Smells like Heaven, smells like Home von Platypusaurus (Countdown auf fanfiktion.de: Noch 7 Tage bis Halloween!) ================================================================================ Smells like Heaven, smells like Home ------------------------------------ Die Welt roch nach den ersten Vorboten der kalten Jahreszeit und die kahler werdenden Laubbäume hinterließen im Park einen raschelnden Flickenteppich auf Kieswegen und Rasenflächen. Ein paar sonnige Tage lang war die Veränderung in der Natur durchaus interessant; der zunehmende Wind trieb einzelne Blätter im Segelflug vor sich her, deren unberechenbarer Tanz dazu einlud, nach ihnen zu schnappen. Aber dann kam der Nebel und mit ihm die Nässe. Das Gras trocknete fast gar nicht mehr und das feuchte Laub war zu schwer, um vom Wind davon getragen zu werden, so dass es schon bald zu modern begann. Die Zeit des Frierens hielt Einzug, und obwohl die Tage noch viel Sonne und wärmere Temperaturen brachten, wurde sein Fell meist erst am Nachmittag richtig trocken. Das nasse Laub war überall – es bedeckte die besten Schlafplätze im Park, machte die Nächte zunächst ungemütlich, schnell zu einer Qual. Bis Männer in neonfarbenen Overalls und quietschenden Stiefeln aus Gummi alle Blätter mit lautstarken Gebläsen zu großen Bergen auftürmten. Die Geräusche waren unheimlich, und es war sicherer, sich möglichst wenig blicken zu lassen, bis die Männer nach getaner Arbeit wieder verschwanden. Ab dann wurde es besser – zumindest für eine kurze Zeit. Während tagsüber die Kinder mit Anlauf und viel Geschrei in die Blätterberge sprangen, die die Männer noch nicht mit ihren großen Containern fortgebracht hatten, gingen in der Dämmerung zankende Igel darin auf die Jagd nach den letzten Asseln vorm ersten Bodenfrost. Vor beidem musste man sich in Acht nehmen: Kinder konnten bisweilen sehr grob sein, warfen manchmal mit Steinen, während Igel heimtückisch piksende Biester waren, die einem die besten Leckerbissen unter der Parkbank beim Teich vor der Nase wegschnappten, wenn man nicht schnell genug war. Ihre Schnecken und Asseln konnten die Igel behalten, wenn es nach Hund ging, aber der Streit um die fressbaren Schätze, die die Menschen zurückließen, war unerbittlich. Zum Glück gingen die kleinen Ungeheuer bald in ihren Winterschlaf über und dann hätte er seine Ruhe … Hätte er dann nicht ganz andere Sorgen gehabt. Er war nicht schlauer als andere Hunde, hatte kein besseres Verständnis von Zeit, aber es war das vierte Jahr, in dem er einen Sommer vorübergehen sah und sein Instinkt sagte ihm, dass die unheimlichen Männer mit den ohrenbetäubenden Gerätschaften ihn vielleicht vom nassen Laub befreit hatten. Aber den unaufhaltsamen Winter hatten sie nicht für immer fortpusten können. Es war an der Zeit, sich anders zu behelfen, wenn er nicht noch einen Winter im Park verbringen wollte.   *   Etwas lag in der Luft. Seit dem frühen Nachmittag waren außergewöhnlich viele Kinder am Park vorbeigekommen, und obwohl ihr Geruch Hund vertraut war, empfand er ihre Erscheinung als beunruhigend. Manche von ihnen steckten unter flatternden Tüchern, nach deren Säumen er gern geschnappt hätte, einige trugen Masken, Hüte, Helme, oder sie hatten ihre Gesichter bemalt und sie alle trugen Kleidung, die Hund noch nie zuvor an Menschen gesehen hatte. