Warsong von Ceydrael ================================================================================ Kapitel 8: Schatten der Vergangenheit ------------------------------------- 10.12.2069, 16.49 Uhr, Tokio »Ist die Auswertung für die Präsentation vom Controlling fertig?« »Natürlich.« »Dann geben Sie mir bitte nochmal einen kurzen Überblick über unsere Wirtschaftszahlen.« Kalifa rückte die filigrane, randlose Brille auf ihrer Nase zurecht und rief die gewünschten Daten auf ihrem Pad auf: »Das neue Geschäftsjahr ist hervorragend angelaufen. Wir haben einen Auftragseingang von 73,6 Millionen Eurodollar, die anhaltende Scorn-Krise in der Mongolei und der aufflammende Kubele-Konflikt in Südafrika verschafft uns natürlich zusätzliche Anfragen, wodurch der Auftragseingang weit über Plan liegt. Der NG-100 ist schon jetzt, vor seiner offiziellen Markteinführung, unheimlich gefragt. Bisher liegen wir bei einem Umsatz von 64,3 Millionen Eurodollar. Unser EBIT sieht sehr gut aus.« Kalifa hielt kurz inne, um Marco die Krawatte vom Schreibtisch zu reichen. »Die Liefertreue schwächelt ein wenig, wird sich aber voraussichtlich stabilisieren, wenn die ersten Produktionsstrecken in dem neuen Werk der Tokio Bay anlaufen. Allerdings benötigen wir dafür noch mehr Personal als eigentlich gedacht. Darüber ist Jimbei schon informiert. Die Personalabteilung wird einen Budgetplan aufstellen, um die zusätzlichen Kosten in die Planung für das nächste halbe Jahr aufzunehmen.« Marco richtete die Krawatte um seinen Hemdkragen an und band diese mit geübten Fingern zu einem perfekten Knoten. »Liegen wir im Zeitplan für die Fertigstellung des Werkes in der Bay?« Kalifas dezent lackierter Nagel glitt über ihr Datenpad, als sie mit dem Zeigefinger den Inhalt überflog und nickend bestätigte: »Absolut. Ende Januar werden die ersten Prototypen des NG-100 voraussichtlich ausgeliefert werden können. Es gibt ein paar Verzögerungen bei der Fertigstellung der Personalquartiere, aber nichts gravierendes. Die Produktionsstrecken sind so gut wie einsatzbereit.« »Die Stellenausschreibung für den Posten des neuen Kundensegmentleiters…-« »... ist bereits wie gewünscht an das Recruiting-Team weitergeleitet, Sir. Wenn Sie möchten, werde ich Sie informieren lassen, sobald es interessante Bewerber gibt...?!« »Danke, aber das wird nicht nötig sein. Ich vertraue Jimbeis Urteil«, verneinte Marco beiläufig, als er die letzten Akten auf seinem Schreibtisch zusammenschob und in einer Schublade endlich die Details der Anfrage eines geschätzten, langjährigen Kunden fand. Er würde sich an das neue Geschäftsführerbüro wohl erst noch gewöhnen müssen, in das er gestern schon umgezogen war. »In Ordnung.« Kalifa notierte das mit fliegenden Fingern, dann schloss sie die Datei und ließ das Pad sinken. Ihre Augen flackerten kurz in dem statisch blauen Licht der Kybernetik. »Jozu hat mich gerade darüber informiert, dass der Vorstand eingetroffen ist.« Marco zupfte ein letztes, wahrscheinlich unnötiges Mal seine Krawatte zurecht und versuchte nicht allzu viel Anspannung wegen der anstehenden Personalversammlung zu empfinden. Zu seinen persönlichen Highlights im Leben würden solche Veranstaltungen wahrscheinlich nie zählen, aber heute musste er sich der Belegschaft das erste Mal als neuer CEO stellen. Noch dazu waren seine Gedanken noch nicht gänzlich im Hier und Jetzt angekommen. Einerseits dachte er an Trafalgar Lamy, in deren Heilung er heute fast zwei Stunden investiert hatte und diese schlimmen Wunden in ihrem Geist ließen bei ihm stets ein unbehagliches Gefühl zurück. Zumindest schritt ihre Genesung gut voran, doch das so ausdauernde Nutzen seiner Magie hatte ihn geistig ermattet. Andererseits war da natürlich ihr Bruder Law, der Marco einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte. Seit ihrem gemeinsamen Auftrag am Samstag hatten sie nicht mehr wirklich miteinander gesprochen. Zwar hatte er Law ab und an bei den Mahlzeiten auf der Gästeetage gesehen oder bei der Behandlung von dessen Schwester, doch die Konversation hatte sich meist auf eine höfliche Begrüßung oder Verabschiedung beschränkt. Ein Umstand, der irgendwie an Marco nagte und für ihn regelrecht unbefriedigend war. Natürlich respektierte er Laws Grenzen und der hatte ihm bei ihrer letzten Unterhaltung ziemlich unmissverständlich klar gemacht, dass er sich fern halten sollte. Marco akzeptierte das und gab Law den Raum, den der seiner Meinung nach brauchte. Allerdings... nahm er dem jungen Mann diese ablehnende Haltung auch nicht gänzlich ab. Es erschien ihm eher wie eine Schutzreaktion. Marco wünschte wirklich, Law würde ihm vertrauen, doch der junge Mann war wesentlich anspruchsvoller und vorsichtiger als die meisten Menschen, mit denen er normalerweise zu tun hatte. Law würde sich niemals allein durch ein paar schöne Worte, durch Geld, Prestige, gutes Aussehen oder Macht überzeugen und kaufen lassen... und das bewunderte Marco. Allerdings machte diese argwöhnische Haltung es natürlich schwierig, ihm nahe zu kommen, gerade wenn man zu jener Gesellschaftsschicht gehörte, die Law grundsätzlich zu verachten schien. »Oh...«, Kalifa unterbrach seine Überlegungen mit einem kleinen, erfreuten Glucksen und eröffnete mit glänzenden Augen: »Boa Hancock ist ebenfalls gerade angekommen.« Nun, bei der Popdiva wurde offensichtlich selbst die strengste Assistentin zu einem Fangirl. Marco nickte und beugte sich über den Schreibtisch, um die Stichpunkte seiner Rede von der digitalen Arbeitsoberfläche auf das persönliche HUD seiner Brillengläser zu transferieren. Glücklicherweise war die Popdiva seiner kurzfristigen Einladung gefolgt und hatte sich heute für einen Kurzbesuch und kleinen Gastauftritt angekündigt - eine sicherlich gelungene Überraschung für die Mitarbeiter und Gäste. Manchmal musste man seine Beziehungen auf diesem Pflaster eben doch wie ein gutes Blatt ausspielen, das hatte ihm Whitebeard schon frühzeitig beigebracht. Die Pressekonferenz für die Medien heute Vormittag war ruhig und reibungslos über die Bühne gelaufen dank Thatchs perfekter, bis ins kleinste Detail ausgearbeiteter Planung... und dem Umstand, dass Weevil nichts davon gewusst hatte. Marcos selbst konnte so etwas schlecht einschätzen, doch Thatch war hinterher der Meinung gewesen, dass er sich den Fragen der Reporter souverän gestellt hätte und die Medien ihm gegenüber ziemlich wohlwollend gestimmt waren, also gute Bedingungen für einen neuen CEO. »Na schön...«, holte Marco tief Luft, strich sich noch einmal durch die Haare und schloss die Knöpfe seiner Anzugjacke. »Dann wollen wir mal«, wandte er sich mit einem schrägen Schmunzeln seiner Assistentin zu. Kalifa und er machten sich dann rasch mit dem Lift auf ins Erdgeschoß des Newgate-Towers, wo die Versammlung in der hauseigenen Eventhalle stattfinden würde. Auf halbem Weg stiegen Sabo und Jozu zu ihnen, der Marco kurz das Sicherheitskonzept des Abends erläuterte - eine zwingende Notwendigkeit, denn sie erwarteten so einige namenhafte Gäste im Haus. Der Lift hielt sanft im Erdgeschoß und mit dem Öffnen der Türen war die Ruhe vorbei. Durch die gläserne Front des Towers konnte Marco den Menschenauflauf sehr gut sehen, ein regelrechtes Blitzlichtgewitter, ein Meer aus Plakaten, Transparenten und begeistert winkenden Fans, die sich vor den Toren drängten...verständlich, denn eine schnittige Limousine war eben in den Hof gerollt, der Boa Hancock in einem eleganten, dunkelvioletten Abendkleid entstieg. Die Popdiva winkte ihren Fans würdevoll zu, dann warf sie sich die langen, schwarzen Haare in einer betörenden Geste über die Schulter und posierte für ein paar Fotos, bevor sie in den Tower stolzierte. Hinter ihr folgten einige Männer ihres eigenen Sicherheitspersonals. Ein bezauberndes Lächeln erhellte jetzt ihr Gesicht, als sie Marco entdeckte, der mit Jozu, Sabo und Kalifa im Foyer stehen geblieben war, um sie zu begrüßen. Boa Hancock steuerte zielgerichtet auf den Blonden zu und streckte ihm die perfekt manikürten Hände entgegen. »Marco... du siehst hervorragend aus, mein Lieber«, schnurrte sie angetan, nachdem ihre dunklen Augen ihn wohlwollend gemustert hatten. Er ergriff ihre Hände sanft und sie reckte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen weichen Kuss zur Begrüßung auf die Wange zu drücken. »Ich habe mich sehr über deine Einladung gefreut«, merkte sie mit ihrer melodischen Stimme an, die tagtäglich Millionen von Fans in den Bann schlug. »Und ich freue mich, dass du dir die Zeit genommen hast, um heute vorbei zu kommen, obwohl ich fürchte, dass mir gleich niemand mehr zuhören wird, weil alle nur dich ansehen und auf deinen Auftritt warten werden«, meinte Marco augenzwinkernd. Ihr sinnlicher Mund verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. »Ich zumindest werde dir ganz gespannt zuhören«, versprach sie mit einem gewählten Augenaufschlag, der wahrscheinlich den stärksten Mann in die Knie zwingen konnte. Glücklicherweise war er gegen ihre Kräfte immun. Marco spürte die Ausläufer von Hancocks Magie - wie ein schmeichelnder, lockender Duftstoff umgab sie eine Aura, die jeden mit einem schwachen, ungeübten Geist ihr gegenüber wohlwollend stimmen würde. Selbst seine Mitarbeiter konnten sich ihrer Wirkung nicht gänzlich entziehen - der gestandene Jozu lockerte sich die Krawatte ein wenig und Kalifa blinzelte ein paar Mal hektisch, eindeutig um Contenance bemüht. Sabo hatte knallrote Ohren und wirkte, als wolle er sich vor der Popdiva am liebsten gleich in den Staub werfen. Marco bot Hancock seinen Arm, damit er sie in Richtung des Versammlungsraumes führen konnte. Er neigte sich zu ihr herunter und wisperte galant: »Du bringst meine Mitarbeiter durcheinander, Hancock. Bitte zügle deine Magie ein bisschen, ich brauche sie alle bei klarem Verstand. Dir liegt die Belegschaft doch auch so schon zu Füßen... du siehst immerhin umwerfend aus«, schmeichelte er ihr charmant, wobei es nicht einmal gelogen war. Boa Hancock war von Mutter Natur wirklich besonders gesegnet mit ihren großen, dunklen Augen, den filigranen Gesichtszügen und dem perfekt geformten Körper. In dem hautengen, hoch geschlitzten Kleid sah sie wahrlich wie eine fleischgewordene Göttin aus. Viele junge Mädchen der ganzen Welt wünschten sich nichts mehr als wie sie zu sein. Doch für Marco war sie vorrangig eine geschätzte Geschäftspartnerin, vielleicht auch ein Stück weit eine gute Bekannte... aber er fühlte sich nicht auf romantische oder körperliche Weise zu ihr hingezogen. Hancock lächelte Marco gefällig an und lehnte den Kopf gegen seinen Arm. Sie seufzte: »Ach, wie langweilig, aber schön, wie du willst...« Der betörende Nebel lichtete sich ein wenig und der sinnliche Druck auf Marcos mentale Barriere ließ schlagartig nach. »Danke dir.« Er senkte die Stimme auf ein vertrauliches Niveau und fragte einfühlsam: »Wie geht es deinen Schwestern in Indonesien? Ich hab' von dem Bürgeraufstand gehört, der in Jakarta niedergeschlagen wurde...« Hancocks Augen umwölkten sich dunkel und ihr Lächeln schwankte kurz. Ihre Finger schlossen sich ein wenig fester um seinen Arm. »Es geht ihnen gut. Sie haben es rechtzeitig geschafft mit einem Großteil der Rebellen zu entkommen. Zum Glück haben wir noch immer gute Kontakte in der Heimat, man konnte sie warnen.« Die Boa-Familie stammte ursprünglich aus Indonesien und wenig vermögenden Verhältnissen, bevor Hancock sich in Japan und der ganzen Welt einen Namen machte. Einen sehr großen Teil ihrer Einnahmen schickte die Popdiva regelmäßig in ihre Heimat, um ihre Schwestern zu unterstützen, die mit einer ansässigen Bürgerbewegung gegen den zurzeit amtierenden Diktator und die schlechten Zustände im Land kämpften. Die Eventhalle war schon brechend voll und viele Köpfe wandten sich jetzt zu ihnen um, als Marco mit Boa Hancock am Arm den Raum betrat. Es folgte das obligatorische Begrüßen des Vorstandes, diverser Gäste und langjähriger Geschäftspartner und jede Menge leichter Smalltalk. Glücklicherweise blieb Hancock noch eine Weile an Marcos Seite und übernahm damit einen Großteil der oberflächlichen Konversationen, einfach dadurch, dass die meisten der Gäste bezaubert von ihrem Aussehen und Charme waren. »Mein Sohn...