Wellenflüstern von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 1: 1-3 -------------- 1. Mathilda wachte auf, als Sergei das Tablett sachte neben ihr auf dem Nachttisch abstellte. Er hatte sich Mühe gegeben, soweit es die winzige Küche ihres Zimmers im Studentenwohnheim zuließ. Perfekt war es nicht, aber angesichts der Umstände sehr in Ordnung: Toast, Butter, Marmelade, eine Tasse Kaffee mit Milch. Mathilda mochte es süß, seit sie keine professionelle Sportlerin mehr war und es sich leisten konnte. Sie streichelte seinen Arm und Sergei konnte nicht widerstehen, also sank er vor dem Bett auf dem Vorleger in die Knie und lehnte sich über sie, um einen Kuss auf ihren Mundwinkel zu drücken. Mathilda war noch kaum wach; sie war weich und duftete nach Schlaf. Sergei faltete die Hände auf seinem Schoß und legte den Kopf auf ihre Schulter, um die Augen zu schließen und tief einzuatmen. Die Position, gekrümmt über der Bettkante und Mathildas warmem Körper, hätte unbequem sein sollen und vermutlich war sie das auch, aber er bekam es kaum mit, an so viel Härteres gewohnt und eingenommen von Mathildas Fingern, die sanft seinen ausrasierten Nacken kraulten. „Musst du schon gehen?“, fragte sie auf Englisch, die Stimme noch belegt von Schläfrigkeit und augenblicklich gefolgt von einem herzhaften Gähnen. Er richtete sich wieder in eine sitzende Position auf, kam auf die Beine und ließ sich sehr behutsam am Bettrand nieder, bedacht darauf, keines ihrer Gliedmaßen unter sich einzuklemmen. Sie lächelte, als er ihre Hand in seiner barg und dann anhob, um einen Kuss auf ihre Knöchel zu pressen. „Ich muss in einer Stunde bei der Arbeit sein“, sagte er. Wie immer fühlte sich sein Englisch für ihn unbeholfen an, aber das nahm er gerne in Kauf, wenn es ihm ermöglichte, mit Mathilda zu sprechen. „Okay.“ So einfach. Mathilda sagte es so einfach, mit der Einfachheit von jemandem, der darauf vertraute, dass man zurückkam und eigene Entscheidungen treffen konnte. Sie setzte sich auf, bis ihr Rücken gegen die Wand lehnte, streckte eine Hand aus und ließ sie auf seinem Oberschenkel ruhen, während sie nach dem Kaffee griff und einen ersten, vorsichtigen Schluck machte. Dann lächelte sie ihn an und pustete sich eine roségoldene Strähne aus dem Gesicht. „Danke fürs Frühstück. Du machst es immer perfekt.“ Sergei wollte noch einmal vor ihr niederknien und beten. Stattdessen legte er nur eine Hand auf ihre und streichelte behutsam ihre Finger, während sie trank. Gemeinsam atmeten sie die Stille des Morgens ein. Sergei hatte ein Fenster gekippt, weil ihm nachts immer zu heiß wurde, und nun ließ es ferne Moskauer Stadtgeräusche und Kühle herein. Mathilda zog die Decke etwas mehr über ihre nackten Brüste, ließ die Schultern aber entblößt. Sie fürchtete sich nicht vor ein wenig kalter Luft. „Ich wollte dich was fragen“, sagte sie dann und beobachtete ihn aufmerksam über den Rand ihrer Tasse hinweg. „Oder … dir etwas sagen, schätze ich. Ich weiß nicht genau.“ Jetzt war sie nervös. Er merkte es an der Art, wie sie leise lachte und den Kopf über sich selbst schüttelte. „Es ist nichts Schlimmes oder Großes. Aber ich werde über Weihnachten nach Hause fliegen. Meine Familie besuchen. Nicht lange, eine Woche oder so.