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Einige Kinder hatten Laternen, bunte Lichter dabei, und jedes von ihnen schwenkte eine Tasche oder einen Beutel herum, in dem es etwas zu sammeln schien. Er versuchte, sie zu ignorieren; ihr Gewusel und Geschnatter machte ihn nervös. Zu viele Menschen auf einmal bedeuteten selten etwas Gutes, insbesondere bei Kindern, und Hund versprach sich kein Futter von ihnen. Aber da war noch etwas anderes, das nichts mit Kindern in Kostümen zu tun hatte. Etwas Großes, Mächtiges. Hund lag seit der früh einsetzenden Dämmerung am Ententeich auf der Lauer. Er hatte Respekt vor den gefiederten Ungetümen, die mit ausgebreiteten Flügeln breiter waren, als er lang, aber in ihrer Nähe gab es häufig Brotkrumen und, mit etwas Glück, sogar Kuchenkrümel. Enten verzogen sich ins Gebüsch, sobald die Sonne hinter den Häusern am Parkrand verschwunden war und dann schlug seine Stunde – dann begann sein ewiger Wettstreit gegen die Igel. Doch diesmal kam ihm etwas dazwischen. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie zuvor gerochen, nicht einmal annähernd, und die natürliche Neugier war groß. Groß genug, um sich von seiner eigentlichen Mission ablenken zu lassen.   Seine Augen waren, wie bei allen Hunden, vor allem auf sich bewegende Objekte fixiert, aber er konnte definitiv sehen, dass an der menschlichen Gestalt, die federnden Schrittes und laut pfeifend durch den dämmrigen Park ging, rein gar nichts außergewöhnlich war. Jedenfalls nicht äußerlich. Vielleicht bedeutete das Fremde in diesem Fall etwas Gutes, vielleicht sogar Futter. Der Geruch, der an der Gestalt haftete, war zumindest süß; so zuckrig wie Honig und warmes Gebäck, doch die Note darunter, geladen wie elektrische Spannung, enthielt eine Warnung: Was wie ein Mensch aussah, wie ein Mensch ging und pfiff, war kein Mensch. Und die Gestalt trug keinen Laubbläser und war auch kein Igel, kein garstig zischender Enterich, und ihr Pfeifen hatte eine geradezu hypnotisierende Wirkung auf ihn. Er konnte nicht anders, als ihr zu folgen. Mit Sicherheitsabstand. Hund war hungrig und er war gefesselt von der unbekannten Präsenz – aber er war nicht dumm.   Der Mensch, der kein Mensch war, hielt an einer Parkbank und ließ sich darauf so breit nieder, dass neben ihm kein Platz für eine andere Person von menschlicher Gestalt geblieben wäre. Hund war kein großer Vertreter seiner Art, reichte den meisten Erwachsenen nicht einmal bis zum Knie, aber selbst aus seiner Perspektive konnte er einschätzen, dass die Menschengestalt dort, obwohl sie derart dominant so viel Raum für sich beanspruchte, rein körperlich eher zu den Kleinen zählte. Umso beeindruckender war ihre Wirkung, die sie ohne sichtbares Zutun in die Dämmerung hinaus sandte; beinahe so, als hielte sie sich jedes andere Lebewesen vom Leib, während sich Hund dadurch seltsamerweise nur noch stärker angezogen fühlte. Hätte den Fremdling nicht diese merkwürdige, um Achtung heischende Aura wie eine Duftwolke aus Ozon umgeben, hätte er nicht so gerochen, als stammte er eigentlich gar nicht von dieser Welt, hätte Hund spätestens jetzt tiefen Respekt vor ihm verspürt. Sein Revier zu markieren, war wichtig, und das, was dieser Nicht-Mensch allein mit seiner Präsenz bewerkstelligte, machte ihn zweifellos zu einer Alphafigur unter all denjenigen, die tatsächlich Menschen waren.   Vielleicht lag es daran, dass er allein war. Einsamkeit war, neben Kälte, Nässe und Hunger, vielleicht der treuste Begleiter, wenn man auf der Straße lebte. Fast jede Form von Gesellschaft konnte zu einer Bedrohung werden, lief zumindest früher oder später auf einen Streit ums beste Futter hinaus. Das Verlangen, sich als Teil eines Rudels zu fühlen, war überwältigend. Es war nichts, was die anderen Parkbewohner zu stillen vermochten, und ganz sicher war dazu auch nicht das unbekannte Wesen in der Lage, vor dem Hund sich im Busch neben der Parkbank versteckte. Merkwürdigerweise strahlte es, neben all der Macht und Unmenschlichkeit, genau das aus, was das Leben für Hund an den seltenen Abenden mit vollem Magen in einem trockenen Nachtlager so beängstigend machte: Der Mangel an Zugehörigkeit. Das Wesen war ein Außenseiter, ein Streuner, genau wie er.   