Scherbenlied von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 1: Wachstum in fünf Splittern ------------------------------------- 1. „Schneid‘ mir die Haare“, sagte Yuriy, „ich hab‘ keine Lust mehr, unglücklich zu sein.“ Boris blinzelte. „Ich wusste nicht, dass man das einfach entscheiden kann. Wieso hat mir das bisher keiner von den bekloppten Seelenklempnern gesagt? Das hätt‘ alles so viel einfacher gemacht.“ „Die wissen doch nichts. Ich tu’s jetzt einfach.“ Yuriy lachte. Es klang ein bisschen manisch, weil Yuriy nicht wie ein normaler Mensch lachen konnte, aber es war genug, um Boris‘ Herz fast aus seinen Rippen krachen zu lassen. Es war ein warmer Sommertag in Moskau. In wenigen Wochen würden sie an ihrer ersten Weltmeisterschaft seit der Auflösung der Abtei teilnehmen. In zwei Tagen würde Kai hier ankommen, in Yuriys Zimmer übernachten und sich den restlichen Sommer lang mit ihnen auf die Weltmeisterschaft einspielen. Irgendetwas hatte dieser Sommer an sich. Etwas lag in der Luft, ohne dass er sagen konnte, was genau. Veränderung vielleicht, aber eine, mit der er hoffentlich klarkommen würde. Die Sonne brachte Moskaus blecherne Dächer zum Glitzern und Boris blickte auf Yuriys nackte Füße, dann sein Schlüsselbein, wo sein Shirt von seiner Schulter gerutscht war. Das Shirt gehörte eigentlich Boris, was erklärte, warum es Yuriy um die Schultern viel zu breit war, denn der Rotschopf war zwar ein paar Zentimeter in die Höhe geschossen, aber Boris hatte durch das Boxtraining deutlich mehr an Schulterumfang und Muskelmasse zugelegt. Yuriy hielt eine Tasse Tee in der Hand, weil er weder Tod noch Teufel fürchtete und auf Schwarztee auch bei fünfunddreißig Grad nicht verzichten wollte. Seine Finger hatten sich darum geschlossen und auf einem seiner Fingerknöchel war ein kleiner Schnitt vom Training, der sich ein wenig entzündet hatte. „Schneidest du sie mir jetzt oder nicht?“, fragte Yuriy. Boris blickte von Yuriys Hand auf. Er hatte in den letzten Tagen wieder vermehrt mit dem Händewaschen begonnen und Boris vermutete, dass es mit der Weltmeisterschaft und den anderen Teams zu tun hatte, vielleicht auch einfach nur mit Kai, aber noch wollte Yuriy nicht darüber reden. Vielleicht wollte er auch gar nicht darüber reden. Boris konnte es ihm nicht verübeln. Mittlerweile erschöpfte ihn das wöchentliche Durchkauen seiner Wutanfälle mit seinem Therapeuten mehr, als dass es ihm zu helfen schien. „Ich mag‘s lang“, sagte er, was den Tatsachen entsprach. Yuriy hatte die Haare nicht mehr geschnitten und dementsprechend auch nicht mehr hochgegelt, seit er gegen Takao verloren hatte, und nun fiel es ihm bis über die Schulterblätter. Er hatte gute Haare, stark und dick, und sie kräuselten sich nur ein klein wenig an den Enden, wenn sie nass waren; ansonsten waren sie sehr glatt. Außer wenn Boris die falsche Bürste nahm und sie damit elektrisch auflud. Er wollte Yuriys Haare nicht schneiden. Yuriy lächelte. Sein Lächeln war wesentlich weicher, als es sein Lachen jemals sein konnte, weil es ihm für ein paar Sekunden Grübchen in den Wangen verpasste. Es war genau der Moment, in dem Boris feststellte, dass die Hitze die Sommersprossen auf seinen Armen wieder hervorgebracht hatte. Er blickte erst wieder davon auf, als Yuriy sagte: „Schneidest du sie mir trotzdem?“ Yuriy hatte ihm immer mit einer Schere vertraut. Er hatte ihm mit Scheren vertraut, und mit Messern und Nadeln und allen anderen scharfen Gegenständen, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, dass Boris ihm vielleicht wehtun konnte. Sergeij und Ivan waren nicht anders, aber bei ihnen hatte es länger gedauert. Boris seufzte und wischte sich über die Stirn, weil es warm war und das offene Fenster mit dem Fliegengitter davor wenig daran änderte. „Setz dich hin“, sagte er schließlich und rückte einen der Küchenstühle in einen sonnigen Fleck, „ich hol‘ das Zeug.