen eigenen Wagen fahren!“ „Du hättest doch die blonde Perücke nehmen sollen“, riet Takagi ihr und erntete einen bösen Blick. Er trat auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Wir nehmen mein Auto und ich lasse dich in der Nähe zum Tatort raus.“ Sato schnaubte auf. „Und der Regen?“ Takagi zuckte zusammen. „Ach ja ... der Regen. Mist!“ Ein gedehnter Seufzer entfloh ihr. „Okay, wir nehmen deinen Wagen. Vielleicht wird er ja nicht allzu böse, wenn er mich entdeckt.“ Auch wenn er ihren Mut zum Risiko immer schon bewundert hatte, schwante ihm Übles, sobald er die Fahrertür seines Nissan Skyline schloss. Sato schnallte sich an und er tat es ihr gleich. Takagi startete den Motor, schaltete die Scheinwerfer ein, fuhr rückwärts aus der Parklücke und die Auffahrt hinauf. Es war nicht eine Menschenseele zu erblicken. Das Unwetter hielt die Stadt in seinen eisigkalten Klauen und schickte stürmische Böen durch die Straßen. Die Laternen flackerten, während sich Takagis Finger um das Lenkrad krallten. Er hatte Mühe, den Wagen ruhig zu halten und dem starken Wind entgegenzuwirken. Sato, die neben ihm saß, wurde mit jeder Sekunde nervöser. Ob es das Schneckentempo war, mit dem er den Wagen vorantrieb oder die Angst, dass Megures Standpauke mehr sein würde, als bloßes Brüllen und das Degradieren in die Archive? „Jetzt fahr doch schneller!“ Ah, es war also doch sein Fahrstil, der ihren Hitzkopf zutage treten ließ. „Ja, ich versuche es ja!“, gab Takagi zurück und trat das Gaspedal ein wenig durch. Seufzend ließ sich Sato in den Sitz sinken. „Du lässt mich ja nicht fahren!“ „Was? Mit meinem Wagen?“ Kurz gestattete er sich einen Blick auf sie. „Bei aller Liebe, und meiner Liebe zu dir, dieses Baby hat zwar nicht so viel Speed wie dein Flitzer, aber er hat mich bisher verlässlich überall dort hingebracht, wo ich wollte!“ „Ja, ja, Männer und ihre Autos!“, stöhnte Sato abermals. „Wenn du dich noch ein wenig in Geduld üben würdest, dann kämen wir auch heil und unverletzt an“, sagte Takagi und keuchte auf, als eine Böe das Auto zu weit nach links drängte. „Warum muss dieses Mistwetter unbedingt heute so mistig sein?!“ Sato schnaubte leise und schob sich die kleine Krempe ihres Hutes tiefer in die Stirn. Ihr Blick ging zum Himmel hinauf, sobald Takagi den Wagen parkte. Sie zögerte, doch dann langte sie nach dem Türöffner und trat ins Freie. Takagi hatte sie noch auf dem Revier ins Bild gesetzt. Dem, was er den dröhnenden, donnernden Worten Megures entnehmen konnte, war der Tatort Schauplatz eines Gewaltverbrechens. Der Tote sei ein etwa vierzigjähriger Angestellter der dort ansässigen Firma und einer der letzten dort verbliebenen Personen. „Der Hausmeister hat ihn gefunden“, sagte Takagi. „Da war er bereits tot und laut Gerichtsmedizin, ist er das seit über zwölf Stunden. Folglich muss der Mord gegen vier Uhr begangen worden sein.“ „Wieso war der Tote um vier Uhr morgens noch im Gebäude?“, verlangte Sato zu wissen, doch Takagi zuckte nur die Schultern. „Das wird uns der Inspektor verraten, wenn wir bei ihm sind“, gab Takagi zur Antwort. Und nun standen beide, durchweicht bis auf die Knochen, vor dem Eingang des Hochhauses, in dem das Verbrechen verübt worden war. Hastig schlüpften sie in das Foyer des Gebäudes. Ein Kollege kam auf sie zu. Sato schob sich abermals die Krempe des Huts tief ins Gesicht. „Inspektor Takagi, da sind Sie ja endlich. Und -“ Der Polizist linste am Inspektor vorbei. „Ah, Sie haben Inspektorin Sato dabei. Dann wäre der Fall schnell gelöst.