Wolfsherzen von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 1: Abrutsch ------------------- 1. Eines der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie besagte, dass für jedes Ereignis A∈Σ die Wahrscheinlichkeit von A eine reelle Zahl zwischen 0 und 1 war. In dem Fall 'Yuriy trifft seine Mutter' tendierte diese Zahl so stark gegen Null, dass es nicht hätte möglich sein sollen, dass sie ihm am Markt unter der Woche über den Weg lief, was wieder einmal zeigte, dass nichts im Leben sicher war, nicht einmal die Wissenschaft. Er war gerade dabei, grübelnd eine Kiste Kraut anzustarren und sich zu fragen, ob es für Borsch geeignet war. Die Sonne schien, aber der Tag war noch recht frisch. Moskau erinnerte sich noch an den Winter, der trotz kontinuierlich steigender Temperaturen unwillig war zu gehen, und Yuriy trug daher nicht nur seinen dicken schwarzen Wollwintermantel, sondern hatte sich auch Kais Schal gestohlen. Nachdem er keine Kopfbedeckungen mochte und sie nicht verwendete, außer wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ, hatte er auf eine Mütze verzichtet und war angesichts des teilweise doch recht scharfen Windes noch nicht sicher, ob er diese Entscheidung bereute oder nicht. Immerhin half die Frische ihm dabei, seine Krautgeschäfte etwas schneller in trockene Tücher zu bringen als gewöhnlich, und er drehte sich zufrieden wieder um in dem Bestreben, das passende Fleisch als letzten Punkt auf seiner Liste zu erledigen, bevor er wieder heim konnte. Dann stieß er auf das Fuchsmädchen. Um ehrlich zu sein war das keine adäquate Beschreibung von dem, was passierte, weil es eine gewisse Zufälligkeit auf beiden Seiten implizierte. Was wirklich passierte, war, dass plötzlich ein roter Schatten auf ihn zuraste, „Mama!“ schrie und dann ungehemmt in seine Beine einschlug wie ein Meteorit auf die Erde. Es war nur jahrelangem Umgang mit Ivans Überraschungsangriffen aus dunklen Ecken heraus zu verdanken, dass er sich auf den Füßen hielt. Mit einem leisen, nur halb unterdrückten Fluch packte er den roten Schatten und pflückte ihn von seinem Mantel. Der rote Schatten starrte ihn an. Es war ein kleines Mädchen, sicher nicht älter als vielleicht acht und mit einem Gesicht, das ein deutliches Grübchen im Kinn aufwies, womit sie etwas Freches bekam. Ihr Haar war in zwei dünne Zöpfe geflochten, die auf ihre Schultern herabhingen und an den Enden mit bunten Haargummis gesichert waren. Auf ihrem dunkelblauen Mantel, dick gefüttert und von guter Qualität, ging am Saum eine aufgesteckte Fuchsfamilie in Reih und Glied spazieren. Sie hatte große, braune Augen, die Yuriy nun geradezu anklagend ansahen, als sie feststellte: „Du bist nicht meine Mama.“ Sie hatte das gleiche, genau das gleiche rote Haar wie er. „Nein“, sagte Yuriy trocken. Er stellte sie behutsam auf die gestiefelten Füße und versuchte das aufkommende Gefühl von Gefahr zu ignorieren, das absolut keine Berechtigung hatte. Dann wiederum betrog sein Instinkt ihn normalerweise nie. Er strich sich über die Haare, die er wieder hatte wachsen lassen, sodass sie ihre Spitzen nun in einem mittellangen Pferdeschwanz seinen Mantelkragen berührten. Dann schalt er sich albern und blickte mit gerunzelter Stirn auf seine neue Bekanntschaft herab. „Hast du sie verloren?“ „Ich finde sie wieder“, sagte das Fuchsmädchen mit einer faszinierend unerschütterlichen Sicherheit für jemanden, der so klein war. Yuriy war hin- und hergerissen zwischen moralischem Anstand und der Tatsache, dass er sich mit Kindern unter mindestens zwölf Jahren immer schon sehr schwer getan hatte. Dann wiederum fürchteten sich die meisten kleinen Kinder tendenziell von ihm, was bei dem Fuchsmädchen nicht der Fall zu sein schien, denn diese musterte ihn weiterhin sehr interessiert. Sie schien sich wenig zu fürchten. Yuriy vergaß manchmal, dass die meisten Kinder das unerschütterliche Vertrauen hatten, dass die Welt es nur gut mit ihnen meinte. „Wusstest du, dass nur zwei Prozent von den Menschen auf der Welt rote Haare haben?“, fragte sie. „Ein bis zwei Prozent“, korrigierte Yuriy automatisch, woraufhin sie mit den Augen rollte, als ob er pedantisch und nicht wissenschaftlich korrekt war. Yuriy passte seine Beurteilung an. Wie hatte noch einmal dieser freche rothaarige Kobold aus dieser deutschen Serie geheißen, die Ivan eine Weile lang gesüchtelt hatte? Er beschloss, sich auf das wesentliche zu konzentrieren. „Wir sollten deine Eltern suchen.“ „Wie heißt du?“, fragte das Fuchsmädchen stattdessen und blinzelte ihn an. Yuriy starrte auf sie herab. „Wie heißt du?“ „Sinaida!“ Fast synchron hoben Yuriy und das Fuchsmädchen die Köpfe, als der Ruf über den Markt erklang. Doch während die Augen der Kleinen sich weiteten und sie enthusiastisch winkte, hatte Yuriy das Gefühl, dass seine Magengegend sich in eine Grube aus Eiswasser verwandelte. Er wusste, dass er gehen sollte und zwar so schnell wie möglich, aber seine Beine bewegten sich nicht. Wie gelähmt starrte er die Frau an, die sich den Weg durch die Menge bahnte und erleichtert lächelte, als ihr Blick auf das Fuchsmädchen fiel. Das Gesicht war nicht seines, aber es war so vertraut wie das Gefühl einer Panikattacke, genauso wie ihr Lächeln der Geist einer lang begrabenen Erinnerung war. Sie lächelte, und Yuriy konnte die Augen nicht von ihr nehmen, als sie das Mädchen in die Arme schloss und an sich drückte. Dann hob sie den Blick, sah ihn an und erstarrte zur Salzsäule. Sie hatte das gleiche, genau das gleiche rote Haar wie er. Aus irgendeinem Grund musste er plötzlich an die Spieluhr denken, die immer auf ihrem Nachttisch gestanden hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Es war ein altes, sorgfältig gepflegtes Ding gewesen, das die Melodie eines alten russischen Volksliedes spielte, wenn man sie aufzog. Yuriy hatte Stunden damit verbracht, dem Porzellanpaar, ein strammer Soldat und ein verschämt lachendes Mädchen im weiten Kleid, beim Tanzen zuzusehen. Er hatte darauf vergessen. Er hatte auf viele Dinge vergessen, die einmal wichtig gewesen waren. Er wusste auch nicht mehr, wann genau sein Vater die Uhr gepackt und quer durch die Wohnung nach seiner Mutter geschleudert hatte, wann genau die Uhr gegen die fleckige Wand geflogen und in tausend Scherben zerbrochen war. Es fühlte sich an, als ob er sich daran erinnern können sollte. „Yura“, sagte die Frau, die seine Mutter gewesen war. Sie hatte die Hand vor den Mund gelegt und starrte ihn mit weiten, dunklen Augen an. Mit dem anderen Arm hielt sie das Fuchsmädchen so fest, als ob sie entkommen und für immer entwischen konnte, wenn sie es nicht tat. Yuriy sah auf diesen Arm. Dann sah er zurück in ihr Gesicht und sagte sehr ruhig: „Sie sollten besser auf Ihr Kind aufpassen.