“ Als er mit den nötigen Utensilien zurückkehrte, sah er, dass Yuriy den Kopf unter den Wasserhahn gesteckt hatte und blieb stehen. „Wenn du dich jetzt ertränken willst, hätt‘ ich aber nicht extra das ganze Zeug holen müssen“, sagte er. Yuriy hob den Kopf und drehte den Wasserhahn ab, dann griff er nach einem Geschirrtuch und rubbelte sich damit die Haare zumindest nur noch feucht. Boris‘ Augen verfolgten den Weg eines rebellischen Wassertropfens, der über Yuriys Hals glitt und in seinem Shirt verschwand. Als er aufsah, begegnete er Yuriys amüsiertem Blick und erinnerte sich daran, dass Yuriy bei ihm schlafen würde, solange Kai hier war. „Du kannst doch besser arbeiten, wenn sie feucht sind“, sagte er. Boris konnte nicht anders als über diesen Ausspruch loszugackern. „That’s what she said.” „Sind wir also wieder zehn Jahre alt“, stellte Yuriy mit einem Augenrollen fest. Er wusch sich die Hände, riss sich dann aber vom Waschbecken los, bevor Boris etwas sagen konnte, um sich stattdessen auf den Stuhl fallen zu lassen. Boris trat an ihn heran und ließ einen Moment lang die Hände auf Yuriys Schultern ruhen. Kurz vor der Weltmeisterschaft und Kais Ankunft in Moskau war sein Teamleader dank eines rigorosen Trainings- und Ernährungsplans wieder in körperlich guter Form. Er tat sich aus irgendeinem Grund weiterhin schwer, wirklich viel Gewicht zuzulegen, aber es war kein Vergleich mit dem ersten Jahr nach der Abtei. Boris war durchaus dankbar dafür. Er griff nach dem Geschirrtuch, das Yuriy vorhin verwendet hatte und legte es ihm mit Grandezza um die Schultern. „Nun, Yuriy Nikolajewitsch“, säuselte Boris und griff mit der einen Hand nach der Bürste, um in der anderen die roten Haarsträhnen zu halten, damit er mit sorgfältigen Strichen durchfahren konnte. „Da haben Sie sich aber lange nicht mehr blicken lassen!“ „Ach, Sie wissen ja, wie das ist, Boris Petrowitsch“, nahm Yuriy ohne mit der Wimper zu zucken, dafür mit einem übertrieben tiefen Seufzer das Spiel auf, „mit drei Frauen und einem Kind bleibt einem nicht viel Zeit für sich selbst.“ Boris biss sich auf die Lippen, um nicht loszulachen. Stattdessen gab er das allgemein gültige, sympathisierende Geräusch aller Friseure überall auf der Welt von sich, scheitelte Yuriys Haare genau in der Mitte und fächerte sie aus. „Da haben Sie sich aber was angetan, mein Lieber!“ „Wem sagen Sie das“, seufzte Yuriy erneut, „vor allem, wo die neueste Frau so launisch ist, dass ich wahrscheinlich zum Alkoholiker werden muss, um nicht zum Mörder zu werden.” „Ich kann ihn ein bisschen verprügeln”, bot Boris prompt großzügig an. Ivan war Schuld, dass er sich mit Kai Hiwatari herumschlagen musste, und das in einem Sommer, der nach Veränderung schmeckte. Aber Ivan brauchte eine Pause vom Bladen, weil er für den Moment keinen Sinn darin sah und noch keine Freude daran wiedergefunden hatte, also hatte Yuriy eine Lösung finden müssen. Und Kai war besser als irgendein dahergelaufener Waschlappen, der nichts wusste und nichts konnte, auch wenn Boris es hasste, wie Yuriy Kai manchmal ansah. Yuriy schien den Gedanken immerhin ernsthaft in Überlegung zu ziehen, während Boris seine Haare kämmte und dann nach der Schere griff. „Nein, ich denke, die Art von PR können wir uns nicht leisten”, sagte er dann schließlich. „Jeder, der mehr als fünf Minuten mit Kai zu tun hatte, wird uns verstehen”, grummelte Boris, dann: „Kopf gerade, bitte.” Yuriy verschränkte die Arme vor der Brust und richtete sich zu einer ordentlichen Haltung auf. Einen Moment lang war Boris abgelenkt von der Linie seiner Schultern, dann begann er zu schneiden. Eine Weile war es still, bis auf die sommerlichen Geräusche, die zum Fenster hereindrangen: lachende Kinder, Gehupe, Verkehrslärm einer Großstadt, ein einzelner, motivierter Vogel, irgendwo in der Ferne ein bellender Hund und unter ihnen die Nachbarin aus dem zweiten Stock, die sich immer laut telefonierend zum Balkon rauslehnte. Boris konnte Yuriy atmen hören, entspannt und ruhig. Er glitt mit den Fingern durch Yuriys weiches Haar und konzentrierte sich ganz auf seine Aufgabe. Es würde wieder nachwachsen. Alles wuchs wieder nach, wenn man geduldig genug war. 2. „Okay, ich verstehe, warum du hier bist“, sagte Boris zu Sergeij und stützte sich dabei auf die Malerstange auf, deren Rollenende er im Farbkübel versenkt hatte. Boris lebte gerne gefährlich. „Du kannst einfach nicht nein sagen. Aber warum zum Teufel bin ich hier?“ „Langeweile? Fünf Minuten Freundlichkeit gegenüber deinen Nachbarn? Eine Gelegenheit für Freibier?