“ Miwako zuckte zusammen. Ihre Tarnversuche waren für die Katz! Betreten nahm sie die Melone vom Kopf und schüttelte das Haar aus. Sie schenkte dem Kollegen ein verlegenes Lächeln und beide ließen sich von ihm zu den Aufzügen führen. „Ich glaube, mich trifft der Schlag!“, vernahm sie die Stimme ihres Chefs, noch ehe es ihr gelang, den Tatort zu inspizieren. „Sind Sie des Wahnsinns?! Hatte ich Ihnen nicht ausdrücklich gesagt, dass Sie im Präsidium bleiben sollen?!“ Miwako fuhr abermals zusammen. Die Wut in Megures Stimme ging mit einem leisen Singsang einher, der ihr trällernd erklärte, gefeuert zu sein. Takagi sprang ihr jedoch unvermittelt bei. „Sehen Sie, Kommissar Megure, wir haben zu wenig Leute und in gut einer Stunde wäre -“, haspelte er und hob abwehrend die Hände. Der Blick des Kommissars ließ auch ihn ganz klein werden. „Sie beide lernen es einfach nicht!“, dröhnte Megure, doch zu Miwakos Verblüffung hielt er sich in seinen wutschäumenden Reden zurück. „Sato, da Sie hier nichts zu suchen haben, halten Sie sich im Hintergrund. Verstanden?“ Sie zuckte zusammen, nickte jedoch artig. „Ich werde nichts anfassen!“ Kommissar Megure schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich an Takagi. „Der Tote heißt Akeno Tanaka, fünfundvierzig und leitendender Angestellter in dieser Computerfirma. Und nach den Aussagen seiner Kollegen war er nicht überall beliebt.“ Takagi machte sich Notizen und erkundigte sich nach den Zeugen. Megure verwies auf den Hausmeister. Den alten Herren hatte man in einem Nebenraum untergebracht. Im Team des Toten konnten fünf weitere Personen ausfindig gemacht werden, doch bei dreien erwies sich das vorgebrachte Alibi als stichhaltig. Takagi sprach zuerst mit dem Hauswart, ehe er sich die anderen Tatverdächtigen zur Brust nahm. Sato folgte ihm auf dem Fuße, lauschte seiner detektivischen Arbeit und machte sich im Geiste Notizen. Satoshi Aruba, der Hausmeister, stand noch immer unter Schock. In all den Jahren, die er nun auf dieser Erde verweilte, war ihm noch nie ein Toter aus dem Schrank mit den Putzmitteln entgegengefallen, erklärte er mit zitternder Stimme. Und überhaupt war dieses Erlebnis die erste grausame Tat, der er sich ausgesetzt sah. Aruba sagte, dass man ihn als guten Geist des Hauses ansähe. Er kümmere sich seit Jahrzehnten um das Gebäude und habe etlichen Firmen beim Ein- und Auszug zugesehen. Mit IT habe er nichts am Hut, erklärte er. Und auch den Toten kannte er nicht. Für die Reinigung des Hauses war eine Firma bestellt, die jeden Dienstag und Freitag zum Putzen käme. Für die Instandhaltung der Fahrstühle wäre ein Unternehmen zuständig, das alle sechs Monate für Wartungsarbeiten verantwortlich sei. Takagi entließ den Zeugen, wenngleich ihn ein seltsames Gefühl beschlich. Viele Menschen hatten Zugang zu diesem Objekt, doch nur wenige durften die IT-Abteilung betreten. Lediglich die Mitarbeiter mit einem gültigen Ausweis kamen durch die Sicherheitskontrolle am Eingang zu dieser Etage. Das Gebäude erschien ihm wie ein Hochsicherheitstrakt. Überall waren die blinkenden Lichter der Überwachungskameras zu erkennen, und -! „Die Kameras!