“ Sie fuhr zurück. Das Fuchsmädchen wehrte sich gegen ihren Griff und schlüpfte schließlich unter ihrem Arm hindurch, um empört zu ihr aufzusehen, aber die Frau, die einmal seine Mutter gewesen war, beachtete sie nicht. Stattdessen waren ihre Augen geradezu angstvoll auf ihn gerichtet. Als ob er die Antworten auf die Fragen besaß, die sie ihm nie gestellt hatte. Seine Eingeweide fühlten sich nach wie vor an wie Eis. Aber seine Beine gehorchten ihm wieder und er drehte sich um, um mit raschen Schritten zu gehen, solange er noch konnte. Damit hatte sie ja selbst genügend Erfahrung. „Wer ist das? Kennst du ihn?“, hörte er das Fuchsmädchen noch fragen. Die Antwort, wenn es überhaupt eine gab, verlor sich im Gewirr des Marktes. Yuriy sagte sich, dass er froh darum war, dass er nicht alles wissen musste und niemandem etwas schuldete. Er ging nach Hause. Er kochte Borsch, zwei Liter davon, ohne Fleisch. Und dann dachte er daran, dass es zwei Kinder gab, ein Fuchsmädchen und ein Wolfskind, und nur eines davon hatte einen mütterlichen Arm, der es vor Verletzungen durch die Welt schützte. Danach ging es ziemlich rasch ziemlich bergab. 2. Das Schicksal von Sternen hing von ihrer Anfangsmasse ab. Alles, was mehr als fünf Sonnenmassen besaß, explodierte am Ende seiner Existenz in einer Supernova, bei welcher der Stern die äußeren Schichten abstieß wie Kleidung, die er nicht mehr tragen wollte. Er entblätterte sich, Schicht für Schicht, Fleisch und Knochen und Sehnen und Blut, und schleuderte es alles ins All. Der Rest des Sterns kollabierte zu einem Schwarzen Loch oder einem Neutronenstern. Das war alles, was von seinem Licht blieb, wenn er am Ende war. „Yura“, sagte Sergeij. Er gab einen Laut von sich zum Zeichen, dass er zuhörte, dann griff er nach dem bereits vollkommen durchweichten Handtuch, trocknete sich die Hände ab, hatte einen Moment lang die wilde Hoffnung, dass es jetzt gut war und fühlte wieder das Kribbeln in sich emporkriechen, eine wilde Angst, die sich nicht legen konnte. Fremdes Blut war an seinen Händen und in seine Haut gesunken. Fremder Schmerz fraß sich durch seine Knochen bis in seine Eingeweide. Mein Gott, dachte er mit seinem Dämonenhirn und drehte erneut das Wasser auf, niemand will mich so. Niemand wird mich jemals so wollen. „Okay, ich kann nicht - ich kann das nicht mehr mit ansehen“, sagte Sergeij gepresst. Yuriy begann sich zu wehren, als Sergeij ihn packte und vom Waschbecken fortzog. Aber Sergeij war groß und breit und Sergeij hatte keine Angst, ihn festzuhalten, während Yuriy sich in seinen Armen wand. Er drückte ihn fester, eine Hand an seinem Hinterkopf, als ob er ihn davor bewahren wollte, sich irgendwo anzuschlagen, dann schleppte er ihn aus dem Badezimmer hinaus. Yuriy war sich sehr sicher, dass er Sergeij ein blaues Auge verpasste, aber der fluchte nur herzhaft und schleppte ihn weiter, bis er ihn in der Küche hatte, und als Yuriy auf einen der Küchenstühle gedrückt wurde verließ ihn plötzlich die Kraft. Er blickte auf und Sergeij bedachte ihn mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck. Ohne darüber nachzudenken sagte er: „Ich bin okay.“ Der undeutbare Gesichtsausdruck wurde zu finsterer Sorge. „Yura, es ist drei Uhr morgens. Weißt du, wie lange du da drin warst?“ Yuriy schwieg und rieb sich über die Braue, was kleine Funken Schmerz durch seine Finger trieb. Er wusste es. Ihm war immerhin klar, was er machte, auch wenn er nichts dagegen tun konnte. Kein Wunder, dass alle gehen, steuerte sein Dämonenhirn hilfreich bei. Fick dich, dachte Yuriy zurück, wie er es bereits tausendmal erfolgreich getan hatte. Diesmal beäugte er dennoch weiter das Abwaschbecken. Sergeij seufzte tief und holte den Erste-Hilfe-Kasten vom Regal, um sich damit neben ihn zu setzen. „Gib mir deine Hände.“ Wasser, sagte das Dämonenhirn, alles, was du tun kannst, ist alle Schichten säubern, damit niemand den schwarzen Kern berührt. Yuriy gab Sergeij seine Hände und zuckte bei dem Hautkontakt. Sergeij schnalzte mit der Zunge und murmelte ein paar tiefsibirische Flüche, die er von seinen Kollegen aufgeschnappt haben musste. Yuriy spürte seinen Körper gerade ungefähr so sehr wie er einen Wandteppich am anderen Ende eines Raums gespürt hätte, also sah er recht teilnahmslos auf die gerötete, aufgeplatzte Haut, die sich an den vollkommen verschrumpelten Fingerkuppen weiß wellte wie ein aufgeschnittener Wal. „So schlimm war‘s seit mindestens einem Jahr nicht mehr. Was ist los?“ Yuriy schwieg und konzentrierte sich darauf, nicht die Hände wegzuziehen und auch nicht die Türen und Fenster überprüfen zu gehen. Das war ein Zwang, der seit dem ersten Jahr nach dem Zusammenbruch der Abtei nicht mehr vorgekommen war, wenn man davon absah, dass er immer sehr sorgfältig abschloss - was, wie er fand, einfach gesunder Menschenverstand war. Sergeij war geduldig. Er machte keinen Druck wegen einer Antwort, während er Yuriys Hände eincremte und dann kurzentschlossen zu bandagieren begann. Mittlerweile war er richtig gut in Kreuzverbänden geworden. „Du weißt, dass reden hilft“, erinnerte Sergeij ihn. Yuriy dachte an die Frau, die seine Mutter gewesen war und das Fuchsmädchen und gab einen erstickten Laut von sich. „Okay, okay“, murmelte Sergeij und packte rasch seine Handgelenke, um ihn eisern festzuhalten, als er aufstehen wollte. „Auf dem Stand sind wir. Yura - gottverdammt nochmal, es ist zu beschissen früh - schau mich an, okay?“ Yuriy schaute ihn an. Sergeij ließ ihm auch wenig Wahl in der Sache, weil er die Hände um sein Gesicht gelegt hatte, um ihn festzunageln. Er hasste es, seinem Team - so viel mehr als ein Team, immer schon gewesen, aber das Wort „Familie“ trieb ihm momentan die Magensäure hoch - Sorgen zu bereiten. „Wir machen jetzt eine Liste“, sagte Sergeij. Eine Liste. Natürlich. Es war so einfach. Allein das Wort durchbrach den Kreislauf ein wenig, in den ihn der kaputte Teil seines Verstandes gerade permanent hineindrängen wollte. Listen waren seine Freunde, wenn er das Gefühl hatte, dass ihm die Kontrolle entglitt. Yuriy sackte ein wenig zusammen und schloss die Augen, um tief durchzuatmen. Er spürte, dass Sergeij ihn losließ und kurz seine Schulter klopfte, dann aufstand und in einer der Küchenschubladen wühlte. Yuriy erhob sich und war gleichermaßen verärgert wie dankbar, als er Sergeijs aufmerksamen Blick auf sich ruhen spürte, der sich erst wieder abwandte, als er sah, dass Yuriy die Kaffeemaschine ansteuerte. Während er eine Kanne machte - mehr für Sergeij als für sich, nachdem er gerade wirklich kein Koffein zu sich nehmen sollte -, starrte er seine verwässerte Reflexion im Fenster an. Dahinter lag Moskau, das erschöpft von einer langen Nacht Atem für einen neuen Tag holte. Yuriy holte ebenfalls Luft, goss Kaffee in Sergeijs Lieblingstasse und stellte sie vor ihm ab. Der dankbare Blick wärmte ein wenig die Eingeweide, die immer noch mit Frost überzogen zu sein schienen und er ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder. Sergeij hatte Papier und einen angekauten Bleistift aus der Lade gefischt. Beides wurde ihm nun zugeschoben, bevor Sergeij mit einem zufriedenen Seufzer die Tasse umklammerte und den Kaffee inhalierte. Yuriy starrte auf das Blatt. Dann sah er auf. „Wusstest du, dass etwa 75% aller Sterne in einem Doppelstern- oder Mehrfachsystem existieren? In Gebieten mit stark erhöhter Sterndichte kann es zu Sternhaufen kommen.