“ „Okay“, sagte Sergei leise und ruhig, und er ignorierte den augenblicklichen Knoten in seiner Brust. Es war so einfach gewesen, sich vor einigen Monaten in Mathilda fallen zu lassen. Es war so einfach, sie zu lieben. Sie hatten eine Routine entwickelt, die nur ihnen beiden gehörte, und Sergei wollte nicht daran denken, was alles bei mehrstündigen Flügen passieren konnte. Wie dämlich auch. Da war er selbst jahrelang um die Welt geflogen, hin und her und her und hin, hatte an potenziell tödlichen Kämpfen teilgenommen - hatte Leute sterben sehen für einen Sport, und hier war er, mit enger Brust bei dem Gedanken, dass Mathilda etwas passieren konnte. So dumm. So dumm. „Wann kommst du wieder?“ „Am ersten oder zweiten Januar.“ Sie sah ihn aufmerksam an. „Du … ich will nur, dass du weißt, dass ich dich das nächste Mal gerne mitnehmen würde.“ Sergeis Mund war auf einmal recht trocken. „Zu deiner Familie?“ Mathilda nickte, das Lächeln halb hinter ihrer Tasse verborgen. „Jetzt ist es vielleicht noch ein bisschen früh dafür …“ Aber es bedeutete, dass sie langfristig dachte. Dass sie nächstes Jahr noch mit ihm sein wollte, dass er ihr länger Frühstück machen und ihre Hand halten konnte. Wenn ihr nur nichts passierte. Er barg ihre Hand in seiner. „Das wäre schön.“ Und dann, er wusste nicht, was ihn ritt, die Angst vielleicht, die ihn viel zu oft im Griff hatte, die Angst zu verlieren - jedenfalls erwischte er sich dabei, dass er sagte: „Wir feiern hier immer erst zu Silvester Weihnachten. Dann nochmal am sechsten Januar. Obwohl … bei uns speziell ist feiern vielleicht zu viel gesagt.“ Er lächelte ein wenig hilflos und kratzte sich unter ihrem aufmerksamen Blick den Kopf. „Wenn du möchtest … Ich meine, es ist keine richtige Vorstellung. Du kennst sie ja schon.“ Mathilda stellte die Kaffeetasse am Nachttisch ab. Dann wand sie ihre Hand unter Sergeis hervor und rieb die weiche Unterseite ihrer Finger sanft über seine stoppelige Wange, bis er die Augen schloss und sich tiefer in ihre Berührung neigte. „Nicht als das, was sie für dich sind“, sagte sie simpel. „Das macht all den Unterschied. Wenn es ihnen recht ist, komme ich gerne.“ 2. Er brachte sie am 22. Dezember zum Flughafen und behielt ihre Hände in seinen, bis es Zeit war, sie in den Sicherheitsbereich gehen zu lassen. Mathilda stellte sich auf die Zehenspitzen und grub die Finger in seine dicke Jacke, um ihn zu sich herab zu ziehen. Sie küssten sich. Sergei umfing ihren Hinterkopf mit einer Hand und hielt sie fest, bis sie ihn losließ. „Es ist nicht lange und wir können telefonieren“, sagte sie mit einem Lächeln. Sergei nickte nur, weil er sich gerade nicht zutraute, kohärente Sätze zu formulieren. Die Angst saß ihm im Nacken und wisperte etwas von Todunfallabsturzfoltermord, wisperte etwas von Anderemüttermitnochschönerensöhnen, wisperte etwas von Distanz. Das war der Preis für den Umgang mit Leuten, die nicht aus seinem ehemaligen Team bestanden. Sie konnten so viel schneller wieder verschwinden. Er wusste nicht genau, wie er wieder heimkam, aber er wusste, dass er die Fahrt damit verbrachte, darüber zu grübeln, wie er den anderen beibringen konnte, dass er schon die längste Zeit eine Freundin hatte, von der sie nichts wussten. Obwohl er sich recht sicher war, dass Ivan zumindest eine Vermutung hatte. Dem Jungen entging nicht besonders viel, wenn er sich nicht gerade bewusst dumm stellte. Er war sich auch recht sicher, dass Boris diese Nachrichten mit milder Sensationslust aufnehmen und dann sein normales, mehr oder minder charmantes Selbst sein würde. Yuriy jedoch … Yuriy war nach all den Jahren immer noch eine Wildcard, wenn es um solche Dinge ging. Die Freundin an sich war sicher nicht das Problem. Wenn, dann war es die Tatsache, dass