“, rief er aus und Sato erschrak. Sie war zu demselben Schluss gekommen. „Wenn diese Etage mit solchen Sicherheitsstandards aufwartet, dann muss etwas auf den Bändern zu finden sein!“ Er ließ sich die Tapes im Überwachungsraum zeigen. Der dortige Mitarbeiter zeigte sich bestürzt, doch zu Takagis Ernüchterung waren die Aufzeichnungen nutzlos. Die Kameras nahmen bei jedem Login in der Abteilung ein Standbild auf. Er sah den Toten, sah die Kollegen und potenziellen Verdächtigen. „Die Kamera filmt also die ganze Zeit und macht bei jedem Zutritt ein Bild?“, verlangte er zu wissen. Bejahend nickte der Wachmann. „Jedes Mal. Außer -“ „Außer?“, fuhr ihm Sato dazwischen. Der Wachmann zuckte zusammen. „Sofern jemand die Büros betritt, wird die Kamera ausgelöst. Wenn man die Büros verlässt, dann nicht. Aber sie nimmt trotzdem die ganze Zeit auf.“ Sato und Takagi wechselten einen Blick. „Das ist ja alles höchst interessant“, murrte Kommissar Megure, sobald ihm diese Neuigkeit zugetragen wurde. „Folglich müssen wir uns jeden Angestellten vorknöpfen, der gestern hier zur Arbeit erschienen ist.“ „Verzeihen Sie, Kommissar Megure“, hob Takagi an. „Aber laut der Login-Liste, die man uns zur Verfügung stellte, fallen diejenigen heraus, deren Alibi, wie zuvor kontrolliert, hieb- und stichfest ist.“ Megures Blick ging von Takagi zu Sato, die sich vornehmlich im Hintergrund hielt. „Sind Sie derselben Auffassung, Inspektor Sato?“ Miwako, die ihren Beitritt in dieser Angelegenheit schon zu den Akten gelegt hatte, schüttelte den Kopf. „Nein, und so leid es mir tut, Takagi, ich finde, dass wir auch diejenigen mit einem Alibi nicht länger von diesem Fall ausschließen sollten.“ „Aber ohne dieses kleine Kärtchen kommt man nicht durch die Kontrolle!“, beharrte Takagi. „Vielleicht braucht man das auch nicht“, erwiderte Sato. Binnen einer Stunde hatte man sämtliche Mitarbeiter der IT-Firma zum Verhör geladen. Die Anzahl von bisher zwei Verdächtigen erhöhte sich auf acht. Es waren Angestellte allen Alters vertreten. Von jungen, übersprudelnden Praktikanten bis hin zu den alten Hasen und solchen, die erst wenige Wochen in diesem Unternehmen beschäftigt waren. Je mehr Gespräche er führte, desto mehr keimte in ihm der Wunsch, sich die Haare zu raufen. Vielleicht hatte nicht jeder der Anwesenden ein Motiv, doch alle hatte Zutritt zum Gebäude und allmählich reifte in ihm der Gedanke, dass das, was Sato vorhin sagte, einen Sinn ergab. Die Kamera nahm nur dann ein Bild auf, wenn das Kärtchen durch das Lesegerät geführt wurde. Was wäre also, wenn sich der Mörder versteckt hielte und nur auf den Toten hätte warten müssen, bis dieser das Büro verließ? Nein, er verwarf die Idee, da die Kamera den gesamten Flur aufnahm. Ihm qualmte der Kopf. Jeder kam infrage, sogar Außenstehende. Also musste er sich die Aussagen genauer ansehen und vielleicht ein wenig in der Vergangenheit wühlen, um eine Verbindung zu erkennen, denn ein eingeschlagener Schädel war schwer als Unfall zu rechtfertigen. Bei der Begehung des Büros fiel ihm ein kleiner Raum auf, der als Teeküche diente. Er mochte sich irren, doch das Interieur wirkte, bis auf eine Lücke, harmonisch. Das, was ihm unstimmig erschien, war das Fehlen eines Wasserkochers. Ein Wasserkocher als