“ „Sternhaufen“, wiederholte Sergeij schläfrig und stützte den Kopf auf eine große Hand auf, während er die Tasse weiterhin in der anderen hielt. „Das klingt schön.“ „Ist es auch“, sagte Yuriy leise, griff nach dem Stift und schrieb: 1. Therapietermin vorziehen. „Wie sieht so ein Sternhaufen aus?“, überlegte Sergeij und gähnte kaum verhalten. „Die Plejaden sind beispielsweise einer“, sagte Yuriy geistesabwesend und schrieb: 2. Laufzeiten verlängern. „Man hat vor einer Weile Supersternhaufen gefunden, also in den Sechzigern.“ Sergeij machte ein interessiertes Geräusch und trank noch einen Schluck. „Was macht die so super?“ „Sie bestehen aus vielen Hauptreihensternen der Spektralklasse O, das sind die heißesten und massenreichsten Sterne“, erwiderte Yuriy und schrieb: 3. Sozialarbeiterin nach der Nummer fragen. Der Stift verharrte über diesem Punkt. Er holte tief Luft, dann sagte er: „Es kommt zu recht vielen Supernovae, deswegen sind sie mit ionisierten H-II-Regionen umgeben, womit sie die gleichen Ultra-Dense-H-Regionen darstellen wie Milchstraßen.“ „Okay“, sagte Sergeij friedfertig, der vermutlich bei ‚Supernovae‘ abgeschalten hatte. Dann aber überraschte er ihn, indem er seinen Kaffee austrank und sagte: „Ist cool, oder? Dass die sowas Cooles machen, indem sie permanent explodieren?“ „Oh“, sagte Yuriy überrascht, überlegte einen Moment und schrieb dann: 4. Überstunden machen zum Gehirnbeschäftigen auf die Liste. Dann legte er den Stift beiseite. Sergeij, der das als Zeichen des Aufbruchs deutete, blickte auf seine Armbanduhr. Der Kaffee hatte scheinbar wenig Wirkung gezeigt, denn er sah immer noch aus, als ob er jeden Moment einschlafen konnte. „Yura“, sagte er, „nachdem Borja nicht da ist, schläfst du bei mir.“ Als Yuriy den Mund öffnete, hob er den Zeigefinger. „Nicht verhandelbar. Du musst schlafen und ich lass dich jetzt nicht allein. Bitte nimm deine Tabletten und komm.“ Du brauchst keine Hilfe, sagte das Dämonenhirn, wenn du jetzt beginnst, dich wie ein Kind behandeln zu lassen, hast du jeden Wert verloren. Sergeij schien etwas davon auf seinem Gesicht zu lesen, denn er legte eine Hand auf Yuriys Arm und sagte: „Tu‘s für mich. Ich kann auch nicht schlafen, wenn ich weiß, dass du durch die Gegend geisterst.“ „Okay“, sagte Yuriy, faltete die Liste sorgfältig einmal längs und einmal quer in der Mitte, sodass alle Kanten genau übereinanderlagen und behielt sie selbst dann in der Hand, als der Morgen über Moskau graute und er endlich Schlaf fand. 3. „Was erzählst du den Leuten in der Arbeit eigentlich?“, fragte Ivan mit einem Nicken auf seine verbundenen Arme und Hände. Er hatte nicht kommentiert, dass Yuriy in sein Zimmer gekommen war und sich auf den Boden gesetzt hatte, wo er mit dem Rücken gegen seinen Bettpfosten lehnen konnte. Ivans Kater Rodja hatte sich nach langem Überlegen dazu entschlossen, vom Bücherregal zu klettern und sich neben ihn zu legen, ohne dass sie einander berührten. „Vanja“, sagte Yuriy mit hochgezogenen Brauen, „ich arbeite Teilzeit in der Buchhaltung eines Dreipersonenbetriebs und die wissen alle, dass ich nicht gern über mich rede. Die Fragen halten sich in Grenzen, wenn du sie nicht gerade stellst.“ „Muss ich nicht, bekomm sowieso keine Antwort drauf“, stellte Ivan fest. Als Yuriy begann, mit dem Saum seines Ärmels zu spielen, griff Ivan nach einem Glas mit Knöpfen und hielt es ihm hin. „Hier. Zähl die mal durch.“ Yuriy zog die Augenbrauen zusammen, nachdem er Beschäftigungstherapie erkannte, wenn er sie vor sich hatte, aber momentan war er dankbar für jede Hilfe gegen den Zwang, also nahm er das Glas entgegen und leerte es auf dem Boden aus. Während Ivan sich wieder dem Putzen einer alten Messinguhr zuwandte, begann er sehr zu Rodjas Interesse die Knöpfe erst einmal nach Größe zu sortieren. Irgendwann in den letzten Jahren hatte Ivans Zimmer begonnen, einer Wunderkammer zu gleichen. An allen Wänden zogen sich Regale entlang, auf denen sich immer mehr Zeug häufte, das Ivan in Trödelläden, irgendwo am Weg in der Stadt oder in der Natur fand, mitnahm, auf Hochglanz brachte und dann behielt. Die Dinge waren wie in einem Museum nach Kategorien geordnet und mit Ivans krakeliger Schrift auf Etiketten sorgfältig beschriftet worden. Sergeij behauptete, dass Ivan sogar einen Katalog über seine Besitztümer führte, aber Yuriy war nicht ganz überzeugt von dieser Idee. Sein Blick fiel auf einen glitzernden Meteoriten, der in Russland gefunden worden war und den er Ivan einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. Er war mit Kai und Boris zum Ort des Einschlags gefahren, als die Sache mit ihnen Drei erst recht frisch verhandelt worden war, und sie hatten nach tagelanger Fahrt durch Russland in diesen Krater gestarrt. Das war ein guter Sommer gewesen. „Wusstest du, dass man den Fallort von Meteoriten mit einem geometrischen Schnittverfahren berechnen kann?“, fragte er und überlegte, ob er innerhalb der unterschiedlichen Knopfgrößen nach Farbe sortieren sollte, entschied sich aufgrund der Vielfarbigkeit einiger Objekte aber dagegen. Die Kopfschmerzen wollte er sich ersparen. „Du willst die Formel dazu loswerden“, sagte Ivan, ohne den Kopf zu heben. Er hatte im letzten Jahr einen Wachstumsschub hingelegt und war dennoch nicht über die 1,60m hinausgekommen, was ihn aber nicht weiter zu stören schien. Vielmehr war er damit beschäftigt, sich einen Bart wachsen zu lassen, was mehr schlecht als recht vonstatten ging und ihn sich ständig am stoppeligen Kinn kratzen ließ. „Ich spüre es. Lass es raus.“ „Du hast kein Recht auf dieses Wissen, du Banause“, sagte Yuriy trocken, woraufhin Ivan ein kurzes Lachen ausstieß. Yuriy lächelte, senkte den Kopf zurück auf die Knöpfe und hielt Rodja davon ab, einen zu stehlen. Als es ruhig blieb, drehte Ivan sich zu ihm um, das Putztuch immer noch in der Hand. „Serjoscha sagt, du schläfst nicht“, sagte er dann geradeheraus. „Klatschbase“, murmelte Yuriy und begann endlich zu zählen. „Ist es, weil Boris auf dem Boxturnier in Omsk ist? In drei Tagen kommt er eh wieder, kein Grund für einen Nervenzusammenbruch.