Omniscient von lady_j (YuKa) ================================================================================ Kapitel 10: Bakuten IV - Juli I ------------------------------- Später würden sie sagen, dieser Sommer war gleichzeitig der schönste und der schlimmste. Nach der Weltmeisterschaft, so dachten sie, stünde ihnen ein ganzer Monat zur Verfügung, für das was zwischen ihnen war, für das, was vielleicht noch kommen sollte. Hätten sie gewusst, dass ihnen stattdessen gerade einmal zwei Wochen bleiben sollten, sie hätten sicher vieles anders gemacht. Die BBA brachte Team Neo Borg in einem kleinen Gästehaus unter, das von einer älteren Dame, Kobayashi Yukiko, geführt wurde. Sie war zunächst nicht sehr begeistert davon, ausgerechnet drei Russen aufzunehmen, doch dann merkte sie schnell, wie nützlich diese im Haushalt sein konnten. Binnen weniger Tage waren alle ihre flackernden Glühbirnen ausgewechselt und ein paar gefährlich herumhängende Kabel erneuert. Die Kommunikation war etwas umständlich, denn die Alte sprach ausschließlich und die jungen Männer kein Wort Japanisch (selbst mit dem Namen ihrer Gastgeberin hatten sie anfangs so ihre Schwierigkeiten), sie arrangierten sich aber bald mit aussagekräftigen Handzeichen. Gleich in den ersten Tagen organisierte Daitenji einen Sprachkurs für sie, doch dieser lief eher schleppend, nur ein paar Alltagsfloskeln blieben dauerhaft hängen. Bei der BBA war einiges für sie zu tun. Boris machte den Kindern in seinen Beyblade-Kursen Angst und Bange, doch die kleinen fanden das so cool, dass sie sich einfach nicht verjagen ließen. Außerdem verdiente er sich eine goldene Nase, indem er irgendwelchen reichen Teenagern die Blades auftunte. Sergeij unterstützte ihn am ersten Tag noch bei den Kursen, fand dann jedoch heraus, wo die beim Training beschädigten Bowls repariert wurden und half lieber dort mit. Und Yuriy wurde von Kyoujyu beschlagnahmt. Dieser hatte einige neue Versuchsreihen gestartet, um die Erkenntnisse aus der Weltmeisterschaft aufzubereiten, und brauchte jemanden, der seine präzisen Anweisungen ausführen konnte. Kai hingegen wurde von der Alltagsrealität eingeholt. Zu Hause warteten nicht einer, sondern mehrere dicke Briefumschläge auf ihn, die Aufgabenblätter zur Vorbereitung auf das nächste Schuljahr enthielten. So blieb ihm nichts anderes übrig, als tagsüber so viel abzuarbeiten wie möglich, damit er seinen Notenschnitt auch im letzten Schuljahr halten konnte. Am späten Nachmittag nahm er sich das Rad, um in einem waghalsigen Tempo von Voltaires Anwesen bergab in die Stadt zu rollen und die anderen im BBA-Zentrum zu treffen. Die Abende verbrachten sie zusammen, meist in Kobayashi-sans Haus, bis die Alte Kai hinauswarf, denn sie duldete keine Übernachtungsgäste. Es war dann schon längst dunkel, wenn er sich den Berg wieder hochkämpfte, doch es war Juli und die Nächte warm. Bakuten war eine kleine Stadt; nicht so klein, dass jeder jeden kannte, aber klein genug, um aufzufallen, wenn man anders war als die meisten Leute. Neo Borg stachen zweifellos aus der Masse heraus, sobald sie sich vor die Tür wagten. Sergeij mit seinen fast zwei Metern konnte gar nicht nicht auffallen und wurde regelmäßig angehalten, weil irgendjemand Fotos mit ihm machen wollte. Boris konnte sich nur davor retten, indem er sehr, sehr böse dreinblickte, was er daher auch unentwegt tat. Und auch nach Yuriy drehten sich die Menschen auf der