“, rätselte Sergeij, wischte sich den Schweiß von der nackten Brust und trank den letzten Schluck Bier aus seiner Dose, ehe er diese zielsicher im Mülleimer versenkte. „Oder vielleicht hat dein Rest Überlebenswillen eingesehen, dass es keine gute Idee wäre, Kai einen Kopf kürzer zu machen und Yura damit schon wieder vor das Problem eines unvollständigen Teams zu stellen.“ Boris gab einen undefinierbaren Laut von sich und betrachtete missmutig die Wohnzimmerwand ihrer Nachbarin Irina Ivanovna, die er im Begriff zu streichen war. Er dachte an Kai, der gar nichts strich, außer vielleicht Yuriy den Honig ums Maul, welche Gründe er auch immer dafür haben mochte. Der Gedanke ließ ihn finster mit den Knöcheln knacken. „Der Kerl hat bis jetzt absolut nichts gemacht, was ist dein Problem mit ihm?“, wollte Sergeij kopfschüttelnd wissen. „Er ist nicht mehr Arschloch als alle anderen.“ „Das ist eine unverfrorene Lüge“, sagte Boris entschieden und setzte die Rolle wieder an. Hinter ihm dudelte das Radio, das wohl noch aus stalinistischen Zeiten stammen mochte und von Ivan in einem der Secondhandläden in ihrer Straße ausgegraben worden war, blechern und knackend Oasis‘ Don‘t Look Back In Anger vor sich hin, wie um ihn zu verarschen. Er richtete einen empörten Blick darauf. „Gut, er hat sich letztes Mal wie ein Arsch benommen, aber das haben wir alle“, gab Sergeij zu bedenken. „Außerdem kann es so schlimm dann auch wieder nicht sein, immerhin hast du gestern über einen seiner Witze gelacht.“ „Nur aus Mitleid“, grummelte Boris. Er stoppte, wischte sich über die Stirn und stellte dann die Rolle ab, um sich das Tanktop über den Kopf zu ziehen und auf den mit Papier ausgelegten Boden fallen zu lassen. „Ich würde dich jetzt auslachen, aber mir fehlt die Motivation dafür“, stellte Sergeij fest. „Yura tut‘s gut, wenn wer da ist, mit dem er sich leidenschaftlich streiten kann. Und du musst zugeben, dass die Diskussion von den beiden Idioten darüber, ob Stalin oder Mao der größere Diktator war, schon amüsant war. Und die Diskussion über die richtige Geschirrspülerordnung. Zumindest die erste halbe Stunde lang.“ „Yura ist das wichtig und Kai sollte das respektieren“, sagte Boris prompt. Dann, ohne es wirklich zu wollen: „Ich wüsste echt gern, warum ausgerechnet Kai in seinem Zimmer schlafen darf.“ Yuras Zimmer war ihm heilig. Er ließ nur ungern jemanden hinein, selbst Boris. Und nun hatte es sich Kai darin gemütlich gemacht. Sergeij hielt im Streichen inne und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Ich dachte, du wüsstest warum. Aber gut, dein Zimmer ist am weitesten von Yuriys entfernt.“ Boris hörte ebenfalls zu streichen auf und zog die Brauen zusammen. „Was zum Teufel soll das heißen? Wichst er sich die ganze Zeit wund oder was?“ Das Stirnrunzeln wurde tiefer und Sergeij schien einen Moment lang mit sich zu kämpfen, dann warf er einen Blick über seine Schulter, wie als ob sie jemand belauschen konnte, und sagte: „Er schreit im Schlaf. Und dann schläft er meistens nicht mehr sehr viel.“ Das dudelnde Radio schnitt die Stille, während sie sich anstarrten. Ausnahmsweise wusste Boris nicht, was er sagen sollte. Kai war nicht einer von ihnen, aber Kai war in vielen Aspekten wie sie und Yuriy hatte das gewusst, hatte es vorausgesehen oder gefühlt durch die seltsame Verbindung, die er immer schon mit ihm gehabt hatte. „Borja“, sagte Sergeij schließlich fast behutsam und mit einem geradezu nachsichtigen Gesichtsausdruck, „es ist manchmal wichtiger, wohin Yura geht, als das, was er hergibt.“ Boris schloss einen Moment lang die Augen und befahl sich, nicht albern zu sein. Es war zu heiss, um albern zu sein und er hatte ja eigentlich auch die Schnauze voll davon, wütend zu sein. Er war erschöpft. Es reichte ihm mit dem Drama und den Geistern, die ihnen ständig mit schleppenden Schritten hinterher zu kommen schienen, egal wie rasch sie sich von ihnen entfernten. „Lass uns die Wände fertig machen, du Sprüchekalender“, sagte er schließlich, „damit du Irina Ivanovnas Tochter anstarren kannst, wenn sie uns Essen bringt.“ Augenblicklich errötete Sergeij bis unter die Haarwurzeln. „Ich starre sie nicht an.