“ „Was bin ich, die verzweifelte Ehefrau?“, fragte Yuriy entgeistert und blickte nun doch auf, nur um festzustellen, dass Ivan ihn wieder einmal bewusst getriezt hatte. Jetzt legte er das Putztuch beiseite und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn’s das nicht ist, was dann?“ Yuriy sah auf die Knöpfe, dann wieder zu Ivan. „Es ist mir bewusst geworden, dass man vielleicht berechnen kann, wo der Meteorit einschlagen kann, aber das schützt einen auch nicht vor dem Aufprall.“ Ivan musterte ihn mit scharfen Augen und kratzte sich am Kinn. „Fahre fort.“ „Wir sind nur aus Zufall bis jetzt vor größeren Meteoriteneinschlägen verschont worden“, sagte Yuriy, „und es ist auch nur Zufall, dass zwei Drittel der Einschläge bis jetzt auf unbewohnten Stellen der Erde waren. Aber Zufall ist eigentlich auch etwas, das es nicht gibt, weil er genauso berechnet werden kann wie alles andere. Es gibt nur Wahrscheinlichkeiten, von denen manche eher eintreffen werden als andere. Man könnte meinen, das würde es sicher machen.“ „Was?“ „Das Leben“, sagte Yuriy. Als Ivan nichts sagte, sondern ihn nur weiter ansah, fügte er schließlich hinzu: „Aber Wahrscheinlichkeiten sind auch nur Wahrscheinlichkeiten. Meistens gibt es keine absoluten Sicherheiten.“ Ivan nickte gedankenvoll, dann schüttelte er den Kopf. „Sorry, Yura, du musst mir diesmal schon das Chriffe zum Code geben.“ Yuriy atmete langsam aus. „Als du rausgefunden hast, dass du eine Tante und Cousins hast“, sagte er, „wie konntest du ihnen in die Augen sehen?“ Ivan runzelte die Stirn und setzte sich ein wenig mehr auf. „Sie wussten ja nicht, wo ich war. Was ist passiert?“ Er war unfähig, das Dämonenhirn zu umgehen, das ihm beständig zuwisperte: Sei still, halt still, sonst wirst du verletzt. Sonst wird es schlimmer, es wird immer schlimmer, wenn du nicht still bist. Also zuckte er mit den Achseln und konzentrierte sich wieder auf die Knöpfe, um nicht ins Badezimmer zu gehen und den Wasserhahn aufzudrehen. Nach einem Moment der Stille sagte Ivan: „Es ist manchmal immer noch komisch, sie zu besuchen und drüber nachzudenken, dass meine Cousins nie in sowas wie der Abtei gesteckt sind. Dass sie sowas gar nicht kennen. Aber ich bin froh, dass es den Kontakt gibt.“ „Vanja“, sagte Yuriy nach einer langen Stille. Ivan neigte den Kopf und zog die Brauen hoch. „Ja?“ „Wenn du die Wahl hättest zwischen einem Fuchs und einem Wolf“, sagte Yuriy, „wen würdest du wählen?“ „Den Wolf“, sagte Ivan ohne zu zögern. „Warum?“ Da blickte Ivan ihm fest in die Augen und sagte: „Weil der Wolf mich immer heim bringt.“ Kapitel 2: Aufprall ------------------- „Oh, Sie finden es anstrengend?“, schnappte Yuriy und fuhr sich durch die Haare. „Dann haben Sie ja den Bruchteil einer Idee, wie es mir geht, nachdem ich mich die ganze Zeit damit herumschlagen muss.“ Seine Therapeutin, Marina Fjodorowna, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Sie war eine große, massige Frau mit kurzen, eisengrauen Haaren und dunklen Augen, die als eine der ersten Frauen noch in der Sowjetunion zur Therapeutin ausgebildet worden war, auch wenn Yuriy immer das Gefühl gehabt hatte, dass sie sich schon vor langer Zeit von den beigebrachten Methoden verabschiedet hatte. Vor ihr hatte Yuriy vier Therapeuten und Therapeutinnen verschlissen, aber Marina Fjodorowna hatte weder Angst vor ihm, noch war sie überfordert oder gab unter ihm nach. Sie war ein Bollwerk, und gerade eben hasste er sie abgrundtief dafür. Auch das ließ sie relativ unbeeindruckt, obwohl sie es deutlich in seinen Augen sehen musste. „Wir waren schon einmal an diesem Punkt, Yuriy Nikolajewitsch.“ „Patronyme gesetzlich vorzuschreiben ist ein Symptom für die Krankheit dieser Gesellschaft“, sagte Yuriy und ließ sich wieder in den Stuhl vor Marina Fjodorownas wuchtigem Schreibtisch fallen. Seine Therapeutin nahm, was er ihr anbot. „Und wieso?“ „Was sagt es aus über mich oder meine Zugehörigkeit, den Namen eines Mannes zu tragen, der mich und meine Mutter geschlagen und sich jeden Tag betrunken hat, weil er es nicht mehr ausgehalten hat, nicht mehr wichtig zu sein? Wieso sollte ich mich in diese Linie der Abstammung stellen wollen?“, fauchte Yuriy. Die Härchen auf seinen Armen hatten sich aufgestellt. Er konnte spüren, konnte fühlen, wie er am Abgrund des schwarzen Lochs balancierte und die Angst ließ ihn noch wahnsinniger werden als sonst. „Warum legen Sie ihn nicht ab und wählen einen neuen?“, fragte Marina Fjodorowna genauso scharf. „Weil ich nicht kann!“ Seine Therapeutin zog eine Augenbraue hoch. „Es gibt entsprechende Formulare. Sicher, der Aufwand ist kein geringer, aber Sie sind eine Person des öffentlichen Interesses-“ „Vor einem Jahr vielleicht noch.“ „Unser Land gewährt Spitzensportlern größere Freiheiten als anderen und das wissen Sie auch. Und die Bürokratie - nun, immerhin ist es nicht mehr sowjetische Bürokratie.” „Ich kann nicht“, wiederholte Yuriy und grub die Finger in sein rotes Haar, bevor er nach etwas griff und es durch die Gegend schleuderte. „Ich kann nicht, ich kann nichts ändern.“ „Das stimmt nicht, das ist es aber auch nicht“, sagte Marina Fjodorowna. „Warum führen Sie diesen Namen und nicht den Ihres Großvaters?“ „Hören Sie mir nicht zu? Weil ich nicht kann, Sie gottverdammte-“ „Hüten Sie Ihre Zunge, Yuriy Nikolajewitsch“, sagte Marina Fjodorowna hart, „und lassen Sie Ihre Haare - hier.“ Yuriy nahm den Stressball, den sie ihm reichte und schleuderte ihn quer durch das Büro, bis er gegen die Bürotür knallte und am Boden abrollte. Einen Moment lang war es still, dann starrte Marina Fjodorowna ihn vielsagend an. „Geht es Ihnen jetzt besser?“ „Nein!“ Marina Fjodorowna verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kann Ihnen noch einen geben. Vielleicht treffen Sie ja diesmal die Topfpflanze, ich hätte sowieso gerne eine Rechtfertigung für eine neue.“ „Ich bin nicht hier, um Ihre Einrichtung zu zerlegen“, zischte Yuriy. „Nein“, sagte Marina Fjodorowna hart, „Sie sind hier, um sich selbst zu zerlegen und mich als Katalysator dafür zu benutzen. Aber momentan benehmen Sie sich wie eine Gazelle, die sich aus Angst vor dem Löwen nicht zum Wasserloch traut.“ „Ich bin keine Gazelle“, sagte Yuriy mehr zu sich selbst als zu ihr, „und ich habe keine Angst.“ „Beweisen Sie es mir“, sagte Marina Fjodorowna und neigte den Kopf. „Warum ändern Sie Ihr Patronym nicht, Yuriy Nikolajewitsch?“ Yuriy vergrub das Gesicht in den Händen. „Es ist nur ein Name. Das ist den ganzen bürokratischen Aufwand doch gar nicht wert.“ „Ein Name ist nie nur ein Name“, sagte Marina Fjodorowna und klang dabei fast gütig. „Warum färben Sie Ihre Haare nicht?“ Yuriy ließ die Hände sinken und starrte sie an. „Wie bitte?