Straße scharenweise um, denn er war nicht nur ziemlich groß, sondern eben auch sehr blauäugig und vor allem sehr rothaarig. Selbst Kobayashi-san hatte Kai gleich am Anfang zur Seite genommen und ihn gefragt, ob das etwa alles „echt” sei. Später bekam er zufällig mit, wie sie vor den Nachbarinnen mit diesem Wissen prahlte. Es war Donnerstag, als er Max vor der BBA-Zentrale traf, wo dieser ebenfalls gerade sein Fahrrad anschloss. „Hey Kai, nettes Bike”, grüßte er. „Ich bin mit Takao und Daichi verabredet, willst du dazukommen? Man sieht dich echt wenig Bladen in letzter Zeit.” Kai lehnte ab, unter dem Vorwand, dass er viel zu beschäftigt mit seinen Lernpaketen war. In Wirklichkeit wusste er ganz genau, dass, wenn Takao und Max ihn erstmal in die Finger bekamen, sie ihn für den Rest des Tages in Beschlag nehmen würden. Wie schon so oft durchschaute sein Gegenüber ihn aber sofort. „Komm schon, Kai - Du kannst die anderen doch mitbringen. So verbringst du trotzdem Zeit mit Yuriy.” Er grinste ihn an. „Wir bladen eine Runde, und dann gehen wir bei Kyoujyus Eltern Ramen essen - na?” „Du wirst sowieso nicht locker lassen, oder?” „Nope.” „Okay, ich frage die anderen.” Max jubelte kurz und knuffte ihn noch einmal in den Oberarm, bevor er zu den Trainingshallen davonstürmte. Kai schlug die entgegengesetzte Richtung ein, lief an der Rezeption vorbei und in den hinteren Teil des Gebäudes, wo sich die Testräume befanden. Kyoujyu hatte sich dort mit der Zeit ein eigenes kleines Labor eingerichtet. Kai konnte ihn durch eine Scheibe sehen, die Tür zum Raum stand offen und so war alles zu hören, was drinnen gesagt wurde. Kyoujyu saß vor zwei großen Monitoren, seinen Laptop neben sich. Hinter dem Schreibtisch befand sich eine Arena, an der Yuriy stand. Beide hatten ihm den Rücken zugewandt und Kyoujyu beschrieb dem Rothaarigen ganz genau, in welchem Winkel er den Test-Beyblade starten sollte. Den Horror, den er noch während der Weltmeisterschaft vor Yuriy hatte, schien er komplett vergessen zu haben. „Ein bisschen höher noch, so zehn Grad, und dann den Arm ein Stück weiter nach rechts rotieren - vergiss nicht, es soll ein schneller Start werden!” Kai war sich sicher, dass Yuriy gerade heimlich die Augen verdrehte. Er grinste in sich hinein und hob die Faust, um genau in dem Moment, als sein Freund die Ripcord zog, an die Scheibe zu klopfen. Natürlich vermasselte Yuriy den Start, denn er war, genauso wie Kyoujyu, zusammengezuckt. Letzterer raufte sich die Haare und drehte sich mit einem strafenden Gesichtsausdruck zu ihm um. „Mensch, Kai! Jetzt müssen wir das alles nochmal machen!” „Ja, aber nicht mehr heute”, entgegnete Kai, der sich nun mit verschränkten Armen in den Türrahmen lehnte, „Ich bin sicher, er hat schon genug Starts für dich gemacht.” „Das ist nicht so einfach, ich messe immer eine ganze Reihe von Shoots, bei denen ich graduell Veränderungen vornehme, da kann er nicht einfach so ein paar Stunden Pause machen, sonst kommt er aus dem Flow!” „Wenn du nicht aufpasst, bekommt er ein Karpaltunnelsyndrom, dann kannst du gar nichts mehr mit ihm machen.” „Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr über mich redet, also hört bitte auf”, mischte Yuriy sich ein. Er legte den Blade und Shooter auf den Tisch. „Lass uns für heute Schluss machen, Kyoujyu. Hattest du nicht ohnehin noch was vor?” Der Jüngere starrte ihn eine Sekunde lang verwirrt an, dann schrie er