«, vernahm Marco die Stimme seines Vaters und wandte sich um, nachdem er Hancock verabschiedet hatte, die sich auf ihren Auftritt vorbereiten wollte. Whitebeard steuerte durch den Raum auf ihn zu, hinter ihm folgten zwei Männer, die Marco nicht kannte, doch die ihm vage bekannt vorkamen. Der eine trug einen eleganten, weiß-grauen Frack mit Ornamentstickereien und führte einen altmodischen, silbern verzierten Gehstock mit sich. Sein Haar und sein Bart waren weiß, er strahlte eine ruhige Erhabenheit aus. Der andere war in einen schlichten, dunkelroten Anzug gekleidet, hatte dunkle, silbern durchwirkte Haar und die Statur eines Granitblockes. Etwas verspätet trudelte die Erkenntnis dann bei Marco ein, als die drei Männer vor ihm stehen blieben und Edward Newgate seine Begleiter vorstellte. »Marco, das sind Silvers Rayleigh und Sakazuki Akainu. Wie du dich sicher erinnerst, gehören sie beide ebenfalls zum Senat. Da sie gerade in Japan sind, habe ich sie heute spontan eingeladen«, erklärte sein Vater. Silvers Rayleigh war der Mann im Frack, der Marco jetzt aus klugen, wachen Augen musterte, als er auf ihn zutrat und ihm die Hand für einen überraschend kräftigen Händedruck reichte. »Marco Phoenix, hm, der berühmte Mentokinet. Endlich treffen wir uns persönlich, wo Edward doch schon so viel von dir erzählt hat und deine Ernennung zwangsweise so überhastet und kaum angemessen von statten gehen musste«, meinte er mit einem entschuldigenden Lächeln. Marco verneigte sich leicht. »Sir, es ist eine große Ehre für mich, Sie kennenzulernen«, sprach er respektvoll. Das war es tatsächlich - Silvers Rayleigh war eines der Gründungsmitglieder des Senats und der Vorsitzende und Sprecher für die NoMags. Er war eine der treibenden Kräfte für das Ende der Magiekriege gewesen und ein geschätzter Diplomat. Auch der andere Mann kam ihm nun entgegen und reichte Marco die Hand. Sein Griff war wie eine Fessel und seine dunklen Augen durchbohrten Marco auf eine fast unangenehm forschende und harte Weise. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel, als er mit rauer Stimme sprach: »Willkommen in Senat, Mister Phoenix. Mir wäre es zwar lieber gewesen, wir hätten Ihrer Aufnahmeprüfung persönlich beiwohnen können, doch vielleicht wird sich ja zeitnah die Gelegenheit ergeben, dass Sie auch uns Ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten umfassend demonstrieren können...« Das klang zwar eher nach einer unterschwelligen Drohung als nach einem Vorschlag, doch Marco nickte zustimmend und begegnete Sakazukis Blick unbeirrt. »Mit Sicherheit, Sir. Ich wäre erfreut, Sie persönlich von meiner Eignung überzeugen zu können«, entgegnete er ruhig, obwohl diese geringschätzige Art wirklich ungute Assoziationen in Marco weckte. Sakazuki war der Vorsitzende und Sprecher für die MAGs, er selbst ein Geo-Thermalmanipulator vom Rang A, der Magma und Lava beeinflussen konnte. In seinen Augen mochte ein MentalMAG wie Marco vielleicht eine Beleidigung für den Senatssitz sein. Rayleigh stützte sich gelassen auf seinen Gehstock und lächelte Marco wohlwollend an. »Vielleicht können wir uns nach der Versammlung noch einmal zusammen finden? Bestimmt hast du noch einige Fragen zu den internen Abläufen des Senats und ich bin mir ziemlich sicher, dass Shanks zwar viel geredet... doch eigentlich nichts gesagt hat, nicht wahr?«, mutmaßte er mit amüsiert, doch listig funkelnden Augen. Marco erwiderte das Lächeln, meinte aber ernst: »Nun, Shanks hat mir alles mitgeteilt, was für den Moment relevant und wichtig war. Er hat überzeugend die Dringlichkeit der Situation dargelegt, es schien vertretbar, eine umfassende Einführung in die Handlungsweise des Senats auf später zu verschieben.« Zugegeben, Shanks und er waren zwar nicht die besten Freunde, doch in dessen Abwesenheit schlecht über ihn zu sprechen, kam Marco nicht richtig vor. »Eine diplomatisch sehr kluge Antwort«, meinte Rayleigh anerkennend, bevor er sich zu Whitebeard neigte. »Nun, du scheinst nicht zu viel versprochen zu haben, Edward. Er kann sich ausdrücken und ist augenscheinlich loyal. Ich glaube, ich mag ihn.« Whitebeards Schnurrbart hob sich nach oben, er strahlte vor väterlichem Stolz. Sakazukis Gesicht war noch immer so unnachgiebig und hart wie Stein. Um ihn zu überzeugen, würde es wohl ein bisschen mehr als galante Worte brauchen, mutmaßte Marco. Thatch winkte Marco nun über die Menge hinweg vom Rednerpult zu. Das Licht wurde leicht gedämpft und die Gespräche umher verstummten langsam. Die Technik schien bereit und die Versammlung konnte damit beginnen. »Meine Herren, die Pflicht ruft...«, entschuldigte sich Marco. »Ich werde Sie später aufsuchen, dann können wir uns sicher weiter unterhalten.« »Unbedingt. Wir müssen über diesen Fall reden, an dem du mit Shanks arbeitest. Bis dahin werden wir uns dem Essen widmen. Komm schon, Akainu«, stieß Rayleigh seinen Begleiter mit dem Knauf seines Stockes an, dann steuerte er zum reich gedeckten Buffet hinüber. »Sieh' dir nur dieses vortreffliche Speisenangebot an. Ach, ich liebe die japanische Küche!« Marco holte noch einmal tief Luft, sein Vater drückte ihm bestärkend die Schulter, dann glitt er lächelnd und hier und da händeschüttelnd durch die Menge der versammelten Leute, um schlussendlich zum Rednerpult zu gelangen, wo Thatch die Versammlung inzwischen mit der allgemeinen Begrüßung einleitete. Gespannte Stille legte sich über die Halle und Marco begann souverän mit seinem Vortrag, der Vorstellung der Unternehmenszahlen und gab einen Ausblick auf die nächsten, geplanten und größeren Projekte. Als er geendet hatte, erntete er viel Applaus und herzlichen Zuspruch aus der Menge. Nachdem der geschäftliche Teil abgehakt war, wurde die Bühne kurz umgebaut und vorbereitet, damit Boa Hancock anschließend ihre neueste Single exklusiv heute in der Erstaufführung promoten konnte - gute Publicity für sie und das Unternehmen. Wie zu erwarten tobte die Menge vor Begeisterung. Marco stand am Bühnenrand und verfolgte den gelungenen Auftritt der Popdiva ebenso angetan wie die Menschen, die vor der Bühne selbstgemalte Transparente und Liebesbekundungen in die Höhe hielten. Man mochte von Hancock halten, was man wollte - singen konnte sie. Ihre Stimme hatte eine sinnliche Leichtigkeit, die direkt ins Ohr ging und absolut bezaubernd und beflügelnd wirkte... und das ganz ohne ihre Kräfte. Marco ließ den Blick zufrieden über die feiernde Menge gleiten... und erstarrte in eisigem Entsetzen. Dort, zwischen den fröhlich jubelnden Menschen in der hintersten Reihe der Halle, stand eine bleiche Gestalt in einer abgewetzten Soldatenkluft... und starrte ihn aus bodenlos finsteren, anschuldigenden Augen an. Marcos Herzschlag setzte für eine Sekunde aus. Nein, das ist nicht möglich... er kann nicht hier sein, das muss ein Trick sein... Niemand sonst schien den jungen Mann in den hinteren Reihen wahrzunehmen, der regungslos zwischen ihnen stand. Die Erscheinung mit den zerzausten, braunen Haaren hob einen Arm und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger einer stummen Anklage gleich auf Marco. Ein Lächeln breitete sich auf den fahlen Lippen aus, doch es war geisterhaft und leblos. Kayle... Dann erschien ein kreisrundes Einschussloch mitten auf der Stirn des jungen Mannes, sein Kopf wurde nach hinten gerissen, grell rot leuchtendes Blut spritzte auf die Wand, bevor er wie ein gefällter Baum zu Boden ging. Marco keuchte geschockt und stolperte einen haltlosen Schritt zurück. Er wartete auf entsetztes Kreischen, auf Hilferufe aus der Menge, doch nichts passierte. Mit flackernden Augen suchte er hektisch die Reihen der Feiernden ab, doch der junge Mann war verschwunden. Auch das Blut war weg. Er zuckte ungewollt heftig zusammen, als Thatch mit gerunzelter Stirn an seine Seite trat und besorgt fragte: »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen... ist alles in Ordnung? Geht es dir nicht gut?« Seine Augen musterten Marco kritisch. Auch Jozu schien zu bemerken, dass etwas nicht stimmte und kam eilig zu ihnen herüber. Eine Hand hatte er an dem Headset in seinem Ohr und beantwortete gerade die Rückfrage einer seiner Männer im Außenbereich. »Alles in Ordnung, Sir?«, wandte er sich wachsam an Marco und folgte dessen aufgewühltem Blick über die tobende Menge, die gerade eine Zugabe von der sich verbeugenden Popdiva forderte. »Haben Sie etwas verdächtiges gesehen? Soll ich die Sicherheitsmaßnahmen...-« »Nein... es ist nichts«, winkte Marco ab, dann ließ er die kybernetischen Brillengläser zurückschnappen und rieb sich die Augen. »Wahrscheinlich nur der Stress und die stickige Luft... Thatch, würdest du mir ein Glas Wasser holen?«, bat er mit rauer Stimme. Er benötigte einen Augenblick allein, um sich wieder zu sammeln. Thatch und Jozu tauschten zwar einen wenig überzeugten Blick, schienen aber zumindest für den Moment beruhigt. Thatch nickte und eilte zum Buffet hinüber, während Jozu auf seinen Posten am Eingang der Halle zurückkehrte. Marco schloss kurz die Augen und bemühte sich um ruhige Atemzüge, dann sah er mit einem mulmigen Gefühl im Magen erneut in die Menge hinaus. Doch wie zuvor war alles normal. Der junge Mann blieb verschwunden. Was zum Teufel war das...? Eine Illusion? Eine Warnung möglicherweise? Marco hatte niemandem außer Whitebeard je von Kayle erzählt. Niemand hier konnte davon wissen - von diesem dunklen Fleck in seiner Vergangenheit, seiner Schuld, seiner Schande... Sein Blick schweifte zu seinem Vater hinüber, der sich angeregt mit Silvers Rayleigh und Sakazuki Akainu unterhielt. Vielleicht war es tatsächlich nur Einbildung gewesen oder ein Produkt seines eigenes Geistes. Nach den sich überschlagenden Ereignissen der letzten Tage vielleicht kein Wunder... Marco zog sich vom Bühnenrand zurück und ging Thatch entgegen, der ihm mit immer noch misstrauisch zusammengekniffenen Augen das Wasser reichte. »Mach' nicht so ein verkniffenes Gesicht, das lässt dich alt aussehen...«, murmelte Marco in sein Glas und versuchte sich an einem halbherzigen Schmunzeln. »Dann hör' du damit auf, dass ich mir Sorgen um dich machen muss«, plusterte sich der Marketingmanager schnaubend auf. Doch dann wurde sein Tonfall weicher. »Du kannst mit mir reden, das weißt du, ja?« Marco nickte. »Ja. Danke, Thatch, aber es ist nichts... wirklich. Mach' dir keinen Kopf«, beteuerte er, obwohl er sich ehrlich nicht gut dabei fühlte, seinen Freund anlügen zu müssen. Aber er wollte sich heute nicht zwangsläufig mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen müssen. Mit was er sich allerdings würde wohl oder übel auseinandersetzen müssen, war... sein Stiefbruder. Es knisterte statisch in seinem Ohr, dann erklang Fossas brummige Stimme: »Sir, entschuldigen Sie die Störung, aber... Weevil Newgate ist hier. Wir haben ihn in der Empfangshalle festgesetzt. Er ist betrunken und... nervig wie immer. Sollen wir ihn an seinen Eiern wieder rausschleifen?« Fossas etwas zu enthusiastisch vorgebrachter Vorschlag ließ vermuten, dass dem Sicherheitsmann diese Vorstellung vielleicht ein bisschen zu sehr begeisterte. Marco stieß ein strapaziertes Stöhnen aus, drückte Thatch sein Glas in die Hand und meinte gleichzeitig beschwichtigend zu Fossa: »Nein, schon gut. Ich bin unterwegs. Ich kümmer' mich darum.« Thatch sah ihn fragend an und Marco meinte nur dumpf: »Ärger im Anmarsch...« »Weevil?!« »Hmmm...« »Scheiße... ich such' Pops, der muss diese Nervensäge heute wirklich nicht zu Gesicht bekommen...« »Ich werd' mit ihm reden. Vielleicht verzieht er sich ja freiwillig.