Hund mochte keine Kinder, keine Laubbläser oder Konkurrenten um Futter im Park, aber das machte ihn natürlich längst nicht zum Feigling. Der Nicht-Mensch auf der Bank pfiff immer noch vor sich hin und Hund fühlte sich stärker davon angezogen, als es je ein anderes Geräusch zustande gebracht hatte. Nahezu lautlos zwängte er sich zwischen den sorgfältig gestutzten Zweigen seines Verstecks hindurch, um nicht eine Bewegung des Fremden, nicht einen einzigen Laut zu verpassen. Genau in diesem Moment entschied sich das Wesen dazu, eine große Tasche aus Stoff zutage zu fördern, die denen der verkleideten Kinder erstaunlich ähnlich sah, und aus der es sogar noch verführerischer roch, als die gesamte Erscheinung selbst. Hund lief das Wasser im Maul zusammen und er konnte sich ein sehnsüchtiges Schmatzen und ein erwartungsvolles Schwanzwedeln nicht verkneifen, als er sich hinter dem Mülleimer neben der Bank versteckte. Ihm war kaum aufgefallen, wie nahe er sich inzwischen schon an das fremdartige Wesen herangewagt hatte, so sehr hatte es ihn in seinen Bann gezogen. Und das Wesen, das ihn unmöglich gesehen oder gehört haben konnte, hielt plötzlich in seinem Pfeifen inne und zog die Mundwinkel hoch. Im gelben Licht der runden Parklaterne auf der anderen Seite der Bank konnte Hund sein Gesicht im Profil erkennen; ein Lächeln, so nannten Menschen das. Offenbar beherrschte dieser Nicht-Mensch eine ganz ähnliche Sprache, denn statt erneut zu pfeifen, öffnete er plötzlich seinen Mund und sagte, wie es wohl nur ein menschlicher US-Amerikaner tun würde: „Du solltest lieber von hier verschwinden, Champ.“   Hund neigte den Kopf und schob wagemutig die Schnauze ein Stück weiter um den Papierkorb herum. Hatte das eigenartige Wesen mit ihm gesprochen? Hatte es, musste es – denn nichts und niemand sonst war in der Nähe. Das hätten ihm seine geschärften Sinne mit Sicherheit sofort verraten.   „Ab mit dir!“, sagte das Wesen erneut und wandte diesmal unmissverständlich den Kopf in seine Richtung. Hund konnte einen Blick in goldglühende Augen erhaschen und er senkte schnell den Kopf. Blickkontakt war eine direkte Herausforderung. Und Hund war nicht auf einen Kampf aus, den er zweifellos verlieren würde, ohne, dass das Wesen vor ihm auch nur einen einzigen Muskel anspannte. Das konnte Hund deutlich spüren. Mit eingezogenem Schwanz schlich er um die Mülltonne herum, achtete dabei darauf, nur demütig seine Flanke zu präsentieren, nicht aber direkt auf das Wesen zuzusteuern.   „Ich hab nichts für dich, Balto.“   Das Wesen knisterte verführerisch mit etwas, das es in seiner Tasche verborgen hielt und Hund war sich ziemlich sicher, dass es sehr wohl etwas Fressbares dabei hatte. Allerdings gedachte es offensichtlich nicht, ihm etwas davon abzugeben. Vielleicht würde es helfen, wenn er ein wenig seinen Charme spielen ließ? Unterwürfigkeit imponierte manchmal demjenigen mit mehr Macht; das hatte er gelernt, wenn er sich vor den Herren in ihren polierten Lederschuhen und den glatt gebügelten Hosenbeinen durchs Gras rollte, die mittags im Park ihren Lunch zu sich nahmen. Desto mehr er die eigene Schwäche betonte, desto mehr sprangen für ihn eine Sandwich-Kruste oder ein Stück Apfel heraus. Er bevorzugte das Brot, natürlich, aber Hunger ließ in seinem Magen viel Platz und ihm wenig Spielraum, um wählerisch zu sein. Mit immer noch zur Seite geneigtem Kopf ließ Hund sich mit etwas Sicherheitsabstand zu Füßen des fremden Wesens nieder. Aus dessen Brust drang plötzlich ein eigenartiges Geräusch, ein tiefes Glucksen, das zu einem Schnauben wurde, und glücklicherweise alles andere als bedrohlich oder gar angriffslustig klang.   „Oh, Dad im Himmel. Du hast Eier, Kleiner. Na, komm her!