Sergei bisher kein Wort über sie verloren hatte, aus Gründen, die ihm selbst nicht so klar waren. Mit einem tiefen Seufzer versuchte er wenig erfolgreich, diese Gedanken für den Moment zu vertreiben, dann sperrte er die Tür der WG auf. Wie immer duckte er sich ein wenig unter dem Rahmen durch, dann blieb er wie angewurzelt stehen, als Yuriy wie eine Kanonenkugel an ihm vorbei schoss, gefolgt von dem schreienden Kater Rodja. Er sah zu, wie Yuriy gegen Ivans Zimmertür hämmerte, hinter der lautstark deutscher Rap gespielt wurde. „Ich vergrabe deine Leiche im Innenhof!“, rief Yuriy gegen das Holz. Der Kater hinter ihm sträubte sich und fauchte. „Äh“, sagte Sergei. Dann blinzelte er, als Kai aus dem Wohnzimmer kam, seine Brille auf der Nase und das iPhone zwischen Wange und Ohr geklemmt. Er funkelte Sergei an, als ob das alles seine Schuld war, dann richtete er den Blick auf Yuriy. „Wollt ihr mich verarschen?“, zischte er. „Ich muss mit Bangkok telefonieren, ihr Irren!“ „Ich muss mit Bangkok telefonieren!“, imitierte Yuriy ihn augenblicklich mit viel zu hoher Stimme, woraufhin Kai ihm augenblicklich den Mittelfinger zeigte. „Gott, du bist manchmal so ein Spießer, ich kann nicht glauben, dass ich dich-“ „Tja“, sagte Kai kalt, „du bist dem Spießer hinterhergestiegen wie ein liebeskrankes Ross. Was sagt das also über dich? Bring‘ ihn zum Schweigen, verdammt nochmal-“ „Ich arbeite daran!“, erwiderte Yuriy aufgebracht. „Ich-“ Aber das war der Moment, in dem Sergei spürte, dass ihm die Hutschnur platzte. Auf einmal war alles zu viel: Mathildas Abflug, seine Sorge über eine Bitte um ihre Einladung, die ständige Unruhe und momentane angespannte Stimmung. Mit zwei Schritten war er an Yuriy vorbei und rammte Ivans Tür mit der Schulter auf, bis sie krachend gegen die Wand flog. Deutscher Rap spülte nun über alle Anwesenden im Korridor hinweg; Ivan, Headset um den Hals und in seinem Schreibtischstuhl lümmelnd, starrte ihn mit weiten Augen an. Einen Moment lang sagte niemand etwas. Dann sagte Sergei, die Brust so eng, dass er glaubte, am Schmerz verglühen zu müssen: „Mach‘ die Musik aus.“ Ohne die Augen von ihm zu lassen drückte Ivan den Pausenknopf auf seinem Laptop. Die Stille war ohrenbetäubend. Dann krachte die Zimmertür nebenan auf, Sergei zuckte,Yuriy zuckte, Rodja fauchte und sauste zu Ivan, Kai ließ leise auf Japanisch fluchend das Handy sinken. Boris kam aus dem Zimmer gestapft, ließ den Blick über die Szene wandern und ihn dann auf Sergei ruhen. Man konnte über Boris sagen, was man wollte: Besonders gut im Raumlesen war er nicht. Aber er kannte Sergei und im Gegensatz zu den anderen, die in einem Drama verstrickt zu sein schienen, das Sergei nicht verstand, handelte er sofort. „Ihr seid alle scheiße“, erklärte Boris den Anwesenden, griff nach seiner Lederjacke und fuhr in seine Bikerstiefel hinein wie der Teufel in die Seele, ehe er Sergei am Arm packte. „Lass‘ uns abhauen, die sind heute stinkig drauf.“ „Ich geb‘ dir gleich stinkig-“, begann Yuriy in einem Tonfall, der darauf hindeutete, dass er in eine Tirade verfallen wollte, ehe er blinzelte, als Boris ihn mit einem herzhaften Schmatzer auf den Mundwinkel zum Schweigen brachte. „Kümmer‘ dich um Bangkok und dann blas‘ ihm einen oder so“, sagte er zu Kai, der nur mit den Augen rollte, während Yuriy sich empört aufplusterte. „Ich will das nicht hören!