“ „Du willst ihre Nummer. Deswegen machen wir das alles hier doch wirklich“, sagte Boris mit einem Augenrollen, woraufhin Sergeij mit rosig angelaufenen Ohren wenig überzeugend einen Monolog auf die Wichtigkeit von nachbarschaftlicher Solidarität hielt. Sie alle hatten irgendwie seit diesem Frühling die langsam aufkommende Erleuchtung gehabt, dass es Mädchen nicht nur als abstraktes Konzept gab - sie alle außer Yuriy zumindest, der selbst beim Fortgehen nur mit ihnen abhing und von Angeboten aller Art eher verärgert zu sein schien. Aber vielleicht hatte er einfach nur sehr hohe Standards. Es war nicht so, als ob er sie sich nicht leisten konnte. Boris hatte mittlerweile durchaus gewisse Erfahrungen gesammelt, aber die Vorstellung von einer festen Freundin war fast unmöglich. Wo sollte die in ihrem Team Platz haben? Und Leute von außen waren so … zerbrechlich. Aber Sergeij und Ivan schienen sich leichter mit dem Gedanken zu tun. Boris wischte sich erneut über die Stirn, dann begann er wieder zu streichen und ignorierte die Farbspritzer, die auf seine nackte Brust und die Vorderseite seiner Adidas-Jogginghose fielen. Von der einen Minute auf die andere hatte er eine Eingebung, was er mit seinem Leben in den nächsten zehn Stunden machen würde - spontan, glorios, perfekt. „Wenn wir hier fertig sind und du Katjas Nummer hast“, sagte er, „gehst du mit mir zum Piercer.“ „Du hast sie nicht mehr alle“, sagte Sergeij und lachte, aber es war kein Nein. 3. Boris widerstand nur mühsam dem Drang, sich am Ohr zu kratzen, wo seit zwei Tagen vier silberne Ringe glänzten. Ivan lachte ihn schamlos aus, als er die Bewegung registrierte und grub weiter in der unfassbar großen, unfassbar verstaubten Truhe voller Knöpfe, die in einer Ecke des Secondhandladens stand. „Wieso sind wir hier?“, wunderte Boris sich laut und hielt dabei eine pinkfarbene Brosche von abnormer Hässlichkeit in der Hand, um geradezu ungläubig darauf zu starren, ehe ein Messer seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit einem interessierten Laut trat er an das Regal heran und zog es aus dem Rest an unsortierter Ware, die der mindestens hundert Jahre alte Besitzer des Ladens irgendwann einmal auf das Regal gelegt und dann vergessen haben musste. „Ich brauche neue Schuhe und weigere mich, den Kapitalismus zu unterstützen, indem ich überteuerte Neuware kaufe“, sagte Ivan und fügte nach einer Pause hinzu: „Außerdem gibt‘s hier ne Klimaanlage.“ Die Klimaanlage war an einem Tag, wo über Moskau nicht einmal eine einzige verdammte Schäfchenwolke zu sehen war, ein absolutes Totschlagargument. „Wieso wühlst du in Knöpfen, wenn du Schuhe suchst?“, fragte Boris verständnislos und suchte auf dem Messer nach einem Preisschild. Dann fiel sein Blick auf einen schwarzen Sonnenhut mit breiter Krempe auf der anderen Seite und er wanderte hinüber, das Messer immer noch in der Hand. „Ohh. Sollten wir für Yuriy mitnehmen, dann verbrennt er sich vielleicht mal einen Sommer lang nicht die Rübe. 370 Rubel - ist ja fast geschenkt!“ „Sag‘ ich dir doch“, erwiderte Ivan zufrieden und beantwortete nicht die Frage zu den Knöpfen, sondern füllte nur ein mitgebrachtes Marmeladenglas mit ihnen auf, ohne dass Boris einen Zusammenhang zwischen ihnen in Farbe, Form oder Größe ausmachen konnte. „Wie ist es eigentlich so, Yuriy in deinem Bett zu haben?“ Nur um ein Haar stach Boris sich nicht das Auge an einem Wildschweinhauer aus, als er zu Ivan herumfuhr und ihn anstarrte. „Wie bitte? In meinem Bett?“ Ivan starrte zurück, das Knopfglas in der einen Hand und ein unfassbar scheußliches Bild von Zar Nikolai II. als Heiligem Bartholomäus in der anderen Hand. Dann zog er sehr langsam beide Augenbrauen hoch und blickte sich geradezu demonstrativ um. „Ist hier noch ein Boris Petrowitsch Kuznetsov? Dummes Gesicht, Schultern wie ein Schrank?“, fragte er so laut, dass ein Hipstermädel auf der anderen Seite des Ladens in der Suche nach der nächsten erschwinglichen Pelzjacke innehielt und ihn empört ansah. Der alte Besitzer hinter der Kasse blickte nicht eine Sekunde lang von seiner Zeitung auf. „Ich frag mich, ob Volkov dich ein paarmal zu oft auf den Kopf hat fallen lassen, bevor er dich ins Team gelassen hat“, rätselte Boris. Ivan stach ihm eine Ecke des Heiligenbildes in den Bauch, bis er drohend das Messer hob. „Schließ nicht immer von dir auf andere. Ich hab mir einmal das Hotelzimmer mit Yura geteilt und da hat er um sich getreten. Soll ich das Bild nehmen?