“ „Gut, bei Ihrem Patronym steht Ihnen vielleicht die Bürokratie im Weg.“ Sie neigte den Kopf und betrachtete ihn mit glitzernden Augen. „Aber wieso haben Sie nie Ihre Haare gefärbt?“ Yuriy starrte sie lange, lange an. Sein Mund war so trocken, dass er einen Moment lang glaubte, dass nur Staub herauskommen würde, wenn er ihn öffnete. Dann jedoch zischte er, den Körper bis zum Äußersten angespannt: „Wollen Sie mich verarschen?“ „Absolut nicht.“ „Ich weiß, worauf Sie hinauswollen“, sagte Yuriy und hielt sich erst im letzten Moment davon ab, die Faust auf den Tisch zu donnern. „Sie kommen sich sicher so clever vor! Ich färbe mir meine Haare nicht, weil ich an meiner Vergangenheit hänge. An dieser beschissenen Abstammung von zwei Leuten, die sich nur um sich selbst gekümmert haben. Weil ich nicht gerne loslasse, auch nicht die miesen Teile von meiner Identität. Das ist es doch, worauf Sie hinauswollen, oder nicht?“ „Ich habe nichts dergleichen gesagt, aber es ist interessant, wie Sie das sehen.“ Marina Fjodorownas Mundwinkel zuckten. Yuriy erkannte, dass er ihr geradewegs in die Falle gegangen war und funkelte sie an. „Sie sind wirklich das Letzte.“ Seine Therapeutin erwiderte den Blick wachsam, aber ohne Angst oder Verletztheit. „Ich kann nichts dafür, wenn Sie manchmal cleverer sind, als Ihnen gut tut. Möchten Sie nicht doch noch etwas werfen?“ „Nein“, knurrte Yuriy aufgebracht, „hören Sie auf damit, mich aufzustacheln!“ „Ich bilde mir ein, dass ich dafür bezahlt werde.“ „Nicht dafür!“ „Wenn Sie nichts werfen und auch nicht Ihren Namen ändern wollen“, sagte Marina Fjodorowna ungerührt, „was wollen Sie dann?“ „Ich will gut sein“, murmelte Yuriy, ohne darüber nachzudenken und ohne die Hände sinken zu lassen. Sein Herz zog sich zusammen, verkrampfte sich, bis er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. „Ich will glücklich sein. Ich will aufhören, wegen etwas durchzudrehen, das nicht mehr von Bedeutung ist.“ Einen Moment lang war es still. Dann hörte er, wie Marina Fjodorowna sich erhob, ehe sie zu ihm kam und eine Hand auf seine Schulter legte, wobei sein Zucken ignoriert wurde. „Gut sein ist harte Arbeit und Einstellung, nicht etwas Inhärentes“, sagte sie ruhig, „und Glück kommt und geht. Aber wir arbeiten daran. Sie arbeiten schon sehr lange sehr hart daran, und Sie haben gute Fortschritte gemacht.“ Nun sah Yuriy doch auf und hielt ihr wortlos die bandagierten Hände hin, um eine Augenbraue in die Höhe zu ziehen. Marina Fjodorowna schnalzte unbeeindruckt mit der Zunge und wanderte zum Samowar hinter ihrem Schreibtischstuhl. Sie füllte eine Tasse mit Schwarztee und reichte sie ihm über den Tisch hinweg, um sich dann wieder in ihren Schreibtischstuhl fallen zu lassen. „Das ist ein kurzfristiger Rückschritt, der allen passiert. Konzentrieren Sie sich darauf, dass Sie nötige Schritte unternommen haben, um davon wieder wegzukommen.“ Yuriy schnaubte. „Sie holen sich die Kontrolle wieder zurück, Yuriy Nikolajewitsch. Deswegen sind Sie doch auch hier.“ „Wissen ist Macht“, murmelte Yuriy. Marina Fjodorowna gab ein Geräusch von sich, das sowohl Zustimmung als auch Ablehnung sein konnte. Sie wartete, bis er einen Schluck getrunken hatte und sagte dann: “Wieso glauben Sie, dass der Weggang Ihrer Mutter nicht mehr von Bedeutung ist?” „Er sollte nicht mehr von Bedeutung sein”, sagte Yuriy. „Das sind zweierlei Paar Schuhe.” Yuriy atmete tief durch. „Man kann nichts mehr dran ändern. Es ist lächerlich. Sie hat ihre Entscheidungen getroffen, mein Vater hat seine Entscheidung getroffen und ich habe die meinen getroffen.” Marina Fjodorowna sah ihn eine Weile an und strich sich gedankenvoll über das Kinn. Dann sagte sie: „Sie wussten, dass Ihre Mutter versucht hat, Sie zu kontaktieren, nachdem die Abtei zusammengebrochen ist.“ Yuriy sagte nichts, sondern schlang die Hände fester um die Tasse. Marina Fjodorowna beobachtete ihn, ohne zu blinzeln, dann fuhr sie fort: „Sie wussten das und wir haben lange genug besprochen, warum Sie sie damals nicht sehen wollten. Noch einmal: das war Ihr absolutes Recht und ich stimme Ihnen nach wie vor zu, dass es damals wichtigere Baustellen gab. Aber vor einem halben Jahr haben wir noch darüber diskutiert, ob Sie sie kontaktieren sollten. Zumindest hatten Sie den Wunsch danach geäußert. Oder etwa nicht?“ Yuriy schloss die Augen und schob das Gesicht tiefer in seinen Rollkragenpullover. „Sie hätten jetzt die Gelegenheit gehabt, mit ihr zu reden“, fuhr Marina Fjodorowna erbarmungslos fort, „wieso haben Sie es nicht getan?“ „Ich war am Einkaufen“, sagte Yuriy sinnloserweise. Marina Fjodorowna schnaubte. „Lügen Sie von mir aus mich an, aber nicht sich selbst.“ „Ich hätte mitten am Markt ihre Hand schütteln und sie anreden sollen?”, fragte Yuriy sarkastisch und imitierte eine betont freundliche Stimme: „Oh, hallo, Mutter, war der Kummer also nicht groß genug, um nicht wen Neuen zu finden und dich von ihm-” „Sprechen Sie es ruhig aus”, sagte Marina Fjodorowna ruhig, „das hier ist ein Raum, in dem Sie alles sagen dürfen, egal wie hässlich es ist. Ich verurteile Sie nicht. Ich bin nur Ihr Katalysator, der Ihnen beim Entgiften hilft.” „Es war das Mädchen“, sagte Yuriy. Er konnte sein eigenes Blut in den Ohren rauschen hören, als er langsam auszurutschen begann. Es war wie eine Lawine, die er nicht aufhalten konnte, aber beinahe, als ob er konnte, begann er schneller zu reden. „Sie hat die gleiche Haarfarbe wie ich, genau die gleiche, aber sie sieht aus wie ein Fuchs. Wie alt ist sie, vielleicht sieben? Acht?“ „Was empfinden Sie, wenn Sie an sie denken?“, fragte Marina Fjodorowna, die immer ruhiger wurde, je mehr er sich aufregte. „Ich hasse sie“, wisperte Yuriy, weil es ohnehin schon egal war. Marina Fjodorowna kannte das schwarze Loch in ihm, das alles aufzufressen drohte, wenn er es nicht konstant in Schach hielt. Sie kannte seine Grausamkeit und seine Gleichgültigkeit, seine scharfen Kanten, die niemand jemals schleifen können würde, und sie kannte das Eis, das ewige Eis. „Ich will, dass sie nicht existiert - sie ist schwach. Ein Schwächling. Sie hätten sie sehen sollen, ein Ast im Wind. Ich hätte ihr mitten im Markt das Genick brechen können. Ich hätte sie mitnehmen und verkaufen können und man hätte sie nie wieder gefunden. Sie hätte auf der Straße nie überlebt und auch nicht in der Abtei. Volkov wäre mit ihr Schlitten gefahren.“ „Und dafür hassen Sie sie?“ „Nein“, sagte Yuriy und stellte die Tasse ab, bevor er sie mit seinen zitternden Fingern durch den Raum schleudern konnte. Die Wut brannte in ihm, brannte ihn aus, und er wollte deswegen am liebsten weinen. Still, murmelte das Dämonenhirn, still. Wer weint, wird schneller gefunden. Yuriy holte tief Luft. „Ich hasse sie, weil sie nicht stark sein muss.