“, schrie Ivan nicht ganz unberechtigt und drückte erneut die Pausentaste, woraufhin der Krach in voller Glorie weiterging. Sergei wurde schneller von Boris aus der Wohnung gezogen, als er schauen konnte. Die Tür fiel hinter ihnen zu und dämpfte den Deutschrap auf ein Mindestmaß herunter. Boris ließ Sergei nicht los, sondern zog ihn hinter sich her. Sergei, immer noch betäubt von einem Gefühl, das ihm in den Knochen steckte wie ein zusammengeballtes Knäuel wütender Wespen, folgte ihm willenlos. Er konzentrierte sich darauf, möglichst ruhig zu atmen und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Irgendwann fiel ihm auf, dass sie den Wohnblock hinter sich gelassen und den winzigen Park, in dem Boris gerne mit seinen Freunden aus dem Boxclub herumhing, angesteuert hatten. „Setz‘ dich, Alter“, sagte Boris und drückte ihn in einer Ecke des Parks auf eine niedrige Mauer, um neben ihm zu squatten. Aus der Tasche seiner Lederjacke holte er einen Ofen und ein Feuerzeug heraus. „Du musst runterkommen, du siehst drein wie ein Pferd bei einem Scheunenbrand. Was‘n los mit dir?“ Sergei klebte die Zunge am Gaumen. Boris starrte ihn mit seinen durchdringenden Augen an, dann schenkte er ihm ein kurzes, freundliches Lächeln und hob fragend den Ofen. Als Sergei stumm nickte, zündete Boris den Ofen und zog ein paarmal daran, ehe er ihn an Sergei weiterreichte. „Ich glaube, wir werden alle sterben“, sagte der prompt und nahm einen tiefen Zug, inhalierte, bis seine Lungen voll mit Rauch zu sein schienen und stieß ihn dann wieder aus. Noch ein Zug, dann begann er sich besser zu fühlen. Der wütend-angespannte Wespenballen in seinen Knochen wurde nach und nach schläfrig, bis er wieder durchatmen konnte. „Hau‘ rein“, sagte Boris mit einem Nicken auf den Ofen. „Ändert zwar nix daran, aber es ist dir wenigstens egaler. Nimmst du deine Tabletten?“ „Jepp.“ Er hatte sogar eine App dafür, die ihn an seine Anxiety-Tabletten erinnerte, auch wenn er es auch so nicht vergaß. Er nahm noch einen Zug, dann reichte er an Boris zurück. „Hör‘ mal“, fing der nach einem Moment an, „ich weiß, dass es die letzten Tage recht laut war bei uns, aber Kai reist morgen sowieso nach China zu irgendeiner dämlichen Business-Sache und dann ist auch mal wieder Ruhe, also …“ „Nein, das ist es nicht.“ Sergei schüttelte den Kopf. „Ich war einfach nur ein Idiot.“ „Okay, aber du bewegst dich permanent unter Idioten, also was macht dich speziell?“ Sergei verbiss sich ein Schmunzeln. Boris‘ unbekümmerte Art, das Leben zu nehmen wie es kam, hatte manchmal schon seine Vorteile. Dann seufzte er tief und fuhr sich über die Haare. „Ich bin ein Idiot und ein Arsch, weil ich euch nicht gesagt habe, dass ich eine Freundin habe.“ „Scheiße“, sagte Boris prompt, „ich schulde Ivan Geld. Schönen Dank auch, Serjoscha.“ Sergei starrte ihn an. „Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?“ Boris überlegte einen Moment. „Serjoscha, was du mit wem in deiner Freizeit treibst, geht uns nur so weit was an, wie du es uns erzählen willst“, sagte er dann und klang dabei ungewöhnlich ernst. „Das ist einer der Vorteile, nicht mehr in der Abtei zu leben - wir haben alle ein bisschen Anrecht auf Privatsphäre, weißt du.“ „Yuriy wird-“ „Yuriy, Yuriy“, sagte Boris und winkte ab, dann zündete er den Ofen neu an. „Yura ist selbst ein kleiner Komplexhaufen, das ist alles. Wir sind eine Familie - Yura, Vanja, du und ich. Niemand stirbt, weil du eine Freundin hast, Serjoscha, und niemand wird deswegen alleine gelassen. Wir haben nur dann ein Problem, wenn sie nicht mit uns kann und versucht, dich von uns zu entfernen. Dann wird‘s unschön.