Tatwerkzeug? Wieder schüttelte er den Kopf. Vielleicht war dieses Ding nur in Reparatur. Oder die Angestellten verzichteten auf den schnellen Genuss von Heißgetränken. Abwegig, so erschien es ihm. Sein Streifzug führte ihn an den Arbeitsplätzen entlang. Dieser Fall wies zu viele Variablen auf. Sicherlich gab es ein paar Kollegen, die einen Groll gegen diesen Tanaka hegten. Er entsann sich den Aussagen, doch Verwertbares war nicht dabei. Tanaka hatte jung geheiratet, lebte aber seit gut fünfzehn Jahren von seiner Frau getrennt. Diese wiederum hatte sich ein Leben auf Hokkaido aufgebaut. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hevor, beide über zwanzig. Die Tochter lebte in Kanada, der Sohn in England. Beide hatten den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen und bis auf die Trennung von der Mutter kein Motiv, es ihrem Vater heimzahlen wollen. „Tanaka war ein richtiges Ekel“, meldete sich eine junge Frau zu Wort, deren Erscheinen Takagi erst bemerkte, als diese das Wort an ihn richtete. Yumiko Arashi - ihre Aussage war eine der ersten, derer sich Takagi angenommen hatte. Sie war eine der Praktikantinnen, Mitte Zwanzig und nicht gut auf den Verstorbenen zu sprechen. „Er hat alles angegraben, was unter dreißig ist und Beine hat. Die anderen Formulierungen erspare ich Ihnen.“ Zu deutlich konnte er die Verbitterung, die diese Frau hegte, aus den gefallenen Silben vernehmen. „Er hielt sich für ein Geschenk des Himmels an die Frauenwelt. Kompletter Irrsinn, wenn Sie mich fragen.“ „Könnte das als Motiv genügen?“, fragte Sato, nachdem Takagi ihr von dem Gespräch Bericht erstattete. Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht sollten wir uns auf die Frauen unter dreißig konzentrieren, denn dieser Tanaka soll recht umtriebig gewesen sein“, riet er. „Miwako, komm mal mit!“ Sato folgte ihm in die Küche. Er bat sie, sich umzusehen. Auch ihr entging nicht, dass eines der Geräte fehlte. Sie streifte sich einen Handschuh über und öffnete die Unterschränke. Erst beim dritten Schrank förderte sie einen kleinen Kocher zutage. „Siehst du. Jemanden mit einem Wasserkocher erschlagen, halte selbst ich für eine schwierige Angelegenheit“, sagte sie mit mildem Lächeln auf den Lippen. Takagi ließ die Schultern hängen. Ihm hätte in den Sinn kommen müssen, die Schränke durchzusehen, statt sich der Annahme zu ergeben, der Kocher sei kaputt oder in Reparatur. „Ah, hier stecken Sie!“ Beide fuhren zusammen, als ein weiterer Kollege auf sie zutrat. „Hier, das kam gerade von der Gerichtsmedizin.“ Ihnen wurde ein Umschlag überreicht. Sato überließ ihm die Ehre, sich dem vorläufigen Autopsiebericht anzunehmen. Gemaß der ersten Obduktion, erlitt der Tote ein Schädelhirntruma, das ein Platzen der Gehirngefäße zur Folge hatte. Folglich: Tod durch Einwirkung eines stumpfen Gegenstandes. „Das ist doch die reinste Sackgasse! Er könnte mit allem Möglichen erschlagen worden sein!