“   Hatte Hund das etwa richtig verstanden? ‚Komm‘ war ein Wort, das er kannte. Was nicht bedeutete, dass er darauf reagierte, wenn er sich von seinem Gehorsam nicht etwas versprach – das hatte ihn das Leben auf der Straße ebenso gelehrt, wie den Trick mit den Herren in ihren feinen Anzügen und ledernen Schuhen. Doch wieder war es die unheimliche Anziehung, die das fremde Wesen auf ihn ausübte. Hund fand sich ihm plötzlich so nahe wieder, dass er ihm den Kopf aufs ausgestreckte Bein hätte legen können. Aber das wagte er nicht. Der Nicht-Mensch zog etwas Längliches aus seinem Stoffbeutel, eingepackt in vielversprechend knisternde Plastikfolie. Das Aufreißen der Verpackung klang himmlisch und Hund folgte gebannt den Bewegungen der so überzeugend menschlichen Hände, die die Leckerei aus dem Plastik befreiten.   „Ich schlage dir einen Deal vor, Snoopy“, sagte das Wesen mit seiner melodischen Stimme und Hund, der kein Wort verstand, neigte abermals den Kopf, während er den Schokoriegel vor sich im Auge behielt. Das Papier verschwand in den Tiefen der geheimnisvollen Tasche und das Wesen schnippte mit den Fingern seiner freien Hand. Das Geräusch ließ Hunds Ohren zucken und ein eigenartiges Kribbeln breitete sich in seinem Inneren aus. Doch Hund nieste einmal herzhaft und das Kribbeln war verschwunden.   „Erst mal sorgen wir dafür, dass Schokolade kein Problem mehr für dich ist. Das wird deinen Speiseplan in Zukunft ganz erheblich bereichern!“   Wieder gab der Nicht-Mensch diesen unbekümmerten Gluckslaut von sich, der Hund verriet, dass er ihm freundlich gesonnen war. Er gab sich Mühe, nicht in die golden glühenden Augen zu schauen, sondern stattdessen weiter das Futter in der nicht-menschlichen Hand zu hypnotisieren. Oh, wenn ihm das doch nur gelingen würde! Das Wesen kleidete sich zwar nicht in auf Hochglanz polierte Lederschuhe, sondern trug welche aus Leinen und Gummi, aber vielleicht ließ es sich auch davon überzeugen, wenn er sich unterwürfig vor ihm auf den Rücken warf? Etwas sagte Hund, dass der falsche Mensch vor ihm bereits jeden Trick auf dieser Welt kannte, sich nicht von den Schauspielkünsten eines kleinen Hundes hinters Licht führen ließ. Doch das schien auch gar nicht nötig, denn die Hand, die immer noch den soeben ausgepackten Schokoriegel hielt, befand sich plötzlich einladend direkt vor seiner Schnauze.   „Hier, Mini-Marmaduke. Wobei du ja eigentlich eher ein Strolch bist. Hau rein!“   Vorsichtig, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Schokoriegel wirklich ein Geschenk für ihn sein sollte, zog er ihn mit den Zähnen aus den Fingern des Wesens und verschlang ihn auf der Stelle mit gierigem Hapsen. Etwas Zähes, Zuckriges befand sich im Kern, klebte ihm die Kauflächen seines Kanidengebisses zusammen. Es schmeckte köstlich und es dauerte eine ganze Weile, sich nach dem Fressen die Lefzen sauber zu lecken, um seine Schnauze von den Überresten des Karamells und der Schokolade zu befreien. Anschließend richtete Hund den Blick erwartungsvoll auf seinen Gönner, immer noch wachsam und darauf bedacht, den Augen auszuweichen, während er dessen Gesicht genau studierte. Die menschlichen Mundwinkel waren zu beiden Seiten hochgezogen, die Haut über der Stirn war entspannt und glatt, und alles in allem gab das Wesen Hund immer noch keinerlei Anlass, sich vor ihm zu fürchten. Er wagte ein vorsichtiges Schwanzwedeln.   „So. Jetzt hab ich wohl deine Aufmerksamkeit. Wenn du mir hilfst, bekommst du mehr zu Fressen. Aber dafür musst du ein guter Junge sein. Bist du einverstanden?