« Thatchs Augenbraue, die fast seinen Haaransatz küsste, ließ darauf schließen, dass der es wahrscheinlicher fand, das vorher die Hölle zufror. »Na sicher... viel Glück.« Marco richtete seine Krawatte. Mit düsterem Gesicht, aber entschlossenen Schritten bahnte er sich nun den Weg zum Ausgang, von wo Jozu ihm schon entgegen sah und zuvorkommend die Tür aufhielt. »Eine Warnung, Sir... er ist nicht allein«, murmelte der stämmige Sicherheitsmann betreten und Marco fragte sich, was das zu bedeuten hätte, als er schon durch die Tür trat und nach der nächsten Ecke in der Empfangshalle stehen blieb, als wäre er vor eine Wand geprallt. Und das nicht wegen des Anblicks von Weevil Newgate, der den Rahmen des guten Geschmacks wieder einmal mit einem weißen, fast aus allen Nähten platzenden Anzug sprengte, der so effektheischend blitzte und blinkte, dass man bei längerem Hinsehen Gefahr lief, einen epileptischen Anfall zu bekommen, nein... was Marco einen Schock versetzte, war der Umstand, dass Stussy mit einem süßlichen Lächeln an dem Arm seines Stiefbruders hing. Sie sah noch immer genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte mit ihrem lieblichen Gesicht, den großen blauen Augen und der zarten Figur. Neben Weevil wirkte sie so deplaziert wie ein eben aufgekeimtes Pflänzchen neben einem Bulldozer in ihrem hellen Kleid, einer Federstola und sicherlich sündhaft teuren Kette aus schwarzen Opalen um den Hals. Auch sie bemerkte Marco nun ebenfalls und wirkte peinlich berührt, als wäre ihr das Ganze tatsächlich unangenehm. Was für ein schönes Schauspiel... Er wusste ja inzwischen, dass es ihr leicht fiel, die Männer wie Unterwäsche zu wechseln, doch das mit Weevil war schlichtweg absurd. Was auch immer sie zu ihm getrieben hatte, Liebe war es gewiss nicht. Marco zog die Luft ruckartig ein und schluckte hart, dann straffte er die Schultern und lief unbeirrt auf seinen neu gewonnenen Bruder zu. Stussy versuchte er einfach auszublenden. Er trauerte ihr nicht hinterher, über diese Phase war er längst hinweg, doch natürlich waren mit ihrem Anblick Emotionen verbunden, auf die er gerade nicht vorbereitet gewesen war. Weevils schwammiger Blick fokussierte sich jetzt auf Marco, nachdem er wohl einsehen musste, dass es wenig bringen würde, Fossa weiter anzupöbeln. Der große und kräftige Sicherheitsmann stand mit einer Zigarre im Mundwinkel und seinem Sturmgewehr im Arm wie eine unverrückbare, bärtige Mauer aus Muskeln vor Whitebeards Sohn und ließ sich von dem Gift und Galle spuckenden Schnösel gar nicht aus der Ruhe bringen. »Ach, ist das jetzt das Empfangskomitee, ja? Lässt sich mein neuer, ach so perfekter Bruder dazu herab, vom Elfenbeinturm zu steigen, um mit dem Pöbel zu reden?! Wahnsinn, wirklich...«, Weevil klatschte spöttisch in die Hände und das, was Marco für eine metallische Verzierung an seinem Anzug gehalten hatte, löste sich jetzt von seinem Oberarm, entfaltete sich zu einer Videodrohne und schwebte mit blinkendem Aufnahmelicht neben Weevils Kopf. »Willkommen, meine lieben Follower, im Newgate-Tower! Und seht hier, den neuen Herrn, den Thronräuber und schleimerischen Arschkriecher... Marco Phoenix!«, tönte Weevil theatralisch. »Schalt' die Drohne ab...«, grollte Marco jetzt schon angefressen. Sein Vorsatz, sich vernünftig mit diesem Kerl zu unterhalten, geriet gerade mächtig ins Schwanken, denn er hatte wirklich keine Lust für diesen Dummkopf den Affen in den sozialen Medien zu machen. »Das ist selbst für dich armselig.« Weevil zog die Brauen arrogant in die Höhe. »Oh oh, da spricht der Master of Rules, Mister Unfehlbar. Ich hab' hier kein Schild gesehen, dass Filmen verboten wäre... Bruder«, das letzte Wort spie Weevil aus wie sauren Wein. Marco verzog das Gesicht und kräuselte die Nase, als ihm der alkoholgeschwängerte Atem seines Bruders entgegen schlug. So ziemlich alles ließ darauf schließen, dass Weevil wieder einmal über den Durst getrunken hatte... eines seiner vielen, menschlichen Probleme. »Du bist betrunken, Weevil«, bemühte sich Marco um einen möglichst ruhigen und sachlichen Tonfall. »Am besten gehst du dich erst mal ausnüchtern und wir klären das später... wie erwachsene Leute.« Weevil kam noch einen Schritt auf Marco zu, wobei er Stussy wie ein hübsches Spielzeug mit sich zog. »Betrunken?!«, lachte er laut und so aufgesetzt, dass es Marco schon in den Ohren schmerzte. »Ach ja, das würde dir ja nie passieren, nicht wahr?! Alkohol ist dir ja viel zu banal und unter deiner Würde. Der fehlerlose Marco hat ja keine Schwächen... na gut, bis auf diese eine, dass er eine Frau nicht halten kann, nicht wahr, Darling?«, höhnte er gehässig und neigte sich zu Stussy, um ihr einen feuchten Kuss auf die Wange zu geben. Das war ihr jetzt sichtlich peinlich und zuwider, denn sie schlug die Augen nieder, als könnte sie Marco kaum ansehen. Ein Mindestmaß an Anstand schien sie zumindest noch zu besitzen. Marcos Kiefermuskeln verkrampfen sichtbar und obwohl er sich auf diese billige Provokation wirklich nicht einlassen sollte, rissen diese dämlichen Worte natürlich an der alten Wunde. Allerdings sparte er sich eine passende Erwiderung, denn dann würde dieser Unruhestifter nur genau das erreichen, was er wollte.. »Izou...«, raunte er düster. »Hol' die Drohne endlich runter.« Als hätte der Scharfschütze die ganze Zeit nur auf diesen Befehl gewartet, zischte ein perfekt gezieltes Projektil durch eines der offenen Oberlichter in der Empfangshalle und pflügte die Drohne aus der Luft. Weevils Gesicht lief rot an vor Wut und sein weißer Schnurrbart, ein armseliger Versuch, seinem Vater nachzueifern, erzitterte durch seine bebenden, speckigen Wangen. »Für den Schaden wirst du aufkommen, du Penner!« Marco lächelte müde. »Vielleicht verrechnen wir es erst einmal mit dem Firmenwagen, denn du neulich zu Schrott gefahren hast...«, erwiderte er gelassen, was Weevil nur noch mehr auf die Palme zu bringen schien. »Ich will meinen Vater sehen!« »Vergiss' es.« »Das hast du nicht zu entscheiden! Wer glaubst du, wer du bist?! Verzieh' dich und schieb' dir deinen Stock wieder in den Arsch, Marco!« »Was soll dieses Theater hier, Weevil?!«, donnerte Whitebeards volle Stimme wie eine Gerölllawine durch die Empfangshalle. Marco drehte sich halb um und sah seinen Vater mit großen Schritten auf sie zukommen. Thatch eilte mit unglücklichem Gesichtsausdruck hinter ihm her und zog Marco gegenüber die Schultern hilflos nach oben. Natürlich würde sich Edward Newgate nicht aufhalten lassen und garantiert hatte er mitbekommen, dass sein Sohn hier war. In seinem eigenen Haus entging ihm sicher nichts. »Ach, da ist er ja, unser geliebter Daddy...«, meinte Weevil mit schwerer Zunge und stierte seinem Vater mit blitzenden Augen entgegen. »Vater des Jahres 2069, der seinen eigenen Sohn für einen dahergelaufenen Straßenköder abserviert und seiner Zukunft beraubt hat! Applaus, Freunde, für diese fürsorgliche, liebende Vaterfigur!«, klatschte er sich wahrscheinlich selbst Beifall. Selbst Stussy hatte sich inzwischen von ihm gelöst und stand recht verloren abseits. »Das reicht jetzt aber wirklich...« Marcos Gesicht verdüsterte sich bedrohlich und er war kurz davor auf Weevil loszugehen, weil er es kaum ertragen konnte, wie dieser undankbare Wurm ihren Vater darstellte... als ihn eine große Hand zurückhielt. Whitebeards Finger gruben sich beschwichtigend in seine Schulter. »Schluss mit diesem Unsinn, Weevil. Hör auf, dich wie ein verzogenes Kind zu benehmen und werd' endlich erwachsen.« Whitebeard trat an Marcos Seite und blickte auf seinen leiblichen Sohn mit einer ungesunden Mischung aus Enttäuschung, Missbilligung und Trauer. Sein Gesicht blieb unbeweglich, doch Marco erkannte die unausgesprochenen Emotionen in den Augen seines Vaters. »Was soll das hier, hm? Du weißt ganz genau, dass ich meinen Entschluss nicht ändern werde. Du hattest bei weitem genug Chancen, um dich zu beweisen und mir zu zeigen, dass du der Verantwortung, diese Firma zu führen, würdig bist. Du hast keine davon genutzt.« Weevils Mund verzog sich zu einer verbitterten Linie, sein Blick schoss abfällig zwischen Marco, der väterlichen Hand auf dessen Schulter und Whitebeard umher. Ein Stück weit konnte Marco seine Wut sogar nachvollziehen, allerdings hatte sich Weevil ganz allein in diese Außenseiterrolle manövriert - daran waren weder er noch sein Vater schuld. »Es wundert mich ja, dass du dich überhaupt dazu herab lässt, mich zu sehen, Vater. Ich hätte ja gedacht, dass du deinen perfekt abgerichteten Schoßhund weiter vorschickst und mich einfach links liegen lässt, wie du es die ganzen Jahre über schon getan hast. Alles war dir immer wichtiger als Mutter und ich - deine Arbeit, deine Firma, deine Mitarbeiter, deine ach so geliebte Familie hier...-« »Sprich' nicht in diesem Ton mit mir, Sohn!«, grollte Whitebeard warnend. »Du verdrehst die Wahrheit.« Selbst Stussy versuchte jetzt besänftigend auf ihren Begleiter einzuwirken. Sie ergriff Weevil am Arm und versuchte sich seine Aufmerksamkeit zu sichern. Offenbar hatte sie sich für diesen Abend etwas anderes erwartet. »Weevil, komm... wir wollten doch noch zu dieser Party in Shinjuku...-« Weevil schüttelte sie einfach ab wie ein lästiges Insekt. Dann deutete er mit einem anklagenden Fingerzeig auf seinen Vater. Speichel glänzte auf seinen bebenden Lippen und er sagte unerbittlich: »Du hast mich nie geliebt! Nicht eine Sekunde lang! Du hast Marco immer schon vorgezogen, weil er ja so perfekt deinen Vorstellungen entsprach! Für dich war ich immer nur ein leidiges Übel, das du möglichst schnell loswerden und ersetzen wolltest! Ich konnte ja nie deinen Ansprüchen genügen und war nie gut genug für dich! Du bist so ein Heuchler...-« Marco machte sich von seinem Vater los und bevor ihn jemand aufhalten konnte, war er mit einem schnellen Schritt bei Weevil und packte ihn am Kragen, wodurch sein fetter Hals nur noch mehr über den Stoff quoll. Für einen Augenblick flackerte so etwas wie Angst durch Weevils glasige Augen, als Marco die Zähne aggressiv bleckte. »Halt deine Klappe, du undankbarer Mistkerl... sonst zieh' ich mir mal den Stock aus dem Arsch, um ihn dir in dein gehässiges Schandmaul zu stopfen. Du Idiot weißt gar nicht zu würdigen, was für ein verdammtes Glück du hast, einen Vater wie Whitebeard zu haben. Entweder verziehst du dich jetzt oder ich vergess' mich... und bei Gott, es wird mich hier niemand aufhalten, wenn ich dir Anstand einprügel«, knurrte Marco mit bedrohlich tiefer Stimme und beugte sich zu Weevils Ohr, um zu wispern: »Und ich werde es genießen, das verspreche ich dir.« »Marco... das reicht... lass' ihn«, bat Whitebeard angestrengt hinter ihm. Allein der kritische Gesundheitszustand seines Vaters hielt Marco jetzt noch davon ab, sich auf Weevil zu stürzen wie ein Berserker. Doch jede Art von Stress war pures Gift für Whitebeard und so sehr er wegen Weevil auch unglücklich sein mochte, er würde nicht wollen, dass seine Söhne sich vor ihm die Köpfe einschlugen. Weevil war recht blass geworden und zitterte wie Espenlaub, als Marco ihn wieder auf die Füße stellte und endlich losließ. »Er will jetzt gehen. Begleite ihn bitte nach draußen, Fossa«, wandte sich Marco tonlos an seinen Sicherheitsmann, dann trat er wieder an die Seite seines Vaters, als Fossa den sich nur noch halbherzig wehrenden Weevil vor die Tür beförderte. »Ihr hört noch von meinen Anwälten...«, war das Letzte, was Weevil ihnen bockig entgegen warf, bevor Fossa ihn genüsslich aus der Tür stieß und dabei absichtlich wesentlich mehr Kraft aufwandte, als nötig gewesen wäre. Weevil stolperte nach draußen und fing sich im letzten Moment, bevor sein Gesicht den Asphalt geküsst hätte. Marco betrachtete seinen Vater mit Sorge. Whitebeard ließ sich seine Schwäche natürlich nicht anmerken, doch Marco sah die verräterischen Schweißperlen auf seiner bleichen Stirn stehen und das fahle Grau unter seinen Augen. »Thatch, bring' Vater hinaus in den Innenhof, er braucht etwas frische Luft. Ich schick' euch Makino, sie soll dich durchchecken«, bestimmte er an Whitebeard gewandt und tätigte schon den Anruf bei der Ärztin. »Mir geht’s gut...