“ Nun langte sich Takagi tatsächlich ins Haar und zog und zerrte so lang daran, dass Satos Kichern zu einem Lachen anschwoll. Sato verließ die Küche und sah sich, wie er zuvor, in dem großen Büro, das mit einzelnen Kabinen für die Mitarbeiter aufwartete, um. Takagi hatte nicht Unrecht. Alles konnte als Tatwaffe dienen. Tacker, Locher und es war sogar möglich, jemanden mit einem Kugelschreiber ins Herz zu töten. Der Täter brauchte nur zu warten, bis Tanaka die Etage verließ. Doch Kameras fanden sich in jeder Ecke, auf jedem Flur. Selbst in der Tiefgarage. Einzig im Zimmer des Hausmeisters waren keine Kameras gefunden worden. Sie rief nach Takagi, um ihre Vermutung bestätigen zu lassen. „Der Mörder wäre nie ungesehen aus dem Gebäude herausgekommen. Und die Unstimmigkeit mit der Uhrzeit. Was hatte Tanaka um vier Uhr morgens in dieser Firma zu suchen?“ „Firmenspionage?“, riet Takagi. „Gut möglich“, grübelte Sato. „Du hast gesagt, dass du bei dem Hausmeister auch ein eigenartiges Gefühl hättest.“ „Miwako, bitte!“, seufzte er. „Du weißt doch, dass wenn wir uns auf unser Gefühl -“ „Instinkt“, fiel sie ihm ins Wort. „Ein gut ausgeprägter Instinkt ist goldwert!“ „Das mag ja alles sein, nur ... mir ist da noch etwas anderes aufgefallen“, fuhr Takagi fort. „So?“, riet sie und neigte den Kopf. „Ja, diese Praktikantin. Der schmierige Typ sei wohl hinter jedem Rock her gewesen. Ich überprüfe diese Yumiko Arashi noch einmal. Und den Hausmeister auch“, versprach er und setzte sich in Bewegung. „Gut, aber beeil dich! Ich wollte dich zur Feier des Tages zum Essen einladen“, rief sie ihm nach. „Du willst einen Mord feiern?“ Er hielt inne und wandte sich nach ihr um. „Nein, nicht den Mord, du Dummkopf. Eine Feier, dass ich nicht mehr im Innendienst versauern muss!“, erklärte Sato mit gewinnendem Lächeln. „Aber erst, wenn du den Fall gelöst hast!“ Es ließ ihm keine Ruhe. Takagi bat um die Personalakten der Praktikantin und des Hausmeisters. Satoshi Aruba, siebzig Jahre, keine Vorstrafen, nie auffällig wesen. Ein unbescholtener Bürger. Verwitwet, ein Sohn, zwei Enkel, ein Urenkel. Die Akte der Praktikantin bot ihm noch weniger Informationen. Yumiko Arashi. Laut Melderegister war sie erst vor einem Jahr nach Tokyo gezogen. Was sich in den Jahren vor ihrem Umzug zugetragen hatte, war nicht vermerkt. „Sie ist wie ein Geist“, sagte Takagi, lehnte sich in dem Stuhl zurück, auf dem er ausweichend Platz genommen hatte und starrte zu der Deckenbeleuchtung auf. Einen Blick nach rechts werfend, erhob er sich und suchte in der Kabine der Praktikantin nach Hinweisen. Nichts, nicht einmal ein ungespitzter Bleistift. Alles lag akribisch, penibel an seinem Platz. Er besah sich den Bildschirm ihres Rechners. Keine Notizen, keine Klebezettel mit Erinnerungen. Dann fiel ihm etwas ins Auge. Eine kleine Anstecknadel mit der kanadischen Flagge bedruckt. Kanada, Kanada, grübelte er. Vielleicht verlief sich seine Idee ins Leere. Viele Leute interessierten sich für fremde Länder, das war auch für Japaner nicht ungewöhnlich. Er zog die Schubfächer ihres Schreibtischcontainers auf. Nichts, nicht eine Tackernadel war darin zu finden. Was ihm jedoch beim Durchsehen der letzten Schreibtischschublade in die Hände fiel, waren Papierschnipsel, die durch einen Reißwolf gejagt worden waren. Er wühlte sich durch die Fetzen und erhaschte ein Blatt, das dem Vernichtungsprozess entwischt war. Fragend schoben sich ihm die Augenbrauen zusammen. War das ein Trick? Legte sie es darauf an, dass man sie nochmals verhörte? Takagi ließ die Praktikantin in einen Nebenraum bringen. Er wies ihr einen Platz zu und ließ sich ihr gegenüber nieder. Sato saß neben ihm, wirkte, im Gegensatz zu ihm, abgeklärt und gefasst. „Fräulein Arashi“, begann er. „Ich habe Zweifel.