“ „Weil Ihre Mutter auf sie acht gibt“, sagte Marina Fjodorowna ruhig, „weil sie sie nicht verlassen hat.” Als Yuriy nickte, verschränkte sie die Finger und stützte ihren Kopf darauf, um einen Moment lang aus dem Fenster zu blicken. Stille, nur unterbrochen von dem Ticken der Standuhr. Draußen vor dem Fenster war Moskau und kümmerte sich nicht darum, was für Geister in alten Gebäuden und jungen Köpfen spukten. Yuriy schloss die Augen. Dann wisperte er:„Ich will einfach nur wissen, was ich falsch gemacht habe.“ „Sie haben nichts falsch gemacht“, erwiderte Marina Fjodorowna sachte. „Das kann nicht sein“, widersprach Yuriy, „irgendetwas muss ich falsch gemacht haben, sonst würde sie mich nicht so bestrafen. Sonst hätte sie mich nicht ausgetauscht. Sonst hätte sie mich nicht allein gelassen. Wir hätten ein Team sein sollen - das war der Pakt, wir hätten ein Team sein sollen, und stattdessen ist sie gegangen und hat mich ausgetauscht. Wenn ich nichts falsch gemacht hätte-“ Marina Fjodorowna wartete, ohne die Augen von ihm zu nehmen. Yuriy holte tief Atem. Es tat weh. Die Worte brannten in seiner Lunge und auf seiner Zunge. Er wollte nicht aussprechen, was seit Jahren von ihm mitgeschleppt worden war. Alter Schmerz, so alt, dass er ihn tief, tief in seinen Knochen verborgen hatte. Ihn herauszuholen war anstrengend und fühlte sich an, als ob er sich vollkommen schutzlos jemandem vor die Füße warf, der ihn zerquetschen wollte. Instinktiv wollte er sich um diesen alten Schmerz, um diese Worte krümmen und sie in die Dunkelheit zurückstoßen, um sie zu beschützen, und sich selbst gleich mit dazu. Marina Fjodorowna wartete, und es gab hier niemanden, der ihn verletzen konnte außer ihm selbst. Yuriy schloss die Augen. Dann sagte er sehr leise und mit plötzlicher, vehementer Erschöpfung: „Wenn ich nichts falsch gemacht hätte, dann wäre ich doch genug gewesen.” Er atmete durch die Stille, vergrub das Gesicht in seinem Ärmel und die Hände in seinen Haaren. Die Standuhr tickte unermüdlich vor sich hin. Draußen vor dem Fenster war Moskau, das sich immer schon keinen Deut drum geschert hatte, ob er lebte oder starb, und ob er dabei alleine durch musste oder nicht. „Yuriy“, sagte Marina Fjodorowna nach einer Weile sachte, „es war nicht Ihre Schuld. Sie waren ein Kind. Verantwortung können nur Erwachsene übernehmen. Ihre Mutter war auch ein Opfer, aber das bedeutet nicht, dass sie sich nicht einer Verantwortung entzogen hat, die sie gehabt hätte, und es ist vollkommen normal und verständlich, dass es Ihnen wehtut. Verstehen Sie mich? Sie dürfen zulassen, dass es wehtut.“ „Warum hat sie mich nicht mitgenommen?“, fragte Yuriy und konnte sich selbst nicht zuhören, als er vollends in den Abgrund fiel und seine Stimme brach. „Ich verstehe, warum sie gegangen ist - aber warum hat sie mich nicht mitgenommen? Warum ist Platz für sie und für mich war keiner da? Wie feige ist das - wie schwach? Wie kann man einfach gehen und jemanden zurücklassen, wenn er einen braucht?“ Marina Fjodorowna sagte nichts. Aber sie stellte die Taschentuchbox vor ihn, stand auf und setzte sich neben ihn. Sie berührte ihn nicht. Aber als er schließlich wieder aufblickte, teilten sie sich eine Zigarette in ihrem Büro mit Rauchverbot, und sie beobachteten durch das weit offene Fenster Moskau, das unermüdlich weiterlebte, der Zukunft entgegen trotz aller Geister, die nicht zur Ruhe kommen wollten. Kapitel 3: Aufbruch ------------------- 5. Die Anziehungskraft eines Schwarzen Lochs war so groß, dass selbst Licht ihm nicht mehr entkommen konnte, sondern von ihm gekrümmt wurde. Ein Schwarzes Loch konnte dementsprechend nie direkt beobachtet werden. Man wusste, dass es sie gab, aber es war nur Theorie, nur Glaube. Die einzigen, die zweifelsfrei behaupten konnten, dass sie existierten, waren jene, die ein Schwarzes Loch in sich trugen. Aber diese Leute wussten auch, dass man ein Schwarzes Loch nie erklären konnte, nur empfinden. „Yura“, murmelte Kai, als Yuriy ins Licht seiner Wohnung taumelte wie eine Motte mit zerrissenen Flügeln. Er stellte keine Fragen, fing Yuriy nur auf und lenkte seine Hände an seine Hüften, als Yuriy sich gegen ihn drängte. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Kai senkte ein wenig die Augenlider und sah zu ihm auf, als Yuriy ihn mit dem Rücken gegen die Wand drückte und die kalten Finger unter seinen Bademantel schob, über seine glatte Haut gleiten ließ. Sein Gefährte war immer warm, selbst im schlimmsten Schneefall. Yuriy schloss die Augen und verbarg das Gesicht an Kais Hals, atmete seinen Geruch ein und spürte; wie man ihm in langsamen Bewegungen über den Rücken strich. Gott sei dank war er in der Stadt. Yuriy brauchte ihn jetzt, den einzigen Menschen, den es schon genauso oft in den Abgrund geworfen hatte. Der die Mühe des Aufstiegs kannte und auch den Abgrund selbst. Kai war in den essentiellen Dingen immer schon genauso gewesen wie er. Manchmal tat der vorgehaltene Spiegel zu weh, um es auszuhalten. Meistens konnten sie aber auch nicht ohne dieses Grundverständnis, das keiner Worte bedurfte. „Wie lange bist du da?“, murmelte Yuriy schließlich. Kai begann, die Knöpfe seines Mantels zu öffnen und ihm das Kleidungsstück von den Schultern zu schieben. „So lange wie nötig. In Japan braucht man mich gerade nicht dringend, ich werde eine Weile bleiben.“ „Für immer“, sagte Yuriy und meinte es auch so, aber auch nicht so ganz, doch so oder so ließ er Kai nicht los. Kai begegnete seinem Blick mit ernstem Mund und weichen Augen. „Ab ins Bett, Yura. Es ist drei Uhr morgens.“ „Komm mit mir“, sagte Yuriy. Kai schenkte ihm ein kleines Lächeln, das mehr in seinen Augen glitzerte als es auf seinen Lippen zu sehen war, und dann nahm er seine Hand fest in seine und zog ihn ins Schlafzimmer, vorbei an der Küche und dem Arbeitszimmer, dessen Tür halb offen stand und einen Blick auf Kais aufgeklappten Laptop zuließ. Er hatte gewusst, dass sein Gefährte noch nicht schlafen würde. Kai hatte die besten Ideen immer mitten in der Nacht, wenn andere Leute zu müde waren, um noch vernünftig geradeaus zu sehen. Das Schlafzimmer war dunkel, aber sie kannten beide den Weg. Kai zog ihn mit sich in die schlafweichen Schatten und Yuriy folgte ihm willig hinab. Er wollte, musste ihm nahe sein, diesem Abgrundmenschen, dessen Lippen einen glühenden Kometenschweif auf seinem Kinn und seiner Kehle hinterließen. Manchmal fühlte er nichts, weder sich selbst noch den Rest der Welt - aber Kais Glut brannte durch die Gefühllosigkeit und das Eis, jedes Mal und ohne richtige Anstrengung. Er schälte Kai aus dem Bademantel, presste die Nase in seine Halsbeuge und atmete tief ein, während Kai sich ihm entgegen wölbte, seine Hände nahm und sich erneut an die Hüften legte. Der