«, begehrte Edward Newgate störrisch auf. »Dir geht’s nicht gut«, hielt Marco genauso dickköpfig dagegen. »Keine Widerrede! Abmarsch!« Zumindest heute schien sein Vater einzusehen, dass es nicht lohnen würde mit Marco zu streiten, denn er ließ sich anstandslos von Thatch in den begrünten Innenhof des Towers führen. Marco sah ihnen kopfschüttelnd hinterher, während er Makino per Call bat, nach seinem Vater zu sehen. Die Ärztin machte sich natürlich sofort auf den Weg. »Hallo Marco...« Stussy hatte er ja völlig vergessen und war eigentlich überrascht, dass sie überhaupt noch hier war. Sie war an seine Seite getreten und zupfte betreten am Saum ihres Kleides, während sie vorsichtig zu ihm linste. »Du wohnst jetzt hier im Tower, hat Weevil erwähnt...« Ihre linke Hand fuhr durch die Federstola um ihren Hals. »Ist wahrscheinlich auch praktischer als Firmenleiter gleich vor Ort zu sein«, plapperte sie weiter. Auch sie wirkte ein wenig blass und ehrlich betreten wegen der Ereignisse und wollte die Situation offenbar mit etwas Smalltalk auflockern. Mit irritiert gerunzelter Stirn sah Marco sie an und verengte die Augen ungläubig. Mitleid hatte er wenig mit ihr. »Was soll das? Willst du nach dem Auftritt deines neuen... Lovers jetzt wirklich einfach so zur Tagesordnung übergehen, als wäre zwischen uns nichts passiert? Und solltest du ihm nicht eigentlich längst nachrennen? Was willst du eigentlich noch hier?« Er reagierte unfreundlich, was sonst gar nicht seine Art war, aber... Weevil und Stussy heute im Doppelpack war selbst für ihn arg schwer zu verdauen. »Tut mir leid, ich hatte keine Ahnung, dass er sich so aufführen würde... er sagte, er wolle hier nur kurz vorbei schauen, um mit seinem Vater zu reden... das musst du mir glauben, Marco! Ich mochte deinen Vater immer, das weißt du und ich bin mitgekommen, weil ich ihn gern sehen wollte und dich vielleicht...-« Sie biss sich auf die Lippe und senkte den Blick. Marco reagierte gar nicht darauf. Es war ihm ehrlich gesagt egal, was sie wusste und was sie mit Weevil zu schaffen hatte, denn die ganze Frau war ihm inzwischen gleichgültig geworden. Er verstand allerdings nicht, wieso sie hier versuchte ihm so unbedingt ein Gespräch aufdrücken zu wollen. Stussy kaute noch immer verunsichert auf ihrer Unterlippe, dann sah sie ihn wieder an mit ihren himmelblauen, so unschuldig erscheinenden Augen - ein perfektionierter Blick, wodurch Marco einst so leicht in die Falle geraten war. Ihre Mischung aus Schuldlosigkeit und Sexapeall, ihr zartes Puppengesicht, war einst ziemlich anziehend für ihn gewesen. »Ich... ich vermisse einen Gedichtband, der mir sehr am Herzen liegt, weil er ein Geschenk meiner Mutter war. Du weißt vielleicht, welchen ich meine, Marco. Ich glaube, ich habe ihn dir geliehen, bevor wir... naja... uns getrennt haben. Und ich habe mich gefragt, ob du ihn vielleicht noch bei dir hast... könnten wir nicht mal nachschauen, wo ich gerade hier bin?«, bat sie zurückhaltend. »Danach verschwinde ich auch, versprochen.« Marco zog die Brauen hoch und musterte sie abschätzend. Das wirkte ihm recht fadenscheinig, doch er wollte den Abend auch nicht mit noch einem weiteren Streit ausklingen lassen. Seufzend stieß er die Luft aus. »Na schön, komm mit...«, murrte er wenig begeistert. Sollte sie ihr dummes Buch bekommen und dann auf hoffentlich Nimmerwiedersehen aus seinem Leben verschwinden. Den Weg im Lift bis zum Penthouse hinauf brachten sie glücklicherweise schweigend hinter sich. Marco konnte zwar spüren, dass Stussy sich mit der gedrückten Stille unwohl fühlte, doch er tat ihr nicht den Gefallen, von sich aus ein Gespräch anzufangen. Von seiner Seite aus war längst alles gesagt. In seiner Wohnung wies er ihr kurz angebunden das Wohnzimmer, wo noch einige Kartons von seinem Umzug standen, glücklicherweise auch die mit den Büchern. In sein Schlafzimmer würde er sie gewiss nicht führen. »Ich habe es noch nicht geschafft, alles auszuräumen. Die Bücher sind größtenteils noch verpackt. Du wirst in den Kartons nach deinem suchen müssen«, meinte er emotionslos. Stussy sah sich mit großen Augen bewundernd um und blickte staunend durch die große Fensterfront auf das abendliche Tokio. Marco erinnerte sich, dass sie ja nie hier oben gewesen war. »Wow... das ist echt schön hier. Eine tolle Wohnung«, sagte sie begeistert. »Hm«, brummte Marco unbestimmt. Er trat in die Küche, nahm sich noch ein Wasser aus dem Kühlschrank und versuchte die Eigenartigkeit der Situation zu ignorieren, dass seine Ex nach drei Jahren nun wieder in seiner Wohnung stand. Er hoffte, dass sie schnell wieder gehen würde, der Abend war eh schon seltsam und anstrengend genug. Als Stussy erneut merkte, dass er kein sonderliches Interesse an einer ausführlichen Unterhaltung hatte, ging sie dann endlich zu den Bücherkartons hinüber und begann wortlos nach ihrem Gedichtband zu suchen. Marco derweil lehnte sich an den Küchentresen und ließ seinen Blick über die Stadt zu seinen Füßen schweifen. Er lockerte seine Krawatte, öffnete den obersten Knopf seines Hemdes und rieb sich flüchtig über die Schläfe. Eigentlich müsste er erschöpft sein, er war körperlich erschöpft, doch fühlte eine geistige Anspannung, die ihn ruhelos machte. Wo Law wohl gerade ist? Der junge Mann hatte kurz vor der Versammlung den Tower verlassen. »Marco, weißt du, ich habe viel nachgedacht in letzter Zeit... und ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht, als ich dich verlassen habe«, riss ihn Stussys mit einem Mal sehr nahe Stimme aus seinen Gedanken. Sie stand plötzlich hinter ihm und als Marco sich umdrehte, streckte sie die Hände aus, umgriff sein Gesicht und stellte sich auf die Zehenspitzen, um... ihn allen ernstes küssen zu wollen! »Ich glaube, ich habe noch immer Gefühle für dich...«, hauchte sie sinnlich. »Lass' es uns doch nochmal miteinander versuchen.« Marco blickte sie völlig fassungslos an. Er packte ihre Handgelenke und entzog sich ihrem Griff... und sie blinzelte ihn verwirrt an, als verstünde sie nicht, wie er dieses Angebot ausschlagen konnte. Ihre Lippen waren willig geöffnet und ihre Augen leicht wässrig, sie glänzten im genau richtigen Maß an Sehnsucht und Hingabe, um einem Mann den Kopf zu verdrehen. »Ernsthaft?!«, stieß Marco entgeistert aus. Er ließ ihre Handgelenke los, als hätte er sich verbrannt und wich kopfschüttelnd einen Schritt vor ihr zurück. Er konnte nicht glauben, was sie hier gerade versuchte. »Ist das dein verdammter Ernst, Stussy?! Du tauchst hier auf, nachdem du mich hast sitzen lassen und wir uns fast drei Jahre nicht gesehen haben, mit meinem Stiefbruder am Arm... und erzählst mir jetzt plötzlich etwas von Gefühlen?!« Sie schob die Unterlippe vor und hatte zumindest den Anstand, kurz verlegen den Blick abzuwenden. »Weevil liebe ich doch gar nicht... ich dachte, er würde es mal zu etwas bringen, doch er ist ein Dummkopf. Du warst das Beste, was mir je passiert ist, Marco. Es war ein Fehler, dich zu verlassen, das weiß ich jetzt...«, beteuerte sie kläglich und versuchte ihn mit ihrem unschuldigen Rehblick wieder zu ködern. Doch Marco durchschaute ihr Schauspiel inzwischen sehr genau. »Ach und das ist dir jetzt ganz plötzlich eingefallen!? Warum, Stussy, hm? Vielleicht, weil ich jetzt der CEO der Newgate Corp. bin und nicht Weevil!? Genüge ich jetzt wieder deinen Ansprüchen?«, mit jedem herausfordernden Wort war er weiter auf die blonde Frau zugetreten, die nun merklich verunsichert und sichtlich verlegen vor ihm zurückwich. »Das ist doch der Grund, hab' ich nicht recht?« Beschämte Röte färbte ihre Wangen. Sie kam ihm vor wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Stussy hatte Marco damals verlassen, weil er ihr zu langweilig gewesen war, weil er nicht ständig auf Partys und Veranstaltungen mit ihr hatte gehen wollen und als schlichter Kundensegmentleiter eh viel zu unbedeutend aus ihrer verschrobenen Sicht der Dinge heraus gewesen war. Sie hatte es schon immer nach mehr im Leben verlangt, was er bis zu einem gewissen Grad sogar irgendwie nachvollziehen konnte, da sie aus einem wirklich heruntergekommenen Bezirk in Downtown stammte und ihre Kindheit nicht gerade rosig gewesen war. Geld und Ansehen hatten in ihrem Leben schon immer eine übergeordnete, existentielle Rolle gespielt. Also hatte sie sich damals einen angesehenen, hippen Immobilienhai geangelt und Marco einfach sitzen lassen. Wahrscheinlich war der nun aber auch nicht mehr lukrativ genug und Weevil, mit der Aussicht auf den CEO-Posten, ein wesentlich dickerer Fisch an ihrer Angel - zumindest bis zu dem Punkt, an dem Whitebeard Weevil quasi enterbt hatte. Sie versuchte einen erneuten Vorstoß, versuchte die Hände auf seine Brust zu legen und sich an ihn zu schmiegen, doch Marco wich ihr aus. »N-nein... du verstehst das ganz falsch, Marco... ehrlich, i-ich...« Marco schnaubte abgestoßen und warf die Hände in die Luft. »Himmel, lass' gut sein. Nimm dein Buch und dann verschwinde. Ich habe ehrlich genug von dir und deinen Spielchen.« »Aber...-« »Ich meine es ernst. Das mit uns ist vorbei, ein für allemal. Begreif' das endlich.« Er konnte nicht einschätzen, ob die Enttäuschung in ihrem Blick echt oder nur unheimlich gut gespielt war, zumindest schien sie endlich zu begreifen, dass sie bei Marco auf Granit beißen würde. Selbst wenn sie sich ihm jetzt nackt vor die Füße geworfen hätte, es hätte ihn nicht gekümmert. Alles an ihr wirkte so unecht und aufgesetzt... und sie widerte ihn schlichtweg nur noch an. Stussy versuchte sich klugerweise zumindest einen Rest an Würde zu bewahren, straffte die Schultern und fragte gefasst: »Darf ich zumindest dein Badezimmer noch einmal kurz benutzen, bevor ich gehe?« Marco biss sich auf die Zunge, um eine wenig freundliche Erwiderung zurückzuhalten. »Wenn es unbedingt sein muss...«, murmelte er unwillig. Er zeigte ihr das Badezimmer und gab ihr die fünf Minuten für sich selbst, während er fassungslos mit verschränkten Armen durch das Wohnzimmer lief und noch immer kaum glauben konnte, was eben geschehen war. Dachte sie wirklich, dass ich sie nach allem, was geschehen ist, einfach so zurücknehmen würde? Für wie armselig hält sie mich eigentlich?! Es ärgerte ihn, dass er dieser unverschämten Frau einst so viel Platz in seinem Leben eingeräumt hatte. Er entdeckte ihren Gedichtband, den sie ja so unbedingt wiederhaben wollte, am Grund eines Kartons und drückte ihr diesen wortlos in die Hand, als sie aus dem Badezimmer kam. Dann begleitete er sie ohne ein weiteres Wort zum Lift und ließ sie im Erdgeschoß einfach stehen, um zurück auf die Versammlung zu gehen. Den Ausgang würde sie sicher allein finden. * Law schob sich mit finsterem Gesicht und tief in den Taschen vergrabenen Händen durch die dicht gedrängte Menge des Vergnügungsviertels in Akihabara, wobei er penibel darauf achtete, den Menschen auf der Straße nicht zu nahe zu kommen. Doch die meisten hier machten beim Anblick seiner düster zusammengezogenen Brauen, den harten, stahlgrauen Augen und vor allem des Schwertes auf seinem Rücken eh einen großen Bogen um ihn. Abends waren hier viele Menschen unterwegs, um nach einem monotonen, harten Arbeitstag an den Docks oder in einer der Konzernfabriken schnelles Vergnügen in einem der zahlreichen Sexclubs oder Spielhallen des Viertels zu finden - in Laws empfindliche Nase drangen die wenig schmeichelhaften Gerüche von verschwitzten, kränklichen Menschen, von Zigarettenrauch und Fäkalien, von verschmorten Drähten und sich überlagernden Essensgerüchen von den vielen, kleinen Imbissständen, die sich aufgereiht am Straßenrand entlang zogen. Er lief an einem Yatai vorbei, der laut Aushängeschild frisches Sushi anbot, doch der ausgestellte Fisch stank zum Himmel, auch wenn der Verkäufer