plötzlich auf. „Richtig, oh mein Gott!” Er sprang von seinem Stuhl und klappte hastig seinen Laptop zu. „Wie spät ist es? Schon fast vier? Oh nein, Mist! Ich muss mich beeilen!” So ging es noch eine Weile weiter, während er verschiedene Kabel, Speicherkarten und andere Datenträger in seine Tasche stopfte. Dann drückte er Yuriy den Laborschlüssel in die Hand, damit er abschloss, verabschiedete sich und stürmte hinaus. Als sie allein waren, zog Kai langsam eine Augenbraue hoch. „Hat er ein Date?” „So ähnlich”, antwortete Yuriy, „Er erzählt ständig was von einem Idol, eine Sängerin, glaube ich. Irgendwas war heute, weshalb er pünktlich nach Hause wollte. Eine Liveübertragung im Fernsehen oder so. Ich konnte nicht alles verstehen, seine Aussprache ist nicht die beste - und das will was heißen, wenn ich das sage.” Kai hob nur die Schultern und grinste. Er fand Yuriys russischen Akzent, der sehr deutlich hervortrat, wenn er Englisch sprach, ziemlich sexy. Seine Stimme war wie eine raue Katzenzunge, auf eine sehr angenehme Art und Weise. Dass Kyoujyu überhaupt im Bilde war, welche Sternchen gerade angesagt waren, hatte er hingegen nicht gewusst - aber irgendwie verwunderte ihn sein Fangehabe auch nicht. Auf eine verquere Art passte es. Sie machten sich auf den Weg, um Boris und Sergeij zu suchen, die ebenfalls für heute fertig sein mussten. Am frühen Abend wurden die Trainingshallen immer zu voll, um Kurse zu geben, und momentan wurden sie regelmäßig von Fans eingekesselt. Die Wirkung des Finales hatte noch längst nicht nachgelassen. Es war also klar, dass ihre Teamkollegen keineswegs irgendwo in der Nähe des Eingangs auf sie warteten, im Gegenteil. Sie versuchten es zuerst bei der Feuertreppe und wurden sofort fündig. Boris und Sergeij hockten dort, Zigarette im Mundwinkel und eine Tüte Sonnenblumenkerne zwischen sich. „Ihr seid solche Gopniki”, urteilte Yuriy, „Was sollen denn die Leute denken?” „Tu doch nicht so fein, du willst doch bestimmt auch ein paar” Boris hielt ihm die Tüte hin und Yuriy griff tatsächlich hinein. Währenddessen wanderte Boris’ Blick zu Kai. „Sag mal, Hiwatari, kann es sein, dass du jeden Tag dünner wirst?” „Kann sein, dass dich das nichts angeht, Kuznetsov”, gab Kai zurück. Wahrscheinlich lag der Eindruck vor allem an den Klamotten, die er trug. Eines stimmte aber: Die letzten Weltmeisterschaftskämpfe hatten seinen Körper buchstäblich aufgezehrt. Vermutlich lag es an Suzaku, die ihn belastete. Er hätte rund um die Uhr essen müssen, um diesen Effekt aufzuhalten. Auch jetzt noch war ihr Einfluss auf ihn stärker als normalerweise, nur langsam begann sich wieder alles einzupegeln. Da er aber nun einmal gerade andere Sorgen hatte, hatte er beschlossen, seine körperliche Verfassung fürs erste zu ignorieren. „Habt ihr Daitenji heute gesehen?”, fragte Yuriy, den Mund voller Kerne. Sergeij hielt ihm eine Tasse für die Schalen hin, natürlich konnten sie die in Japan nicht einfach auf den Boden spucken. „Heute nicht”, antwortete Boris, „Er scheint fast nur in irgendwelchen Meetings zu sein.” „Hm.” „Du kannst sicher einen Termin bei ihm bekommen”, schlug Kai vor, doch Yuriy zuckte die Schultern. „Schon gut. Ich wollte nur wissen, was er macht.” „Hm”, machte nun seinerseits Kai, doch sein Freund schien nicht gewillt, sich zu erklären. Also wechselte er das Thema und wiederholte Max’ Einladung in die Trainingshalle. Seine Teamkollegen waren davon wenig