stillen Aufforderung folgend hakte Yuriy die Finger in seine Boxershort und zog sie über seine Hüftknochen, Knie, Knöchel, warf sie in die Deckenflut und jagte mit Lippen, Zungen und Zähnen über die Sternkarte aus Muttermalen, die sich über Kais Körper zog. Hände packten ihn, ein Griff so heiß wie Flammen, zogen ihm den Pullover über den Kopf, öffneten seine Gürtelschnalle, schälten ihn Schicht für Schicht. Kai hielt nicht inne, als er die Finger in seine Haut krallen konnte, sondern er zog ihn an sich, fand seinen Mund mit dem eigenen und grub noch tiefer, noch so viel tiefer, indem er Yuriy küsste und küsste und küsste, bis ihm der Atem fehlte und ein plötzlicher, gleißender Gedanke alles vernichtete, was das Dämonenhirn ihm einflüstern konnte: Oh Gott, dachte er mit blendender Klarheit und vergrub sich in Kais Armen und Kais Mund und Kais Haut, Herzschlag, Hitze - ich bin so hungrig. Ich bin so gern hungrig und am Leben. Kai, selbst so still schwelend, brennend unter einer nur scheinbar ruhigen Oberfläche, kam ihm entgegen und brannte sich in ihn, bis Yuriy den Hunger seines Gefährten kühlen konnte. Da war ein Schwarzes Loch in ihm, aber es machte nichts. Kai hatte auch ein Schwarzes Loch in sich, und Schwarze Löcher konnten nicht voneinander verschluckt werden. Aber sie kannten einander und zürnten sich nicht, dass sie unweigerlich das Licht verschlucken mussten. Es war in Ordnung, nach Licht zu hungern. Es lag in ihrer Natur. Kai musste kein einziges Wort sagen, um ihm die Sicherheit zu geben, dass er ihn genau verstand. Sie atmeten ineinander, krallten sich ineinander, bis sie aneinander zerschellten und langsam, wie Sternenstaub, zurücksanken. Zum ersten Mal seit dem Tag am Markt war Yuriy ruhig. Kai fragte nicht, was los war. Aber Yuriy erzählte ihm, die Wange auf seine Brust gebettet: „Das Universum erholt sich von allen Katastrophen, den Großen wie den Kleinen. Und weißt du, warum? Weil das Universum keine Katastrophen kennt, nur Möglichkeiten zur Schöpfung und zum Wachstum. Es gibt keinen Zufall im Universum, auch kein Glück und keine Vorherbestimmung. Es ist einfach so.“ Und Kai, der so gerne mit gestohlenen Worten kommunizierte wie Yuriy mit Sternen und Physik, sprach nach einer langen Stille leise zu ihm in der Dunkelheit: „Geliebter, den so vieles irre macht, neig dich zurück - bis du im lautern Laube die Stellen siehst, die Sterne sind.“ Seine Fingerspitzen glitten über Yuriys Rückenwirbel, hinauf, hinauf mit einer Funkenspur, bis sie in seinem roten Haar ruhten und er fortfuhr: „Ich glaube, die Erde ist nicht anders als die Nacht.“ Yuriy atmete langsam aus. Dann drückte er die Nase gegen Kais Hals und schloss die Augen, und in den frühen Morgenstunden rief Boris an, um ihm zu sagen, dass er am Heimweg war. 6. Die Geburt eines Sterns war ein gewaltvoller Kraftakt. In Gaswolken entstanden Globulen, die unentwegt kontraktierten und unter freigewordener Gravitationsenergie immer heißer wurden. Teilchen stießen aneinander, kollidierten miteinander, bis sie schließlich miteinander verschmolzen und begannen, einen Stern zu bilden. Und jeder Stern zog andere Sterne mit sich, denn Sterne waren nicht gerne alleine. Boris wirkte müde, aber bester Laune, als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss und die Sporttasche samt Handgepäckskoffer auf den Boden fallen ließ. Yuriy war gerade erst seit einer Viertelstunde von der Arbeit daheim, hatte rasch geduscht und kam nun aus Boris‘ Zimmer, während er noch im Begriff war, eines von dessen Shirts über den Kopf zu ziehen. „Ich brauch ‘ne Dusche“, sagte er mit einem Lachen, als Yuriy ihm einen Kuss auf den Mundwinkel drückte und ein unwilliges Geräusch von sich gab, als silbrige Bartstoppel ihn dabei kratzten. „Okay, und vielleicht ‘ne Rasur, und ‘ne Mütze Schlaf und…oh.“ Er umfing ihn mit einem Arm, als Yuriy sich an ihn drückte und mit beiden Händen durch seine Haare fuhr, ehe er sie gegen seinen Hinterkopf presste und ihn damit näher brachte, bis er tief einatmen und die Lippen über seine gebrochene Nase hinunter zu seinem Mund gleiten lassen konnte. Gott, sie konnten froh sein, dass Sergeij und Ivan nicht daheim waren, als ob sie die Szene vorausgeahnt hatten. Vielleicht war es tatsächlich Zeit, sich eine eigene Wohnung zu überlegen - aber nicht jetzt. Er legte eine Hand auf Boris‘ Arm, während sie sich küssten und konnte spüren, wie sich die kräftigen Muskeln unter seiner Berührung anspannten. „Lässt du mich jetzt kurz weg?“, fragte Boris und das Lachen war immer noch in seiner Stimme. Yuriy schüttelte den Kopf, zog ihm den Reißverschluss seiner Lederjacke auf, schob sie ihm von den breiten Schultern. „Erzähl mir vom Wettkampf.“ „Ich wünschte, du wärst dabei gewesen“, sagte Boris zwischen zwei Küssen und ließ zu, dass Yuriy die Jacke auf den Boden fallen ließ, dann hörte Yuriy ihn einatmen, als er sich vor ihn kniete und begann, ihm die schweren Stiefel aufzuschnüren. „Fuck, Yura.“ „Mh. Das ist der Plan, früher oder später.“ Yuriy blickte auf und fühlte ein glückseliges Prickeln in seiner Magengegend, als er Boris‘ glühendem Blick begegnete. „Nächstes Mal bekomme ich hoffentlich frei, dann kann ich mit.“ „Bitte“, sagte Boris, dann gab er ein ersticktes Geräusch von sich, als Yuriy das Gesicht schamlos gegen seinen Schritt presste. „Heilige Scheiße, Yura, was ist los?“ „Wenn du so dämliche Fragen stellen kannst, strenge ich mich offensichtlich nicht genug an“, stellte Yuriy fest und konnte fühlen, wie Boris eine Hand in sein rotes Haar grub. Er schloss die Augen, lehnte die Wange gegen Boris‘ Hüfte. „Ich hab‘ dich vermisst. Waren komische Tage.“ Die Hand in seinen Haaren begann, ihn zu streicheln. „Komm mit mir ins Bad und erzähl mir davon.“ „Ich war schon duschen.“ „Dann störts dich ja nicht, wenn ich das meiste Wasser nehme.“ Er hielt inne und runzelte die Stirn, dann spürte Yuriy Boris‘ Fingerspitzen auf den Armen, die immer noch gerötet waren, von denen er jedoch heute die Verbände gelöst hatte. „Es ist jetzt alles gut“, sagte Yuriy. Boris musste spüren, dass er es tatsächlich so meinte, denn er hakte nicht nach, sondern fragte stattdessen: „Hat Kai gestern wenigstens geholfen?“ „Ja.