mit breitem Grinsen und schlechten Zähnen ein paar zögerliche Kunden vom Gegenteil zu überzeugen suchte. Seine Schürze war überzogen mit undefinierbaren Flecken, über dessen Herkunft Law gar nicht so genau nachdenken wollte. Zumindest war das Sushi billig... die Lebensmittelvergiftung gab es offenbar gratis dazu. Hinter dem Stand des Fischhändlers hatte ein Ripperdoc seinen Laden und durch die schmutzige Fensterscheibe war zu sehen, wie der gerade über einem Kunden saß und dessen mechanische Sprunggelenke nachjustierte. Von sterilen Arbeitsmaterialien und Desinfektionsmitteln hatte hier auch noch nie jemand etwas gehört. Angewidert, fast entsetzt betrachtete Law im Vorbeigehen den schmuddeligen Laden. Ein weiterer Kunde saß wartend vor dem Geschäft und hielt die Hälfte seines kybernetischen Gesichtes in den Händen. Rotes Sensorlicht aus der metallenen Augenhöhle folgte Law nach, als dieser sich unter dem schmierigen Dunst eines weiteren Yatai hinweg duckte, an dem sich zwei Gäste gerade lauthals über einen Wetteinsatz stritten. Über ihm aus den winzigen, aufeinandergestapelten Apartments - die nicht viel mehr als etwas komfortablere Rattenkäfige waren - erklang das zeternde Gekreische einer Frau, die ihren untreuen Lover lautstark zur Schnecke machte. Darunter mischte sich die Musik einer anderen Wohnung und das klägliche Heulen eines Kleinkindes. Law drückte die Nase tiefer in den weichen Fellkragen seiner geschlossenen Jacke und beschleunigte seine Schritte, um dem üblen Geruch irgendwie zu entgehen, der in ihm sofort den Wunsch nach einer gründlichen Dusche hervorrief. Auch wenn es vermutlich völlig unmöglich war, meinte Law einen flüchtigen Hauch von Marcos herbem Duft einzuatmen, der in dem Fell haftete. Muss wohl hängen geblieben sein, als er mir nach diesem Desaster im Ramen-ya geholfen hat... Mit einem missmutigen Zischen stieß er die Luft aus, als er bemerkte, wohin seine Gedanken schweiften. Zum Teufel, er musste wirklich aufhören über den Konzerner nachzudenken und doch ging ihm der Kerl wirklich schwer aus dem Kopf. Law selbst hatte nach dem Vorfall mit Riku Shin eine mehr als deutliche Grenze zwischen ihnen gezogen und folglich damit gerechnet, dass Marco ihn damit aus dem Tower ausquartieren würde und seine Gastfreundschaft endgültig erschöpft wäre, aber nein... nichts dergleichen war geschehen. Marco hatte den Samstag wie gewünscht auf sich beruhen lassen, er kümmerte sich weiter wie versprochen um Lamy, jeden Morgen stand Frühstück für Makino und Law bereit, zu dem sich neuerdings auch Sabo, ein paar der Sicherheitsleute oder der ziemlich exzentrische Marketingmanager der Firma gesellten... und Marco. Law beteiligte sich meist nicht an ihren Gesprächen und niemand bedrängte ihn, doch er hörte aufmerksam zu und war erstaunt, welch lockeren Umgang Marco als neuer CEO mit seinen Mitarbeitern pflegte. Es wirkte oft eher wie eine Familie als wie eine Firma und Law hatte sich zumindest einmal dabei ertappt, als er darüber nachsann, wie es wohl wäre, selbst zu so einem unbekümmerten, engen Verbund zu gehören. Marco behandelte Law nicht anders als zuvor... bis auf den Umstand, dass er wesentlich zurückhaltender, fast schon ein wenig distanziert ihm gegenüber war. Außer ein paar höfliche Grußworte hatten sie seit ihrem gemeinsamen Auftrag kaum mehr ein Wort gewechselt. Auch wenn Law sich einzureden versuchte, dass es so sicherlich am besten für alle Beteiligten war... diese seltsame Distanz zwischen Marco und ihm fühlte sich nicht gut an, nicht im geringsten. Law zog sich die Mütze etwas tiefer ins Gesicht, um dem typischen Nieselregen im Dezember zu entgehen und wich ein paar Prostituierten aus, die unter dem Vordach einer dunkel getünchten Bar standen und ihn mit einer Mischung aus Gier und hungriger Verzweiflung anstarrten. Ihre Augen waren allesamt zu groß in den eingefallenen Gesichtern, ihre Körper teils schlecht kybernetisch verändert, die Haut fahl, das Haar stumpf. Aus der Bar drang der starke Geruch von Opiaten, hypnotisierende Musik und stroboskopisch buntes Neonlicht. Auch das starke Make-up oder die auffällig ausstaffierten Klamotten der meisten Gäste konnten nicht über die langsam zerfallenden Körper hinweg täuschen. Das hier war der schlimmste Teil von Downtown, das faktische Endlager der Stadt, wo man so ziemlich jede illegale Substanz oder fragwürdige, kybernetische Modifikation finden konnte. So zuwider Law dieser Teil von Akihabara auch war, so gut war er auch, um unsichtbar in der Menge zu verschwinden. Die meisten der Leute hier hatten selten einen zweiten Blick für einen Fremden übrig und waren meist mehr mit sich als ihrer Umwelt beschäftigt. Ein perfekter Ort also für ein Treffen, das möglichst unentdeckt bleiben sollte. Einen Vorteil hatte Lamys lockerer Umgang mit Datenschutz - Law konnte weiterhin auf ihr Datenpad zugreifen und damit so einige, interessante Neuigkeiten aufgreifen. Seine Schwester und Baby 5 waren fast im gleichen Alter und so etwas wie Freundinnen, zumindest schien Baby 5 das zu glauben. Die schwarzhaarige Leibwächterin von Doflamingo kaute Lamy regelmäßig ein Ohr über ihre Männerbekanntschaften ab und war ein unerträgliches Tratschweib. Doch genau dieser Umstand war für Law jetzt ein ungeahnter Segen, denn Baby 5 überschwemmte Lamys Chat in den letzten Tagen förmlich mit Nachrichten. Erst hatte sie nur nach Lamys Verbleib gefragt, doch dann berichtete sie plötzlich von unerwarteten Vorgängen und Unruhe innerhalb der Organisation. Eine Bande der jungen, aufsteigenden Rookies, die Downtown in letzter Zeit aufmischten, hatte wohl eine von Jokers Human Auctions gestört und sabotiert. Doflamingo war zwar ein wenig ungehalten, wollte diesem Vorfall aber bisher erst einmal keinen weiteren, großen Wert beimessen. Natürlich nicht, denn der Verlust für Doflamingo durch ein paar entwischte, potentielle Leibeigene war am Ende marginal, wusste Law. Auf Jokers verabscheuungswürdigen Menschenauktionen landeten meist jene armen Schlucker, die sich in Doflamingos Casinos verzockt oder sich Geld von dem Kartellkönig geliehen hatten und ihre Schulden am Ende nicht begleichen konnten - um die meist horrenden Forderungen abzuzahlen, wurden sie oder Familienangehörige an gelangweilte, reiche Privilegierte und skrupellose Konzernbosse verkauft, als billige Arbeitskraft, Spielzeug oder Versuchskaninchen für irgendwelche Experimente. Nein, viel wichtiger als der Erlös aus diesem Nebengeschäft war für Joker im Moment, dass er Kaido weiterhin mit Waffen und Beta versorgen konnte, denn einen Warlord enttäuschte man besser nicht. Kaido hatte die Scornangriffe in der Mongolei zu seinen Gunsten genutzt und sein Herrschaftsgebiet noch mehr ausgeweitet. Inzwischen kontrolliert der selbsternannte „Bestienkönig“ weite Teile der inneren Mongolei und viele Gebiete nördlich von Peking. Die Staatsgewalt von China stand dem inzwischen fast machtlos gegenüber. Law hatte schon so eine Ahnung, wer für diesen Vorfall auf der Human Auction wohl verantwortlich war... und es gefiel ihm ganz und gar nicht. Er hatte doch eindeutige Anweisungen gegeben, wie diese übereifrigen Rookies sich verhalten sollten und trotzdem hatten sie entgegen des ursprünglichen Planes gehandelt und Joker so unnötigerweise auf sich aufmerksam gemacht. Auch wenn Doflamingo diese hitzköpfigen Idioten - die offenbar mehr Glück als Verstand hatten - gerade sicher nicht verfolgen würde... er würde wachsamer sein und seine internen Sicherheitsvorkehrungen gewiss verschärfen. Und das machte nur alles unnötig komplizierter für Laws weiteres Vorgehen. Zähneknirschend bog Law um die nächste Straßenecke, durchschritt energisch den feucht-heißen Dampf, der aus einem defekten Kanalisationsventil aufstieg und hielt auf eine der leuchtend bunten Spielhallen zu, die es hier wie Sand am Meer gab und die von zahlreichen Gästen gern besucht wurden, denn diese Glücksspielhöllen hatten rund um die Uhr geöffnet und boten damit oftmals einen willkommenen Schutz vor den Witterung für all jene, die kein eigenes Dach über dem Kopf hatten. Kaum hatte Law die schäbige Eingangstür geöffnet, schlug ihm stickige Luft und ein ohrenbetäubendes Getöse entgegen. Die Musik in der Halle war auf volle Lautstärke gedreht und malträtierte seine Ohren mit ausgelassenem J-Pop. Die Spielautomaten ratterten und schepperten ebenso laut und Law fragte sich sofort, wie man hier drin freiwillig Stunden verbringen konnte. Ihm dröhnte schon jetzt der Schädel und mit klinischem Interesse ließ er seinen Blick wachsam über das Klientel schweifen, das mit glasigen Augen und leerem Gesichtsausdruck vor den Automaten saß. Er selbst steuerte jetzt die Rolltreppe an, die in das nächste Stockwerk führte, wobei er darauf acht gab, keinem der bedauerlichen Gestalten in der Halle näher als unbedingt nötig zu kommen. Krankheiten kursierten hier ebenso ungehindert wie Drogen und gesetzeswidrige Machenschaften. Niemand nahm Notiz von ihm, alle stierten krankhaft auf die drehenden Rädchen und rollenden Kugeln, was Law nur gelegen kam. Er überwand die träge, quietschende Rolltreppe mit langen Schritten und stand daraufhin auf einer weiteren, dämmrigen Etage voll von summenden und orgelnden Spiel- und Tanzautomaten. Für Law war alles hier zu viel - viel zu laut, viel zu bunt, viel zu stickig, viel zu viele Menschen. Er fühlte sich unwohl, tröstete sich aber damit, dass auch dies hier ein nötiges Übel war, um Doflamingos Imperium weiter auf den Abgrund zuzutreiben. Zielsicher führte in sein Gespür in den hinteren Teil des Geschosses, wo ihm auch schon bald auffallend laute Stimmen entgegen schlugen, die beunruhigenderweise selbst über das andauernde Getöse der Spielhalle auszumachen waren. Nicht zum ersten Mal fragte sich Law, ob es nicht vielleicht ein Fehler war, sich auf eine Zusammenarbeit mit diesem chaotischen Haufen einzulassen... »Schau' mal, Ruffy! Ich hab' den Highscore geknackt!« »Woah, ernsthaft, Lysop?!« »Freilich, hehe!« »Ace, sieh' dir das an! Lysop ist ein Meisterschütze!« »... aha, du bist also „thegreatloverboy65“?!« »Äh... ja, klar! Das ist mein Deckname im Cyberspace.« »Klingt irgendwie nicht sehr unauffällig...« »Man, gerade weil's so auffällig ist, ist es unauffällig, das versteht ihr nicht!« »Ruffy-sempai, würdest du mir die Ehre eines Dance-Battles erweisen?!« »Shishishi... klar, Barto!« »Man, müssen wir hier noch lange warten, mir tun schon die Ohren weh... und hier gibt’s nicht mal Sake...« »Heul' nicht rum, Moosbirne, du wirst wohl auch mal 'ne Stunde ohne Alk auskommen!?« »Eine Stunde ohne dich wäre 'ne Wohltat...« »Wie bitte?!« »Man Jungs, hört auf zu streiten, das nervt...