“ Da er Miwako im Unwissen darüber ließ, was er im Schreibtisch dieser jungen Frau gefunden hatte, war sie gespannt darauf zu erfahren, welches Kaninchen Takagi aus dem Hut zaubern würde. Da sie mit seinen Worten nicht viel anzufangen wusste, blickte ihm Yumiko unbeeindruckt entgegen. „Wollen Sie nicht wissen, welche Zweifel mir gekommen sind?“, hakte er nach und bekam nur ein Zucken der Schultern zur Antwort. „Ich habe mir Ihren Arbeitsplatz angesehen und dort fand ich einen Ansteckpin mit der kanadischen Flagge darauf. Ich dachte mir nichts dabei und suchte weiter. Sie sind bemerkenswert ordentlich. Wie dem auch sei: Ich suchte weiter und fand in der unteresten Schublade Ihres Schreibtisches etwas, das mich stutzig machte. Das hier, um genauer zu sein.“ Sato beugte sich vor, als Takagi das Beweismittel in Richtung Verdächtige schob. „Es handelt sich dabei um einen Briefumschlag, abgestempelt in Sapporo, Hokkaido. Vielleicht haben Sie ihn aus sentimentalen Gründen aufbewahrt?“, riet er und Sato hoffte, dass er sich in seinen Vermutungen nicht verrannte. Yumiko starrte stumm von dem Kuvert in das Gesicht des Beamten. „Ich hoffe, Sie verzeihen uns in den Eingriff in Ihre Privatsphäre. Doch als ich mich weiter durch die Schublade wühlte, bemerkte ich, dass etwas hinter diese Schublade gefallen war. Es hatte sich dort verklemmt.“ Das Kaninchen entpuppte sich als weiterer Beweis. Sato warf einen Blick auf ihren Kollegen. Ein Gefühl von Stolz breitete sich in ihr aus. „Erkennen Sie es?“, legte Takagi nach. „Es ist eine Fotografie. Ein Foto, ich schätze etwa ein viertel Jahrhundert alt, das vier Personen zeigt. Und der Mann, der den Arm um dieses junge Mädchen geschlungen hat, das ist Akeno Tanaka. Gemessen am Zustand und Alter des Bildes, wage ich die Vermutung, dass das junge Fräulein dort Ihre Mutter ist und der etwa zweijährige Junge und das wesentlich kleinere Kind, das das Fräulein auf den Armen trägt, Sie sind. Habe ich recht?“ Yumiko schluckte sichtlich. Miwako glaubte, ein kurzes Blinzeln erkannt zu haben. Sie wollte ihrem Kollegen nicht vorgreifen und hielt sich zurück, auch wenn ihr die Lösung des Falls unter den Nägeln brannte. Sekunden verstrichen. „Das Foto – ausgerechnet.“ Ein bekümmertes Lächeln legte sich auf die Lippen der jungen Frau. „Sie haben recht. Natürlich haben Sie das. Sentimentalität, ein Anflug von ... ich weiß nicht. Vermissen, vielleicht?“ „Haben Sie Akeno Tanaka getötet?“ Sato keuchte auf. Selten war ihr Takagi so forsch erschienen. Vorsichtig, fast behutsam streckte Yumiko die Finger nach dem Bild aus. Wehmut spiegelte sich in ihren Augen. „Yumiko?“, sprach Sato leise in der Hoffnung, dass eine weibliche Person im Raum das Verhör vorantreiben könne. Die Praktikantin hob den Blick. Ein eisigkalter Schauer floss Sato über den Rücken. „Tanaka hat meine Mutter geheiratet, da waren beide Anfang zwanzig“, hob Yumiko an. „Er schwängerte sie, ohne dass sie verheiratet waren, also musste alles sehr schnell gehen. Als mein Bruder sieben und ich sechs Jahre alt waren, verließ meine Mutter ihn. Sie schleppte uns von einer Stadt in die nächste. Mein Vater, so erzählte uns meine Mutter in ihrem Gram und all ihrer Verbitterung, war ein