begeistert. „Ich habe heute 362 Starts gemacht”, sagte Yuriy, „Dreihundertzweiundsechzig! In vier Stunden! Ich habe definitiv genug gebladet - und ja, diese Worte aus meinem Mund! Streicht euch den Tag rot an.” „Ich glaube, wir könnten alle mal eine Pause vertragen”, brummte Sergeij. „Wollen wir nicht morgen frei nehmen? Ich würde gern nach Tokio fahren.” Sergeij traf tatsächlich einen Nerv. Boris hatte sowieso genug von den Kids und Yuriy nur auf eine Gelegenheit gewartet, um Kyoujyus ausufernden Versuchsanordnungen zu entkommen. Tatsächlich hing es nur an Kai, der etwa zwei Sekunden mit sich und der Frage, ob er die verlorene Zeit zum Pauken aufholen konnte, rang. Und so nahmen sie am Freitag den Zug nach Tokio. Sie hatten nicht wirklich einen Plan, doch Kai fand, dass Shibuya und Shinjuku für einen ordentlichen Kulturschock reichen würden. Er behielt Recht und erhielt obendrein einen kleinen Bonus: Noch nie hatte er einen solchen Ausdruck auf Boris’ Gesicht gesehen. Sein Teamkollege bekam den Mund gar nicht mehr zu. Ihn endlich einmal sprachlos zu erleben, nach all den Zankereien zwischen ihnen, war Balsam für Kais Seele. Nachdem sie ein, zwei Stunden durch die Straßen gelaufen waren, nur, um die schiere Größe und Belebtheit dieser Stadt zu erfassen, schlug Sergeij vor, zum Meiji-Schrein zu gehen. Es stellte sich heraus, dass er sich schon längst über Tokio belesen hatte und eine ganze Reihe von Sehenswürdigkeiten besuchen wollte. Boris versuchte, einen Witz darüber zu machen, doch der passte nicht, da er selbst zu beeindruckt von seinem Teamkollegen war. Als schon halb beschlossen war, dass sie sich auf den Weg zum Schrein machen würden, hakte Kai sich bei Yuriy unter, um ihn ein Stück zu sich zu ziehen. „Willst du dorthin?”, flüsterte er ihm ins Ohr, „Oder soll ich dir noch was anderes zeigen?” „Gibt es dort wo du hinwillst Koffein?”, stellte sein Freund die Gegenfrage. „Zufälligerweise ja.” Während ihrer kleinen Unterredung waren Boris und Sergeij schon fast zwischen den anderen Menschen verschwunden. Sergeij schien genau zu wissen, wo er hinmusste. „Ich glaube, sie kommen ohne uns zurecht”, meinte Yuriy, „Ich kann Boris ja auch eine SMS schreiben.” „Sehr gut, komm!”, sagte Kai und zog ihn in die entgegengesetzte Richtung. Er lotste den Rothaarigen durch ein paar Straßen und Gassen, bis sie schließlich in Shinjuku ni-chome landeten. Das Viertel war tagsüber etwas verschlafener als abends, denn die vielen Bars, die es hier gab, waren noch geschlossen. Dennoch wanderten einige Touristen herum. „Wo zur Hölle willst du mit mir hin?”, fragte Yuriy irgendwann. Vielleicht hatte er die einschlägigen Werbeposter entdeckt, die manchmal hier hingen. „Wir sind schon da”, entgegnete Kai und blieb vor einer Fassade mit großen Fenstern stehen. „Ein Café?”, fragte der andere, doch Kai hob den Zeigefinger. „Ein queeres Café. Na los, rein mit dir.” Er hatte einen nicht unerheblichen Teil seiner Freizeit an diesem Ort verbracht. Es war seine Anlaufstelle, wann immer ihm in Bakuten (oder bei Hiwatari Enterprises) die Decke auf den Kopf fiel. Das Café war modern und schlicht eingerichtet und die Barista verstanden etwas von ihrem Job. Es gab immer ein paar Leute, die einfach nur an ihren Tischen arbeiteten. Oder Grüppchen, die miteinander abhingen. Da es ein beliebter Anlaufpunkt für Dates war, sah man auch viele Paare - in verschiedenen Konstellationen. Und sobald der Tag