“   ‚Fressen‘ und ‚guter Junge‘ waren Zauberworte mit großer Wirkung, die Hund sehr wohl verstand. Zumindest wusste er, was ‚Fressen‘ bedeutete. Von diesem ‚guten Jungen‘ hatte er schon gehört, und dessen Erwähnung ging meist einher mit einer intensiven Streicheleinheit, verhieß demnach fast immer etwas Gutes. Sein Schwanzwedeln wurde stärker, ohne, dass er etwas dagegen tun konnte und Hund sprang auf die Beine. Zu seiner Überraschung tat das Wesen es ihm gleich, stand von der Parkbank auf und streckte sich. Hund beschloss, es als Freund zu betrachten. Immerhin war es freundlich zu ihm gewesen! Die volle Tasche baumelte nun einladend von seinem so überzeugend menschlichen Handgelenk.   „Heute ist die Welt noch ein bisschen durchgeknallter als sowieso schon“, sagte der Freund. „Wir haben Halloween. Kinder verkleiden sich und in den Geschäften sind Süßigkeiten geradezu Mangelware.“   Es klang betrübt und Hund wagte es, seinem neuen Freund mit der Schnauze aufmunternd gegen die Wade zu stupsen. Das entlockte ihm einen weiteren Gluckser von der Sorte, die Hund zu mögen begann. Es klang befürwortend, wie die Bestätigung dafür, dass Hund etwas gut gemacht hatte. Und wie jeder Hund mochte Hund das Lob eines Menschen – selbst, wenn dieses Exemplar kein Mensch war. Aber es sah aus wie einer und das reichte schon.   „Kein Problem für mich, natürlich. Ich habe vorgesorgt!“   Der Freund hielt seinen Beutel hoch, aus dem der schokoladige Leckerbissen gekommen war. Wie viele davon hatte er darin wohl noch versteckt?   „Leider ist heute auch der Tag im Jahr, in dem sich der widerlichste Abschaum, den die Menschheit zu bieten hat, aus seinen Verstecken wagt.“   Er spie diese Worte förmlich aus, klang mit einem Mal so hasserfüllt, dass Hund vor ihm zurückwich. Die kalte Wut hatte nicht ihm selbst gegolten, das konnte er spüren, doch der Zorn, der nun knisternd in der ihn umgebenden Macht mitschwang, war viel zu furchteinflößend, um nicht mit Vorsicht zu reagieren. Es war besser, ihn nicht zu verärgern, besser, dafür zu sorgen, dass sein Gönner auch sein Freund blieb. Aber das unmenschliche Wesen lachte schon wieder, auch, wenn es diesmal nicht ganz so unbekümmert klang.   „Keine Sorge, mein Junge. Ich habe Vorkehrungen getroffen. Hübscht das Leben für alle Beteiligten ein bisschen auf. Bringt Jäger, diese größenwahnsinnigen Vollidioten, auf die völlig falsche Fährte. Hält die Familie fern. Und Dads schöne neue Welt wird ein kleines bisschen sicherer, ein kleines bisschen weniger deprimierend … vor dem großen Knall.“   Die kleine Rede, von der Hund das Wörtchen ‚Junge‘ verstand (was ihn für einen winzigen Moment mit der Hoffnung auf eine Streicheleinheit erfüllte), und dass sein neuer Freund mit einem Mal bedrückt war, endete in einem Seufzer. Hund stupste ihn erneut in die kurze Wade, schmatzte beschwichtigend, als er merkte, dass er die nichtmenschliche Aufmerksamkeit wiedererlangt hatte. Ein Blick aus golden funkelnden Augen traf ihn. Die Augen zwinkerten beschwörend. Hund sah schnell wieder weg, aber es schien ihm eine angemessene Antwort auf seinen Beschwichtigungsversuch zu sein.   „Schon gut. Hör nicht auf das sentimentale Geblubber von jemandem, der seinen Kopf immer noch über den Wolken hat, wenn sein Arsch schon längst auf Grundeis gelaufen ist.“   Ratlos legte Hund den Kopf schief. Er versuchte wirklich zu verstehen, was sein Freund ihm mitzuteilen versuchte. Zu seiner Überraschung schulterte der plötzlich seine Tasche mitsamt des Schatzes, den sie beinhaltete, und ging vor Hund in die Knie.   „Weißt du, ich könnte dafür sorgen, dass du mehr von dem verstehst, was ich sage. Aber ich fürchte, das würde dich nur frustrieren.