« Law trat nun um einen jaulenden Spielautomaten herum, der ein nostalgisches Arcade-Game in Pixeloptik beinhaltete und lehnte sich mit der Schulter gegen die nächste Wand, während er mit einer Mischung aus Unglauben, Fassungslosigkeit und Resignation das sich ihm bietende Bild betrachtete. Während der Kopf der ganzen Bande, Mugiwara, mit einem großgewachsenen, grünhaarigen Punk auf einem Dance Dance Revolution wie ein Gummiball auf und ab hüpfte, prügelten sich die schwarzhaarige Langnase, der selbsternannte Hackerman der Gruppe und ein blonder Schönling an einem Beat 'em up um die Vorherrschaft. Der schwarzhaarige, sommersprossige Bruder des Strohhutes drosch wie entflammt auf den mechanischen Kontrahenten eines Boxsimulators ein und stand wahrscheinlich tatsächlich kurz davor, sich und den Automaten in Brand zu stecken. Zumindest rauchte die Gerätschaft schon bedrohlich und gab arg gequälte Zischgeräusche von sich. Ace war ein Pyromant mit ziemlich eindrucksvollen Fähigkeiten und in Downtown schon länger berüchtigt. Neben ihm beobachteten der grünhaarige Samurai und der blonde, schlanke Mann mit der Zigarette im Mundwinkel - Mugiwaras Leibwächter - die Umgebung aufmerksam, wohingegen sie es nicht versäumten, sich ab und an patzige Sticheleien gegenseitig an den Kopf zu werfen. Law hatte die beiden schon in Aktion erlebt und durchaus Respekt vor ihrem Kampfgeschick. Bonney und ein junger Kerl mit fliederfarbenen Haaren saßen etwas abseits über ihren bunten Softdrinks mit Strohhalmen und Bonney war damit auch die Erste, die Law überhaupt bemerkte. Ein kleines, kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über ihre pinken Lippen und sie überschlug die Beine gemächlich, als sie ihn heranwinkte. »Hey Jungs, Trafalgar ist da«, verkündete sie nun vernehmlich für die Runde, während sie Law zuzwinkerte. Sie war eines dieser raren, unverbindlichen Abenteuer, auf die Law sich in der Vergangenheit eingelassen hatte. Law war durch Bonney an diese Gruppe hier geraten, die sich wie viele andere in den Kopf gesetzt hatte, die Unterwelt aufzumischen, um sich selbst einen Namen zu machen. Allerdings verfolgte Mugiwara sein ganz eigenes Credo, er hatte im Gegensatz zu vielen anderen vertretbare Moralvorstellungen, die sich mit Laws Idealen ziemlich gut deckten, weswegen er sich überhaupt erst auf die Zusammenarbeit mit ihm eingelassen hatte. Sie alle wussten nicht, dass er eigentlich für Doflamingo arbeitete, nicht einmal Bonney schien das zu ahnen und erzählt hätte er es bestimmt nicht. Law hatte geholfen, Ruffys Bruder vor einem Schicksal und einem ungemütlichen Aufenthalt in Impel Down zu bewahren... und das schien für Mugiwara genug, nicht an seinen Absichten zu zweifeln und ihm zu vertrauen - eine naive Lebenseinstellung, eine Leichtgläubigkeit, die Law unter anderen Umständen sicher verurteilt hätte, doch die ihm persönlich mehr als gelegen kam. »Oi! Torao - willst du mitmachen?«, hatte ihn nun auch endlich der Kopf der Bande entdeckt und hüpfte mit einem breiten Grinsen von der Tanzmatte. Lysop löste sich von seinem blonden Kontrahenten, den Law als Cavendish identifizierte und maulte theatralisch: »Man, da bist du ja endlich. Wir warten hier echt schon ewig und...-« Ein scharfer Seitenblick von Law würgte ihn im Satz ab. »Quatsch Lysop, lüg nicht... wir sind doch erst 'ne viertel Stunde hier«, schüttelte Ruffy giggelnd den Kopf. »Torao, komm' schon!« Law hielt den begeisterten, jungen Bandenführer durch seine ausgestreckte Handfläche in dessen Gesicht auf und dämpfte diesen so in dem gänzlich unangebrachten Eifer, ihn womöglich noch zu einem dieser lächerlichen Automaten schleifen zu wollen. »Wir müssen reden«, meinte er sehr bestimmt. »Dieser Vorfall auf der Human Auction in Ryogoku... lasst mich raten, das war euer Werk?!« Law verengte die Augen missbilligend und starrte mit scharfem Blick auf die bunte Truppe, die mit einem Mal alle sehr interessiert an der Umgebung schienen. Lysop wich seinem forschenden Blick betreten aus und tippte die Zeigefinger unbeholfen aneinander. »Öhm... also wir waren seit Tagen nicht mal in der Nähe von...-« »Klar waren wir das, shishishi!«, strahlte Ruffy unbedarft und stemmte die Hände stolz in die Hüfte. Diese Unbekümmertheit war ein wahrer Segen und ein Fluch zugleich. Law knurrte ungehalten, mahnte sich dann aber innerlich zur Ruhe, indem er kurz die Augen schloss und tief einatmete. Er durfte es mit dieser Bande nicht verderben, immerhin waren sie seine beste Chance, Doflamingo in die Zange zu nehmen... deshalb schluckte er seinen Unmut widerwillig herunter. »Das war nicht das, was wir ausgemacht hatten. Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt warten, bis ich mit weiteren Anweisungen zu euch komme...« Sanji warf seine Zigarette zu Boden und drückte diese unter dem Absatz seines Schuhs aus. »Die verkaufen dort auch junge Mädchen... und Kinder! Sollten wir einfach nur zusehen?!«, empörte er sich sicherlich nicht zu unrecht. »Glaubst du wirklich, dass das die einzige Human Auction war!? Die machen woanders einfach weiter, als wäre nichts passiert und lachen über euch«, konfrontierte Law sie mit der harten Wahrheit. »Wenn ihr wirklich etwas ändern wollt, dann müsst ihr alle Köpfe der Hydra mit einem Schlag abtrennen.« »Warten, warten... immer nur warten. Von der ganzen Warterei wird mir langweilig...«, maulte der Anführer mit vorgeschobener Unterlippe. »Ich hasse das!« Law massierte sich angestrengt die Nasenwurzel. »Mugiwara-ya... manche Dinge brauchen eben Zeit«, appellierte er an ein hoffentlich vorhandenes Stück von Vernunft in dem quirligen, jungen Mann. »Ruffy hat recht, wir warten nun schon wirklich lang genug...«, mischte sich nun Ace ein, nachdem er mit einem letzten, brennenden Hieb dem Simulator den Rest gegeben hatte. Die Maschine hauchte gerade qualmend ihr Leben mit den letzten Tönen einer Siegesfanfare aus. Ruffys Bruder kam zu ihnen herüber geschlendert und löschte seine lodernde Faust mit einem lässigen Wink. »Wir waren jetzt ziemlich lange geduldig, Trafalgar... verrate uns doch mal, worauf wir deiner Meinung nach immer noch warten sollen?!« Die dunklen Augen des Pyromanten scannten Law ziemlich genau ab und hielten dessen eisenhartem Blick auch mühelos stand. Obwohl er bei seiner Rettung geholfen hatte, war Ace ihm gegenüber deutlich misstrauischer und gewiefter als sein jüngerer Bruder und die beiden zusammen nicht zu unterschätzen. »Auf den richtigen Zeitpunkt«, entgegnete Law seelenruhig und verschränkte die Arme. Er war sich all der Augenpaare auf sich durchaus bewusst und auch wenn diese Bande chaotisch und auf den ersten Blick wenig einschüchternd wirken mochte, Law wusste, wozu sie fähig waren. »In der Zwischenzeit machen sich ganz andere Typen dort draußen einen Namen, während wir hier rumsitzen und... warten«, grollte Zorro unzufrieden, der seinen Beobachtungsposten inzwischen aufgegeben hatte und nun ebenfalls zu ihnen herüber kam. Laws Kiefermuskeln verspannten sich. »Andere Typen...«, stieß er angespannt aus, »halten sich auch an kleinen Fischen auf. Doch wenn mein Plan aufgeht, dann stürzen wir einen Kartellkönig. Ist es nicht genau das, was ihr wollt?« »Warum sind wir eigentlich so fixiert auf diesen Joker?«, fragte Ace, der sich auf den leeren Stuhl zwischen Corby und Bonney fallen ließ und ihr mit einem charmanten Lächeln die Cola klaute. Sie stieß ihm halbherzig die Faust gegen den Oberarm. »Ich bin letzten Monat beinahe mühelos in den Tower der Newgate Corp. eingestiegen und fast bis zu Whitebeard persönlich vorgedrungen«, prahlte er mit selbstbewusstem, breitem Grinsen. »Als könnten wir uns auch einfach auf den alten Mann...-« Ein kurzer Anflug von Panik ließ Law ungewöhnlich impulsiv handeln. Seine flache Hand krachte auf die Tischplatte, wodurch sich Ace fast an seiner Cola verschluckte. »Nein. Edward Newgate ist tabu. Die Newgate Corp. ist tabu. Wir konzentrieren uns auf Doflamingo«, stellte er entschieden klar. Seine Tonlage war eisig und ließ auch keine Widerrede zu. »Edward Newgate ist kein Ziel, habe ich mich klar ausgedrückt!?« Law hatte schon genügend Schuld in seinem Leben auf sich geladen, er würde nicht noch schuld daran tragen, dass Marcos Vater angegriffen wurde... dann könnte er dem Konzerner niemals mehr in die Augen sehen. Ace hob die Hände beschwichtigend und kippelte mit seinem Stuhl nach hinten, um ein Stück weit aus Laws düsterem Einflussbereich zu gelangen. »Hey, ja... schon gut, hab's ja kapiert. Kein Grund gleich sauer zu werden.« Ace überspielte den Zwischenfall zwar mit cooler Lässigkeit, doch Law bemerkte durchaus den etwas zu interessierten Blick des Pyromanten. Auch er schien eventuelle Schwachstellen bei anderen sehr genau im Auge zu behalten. Law richtete sich wieder auf und trat einen bestimmten Schritt vom Tisch zurück, während er tief Luft holte. Ruffy blickte ihn nun erwartungsvoll an, hinter ihm baute sich Zorro auf, dessen Hände schon auf den Griffen seiner kunstvollen Schwerter lagen. »Und was ist dann jetzt unser nächstes Ziel?« »Das sollte sich besser lohnen...«, nuschelte Sanji, dessen Lippen locker um die glimmende Zigarette lagen, die er eben ansteckte. »... ein möglichst dicker Fisch sein«, sinnierte Ace mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, die schweren Stiefel auf dem Tisch abgelegt. »... aber vielleicht nicht all zu schwierig...«, gab Lysop zurückhaltend zu bedenken. »... und richtig gefährlich!«, forderte Mugiwara grinsend. Vorfreudig presste der die geballte Faust in seine linke Handfläche. Laws Brauen hoben sich, doch er zog sein Datenpad aus dem Inneren seiner Jacke und aktivierte eine Holoprojektion. Dann warf er das Pad auf den Tisch, damit die versammelte Mannschaft einen guten Blick auf ihr erklärtes Ziel hätte. Interessiert und gespannt beäugte die Bande das kreiselnde Abbild von... »Punk Hazard. Jokers geheime Forschungseinrichtung.« Durch die beiden Wissenschaftler, die Law eigentlich hätte töten sollen, wusste er nun endlich, wo sich diese Einrichtung befand. Darüber hatte sich Doflamingo bisher selbst seiner Familie gegenüber ausgeschwiegen, nur seine engsten und ältesten Vertrauten und Offiziere wie Trebol und Diamante hatte er ins Vertrauen gezogen. Und Law wusste nun auch, dass Caesar Crown nicht nur an der Herstellung und Verbesserung von Beta für Joker arbeitete... sondern auch an biologischen Massenvernichtungswaffen. Diesem wahnsinnigen Wissenschaftler musste das Handwerk gelegt werden, nicht auszudenken, wenn ein Warlord wie Kaido an solche Waffen gelangen würde... die Welt würde nie mehr die Gleiche sein. »Wir werden die Einrichtung zerstören.« * Als Law später in den Tower zurückkehrte, war es wieder wesentlich ruhiger und der Pulk an Leuten aus dem Gebäude verschwunden, der den ganzen Vormittag über durch die Gänge gehuscht war. Selbst auf der Gästeetage hatte Law bemerkt, dass es im Gebäude wie in einem Bienenstock zuging und beim Frühstück hatte er aufgeschnappt, dass wohl eine Personalversammlung angestanden hatte. Law sah als erstes nach seiner Schwester und erkundigte sich bei Makino nach deren Befinden, dann zog er sich in sein eigenes Zimmer zurück. Doch an Schlaf war irgendwie nicht zu denken, dafür war er noch zu aufgewühlt. Ruhelos schaltete er den Fernseher ein, allerdings nach fünf Minuten einer gehirnzellenverbrennenden Gameshow auch wieder aus. Er angelte sich eine Flasche des wirklich leckeren Pfirsicheistees aus der Minibar und ging zum Fenster hinüber. Mit dem Arm gegen die Scheibe gelehnt blickte er auf die Stadt und rekapitulierte nochmal sämtliche Details des Treffens mit der Bande um Mugiwara. An Lamys Zustand konnte er gerade aktiv nichts ändern, doch das sie sich nun hier im Newgate-Tower befand war eine Gelegenheit - eine Gelegenheit, seine Pläne voranzutreiben, ohne noch zusätzlich auf sie achten zu müssen. Im Moment war sie zumindest aus der Gefahrenzone, sicherer als hier konnte sie fast gar nicht sein und wenn Law von etwas völlig überzeugt war, dann davon, dass Marco Phoenix seine Schwester beschützen würde, solange sie in dessen Obhut war. Der Konzerner würde zu seinem Wort stehen, sie zu heilen und er war vermutlich einer dieser seltenen Männer, die einem Menschen in Not immer helfen würden. Bei ihm war Lamy gut aufgehoben, selbst wenn Law etwas passieren sollte... Der Fernseher schaltete sich von selbst wieder ein und eine unangenehme Stimme plärrte lauthals: »Willkommen, meine lieben Follower, im Newgate-Tower! Und seht hier, den neuen Herrn, den Thronräuber und schleimerischen Arschkriecher... Marco Phoenix!