dem Ende zuging bestanden gute Chancen auf einen Flirt, vor allem für die Jüngeren, die noch nicht in Bars reingelassen wurden. Den Typen hinter dem Tresen hatte er vorher noch nie gesehen, aber ein Mädchen in der Küche winkte ihm zu. „Hey Kai, wo warst du denn so lange?”, rief sie. Ein paar andere Gesichter waren ihm auch bekannt - man traf hier schnell immer wieder auf dieselben Leute. Sie bestellten sich Kaffee und setzten sich in den hinteren Teil des Raumes, Kai mit dem Rücken zur Tür. Er beobachtete Yuriys Reaktion auf die neue Umgebung. Sein Freund sah sich neugierig um und schien recht angetan von dem, was um ihn herum passierte. „Schön hier”, urteilte er, „Ich bin nicht sicher, ob besser als der Schrein, aber schön.” „Ich sag dir, warum es besser ist als der Schrein”, entgegnete Kai, „Ich kann das hier machen.” Mit diesen Worten beugte er sich über den Tisch und hauchte dem anderen einen Kuss auf die Lippen. Und so hatten sie ihr erstes richtiges Date. Es tat gut, wieder etwas Zeit für sich zu haben. In den letzten Tagen waren meist auch Boris und Sergeij da, und überhaupt war so viel Neues für Neo Borg im Gange, dass sie kaum einmal zu Ruhe gekommen waren. Sie einmal getrennt voneinander anzutreffen, musste momentan an ein Wunder grenzen. Kai war froh, dass Yuriy sich nun entspannte. Sie sprachen über seinen Eindruck von Japan, über Kobayashi-san und die Wohnung und über Kyoujyus verrückte Experimente. Irgendwann verschränkten sich ihre Hände auf der Tischplatte und es war schön, einfach nur so dazusitzen. „Ich habe übrigens mit Max und Takao gesprochen”, sagte Kai irgendwann, „Sie sagen, dass Daitenji im Moment wirklich viel unterwegs ist. Es ist also nicht verwunderlich, dass du ihn nie zu Gesicht bekommst.” „Hm”, machte Yuriy, „Weißt du, wo er sich herumtreibt?” Kai legte den Kopf schief. Sein Leader hatte nie ein besonderes Interesse am Leiter der BBA gezeigt und es war ein wenig seltsam, dass er nun damit anfing. Aber er kannte auch nicht alle Details der Absprachen, die der Alte mit Neo Borg getroffen hatte. „Die BBA funktioniert ein bisschen wie Hiwatari Enterprises”, sagte er schließlich, „Es gibt einen Chef, aber eben auch ein Board von Leuten, die irgendwie Anteile an der Firma haben. Wahrscheinlich rennt Daitenji gerade von einem zum anderen, um die Ergebnisse der Weltmeisterschaft zu präsentieren. Könnte mir vorstellen, dass es Möglichkeiten für neue Deals gibt, vielleicht ein paar Ankäufe oder Verträge mit Partnern. Wir wurden ja alle ziemlich gefeiert in den Medien. Kann sein, dass du etwas warten musst, bis du wieder einen Termin bei ihm bekommst.” „Ach, darum geht es mir gar nicht”, entgegnete Yuriy, „Es interessiert mich nur, was er so treibt. Meinst du, wir bekommen etwas davon mit, wenn sich etwas bei der BBA verändert?” „Früher oder später schon”, antwortete Kai und wiegte den Kopf, „Daitenji bemüht sich eigentlich immer, den Bladern möglichst früh alles mitzuteilen.” „Ah. Gut.” Mit diesen Worten schien das Thema für Yuriy geklärt, denn er hob die Tasse, um einen Schluck zu trinken. „Das ist echt guter Kaffee!” Kai kam nicht dazu, noch einmal nachzuhaken. Sein Handy, das auf der Tischplatte lag, vibrierte kurz. Er warf nur einen nachlässigen Blick darauf, doch als er den Namen auf dem Display sah, zog er überrascht die Augenbrauen hoch. Dann klappte er das Gerät auf. Wer ist denn dieser hinreißende Rotschopf, den du da bei