“   Seine Stimme klang sehr sanft, angenehm; der melodische Singsang unbekannter Menschenworte von einem Wesen, das kein Mensch war. Hund stieß ein befürwortendes Brummen aus, als sein Freund ihm zum zweiten Mal an diesem Abend die Hand hin hielt, diesmal, um ihn daran schnüffeln zu lassen. Er wagte es, Freund die täuschend menschlichen Finger zu lecken; ganz behutsam nur, um zu sehen, ob sein vorsichtiger Vertrauensbeweis überhaupt willkommen war. Die Reaktion darauf war ein kurzes Kraulen zwischen den Ohren, das Hund das Gefühl gab, im Umgang mit Freund auf der richtigen Fährte zu sein. Auch Freund schien allmählich Vertrauen zu ihm zu fassen! Vielleicht konnte er, ebenso wie Hund, spüren, dass sie etwas miteinander verband. Wie sonst konnte man sich jemandem so sehr verbunden fühlen, der sich in so vielerlei Hinsicht so gewaltig von einem unterschied?   Die Streicheleinheit war nahezu perfekt, hätte bloß ein Winzigkeit länger andauern können. Viel zu bald richtete Freund sich wieder auf. Er streckte seine freie Hand aus, mit der er nicht die Tasche über seiner Schulter hielt, um mit der Bewegung den Ärmel seiner Jacke über dem Handgelenk zurück zu schieben. Hund konnte erkennen, dass die Haut seines Freundes an dieser Stelle nackt war. Normalerweise kannte er die Geste von jenen übermäßig gepflegten, manchmal gönnerhaften Herren im Park, die nervös auf glitzernde oder lederne Bänder um ihre Handgelenke starrten, sobald sie ihre Sandwiches verspeist hatten. Meist bedeutete ein Blick auf ein solches Band, dass sie den Park im Laufschritt verließen und fast immer wurden sie ungeduldig, sogar wütend, wenn Hund freudig versuchte, ihnen dabei auf dem Fuß zu folgen. Sein Freund trug kein solches Band und starrte trotzdem auf sein bloßes Handgelenk, leise vor sich hin glucksend, mit erwartungsvoll erhobenen Augenbrauen, als verriete ihm der Anblick etwas, das ihm Freude bereitete.   „Tick-tack“, sagte er und schnalzte mit der Zunge, so dass Hunds Ohren in gespannter Aufmerksamkeit in Richtung des Geräuschs zuckten. „In gut zehn Minuten werden wir Gesellschaft von einem netten Herrn bekommen, der heute Abend auf eine ganz andere Art von Süßigkeiten aus ist.“   Es klang abermals hasserfüllt, gleichzeitig aber auch irgendwie genüsslich, und Freund lachte leise über seine eigenen Worte. Er lachte auf eine Art, die Hund einen Schritt vor ihm zurückweichen ließ. Nichts Einladendes oder Freundliches lag mehr in seiner Stimme. Hund bekam ein wenig Angst vor ihm. Vielleicht war Freund für ihn eine Nummer zu groß.   „Eigentlich hatte ich vor, diesem abartigen Dreckskerl die Zwillinge aus Shining auf den Hals zu hetzen. Aber wie wäre es stattdessen mit dir, Johnny-Boy?“   Freund neigte fragend den Kopf, ganz ähnlich, wie Hund es selbst getan hätte, wäre er in diesem Moment nicht zu verunsichert von dem verstörenden Stimmungswandel.   „Du bräuchtest nur ein kleines Make-Over. Ein Halloween-Kostüm, du verstehst schon! Wie wäre es mit einem Werwolf wie aus dem Bilderbuch? Nicht diese geifernden, psychotischen Frisch-Herz-Junkies, die sich da draußen wirklich rumtreiben.“   Freund legte sich einen Finger ans Kinn und betrachtete Hund, der es gewagt hatte, sich zu seinen Füßen wieder auf den Hinterbeinen niederzulassen. Der kalte Hass in Freund war nicht leicht zu ertragen, aber Hund hatte begriffen, dass er nach wie vor nicht ihm selbst galt. Abgesehen davon erschien ihm allein der Versuch einer Flucht aussichtslos. Von allem, was Hund bisher über dieses Wesen gelernt hatte, musste sein neuer Freund der Alpha dieser Welt sein.   „Hm, nein. Das hinterlässt vielleicht nicht genug Eindruck. Wie wäre es also stattdessen mit … hmm. Ha, ich weiß! Du gehst heute als Höllenhund!“   Wieder schnippte Freund mit den Fingern und ein begeistertes Glühen lag plötzlich in seinen Augen; so hell, dass Hund diesmal nicht anders konnte, als direkt hineinzusehen.   „Das ist es! Keine Sorge, mein Junge. Es tut nicht weh und ist nicht für immer. Nur die wohlverdiente Strafe für einen wirklich bösen, bösen Menschen.