Mein wahres Märchen
Manchmal frage ich mich, wie wahr eine solche Geschichte klingen mag. Ich erzähle sie, manchmal ausführlich, manchmal in Kurzfassung. Ich sehe ungläubige und lächelnde Gesichter dann, Trauer und Spannung. Am Ende frage ich immer, was meine Zuhörer glauben, was aus den beiden Jungen, dem Prinzen und seinem Diener, geworden ist. Meistens sind sie sich alle einig: Sie sind glücklich geworden, sagen die Leute dann, denn sie wollen daran glauben, dass ein jedes Märchen glücklich endet, so wie sie hoffen, dass auch das wahre Leben glücklich verläuft. Nur wenige schütteln an dieser Stelle ergeben die Köpfe und sagen, dass die beiden Jungen nicht haben entkommen können. Sie sind gebunden an ihr Schicksal, dem konnten sie nicht entfliegen. Und ich sehe in den Augen die Verzagtheit ihrer eigenen Leben.
Ich erzähle nie mehr von der Geschichte, weil ich mir denke, dass es schöner ist, wenn jeder sich selbst ausmalen kann, was fortan passiert ist. Und als Abschluss habe ich absichtlich einen der hoffnungsvollen Momente gewählt, statt die vielen schwierigen, harten Zeiten, von denen ich noch erzählen könnte. Aber ich hoffe, dass so manch einer meiner Zuhörer Lucius und Xaves dann auf Filena und Calvaro davon reiten sieht und selbst mit einem Lächeln nach Hause geht. Oder die beiden gehen einfach Hand in Hand in den Sonnenaufgang hinein, wie einmal ein kleines Mädchen lächelnd zu mir sagte. Vielleicht aber, in manchen Vorstellungen, besteigt doch nach Jahren Lucius als neuer König den Thron, an seiner Seite eine Königin und in seinem Gesicht noch immer nie verblassende Spuren eines vergangen Lebens.
All das mag den Menschen im Kopf herumgehen, wenn sie diese Geschichte gehört haben und ich ihnen sage, dass ich an eben dieser Stelle enden werde. Dann schauen sie meist traurig und enttäuscht, doch ich lächle nur, stehe auf und verlasse meine Zuhörer in dem Wissen, dass sie den Abend in ihren Vorstellungen verbringen werden.
Dann wandere ich durch die Nacht, manchmal frierend durch winterliche Kälte, dann wieder die frische Sommerluft genießend. Ich strecke den Kopf in den Himmel und sehe die Sterne an, in ihrer endlosen Weite. Dann und wann gleitet eine Träne über meine Wange hinweg, manchmal aber lächle ich auch, während die Füße mich weiter treiben, bis hin zu meinem Nachtlager, welches morgen schon wieder woanders sein wird, an einem noch fremden Ort, den es zu erkunden gilt.
Für heute angekommen lasse ich mich nieder, gähne und atme das wirkliche Leben in mich hinein, während ich eine Hand spüre, die nach meiner sucht und sie wie selbstverständlich findet. Lippen sind es dann, die mich zärtlich begrüßen und müde Augen, welche sanft zu mir blicken. Ich küsse die warmen Lippen und nehme die vertraute Nähe in mir auf. Manchmal erzählen wir einander von unserem Tag, doch manchmal schweigen wir auch einfach und sinken gemeinsam in unsere Träume über.
Während ich so daliege, frage ich mich manchmal, bevor ich einschlafe, ob ich je jemandem sagen werde, wie der wirkliche Name des Prinzen war; wie sich der Diener nannte und was sie taten, nach diesen letzten Augenblicken im Stall. Wo und wer sie heute sind.
Und du fragst mich dann, wie oft ich unsere Geschichte wohl noch erzählen werde, bevor ich das Gefühl habe, endlich mit der Vergangenheit abschließen zu können. Doch dabei vergisst du, dass nichts Schlimmes dabei ist, zurückzudenken. Denn nur unsere Vergangenheit macht uns zu denen, die wir heute sind. Und ihr verdanken wir es, dass wir unseren wichtigsten Besitz Tag für Tag wirklich zu schätzen wissen: unsere gemeinsame Freiheit.
Ende
Geschrieben 12+13. September 2009
Überarbeitung Oktober 2020 – November 2021