Schwerenöter. Er hatte sie bereits kurz nach der Hochzeit betrogen, er betrog sie, während sie uns Kinder austrug und darüber hinaus. Als meine Mutter mit uns fortging, suchte er nach uns. Wir waren ihm nicht wichtig, sein Ansehen war alles, worum er sich sorgte. Dieser Bock hurte sich von einem Bett zum anderen. Meine Mutter verzweifelte fast daran, nahm all ihre Kraft auf sich und verließ ihn. Uns nahm sie mit. Und als er uns dann zum fünften Mal innerhalb von drei Jahren aufspürte, nahm sie ihm das Versprechen ab, sich nicht scheidenzulassen, ehe wir Kinder erwachsen wären. Sobald ich zwanzig wurde, unterschrieb sie die Scheidungspapiere. Sie zog nach Hokkaido, meinen Bruder zog es nach London und ich hatte mir in Kanada ein neues Leben, fernab von Japan und meinem Vater aufgebaut. Doch das, was er uns all die Jahre antat, quälte mich. Mit dreiundzwanzig besuchte ich meine Mutter. Sie war schwer krank, hatte die Ehe mit meinem Vater und die Folgen daraus nie verwunden. Wir Kinder, sagte sie, waren das einzig Gute, das sie von diesem Mann erwartet hatte. Sie starb innerhalb der nächsten drei Monate. Ihre Beerdigung war das letzte Mal, dass ich meinen Bruder sah und in mir reifte der Wunsch, es diesem Mistkerl heimzuzahlen. In Kanada hatte ich Mathematik und Informatik studiert. Ich ging zurück nach Tokyo, suchte mir eine Wohnung, fand Freunde und hatte meinen Plan beinahe schon vergessen. In Isamu fand ich einen Gefährten, der mir zeigte, dass das Leben auch schöne Seiten haben konnte. Er stellte mich recht schnell seiner Familie vor. Auch seinem Großvater. Satoshi sagte mir, dass er Hausmeister wäre und in dem Gebäude, wo er angestellt sei, eine IT-Firma ihren neuen Sitz bezog. Da ich mich mit ein paar kleinen Jobs über Wasser hielt, sah ich eine Möglichkeit, das Erlernte anzuwenden. Ich bewarb mich, wurde eingestellt und dann sah ich ihn.“ „Ihr Name - Arashi“, hob Takagi an. Yumiko nickte. „Nach dem Tod meiner Mutter habe ich mir einen neuen Namen gegeben. Es war vielleicht ein wenig dubios, doch ich wollte den Namen Tanaka nicht länger tragen. Er ist mit zu viel Leid und Schmerz verbunden. Und so wurde aus der kleinen Yuzuki Tanaka, Yumiko Arashi.“ Sie lachte verbittert auf. „Dieser Mistkerl hat mich nicht einmal erkannt. Mich! Seine einzige Tochter!“ Takagi schluckte. „Als ich ihn sah, wusste ich sofort, wer er war. Er brauchte sich nicht einmal vorzustellen. Wenn er mich oder die anderen Mädchen betrachtete, quoll mir die Angst die Kehle hinauf. Er erkannte mich nicht, versuchte mir durch Gesten nahezukommen in der Hoffnung, ich sei ein naives Dummchen, das vom großen Meister lernen könne. Sein Wissen beschränke sich nicht nur auf die IT-Branche, hatte er mit süffisantem, schmierigen Grinsen gemeint. Dieser Lüstling wollte sich an seiner eigenen Tochter vergreifen. Als ich Satoshi davon erzählte, denn meistens verbrachte ich meine Pausen bei ihm in seinem Hausmeisterzimmer, wollte er diesen Dreckskerl zur Rede stellen. Ich bat ihn, es nicht zu tun. Beide würden wir unsere Sachen packen und gehen müssen. Tanaka hatte in dieser Firma einen zu großen Einfluss.“ „Warum sind sie nicht einfach gegangen?