“   ‚Böse‘ - ein weiteres Wort, das Hund kannte. Es war gleichzusetzen mit ‚Aus!‘ und ‚Pfui!‘ und allein sein Klang war fürchterlich. Freund zu gehorchen, schien die einzige Möglichkeit, ihn wieder freundlich zu stimmen, ihn aufzumuntern, und da dieses seltsame Wesen von Anfang an so gut zu ihm gewesen war, wollte Hund nichts mehr, als ihm zu gefallen. Schwanzwedelnd sprang er auf, in gespannter Erwartung dessen, was auch immer da kommen würde.   „Halt dich bereit, Kleiner. Spiel für mich die Rolle deines Lebens!“   Freunds Stimme war gelassen und freundlich genug, um ihn zu beruhigen. Selbst, als er abermals mit den Fingern schnippte – und vor Hunds Augen verschwand. Zumindest konnte Hund sehen, wie die festen Konturen seiner Gestalt verblassten, wie ausgefranst in der immer schwerer wiegenden Dunkelheit, die das schummrige Licht der Parklaternen kaum in Schach halten konnte, bis nichts mehr von Freund zu erkennen war. Allerdings konnte Hund ihn immer noch riechen, seine gewaltige Präsenz ganz in seiner Nähe fühlen, die ihm auf eigentümliche Art Sicherheit vermittelte. Freund war noch da. Sein augenscheinliches Verschwinden ließ Hund kurz in Ratlosigkeit den Kopf neigen und er zog in Erwägung, dem Geruch aus Honig und Zucker zu folgen, der sich ein Stück von ihm zu entfernen schien.   Kinderlachen durchbrach die nächtlichen Geräusche im Park. Wie außergewöhnlich! Die Enten vom Teich hatten sich längst in ihre Schlafplätze in den Büschen zurückgezogen und nie war es bisher vorgekommen, dass ihm danach noch Kinder begegneten. Zumindest waren sie dann niemals allein. Hund zog in Erwägung, sich wieder hinter dem Mülleimer zu verstecken. Es konnte einen schon verunsichern, wenn etwas einfach so vor seinen Augen verschwand, aber so lange er sich noch auf seinen Geruchssinn und seine Ohren verlassen konnte, war er nicht allzu beunruhigt.   Die Kinderstimmen wurden lauter, kamen näher, und Hund setzte seinen Plan in die Tat um, zog sich in den Schatten zurück, aus dem heraus er vorhin erst seinen neuen Freund beobachtet hatte. Von dort aus konnte er sehen, riechen und hören, dass es sich um sehr große Kinder handelte und sie waren zu zweit. Vielleicht erklärte das, warum sich diese Kinder in Sicherheit wähnten, so unbekümmert und laut, wie sie durch die Nacht zogen. Auch sie trugen seltsame Kleidung, deren Funktion oder Bedeutung Hund nicht erkennen konnte. Eines von ihnen war von Kopf bis Fuß in weiße Mullbinden gewickelt, die mit etwas Dunklem bespritzt waren, das entfernt nach Tomaten roch.   Und plötzlich roch er auch noch etwas anderes. Jemanden – einen weiteren Menschen, der sich im Gebüsch ganz in Hunds Nähe verbarg. Es war ein äußerst strenger Geruch nach Mensch, wirklich nach Mensch, eingehüllt in ein künstliches Aroma aus Moschus, das Hund in der Nase brannte. Und der Mensch schwitzte. Adrenalin lag in den Ausdünstungen, die die unangenehme Geruchswolke zu überlagern begannen und Hund spürte, dass dieser Mensch auf der Lauer lag.   Der Park war in dieser Nacht voller Jäger. Igel, die sich durchs Laub pirschten, Marder und Waschbären, die darauf warteten, dass sie ungestört die fressbaren Schätze aus den Mülltonnen bergen konnten. Verkleidete Menschenkinder, die mit Taschen voller schokoladiger Beute durch die Dunkelheit streiften. Das menschliche Raubtier in den Sträuchern, das die Kinder nicht aus den Augen ließ, die ahnungslos in ihr Schicksal hineinschlenderten. Und über allem wachte das in Gestaltlosigkeit verborgene Alphawesen, dessen geradezu allmächtige Präsenz wie eine Drohung über dem Schauplatz schwebte, und doch nur von Hund bemerkt zu werden schien.   