“ „Nur, wenn du sterben willst. Treten tut er eigentlich nicht. Er spricht nur manchmal.” Sofort hob Ivan sensationsgeil den Kopf. „Was sagt er?” „Gestern hat er mir eine Viertelstunde klarzumachen versucht, dass er wirklich nicht Pikachu ist”, sagte Boris und fuhr unter Ivans Losprusten fort: „Vor zwei Tagen hat er ein einseitiges Streitgespräch mit irgendwem gehalten, wo es darum ging, dass er sicher keinen zwanzig-Blatt-Locher kaufen wird, wenn er einen vierzig-Blatt-Locher braucht.” „Wenn das seine größten Probleme sind, dann muss ich mir keine Sorgen machen”, stellte Ivan fest und begutachtete mit alarmierendem Interesse einen ausgestopften Fuchs. Boris studierte einen Seidenschal, der ihn trotz oder gerade wegen seines in den Sechzigern steckengebliebenen Musters an Kai erinnerte und verschwieg die anderen Dinge, die Yuriy ihm gesagt hatte. Er verschwieg auch, dass Yuriy immer mit einer steilen Stirnfalte einschlief, die Boris so lange mit seinem Daumen glättete, bis sie verschwunden war. Er verschwieg Yuriys Wenn Sterne eigentlich nur schwarzes Licht sind und trotzdem leuchten können, kann ich das auch und Yuriys Weißt du eigentlich, dass du ein Scherbenlied bist und ich dich so gerne singe?, was keinen Sinn machte und Boris in den warmen Moskauer Nächten trotzdem schwer erwischt hatte. Er verschwieg, dass Yuriy vielleicht nicht mehr trat, aber gelegentlich zuckte wie ein Hund, den das Leben gelehrt hatte, achtsam vor Schlägen zu sein. Er verschwieg, dass Yuriy nicht zu reden und zu zucken brauchte, um ihn hellwach in die Dunkelheit starren zu lassen. Dazu reichte schon sein nahezu nackter Körper auf der Decke neben Boris, seine Fingerspitzen, die sanft auf Boris’ Arm ruhten, das rote Haar, das sich auf dem Kissen und auf seiner Schulter ergoss wie Herzblut. Es war nie so gewesen. Oder vielleicht war es immer schon so gewesen, aber er hatte es erst in diesem Sommer bemerkt. Boris hob nervös die Hand zu seinem Ohr und grollte, als Ivan ihm zielsicher mit einer Schirmspitze auf die Fingerknöchel schlug, bevor er dort ankam. „Lass dich nicht stechen, wenn du nicht mit den Konsequenzen leben kannst”, sagte Ivan wenig beeindruckt von seinem Gesichtsausdruck und machte dann eine Pause. „Scheiße, das sollte ich der Glückskeksfirma verkaufen. Das war brillant.” „Vielleicht nehmen die dich gleich im Gesamtpaket mit dazu, die richtige Größe hättest du”, stichelte Boris und wich elegant einem Hieb mit einem beeindruckenden Gehstock aus. „He, lass mich den mal sehen. Ist da ein Schwert drin?” „Yura hat dir Schwertgehstöcke verboten”, sagte Ivan prompt und inspizierte den Stock, während er sich permanent so drehte, dass Boris nicht herankam. Eine Weile lang hüpften sie in dem vollgestopften Laden herum wie zwei Kosaken, die auf dem Weg zum Kasatschok falsch abgebogen waren, dann gab Boris auf, als Ivan unter einen Kleiderständer kroch und zwischen staubigen Uniformen kicherte wie ein bösartiger Kobold. „Ich wünschte, du würdest mitkommen”, teilte Boris impulsiv den Uniformen mit, wodurch das Lachen verstummte. Hinter ihm flirrte die Klimaanlage und Boris begutachtete mit mildem Interesse einen schweren Militärmantel, der noch aus Zeiten vor der Oktoberrevolution stammen musste und Yuriy sicher stehen würde. Das Hipstermädel hatte ihren neuen Mantel gefunden und verließ unter dem Klingeln der rostigen Glocke über der Tür den Laden. Ein Schwall heiße Luft trat von draußen hinein und fuhr Boris gegen den Nacken. Er hob die Hand zum Ohr, schlug sich stattdessen mit der flachen Hand gegen die Brust, um den Impuls umzuleiten und steckte dann die Hände in die Hosentaschen, um dort mit Kleingeld zu klimpern. Ivan kroch unter den Uniformen heraus, richtete sich auf und klopfte sich den Staub von seinem Shirt, dann legte er den Kopf in den Nacken und fixierte Boris mit einem undefinierbaren Blick. „Geht’s um Kai? Ich versteh’ das. Kai ist ein arroganter Arsch mit den seltsamsten Essgewohnheiten, die ich jemals gesehen habe, ich kann ihm kaum zusehen.” „Es geht nicht um Kai”, sagte Boris, irritiert davon, dass ihm endlich mal jemand zustimmen zu schien. Ivan musterte ihn weiterhin, als ob Boris ein besonders interessantes Subjekt war, bis dieser irritiert die Augenbrauen in die Höhe schießen ließ. Ivan schüttelte den