“ „Ich glaube nicht, dass das passieren wird“, sagte Sergei und dachte Mathilda und ihre stille, leidenschaftliche Loyalität. Sie wusste, wie schwer das Leben manchmal sein konnte und welche Gesichter Familie manchmal annahm. Dass sie ihn von den anderen trennen wollte … kaum vorstellbar. Boris schenkte ihm ein weiteres freundliches Lächeln. „Na siehst du. Dann haben wir doch kein Problem, oder? Wird schon alles klappen.“ 3. „Das kann nur schiefgehen“, prophezeite Ivan. Der erste Schnee war über Moskau gefallen, und das gleich mit einer Heftigkeit, wie sie es seit sicher zwei oder drei Jahren so nicht mehr in der Stadt erlebt hatten. Er knirschte knöchelhoch unter den dicken Sohlen ihrer Stiefel. Sergei zog sich die Usschanka tiefer ins Gesicht, aber es schützte ihn nur bedingt vor den hemmungslos herabsegelnden Flocken. Es war noch nicht spät, aber es war schon dunkel, und Moskau gehörte den Weihnachtslichtern und Eiskristallen, dem weißen Glitzern und Matsch. In absehbarer Ferne leuchtete eine Kirchturmglocke und schien dumpf in Sergeis Brust zu dröhnen. „Warum sagst du das?“, fragte er. „Entschuldige bitte? Ich kenne das Mädel nur aus dem Fernsehen, aber da hat sie wie ein stilles Mäuschen gewirkt. Stell dir die mit uns plus Kai und drei Flaschen Wodkapunsch vor. Das ist doch ein armes Schwein.“ „Matuschka kann sich behaupten“, sagte Sergei. In gewisser Weise war es erleichternd, dass das scheinbar alles an Sorge war, was Ivan vorzubringen hatte. Der wirkte allerdings nicht besonders überzeugt. „Ich meine, wir können Kai immer noch in der Bowle ertränken, nehme ich an, dann sind alle beschäftigt genug.“ „Der verträgt sowieso nichts und hängt nach dem zweiten Glas nur noch an Yuriys Arm.“ Bei Kai hatte Sergei auch am wenigsten Bedenken. Er wusste, dass Kai sich benehmen konnte und an sich gut mit Mathilda zurechtkam. Zumindest hatte diese behauptet, dass sie sich in seiner Gegenwart zwar vielleicht immer ein wenig verlegen, aber wenigstens nicht unwohl fühlte. Yuriy, Ivan und Boris allerdings … Sergei würde für sie sterben, aber das hieß nicht, dass sie nicht absolute Krätzen waren. „Hast du es Yuriy schon gesagt?“, wollte Ivan wissen. „Noch nicht“, murmelte Sergei und vergrub sich tiefer in seinem Schal. Ivan schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Als ich mit Rodja zu lange gewartet habe, hat‘s das nur noch schlimmer gemacht.“ Sergei wusste nicht, wie er formulieren sollte, dass er Yuriy nicht gerne antagonisierte. Also fragte er stattdessen: „Setzt du gerade deine Katze mit meiner Freundin gleich?“ Ivan zuckte nicht mit der Wimper und leugnete es auch nicht. Was er allerdings als nächstes sagte, war nicht von der Hand zu weisen. „Wir wissen beide, dass es nicht drum geht, ob man eine Katze oder eine Freundin vor ihm geheimhält.“ Sergei schwieg. Unter dem Schal war es dampfend warm, aber er tauchte dennoch nicht daraus auf. Feige, dachte er. So feige, wenn es doch nur Yuriy war - kein sie am Leben erhaltender Teamcaptain, kein perfekter Soldat, kein emotionsloses Werkzeug Volkovs. Nur Yuriy, der selbst nicht ohne Fehler war, und der sie alle furcht- und grenzenlos liebte. Er schämte sich, und die Scham beschleunigte unwillkürlich seine Schritte, bis Ivan fluchend fast rennen musste, um mit ihm gleichauf zu bleiben. „Ich mein‘s nur gut“, keuchte er, „warte nicht zu lange damit. Und lass‘ es ihn schon gar nicht irgendwie anders rausfinden.