dir hast? XO, stand dort. Kai hob den Kopf und sah sich verstohlen um, entdeckte den Absender jedoch nicht. „Yuriy”, sagte er deswegen, „Kannst du mal unauffällig checken, ob irgendwo hinter mir ein großer Typ mit dicken Oberarmen und Brille ist?” „Das muss ich gar nicht”, entgegnete der andere, „Steht am Tresen. Hat mir vorhin zugezwinkert. Wieso?” „Der Arsch”, murmelte Kai und drehte sich auf seinem Stuhl. Tatsächlich. Dort war der Kerl und nahm einen Pappbecher Kaffee entgegen mit diesen großen, gepflegten Händen, die Kai vor gar nicht allzu langer Zeit ziemlich schwach gemacht hatten. Als der andere seinen Blick bemerkte, winkte er ihm zu und grinste. Kai lächelte und zeigte ihm den Mittelfinger. „Das ist mein Ex”, erklärte er, als er sich wieder zu Yuriy umwandte. Der starrte nun doch ganz unverhohlen. „Das ist der dunkle Lord?” „Ja. Tut mir Leid, ich hätte ahnen müssen, dass er hier auftauchen könnte.” Er behielt für sich, dass dies überhaupt erst der Ort war, an dem sie sich kennengelernt hatten. „Willst du gehen?” „Nein. Es ist ein bisschen komisch, dass er mit mir flirtet, aber das kann ich ignorieren.” Die Frage war eher, ob Kai das ignorieren konnte. Sein Freund lehnte sich zurück und sah ihn belustigt an. „Soso, Jurastudenten mit dicken Oberarmen und Dreitagebart also.” „So wie du das sagst, klingt es plötzlich ziemlich pervers.” „Keine Sorge. Ich frage mich nur, wie ich in dieses Schema passe.” Kai ließ sich Zeit mit der Antwort. Derartige Metagespräche über sein Liebesleben zu führen war noch ziemlich neu für ihn, vor allem, da er zunächst einmal behaupten würde, kein Schema zu haben. Andererseits hatte er seit einiger Zeit das Gefühl, dass Yuriy ihm zunehmend solche Fragen stellte, vielleicht auch, um sie mit seinen eigenen Ansichten abzugleichen. „Eigentlich mache ich mir darüber keine Gedanken”, sagte er schließlich, „Aber Max ist der Meinung, mein Schema wäre, ich zitiere” Er hob während er sprach der Reihe nach drei Finger, „Größer als ich, älter als ich, zeigt mir wo es langgeht. Und, naja, da passt du schon rein.” „Hast du gerade zugegeben, dass du auf mich hörst?”, fragte Yuriy, „Und da dachte ich, das liege an meinen unvergleichlichen Fähigkeiten als Teamcaptain.” Kai hob die Schultern, dann sank er ebenfalls zurück gegen die Stuhllehne, nicht ohne zuvor noch einen flüchtigen Blick über die Schulter zu werfen. You Know Who war zum Glück bereits gegangen, und er entspannte sich wieder. Er fragte sich, ob er den Frauen, mit denen Yuriy etwas angefangen hatte, auch irgendwie ähnlich war. Eine Weile haderte er mit sich, ob er diesen Gedanken laut aussprechen sollte, doch dann kam Yuriy ihm zuvor: „Hattest du Sex mit ihm?” Kai öffnete den Mund, bevor er überhaupt wusste, was er antworten sollte, und da er so schnell keine Worte fand, starrte er einen Augenblick lang nur. „Uhm”, machte er langgezogen, „Definiere … Sex?” „Naja, Sex halt.” Jetzt war es Yuriy, der unsicher wirkte, „Ich meine, was - „ „Ich hab ihm einen Blowjob gegeben”, unterbrach Kai und nahm seine Tasse. Während er trank, entschied er, dass dieser Moment genauso gut war wie jeder andere, um weiter ins Detail zu gehen. „Ich hatte schon Sex”, stellte er deswegen klar. „Ich meine, mehr als das eben. Es gab da eine Person vor, Gott, zwei Jahren? Wir haben eine Zeitlang oft miteinander rumgehangen, und dann ist es halt passiert, weil wir beide keinen Bock hatten, zu warten, bis