“ Die Schnürsenkel waren offen. Yuriy ließ sich von Boris auf die Beine ziehen und steckte ihm die Hände unter das Shirt, während der sein Bestes gab, trotz Ablenkung aus den Schuhen zu kommen, ehe sie ihren Weg ins Bad fanden. „Erzähl‘s mir“, sagte Boris, als sie schon unter dem Wasser standen, aber Yuriy war nicht nach Reden zumute und Boris war leicht zu überzeugen, das Thema fallen zu lassen, als Yuriy seine Hände nahm und sich auf die Brust legte. Er initiierte selten genug Sex von sich aus, sowohl bei Kai als auch bei Boris, dass letzter ihn durchaus aufmerksam und vielleicht ein wenig skeptisch musterte. Aber wie Kai stellte er zumindest in der Hinsicht wenig Fragen, besonders als Yuriy ihm entgegen kam und ihn erneut küsste, bis Boris die kräftigen Arme um ihn schloss wie ein Sicherheitsnetz, sein Körper wie ein Bollwerk zwischen Yuriy und dem Rest der Welt. Sein Körper wurde mehr und mehr wieder zu einem Teil von ihm, während er sich auf die Eindrücke konzentrierte, die auf ihn einschlugen: Das Wasser, das auf ihn einprasselte. Boris‘ Zähne, die sich in seine Schulter gruben, seine Lippen, die sich an seinen Hals senkten und daran saugten, bis Yuriy das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können, seine Hände, die nicht aufhörten, ihn zu berühren und zu berühren und zu berühren, bis er unter ihnen zitterte wie eine Bogensehne, die schnappte und sich überschlug, als Boris sie endlich, endlich losließ. Und trotzdem war er immer noch hungrig, griff nach Boris und riss an ihm, presste ihn an sich, in sich, grub die Zähne und Fingernägel in ihn und atmete gegen ihn, trommelndes Herz an seine Brust gedrückt, bis Boris erschauerte, beide Hände in sein rotes Haar grub und ihn hielt. Ihn festhielt, und die Lippen an seine legte und ihn küsste, bis sie wieder eigenständig atmen konnten. Er vergrub sich in Boris‘ Armen, nachdem sie sich abgetrocknet und es schließlich ins Bett in Boris’ Zimmer geschafft hatten. Während Boris von dem Wettkampf und dem geplanten Folgematch erzählte, wandte Yuriy das Gesicht gegen seine Brust und atmete in seine Haut, bis er das Gefühl hatte, endlich wieder sein Gleichgewicht gefunden zu haben. Boris strich ihm über das rote Haar, die Schultern und den Rücken, ließ die raue Hand dann auf seiner Wange ruhen. Er fragte nicht, aber Yuriy konnte spüren, dass er eigentlich wollte und nur wartete. Wie oft Boris schon in den unterschiedlichsten Arten auf ihn gewartet hatte: dass er Entscheidungen traf; dass er Gedanken sortierte; dass er sich etwas einfallen ließ; dass er herauskam aus seiner unvermeidlich immer wieder eintretenden Selbstisolation; dass er das Dämonenhirn ausschaltete und einfach nur fühlte; dass er mit ihm war. Boris war immer da gewesen, durch seine guten wie schlechten Entscheidungen hindurch. Yuriy strich über seinen Arm. Dann sagte er: „Ich werde meine Mutter anrufen.“ Er konnte fühlen, dass Boris vor Überraschung scharf einatmete, sich dann aber sichtlich zusammenriss. „Jetzt doch?“ Yuriy nickte und elaborierte nicht weiter. Boris streichelte die weichen, kurzen roten Härchen in seinem Nacken. „Deswegen die komischen Tage? Du hättest mich anrufen können, Yura. Für sowas hast du ein Handy, du Idiot.“ Er zuckte mit den Achseln und entschied sich, für den Moment nicht weiter zu elaborieren. Nach vorne zu gehen war ihm immer schon leichter gefallen als nach hinten zu blicken und zu reflektieren. Die Vergangenheit bestand aus vielen spitzen Steinen, an denen er sich blutig geschlagen hatte, aber die Zukunft war ein weites, offenes Feld. Er wollte nicht wie seine Mutter sein, die zu schnell losließ - aber noch weniger wollte er werden wie sein Vater, der sich nicht von der Vergangenheit hatte lösen können und daran zerbrochen war. „Ich wollte warten, bis du wieder da bist.“ „Okay“, sagte Boris mit einer Langmut, die die wenigsten je von ihm kennengelernt hatten. Aber mit ihm war Boris immer geduldig gewesen, selbst wenn der Rest der Welt ihn zur Weißglut getrieben und explodieren lassen hatte. Manchmal wusste Yuriy nicht, womit er ihn oder irgendeinen der anderen verdiente. Aber er hatte sie, und er konnte nur hoffen, dass sie wussten, wie sehr sie ihn aufrecht hielten. Ohne Boris loszulassen griff Yuriy nach dem Zettel mit der Nummer. 7. Das zweite Axiom nach Komolgorov besagte, dass das sichere Ereignis Ω∈Σ die Wahrscheinlichkeit 1 aufwies. Yuriy, der die Schnauze voll davon hatte, Dinge einem Zufall zu überlassen, an dem das Universum sowieso kein Interesse hatte, arrangierte es so, dass dieses Ereignis Ω in diesem Fall ‚Yuriy trifft seine Mutter‘ hieß und diesmal rein nach seinen Konditionen ablief. Das Café war gut besucht, ohne brechend voll zu sein. Er hatte einen Tisch in einem Separée gefunden, von dem aus er die Tür und die Fenster zur Straße hin im Blick hatte. Es war ein sonniger Tag geworden, nachdem es morgens noch kurze Schauer gegeben hatte, aber es war immer noch zu frisch, um draußen sitzen zu können. Nächste Woche vielleicht, oder die Woche danach. Man würde abwarten müssen, wie sich die Dinge entwickelten. Er war gerade im Begriff, sich die Hemdsärmel zu den Ellbogen aufzurollen, als er einen roten Schimmer wie von einem Kometenschweif aus dem Augenwinkel wahrnahm und aufblickte. Da war sie - sie stand auf der anderen Seite der Straße und trug keine Mütze, hatte auch die Haare nicht zusammengebunden, sodass sie sich wie ein Feuerstrahl über ihren schwarzen Mantel ergossen. Sie stand sehr gerade und war in Gedanken versunken; eine Hand war um den ledernen Riemen ihrer Handtasche verkrampft. Ihr schienen die Blicke der Menschen um sie herum kaum aufzufallen, dabei sah man sie an. Kein Wunder. Sie hatte etwas an sich, das sie auch abseits ihrer Haarfarbe vom Rest abhob, Yuriy realisierte erst nach einer Weile, dass sie eine ähnliche Ausstrahlung hatte wie Kai, wenn er in einer Menge stand. War sie immer so gewesen oder hatte das Leben sie dazu gemacht? Er musste an die zerbrochene Spieluhr denken, das verschämt lächelnde Porzellanmädchen mit den blauen Unschuldsaugen, das mit dem Soldaten getanzt hatte. Aber seine Mutter war aus Fleisch und Blut, und ihre dunklen Augen waren immer schon Wolfsaugen gewesen, die nie etwas Verschämtes an sich gehabt hatten. Er beobachtete sie durch das Fenster, die Hand erstarrt in den halb aufgerollten rechten Hemdsärmel gegraben, als sie den Kopf hob und mit raschen, festen Schritten über die Straße ging. Waren es die gleichen Schritte wie jene, die sie damals von ihm fortgetragen hatten? Er sah sie an, bis sie am Fenster vorbei war und um die Ecke ging. Dann rollte er seinen Ärmel fertig und richtete die Augen auf die Tür. Da war sie. Er konnte die Augen nicht von ihr lassen, als sie hereingefegt kam wie ein Blatt, das vom Wind hereingewirbelt worden war. Sie sah sich um, die Hand weiterhin fest um den Handtaschenriemen verkrampft - so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Dann hob sie den Blick, sah ihn und lächelte. Ihr Lächeln war der Geist einer begrabenen Erinnerung und zugleich etwas, das ihm vollkommen neu war. Er kannte diesen Menschen nicht. Er würde sehen, ob er diesen Menschen näher kennenlernen wollte. Yuriy erhob sich. Dann streckte er seiner Mutter eine Hand entgegen. 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