“ „Ich weiß“, sagte Sergei. Erneut schien ihm die Zunge am Gaumen zu kleben. Der Schnee verschluckte seine Stiefelabdrücke. Er dachte an Mathilda, die ihm heute morgen eine lange, warmweiche Telegram-Nachricht geschrieben hatte, und versuchte daraus Energie zu schöpfen. Noch war er nicht so weit. Aber bald. Kapitel 2: 4-6 -------------- 4. Die Kirche war nur spärlich besucht. Das war Sergei ganz recht, denn so lagen keine Augen auf ihm, als er sich vor den Kirchtoren dreimal abwechselnd verbeugte und bekreuzigte, wie es Brauch war. Er war extra zu einer Zeit gegangen, wo es unwahrscheinlich war, dass sich hier viele Leute aufhalten würden, und so waren es nur seine Schritte, die die weihrauchgeschwängerte Luft der Kirche mit Geräuschen füllten. An einer der goldgefassten Ikonen stand eine alte Frau, die ihm unter ihrem schwarzen Kopftuch einen kurzen Blick zuwarf und dann wieder in ihr Gebet versank. Sergei fand das Ikonenbild, das er gesucht hatte, und blieb davor stehen. Der heilige Sergius von Radonesch - einer der meistangerufenen Heiligen der russisch-orthodoxen Kirche, zu seiner Zeit ein bescheidener Mann. Er hatte immer gewusst, was er wollte und dass Gott auf seiner Seite stand. Sergei zündete eine der Kerzen an, betrachtete das Gesicht des Heiligen im flackernden Licht. Die dunklen Augen schienen ihn nicht loszulassen. Wie erstaunlich es sein musste, einen klaren Weg im Visier zu haben, der beschritten werden musste. Immer, wenn er hierherkam, hoffte er, die Kirche mit ein wenig mehr Ahnung zu verlassen, was die Zukunft ihm bringen würde. Aber er wusste nichts, die Ikonen hatten keine Antworten für ihn, im Gegenteil, sie schienen ihm mit ihren zeitlos schönen, blattgoldumrahmten Gesichtern zu sagen, dass er die Antworten nur selbst finden konnte, indem er einen Fuß vor den anderen setzte. In dieser Hinsicht war es vollkommen enttäuschend, hierherzukommen. Die anderen Jungs verstanden auch nicht wirklich, warum er es tat. Boris zog ihn gerne gutmütig damit auf, Ivan schüttelte nur den Kopf und Yuriy enthielt sich stets eines Kommentars, aber er pflegte die Lippen auf eine ganz spezielle Weise zu schürzen. Das war in Ordnung. Sie mussten nicht alles verstehen. Und auch wenn er hier keinen 24-Punkte-Plan für die Zukunft oder einen Einblick in sein Schicksal erhielt: Es war beruhigend, das Gefühl zu haben, dass es auf der Welt mehr gab als das bloße Leben. In der Stille, im Kerzenlichtgold, im Weihrauch und der Besinnung auf etwas außerhalb der Angst ums Leben kam Sergei zumindest einen Moment lang zur Ruhe. 5. Sergei wachte auf, als ihm der Schrei noch in der Kehle saß. Einen Moment lang lag er reglos da und starrte an die Decke. Es war der 28. Dezember, es war drei Uhr morgens, es schneite, Mathilda war seit fast einer Woche bei ihrer Familie und er war so verdammt müde. Alles, was er wollte, war eine Runde zu schlafen, aber jedes Mal, wenn er dachte, dass er soweit war, verkrampfte sich etwas in seiner Brust und er konnte nicht mehr atmen, bis er glaubte zu sterben. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Einen Moment fiel gedämpftes Licht in einem dünnen Strahl über den Boden und kroch bis zu seinem Bett. Dann schloss sich die Tür wieder und Yuriy folgte auf leisen Sohlen dem Pfad, den der Lichtstrahl vorgegeben hatte. Sergei setzte sich auf, stellte keine Fragen mehr, nicht nach all den Jahren, in denen er sich daran gewöhnt hatte, dass Yuriy manchmal einfach Dinge wusste. „Ich bin okay”, sagte er. „Okay”, sagte Yuriy milde. Er setzte eine Tasse Tee auf Sergeis Nachttisch