Herz über Kopf von Centranthusalba ================================================================================ Kapitel 12: Grüße aus Sapporo ----------------------------- Drei Monate später Mit einem erleichterten Aufatmen schließt Elsa die Tür ihres Elternhauses hinter sich. Für einen Moment lehnt sie sich dagegen und schließt die Augen. Endlich zu hause. Hinter ihr, in Osaka, liegen Wochen von nervenaufreibendem Auf und Ab. Harmonische Tage hatten sich abgewechselt mit Zeiten voller Gereiztheit und Ärger. Es geht einfach nie lange gut. Dabei versucht sie wirklich ihr Bestes. Aber in letzter Zeit entdeckt sie Seiten an sich selbst, die sie bisher so an sich gar nicht gekannt hatte. Ein paar Tage bei ihren Eltern sollen die alte Elsa zurückbringen, so hofft sie. Ein paar Tage kein Mario, keine Sarah, keine Erinnerungen. „Du siehst gar nicht gut aus, Elsa.“ Mit mütterlich besorgter Miene stellt Frau Daichi ihrer Tochter eine Tasse Tee vor die Nase und setzt sich anschließend zu ihr an den Küchentisch. „Ist es seit eurem Streit immer noch nicht besser geworden.“ Elsa seufzt. „Wir haben uns nicht gestritten, Mama. Jedenfalls nicht wirklich.“ „Nicht? So hattest du dich damals ausgedrückt.“ „Streit kann man das nicht nennen“, Elsa blickt verlegen zur Seite, „Seit… Seit einigen Monaten ist viel los. Mario ist ständig mit dem Verein beschäftigt. Seine Gedanken kreisen quasi ausschließlich darum.“ „Stimmt, das hat Gregor erzählt. Das Team hat wohl eine schwierige Phase hinter sich. Wenn ich es richtig verstanden habe, waren nicht alle damit einverstanden, dass Mario Kapitän wird, nicht wahr?“ „So in etwa. Der Wechsel kam etwas… abrupt. Das hat die Mannschaft ziemlich durcheinander gebracht. Das war eine harte Zeit für Mario.“ „Und da hatte er natürlich wenig Zeit für seine Freundin“, schmunzelt Frau Daichi und sieht verständnisvoll auf ihre Tochter. „Hmmm“, macht diese nur, „Und in der wenigen Zeit, in der wir uns gesehen haben, geraten wir ständig aneinander.“ „Redet er etwa nur über Fußball?“ „Das nicht, aber irgendwie geht er mir mit Allem furchtbar auf die Nerven. Es ist nicht so, dass er nicht nett zu mir wäre, Mama. Ich glaube, er gibt sich sogar richtig Mühe, aber trotzdem macht er seit Wochen alles nur falsch.“ Sie seufzt noch einmal laut. „Nun ja, so eine Verantwortung kann eine Person schon verändern.“ Elsa schaut gedankenverloren in ihre Teetasse. „Ich glaube, es liegt eher an mir“, murmelt sie, „Ich habe das Gefühl, als würde ich ihn ständig mit jemandem vergleichen.“ „Wie lange möchtest du denn bleiben?“, ändert ihre Mutter das Thema. „Bin mir nicht sicher. Ich muss mal auf andere Gedanken kommen. Ein paar Tage. Ist das in Ordnung?“ „Du bist unsere Tochter, Elsa. Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Dies hier ist immer noch dein zuhause.“ „Danke“, murmelt sie wieder in ihre Tasse, während Frau Daichi aufsteht und etwas vom großen Notizbrett nimmt. „Bevor ich es vergesse: Das hier ist letzte Woche für dich angekommen“, sagt sie und legt ihr eine Postkarte auf den Küchentisch. „Erst dachte ich, es ist nur Werbung, aber dann habe ich gesehen, dass sie von Hand geschrieben ist. Vielleicht kannst du ja etwas damit anfangen.“ Mit gerunzelter Stirn nimmt Elsa die Karte in die Hand. Auf der Vorderseite ist eine hell erleuchtete Stadt unter einem wunderschönen, nächtlichen Sternenhimmel abgebildet. ‚Grüße aus Sapporo‘ steht in verschnörkelter Schrift darunter. Sie dreht die Karte um. In sauberen Zeichen steht dort ihr Name ‚Elsa Daichi‘ und die Adresse ihrer Eltern. Daneben, wo sonst viel Platz für Grüße, Wetter- und Hotelbeschreibungen ist, steht nur eine Reihe Zahlen und ein Haken. Elsa schaut auf in das ratlose Gesicht ihrer Mutter, dann zurück auf die Karte. Und dann begreift sie. Ihr Herz schlägt mit einem Mal hart gegen ihre Brust. Sie holt tief Luft. „Kann ich mal telefonieren?