« Law fuhr sofort herum, er erwartete jemanden zu sehen, doch im Raum war niemand. Irritiert glitt sein Blick zum Fernseher, der sich mit den sozialen Medien verlinkt hatte und ein etwas verwackeltes Video abspielte, das wohl vor ein paar Stunden in einem Livestream von Weevil Newgate entstanden war. Überrascht ließ Law sich mit gerunzelter Stirn auf einen Stuhl fallen und verfolgte die aufgezeichneten Szenen immer ungläubiger... und mit wachsender Aufgebrachtheit. Er kannte Weevil Newgate nicht und wusste kaum etwas über ihn, da Law die sozialen Medien wenig interessierten, doch Lamy hatte ihm einst erzählt, dass der Kerl ein überhebliches Arschloch wäre und seine Schwester hatte schon immer eine erschreckend treffende Menschenkenntnis. Marcos Stiefbruder benahm sich wie die sprichwörtliche Axt im Walde, er versuchte Marco schamlos im Netz bloß zu stellen und behandelte ihn auf eine so respektlose Art und Weise, die in Law den zwingenden Wunsch weckte, diesem großspurigen, fetten Kerl einen Besuch im Schutz der Nacht abstatten zu wollen... und sicher nicht, um ihm das Kissen aufzuschütteln. Law kannte Marco vielleicht noch nicht lang und auch nicht wirklich gut, aber er konnte inzwischen nachvollziehen, warum Edward Newgate wohl Marco den Vorzug vor dem eigenen Sohn in Bezug auf die Leitung der Firma gegeben hatte. Die beiden waren menschlich offensichtlich so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Die Aufnahme endete, als Marco einem seiner Sicherheitsmänner befahl, die Drohne zu zerstören und der Fernseher schaltete sich wieder ab. »Warum hast du mir das gezeigt...?«, fragte Law in den leeren Raum, denn eigentlich konnte nur die KI hinter diesem technischen Fehler stecken. Doch Haruta antwortete ihm nicht und Law wippte nun rastlos mit dem rechten Bein auf und ab, während er einen seiner Ohrringe zwischen den Fingern drehte und den irrationalen Wunsch zu bekämpfen suchte, Marco Phoenix sehen zu wollen. Law sprang auf, lief ins Bad, entschied sich dann aber doch gegen eine Dusche. Vielleicht sollte er vorher irgendwo noch ein wenig trainieren, um seiner inneren Unruhe Herr zu werden und vor allem, um auf andere Gedanken zu kommen, sonst würde er heute wohl schwer Schlaf finden. Er meinte sich zu erinnern, einen Fitnessbereich gesehen zu haben, als er das erste Mal hier im Tower war. Ein bisschen kam er sich nun schon lächerlich vor, als er erneut in das Zimmer fragte: »Bist du da...?« Marco hatte schließlich gesagt, sollte er etwas brauchen, dann müsste er sich nur an die KI wenden. Tatsächlich erschien Haruta jetzt auch fast sofort im Raum und neigte den Kopf leicht als Begrüßung. »Was kann ich für sie tun, Mister Trafalgar?«, fragte die KI eifrig. Law trank den letzten Schluck seines Eistees, dann warf er die Flasche in den Mülleimer. »Hier im Haus gibt es doch einen Fitnessraum oder sicher einen Ort, wo man ungestört trainieren kann... würdest du mich hinführen?« Die künstliche Intelligenz wackelte mit dem Kopf, als müsste sie ernsthaft überlegen, was schrecklich menschlich anmutete, dann nickte der junge Mann. »Natürlich. Kommen Sie.« Er drehte sich um und verschwand einfach durch die geschlossene Tür hindurch. Unter Umständen konnte man das wirklich leicht verstörend finden. Law kramte in seiner Tasche nach lockeren Klamotten und zog sich rasch um, bevor er der KI folgte, die geduldig vor dem Zimmer auf ihn gewartet hatte. Haruta geleitete ihn zum Lift und der setzte sich wider Laws Erwarten in die obere Richtung in Bewegung. Er ließ es achselzuckend unkommentiert. Vielleicht gab es ja noch einen weiteren Fitnessraum im Gebäude. Haruta führte Law in eine gänzlich unbekannte Etage des Towers, die beinahe unter dem Penthouse des Gebäudes liegen musste. Hier war es fast totenstill und ein paar vereinzelte Deckenspots erleuchteten den langen Gang vor ihnen, der an einem großzügigen Schwimmbad mit gläsernem, spektakulärem Außenpoolelement vorbei führte. Na schön, ein bisschen Luxus schien sich Edward Newgate dann offenbar doch zu gönnen. Vor einer großen Doppelflügeltür blieb Haruta stehen und bedeutete damit, dass sie angekommen waren. Law schob die Tür langsam auf und sofort schlug ihm laute, aggressive Musik entgegen. Ein bisschen argwöhnisch, allerdings auch neugierig betrat er den Raum, der sich weitläufig vor ihm öffnete. Dies hier schien das private Trainingsareal für die Newgate-Familie zu sein, bestehend aus einem Fitnessbereich, einem abgetrennten Dojo in altem, japanischem Stil und einem hauseigenen Schießstand, bei dem es Law nicht schwer fiel, sich augenblicklich vorzustellen, wie Marco Phoenix hier jede Kugel punktgenau in die weit entfernten Ziele jagen würde. Es gab eine hochmoderne, ausgefeilte Trainingsstrecke mit künstlichen Deckungen und Hindernissen und mechanischen Dummys, die offenbar möglichst reale Kampfbedingungen simulieren sollten, indem sie mit nicht tödlichen Nah- oder Fernkampfwaffen ausgestattet waren. Das mutete ziemlich nach der Wirkungsstätte von Sabo an, dem jungen, blonden Leiter der Forschungsabteilung, der ein Faible für technische Spielereien hatte. Allerdings war Law hier keinesfalls allein oder ungestört... denn Marco Phoenix war anwesend, hatte ihn allerdings noch nicht bemerkt. Der Konzerner trainierte allein und zu der krachenden Rockmusik in dem Parcours und schlug mit bloßen Fäusten und einer eisernen Vehemenz auf einen der Dummys ein, der einem dadurch fast leid tun konnte. »Das war eigentlich nicht das, was...-«, Law wandte sich zur Tür, doch die war hinter ihm bereits wieder ins Schloss gefallen und die KI verschwunden. Na super, diese Etage hier gehörte garantiert nicht zum öffentlichen Bereich des Towers und Law kam sich augenblicklich vor wie ein ungebetener Eindringling. Marco wirkte, als hätte er sich bewusst hierher zurückgezogen, um allein zu sein. Warum hatte die KI ihn denn hergeführt!? Law holte tief Luft. Er sollte wirklich gehen... drehte sich aber trotzdem wieder um. Eigentümlich gebannt beobachtete er Marcos einsamen Schlachtzug gegen die Maschinerie. Der Blonde trug nichts weiter als eine tiefsitzende, lockere Hose auf den schmalen Hüften, wodurch Law das kunstvolle Tattoo auf dessen Rücken ungehindert bewundern konnte. Bei jedem Schlag schienen sich die türkisflammenden Flügel über den sich wölbenden Muskelsträngen aufzubäumen. Marcos markantes Gesicht war konzentriert, fast finster entschlossen, als würde er einen ganz bestimmten Gegner vor sich sehen, als er dem Dummy jetzt einen schnellen Haken, gefolgt von einem schmetternden Tritt verpasste. Normalerweise wirkte der Konzerner immer ziemlich in sich ruhend, es war ungewohnt, ihn so... entfesselt zu erleben. Er schien irgendwie wütend, zumindest aber definitiv emotional aufgewühlt zu sein. Er prügelte geradezu ungezügelt auf den mechanischen Trainingsdummy ein, seine Bewegungen kraftvoll, jeder Schlag, jeder Tritt eine unterschwellige Kriegserklärung. Doch irgendetwas stimmte nicht, das spürte Law. Das Gesicht des Konzerners war ein Stück weit zu verbissen, seine Augen blitzten voller Emotionen, als würde er einen allzu realen Feind attackieren. Marcos gebräunte Haut über den gut definierten Muskeln glänzte bereits verschwitzt, was darauf schließen ließ, dass er sich hier schon eine Weile austoben musste. Seine nackten Fäuste krachten immer wieder in rasendem Tempo auf das Metall, als wollte er der Maschine die gesamte Elektronik aus dem Gehäuse schlagen. Und augenblicklich wusste Law auch, was ihm die ganze Zeit schon seltsam vorgekommen war… das Geräusch, wenn Marcos Fäuste auf Widerstand trafen, denn es war viel zu laut und eindeutig nur ungenügend gedämpft durch Haut und Fleisch. Marco trug keine Handschützer, nicht einmal Bandagen. Der Kerl schlug sich gerade die Fäuste an dem Ding blutig. Law wusste nicht, ob sich Marco dessen überhaupt bewusst war oder ob er es absichtlich tat, doch das war ihm auch herzlich egal - er würde hier nicht tatenlos rumstehen, während sich der Konzerner in seinem Wahn selbst verletzte. Er sah sich suchend um und tatsächlich, in der Nähe hing ein Erste-Hilfe-Koffer an der Wand. Er riss das Ding aus der Halterung und warf ihn auf eine der Trainingsbänke, die an der Seite standen. Dann näherte er sich dem aufgebrachten Konzerner mit raschen Schritten, der ihn noch immer nicht bemerkt zu haben schien. Law hatte zwar wenig Lust, eine dieser kraftvollen Fäuste am eigenen Leib zu spüren, doch über das Brüllen der Musik würde er Marco wohl kaum nur mit gutem Zureden erreichen. Vielleicht schien der Blonde zu spüren, dass sich ihm jemand näherte oder es war bloßer Zufall… zumindest wirbelte er herum, kaum, dass Law hinter ihm stand und der verdankte es nur seinen schnellen Reflexen, dass er sich unter dem herannahenden Schlag wegducken und gleichzeitig nach Marcos Handgelenken greifen konnte. »Marco, hör' auf!«, ob es nun an Laws eindringlichem, bestimmtem Ton lag oder daran, dass er den Konzerner das erste Mal wirklich mit Namen ansprach… Marco hielt zumindest inne. Dann blinzelte er, als würde er jetzt erst aus seinen tiefen Gedanken auftauchen und er sah Law ehrlich verwundert an, als könnte er nicht begreifen, wo der plötzlich herkam. Eine spürbare Hitze strahlte von Marcos heftig arbeitendem Körper ab, seine breite Brust hob und senkte sich in einer schnellen Abfolge und sein Duft vermischte sich mit dem Geruch frischen Schweißes. Es bedurfte offenbar nur eines geistigen Befehls und die laute Musik verstummte, dann schnappten die Gläser über Marcos Augen zurück. »Law, was… was machst du denn hier?!«, Marcos Stimme war atemlos und heiser, sein Schweißgeruch noch frisch genug, um nicht unangenehm zu sein und das alles beschwor bei Law die völlig unangebrachte Assoziation einer Nacht voll von leidenschaftlichem Sex, von ekstatisch verkrampfenden Körpern und hitzigem Stöhnen herauf... Law biss die Zähne aufeinander und schob diese absurden Gedanken weit von sich. Dann zuckte er vage mit den Schultern und konzentriert sich sofort darauf, die blutenden Finger des Konzerners vorsichtig zu strecken und abzutasten, doch gebrochen schien auf den ersten Blick glücklicherweise nichts zu sein. Marco schien so überrumpelt und überrascht, dass er ihn einfach machen ließ. »Die KI hat mich hergeführt… vielleicht war sie der Meinung, du könntest Gesellschaft gebrauchen…«, erklärte Law tonlos und fragte sich gleichzeitig, warum Haruta entschieden hatte, dass nun gerade er derjenige sein sollte, den Marco würde sehen wollen. Dafür gab es einfach keine logische Erklärung. Er hob seinen Blick und sah Marco vorsichtig an, der ihn noch immer anstarrte, als wäre er eine Erscheinung. Law nickte zur Seite des Trainingsareals hin. »Komm mit. Lass' mich deine Hände genauer ansehen.« Tatsächlich folgte ihm Marco wortlos und ließ sich neben Law auf der Bank nieder, der sofort den Erste-Hilfe-Koffer öffnete und mit undurchdringlicher Miene die Hand des Konzerners auf seinen Schoß zog, um sich die verletzten Finger sorgsam vorzunehmen. „Mir jedenfalls bist du vollkommen egal.“ Law war sich durchaus bewusst, dass er gerade seine eigenen Worte mehr als Lügen strafte, doch er konnte nicht aus seiner Haut, konnte die Grundsätze seines Vaters nicht einfach verleugnen und… Du findest Marco sympathisch, vielleicht magst du ihn sogar, zog ihn eine schadenfrohe Stimme in seinem Kopf auf, die erschreckend nach Lamy klang. Weil er ehrlich ist, viel zu freundlich und warmherzig, weil er bedingungslos und oft unüberlegt für andere eintritt und weil er dich irgendwie an Cora-san erinnert… Wieder suchte er flüchtig Marcos Blick. Der starrte ihn weiterhin schweigsam an, ergründend, nachdenklich, aber nicht eine Spur verstimmt, weil er hier so einfach aufgetaucht war. Düstere Schatten zogen durch die blauen Augen. Eine unsichtbare Last schien die breiten Schultern des Konzerners nach unten zu drücken. »Was ist passiert...?