ab, holte Boris’ Feuerzeug aus den Falten seines Hoodies, der irgendwann mal Sergei gehört hatte, hervor und träufelte Lavendelöl in die gläserne Schale von Sergeis Duftöllampe. Das Teelicht darunter wurde angezündet und warf flackernde Schatten über Sergeis Wand. Yuriy zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, kaum zu bemerken für jemanden, der ihn nicht seit Jahren kannte. Dann zog er sich die Socken aus und kletterte ohne zu fragen über Sergei, um sich zwischen ihn und die Wand zu quetschen. „Dreh’ dich um”, sagte er. Sergei tat wie geheißen, legte sich hin und drehte sich dem flackernden Licht zu, während Yuriy das Gesicht zwischen seine Schultern presste und den Arm um ihn schlang, fest, fast schmerzhaft fest, bis Sergei zwischen dem Lavendel und dem Licht und Yuriys Griff das Gefühl bekam, wieder atmen zu können. Von Yuriy gehalten zu werden fühlte sich immer noch ein bisschen wie enger Kontakt mit dem Universum an. „Danke”, wisperte Sergei schließlich. Yuriy gab einen leisen Laut von sich, der als Atemhauch über seinen Nacken streichelte. Er sagte Sergei nicht, dass es unnötig war, Angst zu haben. Er sagte ihm auch nicht, dass alles in Ordnung war. Sie hatten einander durch genügend schlechte Momente geholfen, um zu wissen, was half und was nicht. Trotzdem konnte er nach einem Moment spüren, dass Yuriy flüchtig, aber kräftig seine Schulter drückte, dann sagte er: „Wenn es etwas gibt, das dir auf der Seele brennt - ich bin hier.” Noch, dachte Sergei ungewollt. Er schloss die Augen und atmete tief ein, Lavendelgeruch füllte seine Nase, er atmete langsam aus. Dann sagte er: „Ich habe eine Freundin.” Seltsam, wie schnell das plötzlich funktioniert hatte. Yuriy war eine halbe Minute still. Dann, in vollkommen neutralem Tonfall: „Seit wann?” „Ein paar Monate.” „Ein paar Monate”, wiederholte Yuriy. „Warum hast du nichts gesagt?” Sergei zuckte mit den Schultern. Er wusste, dass es keinen wirklichen Sinn machte. Angst hatte für ihn oft keinen richtigen Grund. Yuriy seufzte. Dann spürte Sergei, wie er den Kopf gegen seinen Rücken drückte. „Wann lernen wir sie kennen?” Sergei blinzelte, starrte in das Teelichtflackern und glaubte einen Moment lang, die gütigen dunklen Augen der Sergius-Ikone darin blitzen zu sehen. Er atmete tief durch. „Vielleicht … am sechsten Januar?” „Gut“, sagte Yuriy erstaunlich sanft. Lange war es still. In der warmen Stille des Zimmers flackerte das Teelicht weiter vor sich hin und malte tanzende Schatten an die Wände. Sergeis Augenlider wurden schwerer und schwerer. Etwas in seiner Brust hatte sich gelockert, sodass das Licht hineinfand und ihn von innen wärmte. Dann sagte Yuriy leise, aber fest: „Du weißt, dass wir dich lieben, nicht wahr?“ Es war ein Schock, diese Worte zu hören. Yuriy machte selten klare Aussagen, sprach lieber in Rätseln, besonders wenn es um seine Gefühle ging. Und auch diese Frage war nur ein Fragment dessen, was Yuriy ausdrücken wollte, aber Sergei verstand. Das Licht breitete sich in seinem Körper aus, angefangen von der Stelle, an der Yuriys sehniger Körper sich gegen seinen drückte. „Danke“, wisperte er. Yuriy brummte und drückte seinen Arm. „Schlaf.“ Sergei atmete aus und hielt sich noch ein wenig länger an dem Licht in seinen Venen fest. Dann tat er genau das, und er träumte von nichts. 