“, verlangte Takagi zu wissen. Yumiko nickte verstehend. „Das wollte ich. Ich war schließlich nur eine Praktikantin, doch die Machtstellung Tanakas ist allumfassend. Weder ich noch Satoshi hätten hier Fuß fassen können und ich hätte mich weiter mit Jobs durchschlagen müssen. Irgendwann bemerkte Tanaka, dass ich mich in den Pausen ins Hausmeisterzimmer stahl. Er folgte mir, sagte mir unschöne, schäbige Dinge, dass ich es lieber mit alten Knackern triebe, als mich ihm auszusetzen. Es gelang mir, ihn abzuwehren, doch da erinnerte ich mich wieder meiner Wut und meinem Racheplan. Isamu verschwieg ich mein Vorhaben, seinen Großvater weihte ich jedoch ein. Er hatte Vorbehalte, zurecht, doch ich wollte ihm, Tanaka, wehtun. Ich manipulierte die Videobänder, erzeugte ein Standbild von dem Flur, auf dem Satoshi seine Gerätschaften beherbergte und lockte Tanaka in die Falle. Ich schlug mit einem Registraturlocher, Sie wissen schon, diese großen, schweren Dinger, auf ihn ein, bis er sich nicht mehr rührte. Satoshi half mir, ihn in den Schrank zu sperren.“ „Wie haben Sie die Zeit überbrückt? Einen Mord mit einem Locher auszuführen ist kräfteraubend und Sie müssen voller Blut gewesen sein!“, mischte sich Sato ins Verhör. Yumiko lachte auf. „Sie schauen wohl nicht viel fern, wie?“ Sato schmälerte den Blick. „Sagen wir es so: Während meiner Zeit in Kanada habe ich mir ein paar US-Filme angesehen. Und einige sind echte Schocker. Ein bisschen Folie für Malerarbeiten, ein Overall. Ich hatte leider nur einen Locher zur Hand, und keine Axt.“ Wieder lief es Sato eiskalt den Rücken herunter. „Mord mit Vorsatz.“ Die Kälte in den Augen der Täterin war unübersehbar. „Rache, für meine Familie. Für meine Mutter, meinen Bruder und mich. Er hat uns das Leben zur Hölle gemacht und hat sein eigenes in vollen Zügen genossen. Ich habe die Welt nur von einem weiteren, schmierigen Mistkerl, der sich an jungen Mädchen vergeht, befreit. Das ist meine Genugtuung.“ Takagi ließ sie abführen. Das Geständnis lag ihm schwer im Magen. Auch Sato wirkte bedrückt. „Was geschieht jetzt mit dem Hausmeister?“, fragte Takagi. „Ihm droht Anklage wegen Beihilfe, vermutlich“, seufzte Sato. „Ich glaube, das Essengehen verschieben wir auf einen späteren Zeitpunkt.“ „Soll mir recht sein“, erwiderte Takagi beklommen. „Mann, solche Fälle nehmen mich immer ziemlich mit. Das geht mir wirklich an die Nieren.“ Miwako zwang ihre Lippen zu einem aufmunternden Lächeln. Zaghaft langte sie nach seinen kalten, klammen Fingern. „Gute Arbeit!“, ertönte es hinter ihnen. Kommissar Megure schob sich zwischen sie. Sofort ließ Sato von ihm ab. „Ich würde mich ja zu einem Essen hinreißen lassen, doch es schüttet noch immer wie aus Eimern.“ Knapp nickten die Inspektoren das Angebot ab. „Dass Sie mir auf dem Weg nach Hause nicht noch krank werden!“ Megures Lachen vibrierte ihnen in den Knochen. „Ach, und Sato? Es macht Ihnen doch nichts aus, den Papierkram zu erledigen, oder? Immerhin haben Sie sich selbst vorzeitig aus dem Innendienst entlassen.“ „Nein, Kommissar Megure“, sagte Miwako hastig. „Takagi wird Ihnen dabei sicherlich und allzu gern behilflich sein“, fuhr der Kommissar fort. „Natürlich“, murrte Takagi zerknirscht. Er blickte neben sich. „Wir könnten uns etwas aufs Präsidium liefern lassen.“ Sato zuckte mit den Schultern, hakte sich bei ihm unter und zog ihn mit sich in den nächsten Regenschauer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)