Kopf, dann blickte er sich im Laden um, als ob er nach etwas suchte, ehe er zurück zu Boris sah. „Ich werd’ da sein, wenn ihr zurückkommt.” „Weiß ich”, brummte Boris und inspizierte einen glänzenden Orden. „Borja”, sagte Ivan nach einer Weile, „ich find’s auch komisch. Aber ich will, dass es irgendwann nicht mehr komisch ist, irgendwo allein zu sein. Damit ich die Entscheidung hab, verstehst du? Außerdem sind’s nur ein paar Wochen und Anna Nikolajewna ist auch noch da, wenn wirklich irgendwas ist.” Boris hatte seinen Frieden mit ihrer Sozialarbeiterin geschlossen, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er sie als adäquaten Ersatz für das ganze Team sah. Er schnaubte, wollte sich ans Ohr fassen und fuhr sich stattdessen durch die Haare. Ivan tätschelte seinen Arm und wirkte einen Moment lang fast nett, als er lächelte. Komisch, fand Boris, dass Ivan manchmal der erwachsenste von ihnen geworden zu sein schien. „Lass uns den Hut und die Knöpfe kaufen”, schlug Ivan schließlich vor, „und dann suchen wir uns eine schöne U-Bahn zum Sprayen. Irgendwas im Schatten, damit wir nicht draufgehen.” „Deal”, sagte Boris und folgte ihm zur Kasse. 4. „Hast du auch eine für mich?“, fragte Kai. Boris drehte ihm den Kopf zu, als Kai zu ihm ans Geländer des Dachs trat, auf dem Boris schon seit einer Weile hockte. Yuriy hatte sich in dem ganzen restlichen Papierkram für die Weltmeisterschaft vergraben, mit einer Laune, in der man ihm am besten aus dem Weg ging. Sergeij hing mit Katja im Stiegenhaus ab, Ivan war am Zocken und Boris hatte den Moment genutzt, um für eine rasche Zigarette aufs Dach abzuhauen. Yuriy war im Allgemeinen wesentlich entspannter geworden, was Alkohol und Zigaretten anging. Nachdem Boris sogar eine inoffizielle ärztliche Bestätigung hatte, dass Gras ihm mit seinem speziellen Dachschaden half, hatte Yuriy auch das nach einem phänomenalen Streitgespräch akzeptiert. Innerhalb der intensiven Trainingsphasen vor und während einer Weltmeisterschaft wurde er allerdings rabiat, wenn sie irgendwas taten, das sie potentiell an einer Bestleistung hindern konnte. Kai schien das nicht zu kümmern. Er sah Boris abwartend an und besaß die Frechheit, nur in Jogginghosen und weißen Sneakern eine gute Figur zu machen. Als ob er hierher gehörte. Als ob er einer von ihnen war. Boris hielt ihm wortlos die Schachtel hin. Kai nickte ihm dankend zu und zog einen Glimmstängel heraus, lehnte sich dann zu ihm, um sich Feuer geben zu lassen, ehe er sich wieder aufrichtete, gegen das Geländer lehnte und einen tiefen Zug nahm. Boris starrte ihn einen Moment lang an, dann richtete er seinen Blick wieder auf Moskau. Der Tag neigte sich dem Abend zu, aber irgendwie hatte die Stadt dieses Memo noch nicht bekommen, denn es war immer noch verflucht warm, weshalb keiner von ihnen ein Shirt trug. Er hätte wissen müssen, dass Kai früher oder später aufs Dach kommen würde. Aber hatte es ausgerechnet heute sein müssen? „Musst aufpassen, dass sie nicht einwachsen“, sagte Kai plötzlich. Als Boris den Kopf hob, geradezu empört über eine ungebetene Meldung des anderen, gestikulierte dieser mit der Zigarette zu den silbernen Ringen in Boris‘ Ohr. „Geht am Ohr schnell.“ Boris verengte die Augen. Er wusste, dass Kai anno dazumal Ohrlöcher gehabt hatte, die mittlerweile aber kaum noch zu sehen waren. Anfänger. „Ich bin nicht du.“ „Was soll das schon wieder heißen?“ Boris schnaubte und aschte über das Geländer. Die Asche flog der Stadt entgegen und zerstreute sich im Wind. Er nahm einen weiteren Zug von der Zigarette, rückte seine Sonnenbrille zurecht und sagte: „Nur, dass ich nichts verwahrlosen lasse, was mir am Herzen liegt.