6. „Es ist schon gut so“, sagte Sergei beschwichtigend zu Yuriy. Der stierte ihn nur böse an und rückte dann weiter die Teller zurecht, die er auf dem Tisch platziert hatte. Der Tisch sah schon perfekt aus, bis hin zu den Servietten, die Kai gerade faltete und unter die Gabeln schob. Yuriy wirkte trotzdem gestresst, aber immerhin hatte er nicht mit dem Händewaschen begonnen. „Ich hab‘s!“, brüllte Ivan, woraufhin wenig später Mariah Careys All I Want For Christmas Is You in ohrenbetäubender Lautstärke durch das Wohnzimmer wummerte und die Nachbarin über ihnen dazu brachte, gegen die Wand zu trommeln. Boris stürmte schimpfend und in rot-weiß gestreifter Schürze aus der Küche, gab Ivan einen Klaps auf den Hinterkopf und drehte die Lautstärke auf ein erträgliches Maß hinunter, bevor er wieder in der Küche verschwand. Ivan zeigte seinem Rücken den Mittelfinger, wandte sich dann aber zufrieden zum Rest der Versammelten um und breitete aufmerksamkeitsheischend die Arme aus. „Ich hab‘ gesagt, ich kann die Anlage mit Spotify verbinden. Jetzt werdet ihr den ganzen Abend lang gequält.“ „Na großartig“, murmelte Yuriy und rückte den Wasserkrug zurecht. Kai nahm seine Hände und legte sie sich ohne die Miene zu verziehen an die Brust. Er trug zur Feier des Tages ein absolut scheußliches rotes Hemd mit weißen und grünen Glitzerfäden, das Boris ihm eigentlich als Scherz gekauft hatte. „Komm mit mir die Kekse anrichten.“ „Ist das ein Euphemismus?“, fragte Ivan. „Wenn das ein Euphemismus ist, dann will ich das gar nicht wissen.“ Woraufhin Kai, der keine Scham kannte, mit einem übertriebenen Augenaufschlag an Yuriy sagte: „Ich hab da ne echt große Zuckerstange für dich, aber sie ist in meiner Hose.“ „Ich hör‘ euch nicht!“, brüllte Ivan umgehend und hielt sich die Hände über die Ohren. Yuriy presste einen Kuss gegen Kais Schläfe. „Du darfst eher mit mir einen Braten in den Ofen schieben.“ „Ha!“, sagte Kai grinsend und Sergei schüttelte den Kopf, als die beiden in die Küche abzogen, um Boris bei den letzten Vorbereitungen mit dem Essen zu helfen. „Bleib mal stehen, Kleiner“, sagte Ivan, reckte sich nach oben und rückte die Glitzerfliege zurecht, zu der Sergei sich hatte überreden lassen. „So. Perfekt.“ „Danke, Großer.“ Sergei wuschelte Ivan durch die Haare, woraufhin der sich mit einem protestierenden Geräusch wegduckte. Dann hielten beide inne, als die Türklingel ertönte. „Das ist sie“, stieß Sergei hervor und stolperte los. Vor der Tür hielt er noch einmal inne, strich sich nervös das Haar glatt, atmete tief ein. Dann öffnete er, und Mathilda strahlte ihm entgegen - die Wangen rosig, letzte Spuren von schmelzenden Schneeflocken in ihrem Haar und auf ihrem Mantel. Er fing sie ein, umarmte sie so fest er konnte und drückte einen Kuss auf ihre Wange. Sie war warm und duftete nach Mandarinen, Frischluft und Licht. „Hi“, wisperte sie und presste ein Lächeln gegen seine Haut. „Hi“, wisperte er zurück, dann schob er sie zur Tür hinein, schloss sie hinter ihnen und wandte sich um. Ivan stand im Gang, die Hände lässig in den Hosentaschen seiner Jogginghosen mit Weihnachtsprint vergraben, und grinste sie beide an. Yuriy, Kai und Boris hatten die Köpfe aus der Küche gestreckt und grinsten ebenfalls. Einen Moment lang verknotete sich etwas in Sergeis Brust unangenehm fest - aber dann war es fort, nur noch der Hauch einer Erinnerung, und das Licht, die Wärme, waren wieder hier. Das war seine Familie, und das war seine Partnerin, und alles war zumindest für den Augenblick so, wie es sein sollte. Er legte einen Arm um Mathilda. „Leute“, sagte er, „ich möchte euch jemanden vorstellen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)