Hund mochte keine Kinder, aber mit einem Mal verspürte er das dringende Bedürfnis, einen Warnlaut in ihre Richtung zu geben. Achtung, seid auf der Hut! Aber bevor er sich von seinen Instinkten leiten lassen konnte, hörte er das inzwischen so vertraute Schnipsen in der Nacht. Ein Schnipsen, so unspektakulär wie der Kiesel, der den Erdrutsch auslöst, und ein gewaltiges Bellen donnerte plötzlich aus Hunds Brust hervor. Es rollte über seine Zunge und an den gefletschten Zähnen vorbei, als habe es nur darauf gewartet, aus ihm herauszubrechen. Er war selbst überrascht von dem Laut, der ihn verlassen hatte – in seinem ganzen Leben hatte sein Bellen noch nie so laut, so tief, so bedrohlich geklungen. Die Kinder erstarrten. Das Monster in der Dunkelheit ebenfalls. Und das goldene Glühen, dem Hund bisher in den Augen des Freundes ausgewichen war, war plötzlich in ihm selbst, in seinem kleinen Hundekörper, der zu wachsen schien. Irgendwo am Rande bekam Hund mit, dass die Kinder verängstigt kreischend davon rannten, raus aus dem Park, fort von dem Monster, in Sicherheit. Er wuchs und wuchs und wuchs. Hund bemerkte, dass die Parkbank neben ihm plötzlich winzig war und er von oben auf sie herabschauen konnte. Ein weiteres Grollen verließ seinen glühenden Brustkorb. Es fühlte sich großartig an und er bellte erneut, nur um des Bellens willen. Er verspürte einen Hauch von Triumph, als er ein entferntes, verschrecktes Quaken und Schnattern hörte. Doch dann richtete sich sein Blick zielgerichtet auf das Monster in den Büschen, dessen letztes Stündlein geschlagen hatte: Ein Höllenhund kam, um es zu holen.   *   Die Morgendämmerung hatte längst eingesetzt, als Hund unter der Parkbank wieder zu sich kam. Ihm war kalt und als er aufstand, um sich den Tau aus dem kurzen Fell zu schütteln, glaubte er einen enttäuschenden Moment lang, allein zu sein. Doch dann schob sich die mächtige Präsenz wieder in sein Bewusstsein und Hund drehte sich hoffnungsvoll um die eigene Achse, in freudiger Erwartung, seinen Freund und Alpha endlich wiederzusehen. Ganz am Ende des Parks, direkt am Übergang zur Straße, wo der goldene Sonnenaufgang die nächtlichen Schatten vertrieb, stand die kleine nicht-menschliche Menschengestalt und sah zu ihm herüber. Und sie pfiff. Das herrliche Pfeifen, das Freund so unbeschwert von den Lippen ging, galt diesmal wirklich und wahrhaftig ihm und als Hund begeistert auf ihn zustürmte, ging Freund in die Knie, um ihm zur Begrüßung einmal über den Kopf zu fahren.   „Gut gemacht, Kleiner.“   Freund richtete sich auf und drehte sich um, machte Anstalten, den Park zu verlassen. Hund zögerte nur kurz, sprang dann aber entschlossen auf. „Komm“, sagte Freund und nichts tat Hund lieber, denn er wusste, dass die Belohnung unermesslich groß war, wenn er der Aufforderung folgte. Es war das erste Mal, dass er nicht wieder fortgeschickt wurde, aber es war auch das erste Mal, dass es kein Mensch war, dem er nachlief.   „Du bist wirklich der perfekte Sidekick für den König aller Trickster.“   Hund konnte nicht wissen, dass am Ende ihres ersten gemeinsamen Spazierganges nicht nur ein Dach über dem Kopf auf ihn wartete und eine eigene Ecke für ihn auf dem Sofa. Er konnte nicht wissen, dass von nun an jeder Tag Leckereien für ihn bereithielt, von denen er nicht einmal zu träumen gewagt hatte; Leckereien, für die er nichts weiter tun musste, als darauf zu warten, dass Freund wieder zu ihm nach Hause kam, wenn er ihn doch einmal allein ließ. Die Zukunft, die ihm bevorstand, war voller Geheimnisse, voller verrückter Dinge, die Hund nicht verstand. Doch alles, was in diesem Moment wirklich zählte, war das Lächeln, mit dem Freund zu ihm herabsah und die tiefe Zuneigung, die in seiner Stimme lag, als er zu ihm sagte: „Braver Junge.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)