“ Kai gab ein undefinierbares Geräusch von sich, das alles von einer stillen Akzeptanz bis zu einer Aufforderung zum Duell sein konnte. Boris fragte sich, ob er auf Notwehr plädieren können würde, wenn er Kai jetzt über das Geländer warf. Irgendwas hielt ihn davon ab, dem Impuls auch nachzugeben. Vielleicht waren es die schwarzblauen Schatten unter Kais Augen oder etwas an seinem Gesichtsausdruck, das Boris irgendwie kannte. „Ich hasse Moskau”, sagte er, ohne sich aufhalten zu können. Kai sah weiter auf die Stadt und zuckte mit den Achseln. Er stützte sich mit den Unterarmen auf das Geländer und atmete Rauch aus. „Ich wollte nie wieder hierherkommen.” „Warum hast du es dann getan?” Nun drehte Kai doch den Kopf und musterte ihn, dann zog er eine Augenbraue hoch und fragte: „Warum bist du noch nicht gegangen?” Boris schnaubte und sparte sich eine verbale Antwort. Es war sowieso offensichtlich, selbst für jemanden wie Kai, der sich von nichts und niemandem halten ließ und vor manchen Dingen lieber so lange flüchtete, bis sie ihn in den Arsch bissen. Selbst für Kai, der nur sich selbst Loyalität schuldete und doch Yuriy manchmal ansah, als ob er sich wünschte, dass er an ihm den Mond aufhängen konnte. Boris mochte die eigene Haut konstant zu klein sein, aber er wusste, wo er hingehörte und wo er immer Halt finden würde, wenn er einmal den Halt verlor. Kai hingegen … nun, wer wusste eigentlich schon, was wirklich durch seinen hübschen Kopf ging. Boris hatte ihn nie wirklich verstanden, aber er verstand die wenigsten Leute und hatte wenig Geduld für sie. Das war genau das, woran er laut seinem Therapeuten arbeiten musste, aber alles konnte man auch nicht von ihm verlangen. Kai salutierte ihm stillschweigend mit der Zigarette und blickte dann wieder auf die Stadt, deren blecherne Dächer, Baustellen und Kreml-Zwiebeltürme mit rotgoldenem Licht der untergehenden Sonne überschüttet wurden. Sie schwiegen, während die Zigaretten herunterbrannten und die Stadt das Sonnenlicht gegen elektrische Beleuchtung austauschte, um ungerührt weiterzuleben. Boris stieß sich vom Geländer ab und streckte sich, atmete tief ein und aus mit der Kühle, die die Nacht brachte. Moskau verschluckte alle Sterne und breitete permanent eine Lichterwolke über ihnen aus, aber es machte sein Licht von selbst, und das war es vielleicht, was Boris damit versöhnte. Er ließ die Zigarettenpackung neben Kai liegen, als er zurück ins Stiegenhaus trat. 5. „Lass an”, sagte Yuriy, „ich mag das Lied.” Er war ins Zimmer getreten und hatte die Tür hinter sich geschlossen, und Boris hatte automatisch zum Knopf des Radios gegriffen, um es auszuschalten. Nun ließ er die Hand wieder sinken und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Yuriy zog sich das Tanktop über den Kopf, schlüpfte aus der Trainingshose und griff wie selbstverständlich in Boris’ Schrank, um sich eines seiner Shirts zu holen. Boris schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das Handy, das er auseinander gebaut hatte und nun wieder zusammensetzen wollte. Die Aggression steckte in seinen Händen, hatte man ihm gesagt, und es half tatsächlich, so viel mit ihnen zu machen wie möglich. Yuriy hatte sich das Shirt über den Kopf gezogen, drehte das Licht im Zimmer ungeachtet Boris‘ Tätigkeit ab und kam zu ihm, um sich neben ihn auf die Fensterbank zu setzen. Die Fensterflügel waren nach außen in den Innenhof geöffnet, in dem einige der Nachbarn in einem spontanen kleinen Fest unter einem hastig aufgehängten Sammelsurium aus Lichterketten zusammensaßen und tranken. Ihr Gelächer und Gemurmel drang bis in ihren Stock hinauf, aber es bedeutete immerhin auch, dass sich trotz der fortgeschrittenen Stunde niemand über das dudelnde Radio beschwerte. Yuriys Fuß streifte Boris’ Knöchel, als er es sich am anderen Ende der Fensterbank gemütlich machte und einen Moment lang hinausspähte. „Wir sind fertig gepackt”, informierte er Boris dann und fuhr sich durch die Haare, die ein wenig feucht wirkten, vermutlich von einer Dusche. „Morgen geht’s los.” „Du freust dich”, stellte Boris fest, schraubte das Handy unter dem Licht der Innenhofbeleuchtung wieder zu und legte es beiseite, um Yuriy mustern zu können. Dieser schenkte ihm ein kleines Lächeln, das seine Augen heller werden ließ. Im Innenhof hatten die Leute zu tanzen begonnen, irgendwer sang sehr falsch den Text des Liedes, das dort unten gespielt wurde. Das feine Haar auf Yuriys Armen und Beinen, dunkler als sein Haupthaar, schimmerte rostrot wie alte Kupferrohre im künstlichen Licht. „Ja”, sagte Yuriy schlicht, „ich freu mich.” „Aber es…” Boris wusste nicht, wie er den Satz beenden wollte. Aber es macht dir doch Angst, lag ihm auf der Zunge, aber es macht dich doch unruhig. Aber erinnerst du dich nicht mehr an ihre Blicke vor zwei Jahren? Es war lächerlich. Yuriy schreckte nicht vor Dingen zurück, nur weil sie ihn