«, fragte Law ruhig, während er sich wieder darauf fokussierte, die aufgeplatzten Knöchel des Blonden zu versorgen. Marco würde wohl auch klar sein, dass Law damit nicht den Umstand meinte, dass er gerade versucht hatte dem Trainingsdummy das künstliche Leben aus dem Gehäuse zu prügeln. Natürlich hatte Law so eine Ahnung, nachdem er das Video vorhin gesehen hatte... doch das würde er nicht erwähnen, denn vielleicht wollte Marco auch gar nicht, dass er davon wusste. Er wollte dem Konzerner die freie Entscheidung lassen, was er ihm erzählen mochte, obwohl er sich natürlich unangenehm bewusst war, dass Marco nach ihrem letzten Gespräch realistisch betrachtet eigentlich kaum einen Grund hätte, um ihm irgendetwas von sich zu offenbaren. Marco schüttelte leicht den Kopf und öffnete den Mund, als wollte er seinen Zustand schon wieder relativieren... aber er hielt inne. Denn ihm wurde klar, dass er in ihrem letzten Gespräch unbewusst Vertrauen von Law gefordert, doch bisher eigentlich auch wenig von sich und seiner Vergangenheit offenbart hatte. Wie sollte ein grundsätzlich vorsichtiger Mensch wie Law ihm dann auch trauen können? Wahrscheinlich würde Marco den ersten Schritt machen und beweisen müssen, dass er nicht weniger bereit war zu geben als bedingungsloses Vertrauen. Es war ein Risiko, das war Marco bewusst, aber er wollte es eingehen… und vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, sich gewisse Dinge von der Seele reden zu können. »Nun, sagen wir, der Tag verlief nicht unbedingt optimal…«, begann Marco vage und lehnte den Kopf an die Wand hinter sich. Dann erzählte er Law von Weevils Auftritt und ihrem schwierigen Umgang miteinander, von Stussys Erscheinen und ihrer gemeinsamen Vergangenheit… selbst davon, dass er meinte, Kayle - seinen toten Jugendfreund - auf der Versammlung gesehen zu haben. Law ließ ihn reden und hörte aufmerksam zu, während er ein paar saubere Bandagen um Marcos Hände wickelte, um die aufgeplatzten Knöchel zu schützen. Vermutlich war das gar nicht nötig, Marco besaß von Natur aus gute Selbstheilungskräfte, aber er beschwerte sich nicht, denn Laws vorsichtige, sanfte Berührungen fühlten sich… viel zu gut an. Seine ganze Anwesenheit, seine unaufgeregte Art, war irgendwie wohltuend und äußerst angenehm. »Dein Bruder ist ein Idiot«, war Laws nüchternes Resümee. »Er ist es nicht wert, dass dein Vater oder du dir den Kopf über ihn zerbrecht. Und diese Frau... vergiss' sie. Ich denke, du weißt selbst, dass sie nur hinter deinem Geld her ist. Du solltest dir mehr Gedanken darüber machen, warum die Toten in deinem Haus auftauchen«, konzentrierte sich der junge Mann beruhigend sachlich auf die Fakten. »Könnte irgendjemand auf der Versammlung diese Illusion bewusst heraufbeschworen haben, um dich aus der Fassung zu bringen? Vielleicht ein Konkurrent? Dein Bruder?« Marco rieb sich mit der bereits verbundenen Hand über die Augen. »Ich weiß nicht, möglich wäre es… aber heute war kein Geschäftspartner anwesend, bei dem ich eine Feindschaft auch nur in Betracht ziehen würde und Weevil traue ich so viel Weitsicht kaum zu...« Marco seufzte. »Eigentlich sollte auch niemand von Kayle wissen können, weil ich nur Pops je von ihm erzählt habe...« »Wer war er... dieser Kayle?«, hakte Law vorsichtig nach. Er spürte, dass für Marco mehr hinter diesem Namen stand und ja, er wollte mehr über den Konzerner wissen. Er würde sich später Gedanken darüber machen können, dass dies alles hier vermutlich ein großer Fehler war... leider fühlte es sich jedoch nicht danach an, denn das hätte eine ablehnende Haltung wesentlich einfacher gemacht. Marco drehte ihm das Gesicht wieder ein wenig zu, er schien kurz zu zögern, doch dann begann er zu erzählen: »Um das zu verstehen, solltest du zuerst wissen, dass ich in einer Militärbasis in Wisconsin aufgewachsen bin. Ich gehörte einst zu einem von der Regierung autorisiertem Zuchtprogramm, in dem magisch begabte Soldaten und Attentäter großgezogen und ausgebildet werden sollten. Dafür hat man schwangeren, mittellosen Leihmüttern das Alpha Serum verabreicht, um ihnen dann gegen Geld die Kinder nach der Geburt abzunehmen. Viele Länder entwickelten nach Dr. Vegapunks Entdeckung solche Programme, denn prinzipiell war diese Form der militärischen Nutzung stets der Kerngedanke hinter der Entwicklung des Alpha Serums gewesen.« Nun, das bis hierhin war der leichte Teil gewesen und als Marco weiter sprach, versuchte er nicht zu viele Emotionen in seine Stimme zu legen, denn er wollte Law die Möglichkeit geben, sich ein objektives Bild von der Geschichte zu machen. »Wie ja bekannt, entwickeln sich die MAG Fähigkeiten in zweiter Generation meist mit Eintritt in die Pubertät. Bis dahin durchliefen wir Kinder allesamt gemeinsam eine schulische und militärische Grundausbildung, bis sich die Magie das erste Mal manifestierte und man dann danach beurteilte und entschied, für welche Einsätze wir besonders geeignet wären. Mein leiblicher Vater war der Leiter dieser Einrichtung und ein ranghohes Mitglied der Führungsriege des US-Militärs. Dadurch kam ich in den… Genuss einer außerordentlich strengen und fordernden Ausbildung, denn mein Vater war besessen von dem Gedanken, den perfekten Soldaten zu erschaffen, der diese spezielle Kampfeinheit einmal anführen sollte und mit dem er sich bei der Staatsführung profilieren könnte. Er erwartete stets tadellose Ergebnisse und absoluten Gehorsam von mir. Ich war gerade zwölf Jahre alt geworden, als sich meine mentokinetischen Fähigkeiten zum ersten Mal zeigten… und mein Vater tobte vor Wut.« Marco stockte in seinen Worten und senkte den Kopf. Er stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und verschränkte die bandagierten Hände. Seine Schultern verspannten sich, als würde er sich für einen unsichtbaren Schmerz wappnen. »Ich war für ihn eine maßlose Enttäuschung. Er hatte auf imposante, elementare Angriffsfähigkeiten gehofft und bekam nur einen erbärmlichen, schwachen und nutzlosen MentalMAG, was ihn frustrierte und beschämte. Das ließ er mich zu jeder Zeit auch deutlich spüren. Von da an musste ich noch härter trainieren als alle anderen, noch mehr lernen, noch bessere Ergebnisse zeigen, um den Makel irgendwie auszugleichen… und trotzdem war es ihm nie genug. Ich hatte andauernd Angst ihn noch weiter zu enttäuschen oder zu verärgern...« Law war sofort klar, dass diese beleidigenden Worte kaum Marcos eigene Einschätzung waren und konnte nicht verhindern, dass er Hass für diesen namen- und geschichtslosen Mann empfand, der sein eigenes Kind so herabgewürdigt hatte. Kein Wunder, dass der Konzerner der Meinung war, Whitebeard sei der einzige Vater, den er bräuchte. »Kayle stieß zu dieser Zeit zu uns, ein Waise nach dem Tod seiner Eltern. Er war eine geduldete Ausnahme, der erst später in das Programm aufgenommen wurde, da er sich zu einem mächtigen Koniomorph zu entwickeln schien. Er konnte seinen Körper in Staub aufspalten und damit beinahe an jeden Ort gelangen. Doch Kayle war anders als wir anderen Jugendlichen. Er hatte eine liebevolle Kindheit erlebt, Normen und Wertvorstellungen gelernt, die uns fremd waren. Ich freundete mich irgendwie mit ihm an, war viel mit ihm unterwegs, fasziniert von seiner freundlichen Art und seiner Sicht der Dinge. Und je älter wir wurden, desto weniger war Kayle von diesem Programm und natürlich auch von den Einsätzen, auf die wir geschickt wurden, überzeugt...« Marco hob nun den Kopf und suchte Laws Blick, der ihm bisher schweigend zugehört hatte. »Ich war ein Auftragskiller, Law. Ich habe Menschen getötet, weil man es mir befohlen hat und hielt es für das Richtige. Erst durch Kayle fing auch ich an, meine eigenen Sichtweisen und die ganzen Tötungsbefehle zu hinterfragen. Und als ich eines Tages mit gerade sechzehn Jahren als Leiter eines Einsatzes in Kolumbien gemeinsam mit Kayle vor einem Kind stand - vor einem sechsjährigen Kind! - welches die US-Regierung als Ziel bestimmt hatte... da wurde mir klar, dass dieses Leben nicht das war, was ich führen wollte... dass ich nicht so war und nicht so sein wollte.« Marcos Lippen überzog ein geisterhaftes, erinnerungsschweres Lächeln. »Also führte ich diesen Auftrag nicht aus, obwohl ich mir der Schwere dieser Entscheidung bewusst war... und mir vor Angst vor meinem Vater fast in die Hose machte. Kayle wusste, dass ich mich vor meinem Vater fürchtete, dass er mich für Versagen immer härter bestrafte als alle anderen, also nahm er die Schuld auf sich. Er berichtete meinem Vater, der Auftrag sei wegen seines Versagens gescheitert und ich hatte nicht den Arsch in der Hose, das richtig zu stellen und die Wahrheit zu sagen. So weit war ich einfach noch nicht. Mein Vater hörte sich unseren Bericht schweigend an... dann zog er seine Waffe und schoss Kayle ohne mit der Wimper zu zucken vor mir in den Kopf. Er erklärte, er hätte keine Verwendung für Versager und Lügner. Es war eine Strafe und Botschaft für mich, denn er wusste ganz genau, was passiert war. Nach diesem Vorfall bin ich bei nächster Gelegenheit abgehauen und desertiert.« Law war wie erstarrt. Diese Geschichte... Marcos Vergangenheit, sie glich seiner eigenen auf eine solch erschreckende Art und Weise, dass ihm beinahe die Luft wegblieb. Sie waren so grundverschieden... und sich doch so ähnlich, dass es wie ein Schock für ihn war. Er hatte immer geglaubt, dass es niemanden gäbe, der ihn wirklich verstehen könnte, aber... plötzlich war da Marco Phoenix. Marcos Hände verkrampften sich und er schloss für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln. Dann blickte er Law wieder an, doch statt einem stummen Urteil, statt Abscheu oder Unverständnis... sah er eine eigenartige Verbundenheit in den grauen Iriden des jungen Mannes erwachen. »Sein Tod war völlig unnötig. Wenn ich den Anstand und den Mut besäßen hätte, meinem Vater die Stirn zu bieten, dann würde Kayle vielleicht noch leben. Ich kann es nicht ungeschehen machen und aus heutiger Sicht weiß ich natürlich, dass eigentlich mein Vater der Schuldige war und nicht ich, aber… Kayles Tod verfolgt mich noch immer«, gestand Marco. »Du hast neulich gemeint, ich wüsste nicht wirklich, wer du bist und was du getan hast und ja, das stimmt. Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dass auch du - genau wie ich - wahrscheinlich oftmals nur das getan hast, was du für das Richtige hieltest, weil du es nicht besser wusstest und weil du eben in diesem Moment völlig überzeugt davon warst. Vielleicht hast du Fehler gemacht, aber wie du siehst… ich auch. Sogar viele. Unheimlich viele. Aber deswegen bist du kein schlechter Mensch, Law, und jeder verdient eine zweite Chance...« Diese ehrlichen Worte, diese unterschwellige Absolution... Law schnürte es die Kehle zu, er biss die Zähne so fest zusammen, dass es fast weh tat und wandte den Blick ab, weil ihn Marcos verständnisvolle Augen sonst vermutlich den Boden unter den Füßen weggezogen hätten. Seine Augen blieben an dem großen Tattoo auf Marcos Rücken hängen, das aus der Nähe betrachtet noch schöner war... und erst jetzt erkannte er die vielen Narben, die unter der Farbe versteckt lagen. Aus einem plötzlichen Reflex heraus wollte Law schon die Hand ausstrecken, wollte diese schlecht verheilten Wunden berühren... doch er wurde sich seiner Handlung erschrocken bewusst und zog seine Finger überhastet zurück. Es sind so viele, ein ganzes Geflecht aus dicken, wulstigen Striemen überzog den Rücken des Konzerners, gut verborgen unter dem kunstvollen Tattoo. Bei solch verheerenden Narben mussten die Wunden schrecklich und die Behandlung miserabel gewesen sein… »Diese Narben… woher stammen sie?«, hauchte Law erschüttert und gleichzeitig zornig über diesen so offensichtlichen, ärztlichen Pfusch. Marco versteifte sich leicht, dann blinzelte er verwundert zu Law herüber, überrascht, dass es ihm überhaupt aufgefallen war. Sein Mund verzog sich zu einem schmerzlichen Grinsen. »Mein Vater war nicht sonderlich gut darin, seine Ablehnung und Enttäuschung nur mit Worten auszudrücken...«, offenbarte er trocken und gefasst. »Marco...-« Ein penetrantes Summen unterbrach Law und ließ ihn die Stirn finster in Falten ziehen. Er schob die Hand in seine Hosentasche und zog sein SmartCom heraus. Ungehalten über die unpassende Störung warf Law einen knappen Blick auf das Display, dann begegnete er Marcos forschenden Augen. »Eine Nachricht von Kuleha. Wir haben einen Termin für das Treffen mit Spider.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)