“ „Natürlich.“ Aber Elsa hat sich bereits das Telefon von der Kommode im Flur geschnappt, wickelt das lange Kabel ab und verschwindet mit dem Apparat im Büro ihres Vaters. Sie setzt sich auf den Fußboden, den Blick fest auf das Telefon vor sich gerichtet. Mit zitternden Händen nimmt sie den Hörer ab. Es ist kein Wunder, dass ihre Mutter mit den Ziffern auf der Karte nichts anfangen konnte. Es handelt sich nicht um eine normale Telefonnummer, sondern um eine Handynummer. Die sind noch neu und unüblich. Und der Haken unter der Nummer ist kein Haken, sondern ein V. Elsas Lippen zittern. V wie Viktor. Dies wäre das erste Lebenszeichen, seit er sie vor Monaten zwischen all den tanzenden Schneeflocken zurückgelassen hatte. Den ganzen Winter lang hatte niemand etwas von ihm gehört. Keiner in der Mannschaft weiß, wo er steckt. Selbst Conny, seine Schwester, schüttelt immer nur traurig mit dem Kopf, wenn man sie nach ihrem Bruder fragt. Und nun hält sie diese Postkarte in der Hand. Sie wirkt wie eine Verbindung in eine andere Welt. Elsa atmet noch einmal tief durch, dann wählt sie die Nummer. Unendliche Sekunden lang hört sie nur den Wählton. „Hallo?“ Ein Blitz durchfährt ihren Körper, als sie seine Stimme hört. „Hallo Viktor“, sagt sie leise. „Elsa? Bist du es?“ Die Verbindung rauscht etwas. „Ja. Ich habe deine Karte bekommen. Ich bin gerade bei meinen Eltern. Bist du wirklich auf Hokkaido?“ „Ja, bin ich. Elsa, es ist schön deine Stimme zu hören…“ Später am Abend liegt Elsa im Bett in ihrem alten Kinderzimmer. Das Telefon steht wieder neben ihr. Sie hat die Decke über den Kopf gezogen und spricht leise in den Telefonhörer. „Ich vermisse dich so.“ „Elsa, ich bin 1.000 km weit entfernt, ich habe keinen Kontakt mehr zu irgendjemanden aus Osaka oder Wakayama und trotzdem kann ich dich nicht vergessen. Du glaubst nicht, wie oft ich hier Frauen mit kastanienbraunem Pferdeschwanz begegne und jedes Mal denke ich, dass du es bist.“ Sie kichert leise. „Ich kann schon gar nicht mehr in die Unicafeteria gehen. Jedes Mal, wenn ich sie betrete, sehe ich dich dort an der Kaffeemaschine stehen.“ „Bin ich jetzt an einem gehörigen Kaffeedefizit Schuld?“ „Du bist an allen Defiziten Schuld.“ Elsa hebt gespielt tadelnd den Zeigefinger vor den Telefonhörer. „Ich bekomme nichts mehr hin, seit du weg bist.“ „Es tut mir Leid, Elsa. Wenn ich gewusst hätte, wie sehr ich dich vermisse, dann wäre ich nicht gegangen. Ich hätte den Kampf gegen Mario aufgenommen. Koste es, was es wolle.“ „Nein Viktor, du hattest mit allem Recht. Wir hätten alles kaputt gemacht. Für die anderen ebenso.“ „Ist nicht schön, Recht zu haben...“ „Ich wäre jetzt gerne bei dir.“ „Dann würde ich dich nicht mehr gehen lassen.“ „Das müsstest du auch nicht. Ich würde nicht mehr weggehen wollen.“ Viktor seufzt nur. Sie hört das Rascheln seiner Bettdecke durch den Telefonhörer. Wenn sie die Augen schließt, ist es, als würde er neben ihr liegen. Sie erinnert sich wieder an diesen einen Moment, in dem sie gemeinsam unter einer Bettdecke gelegen haben. Eng beieinander, seine Wärme, seine Haut auf ihrer. „Viktor…“ „Ich wünschte du wärst hier.“ „Ich auch“ Elsa schließt die Augen. Und noch bevor sie die Tragweite ihrer Worte wirklich realisiert, hört sie sich selbst sagen: „Viktor, ich komme zu dir.“ „Was?? Bist du verrückt?“ „Ja, ich bin verrückt. Ich halte es nicht mehr aus ohne dich. Ich komme nach Sapporo.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)