potentiell verletzen konnten. Yuriy verließ nichts, nur weil es hässliche Züge neben den schönen hatte. Yuriy haderte und zweifelte und hielt doch fest, hielt so, so fest, wenn er daran glaubte, dass etwas die Sache wert war. Nun zuckte er mit den Achseln und stemmte die nackten Füße gegen Boris’ Knie; das Shirt rutschte ihm von einer Schulter und entblößte sein Schlüsselbein, aber er zupfte es nicht zurecht. „Wir sind gut, Borja”, sagte er mit unerschütterlicher Überzeugung in der Stimme, „wir haben es verdient, bei dieser WM dabei zu sein. Keine üblen Tricks, nur reines Können. Ich will sehen, wozu wir fähig sind, wie weit wir kommen, was alles möglich ist. Bist du nicht zumindest ein kleines bisschen neugierig?” „Doch”, gab Boris zu und verschränkte die Arme vor der Brust, damit er nicht nach Yuriy griff, der ihm so nahe war und so leuchtend, im Gegensatz zum letzten Sommer, wo die Dinge noch so viel dunkler gewesen waren. Er wollte wissen, wie weich diese Beinhaare waren. Er wollte wissen, wie tief dieser kupferne Glückspfad, der unter Yuriys Bauchnabel begann und von dem er bisher nur Aufblitzer bei Yuriys Umziehaktionen gesehen hatte, in dessen Boxershort verschwand. Es gab vieles, was er wissen wollte. Die Weltmeisterschaft stand nur halt eben nicht ganz oben auf der Liste. „Und dann?“, fragte er. Eine rote Braue zuckte in die Höhe. „Dann?“ Yuriy überlegte einen Moment. Dann sagte er: „Wenn wir gewinnen, schauen wir uns Europa an. Mit dem Zug.“ „Und wenn wir nicht gewinnen?“ „Wir gewinnen“, sagte Yuriy überzeugt, dann blinzelte er ihn mit hellen, amüsierten Augen an. „Und wenn nicht, fahren wir eben wieder heim.“ „Und dann?“ „Jetzt bist du absichtlich schwierig“, stellte Yuriy fest und streckte sich. Boris grinste und bestritt nichts. Er beobachtete Yuriy, der sich verhalten gähnend die Hand vor den Mund hielt und dann nach dem Radio griff, um es doch auszuschalten. Erneutes Gelächter schallte zu ihnen herauf, dann senkte die Geräuschkulisse sich wieder zu einem sanften Murmeln und Glasklirren, wann immer jemand anstieß. Sie lauschten eine Weile den tausenden Trinksprüchen, die von immer mehr Leuten erfunden wurden und immer absurder wurden. Ein paar Lichter in den umgebenden Wohnungen waren ausgegangen und das Licht aus dem Innenhof war auch weniger geworden. Yuriys Körper zeichnete sich in scharfen Ecken und Kanten in der Dunkelheit ab. Boris erschrak beinahe, als eine Hand auf seinem nackten Knie landete und liegen blieb, als ob sie genau dort hingehörte. Yuriy initiierte sehr selten Körperkontakt in irgendeiner Form von sich aus. Boris dachte an den Fuß, der seinen Knöchel gestreift hatte und fragte sich, was dieser Moskauer Sommer an sich hatte, dass sich alles anfühlte wie frisch gewaschen - so frisch, dass manche Teile sich einfach vollkommen fremd anfühlten. „Borja“, sagte Yuriy leise. Er holte tief Atem, wohl um mit etwas fortzufahren, verstummte dann aber, als Boris die Finger zwischen seine schob und einfach seine Hand hielt, bevor er es sich anders überlegen und dem Impuls nicht folgen konnte. Aus irgendeinem Grund schien das okay zu sein. Er wartete auf eine Abwehrreaktion, aber Yuriy drückte nur leicht seine Finger und sah hinaus. Über sie wuschen die Geräusche einer Stadt, die alle paar Dekaden alt wurde und neu auferstand, sich abschüttelte und weiterging, unerschütterlich und ungehemmt der Zukunft entgegen. Boris hörte ihr zu, dieser Stadt, die er hasste und die voller Dinge war, die er liebte, und er verlor sich in ihrem Lachen, ihren künstlichen, warmen Lichtern, ihrem niemals enden wollenden Strom an Stimmen und Herzen und Leben, die nach Sinn suchten. „Lass uns ins Bett gehen“, sagte Yuriy schließlich mit einem Tonfall, als ob er ein Geheimnis preisgab, und Boris folgte ihm, wie er ihm immer gefolgt war: mit unerschütterlichem Vertrauen und einem Auge, das blind war von der roten Sonne, die er zu oft angesehen hatte, und Händen, die Wut in sich trugen, aber auch die Möglichkeit zur Erschaffung von Schönem. Man hatte ihn das eine gelehrt, aber er wollte das andere, und in diesem Sommer hatte er das Gefühl, dass er es vielleicht tatsächlich haben durfte. Yuriy ließ die ganze Nacht über nicht seine Hand los. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)