es irgendwann auf uns zukommt.” Er war nicht stolz darauf, ärgerte sich aber auch nicht darüber, wie es gelaufen war. Sie hatten es danach noch ein paar Mal getan, bevor sie sich aus den Augen verloren hatten. Und jetzt war er nur froh, einen Haken an diese Sache machen zu können. Zum Glück schien sein Freund ihn nicht verurteilen zu wollen. „Bei mir war es auch nicht so spannend”, erzählte er. „Es war nach der Abtei. Ich war betrunken, sie war betrunken - ganz ehrlich, ich weiß nicht einmal, ob es wirklich passiert ist. Und so was passiert mir wirklich selten. Jedenfalls waren wir am nächsten Morgen der festen Überzeugung, dass wir miteinander geschlafen haben, und dann haben wir es gleich nochmal gemacht - also war spätestens da alles geklärt.” „Klingt, als wären wir beide richtig große Romantiker”, sagte Kai und verzog den Mund. Yuriy lachte leise. In diesem Moment erinnerte Kai sich daran, wie sie in Kairo zusammen in der engen Duschkabine gestanden hatten. Kaltes Wasser war über sie gelaufen und hatte ihn geschockt, denn sein Körper war so warm gewesen dank Suzaku. Dann hatte er zum ersten Mal Yuriys Haut an seiner gespürt und während sie sich sehr lange geküsst hattet, wussten sie doch nicht, wohin ihre Hände durften und wohin nicht. Selbst jetzt war er sich noch nicht immer sicher, ob er das richtige tat, aber bisher schien es zumindest nicht falsch gewesen zu sein. Und wenn Yuriy ihn berührte, war es in den meisten Fällen sogar sehr erwünscht. „Kai?” Er fühlte Yuriys Hand an seiner und sah zu ihm auf. „Sollten wir miteinander schlafen?” Er legte den Kopf schief, so wie sein Freund die Frage gestellt hatte klang es seltsam, aber er glaubte, zu wissen wie sie gemeint war. Was Yuriy soeben ausgesprochen hatte, hatte er schon sehr, sehr oft gedacht. Und nie gewusst, ob er es so direkt sagen konnte. Obwohl er seit geraumer Zeit sicher war, dass er irgendwann mit einem Mann schlafen würde, hatte er auch ein wenig Angst davor. Was, wenn irgendetwas schief ging? Wenn es einem von beiden wehtat, und zwar so sehr, dass man es nicht einfach ignorieren und weitermachen konnte? Vielleicht mussten sie beim ersten Mal ja auch gar nicht in die Vollen gehen - es würde das Ganze einfacher zu bewältigen machen. „Ja, warum nicht?”, sagte er also und schickte den Worten noch ein Lächeln hinterher, „Aber ich warne dich: So viel Erfahrung mit Männern habe ich dann doch nicht.” „Wie praktisch; geht mir genauso.” Yuriy grinste und Kai verdrehte die Augen. „Aber im Ernst… Wir können doch einfach ausprobieren, was uns gefällt - oder?” „Sicher. Solange wir genug Gleitgel und Kondome haben.” „Ich weiß, wo Boris’ Vorrat ist.” „Oh mein Gott.” Kai verzog das Gesicht, dann steckte Yuriys Lachen ihn an. Einige der anderen Gäste drehten sich zu ihnen um, sodass sie sich schnell über ihre Tassen beugten und versuchten, leiser zu sein. Kai starrte auf die Tischplatte, doch er nahm sich vor, dieses Bild von eben, wie Yuriy lachte, nicht zu vergessen. Lächelnd drehte er die Tasse in den Händen. „Worüber denkst du nach?”, fragte Yuriy. „Ach… Ich dachte nur, wie krass es ist, hier mit dir zu sitzen. Hätte mir das jemand vor ein paar Wochen gesagt… Ich meine…” Er unterbrach sich kurz und sah auf. „Warum ich, Yuriy? Ich habe nie ganz mitbekommen, wann du gemerkt hast, dass du mehr von mir willst.” „Oh, ich glaube, das war irgendwann zwischen ‘Ohne mich könnt ihr dieses Turnier nicht gewinnen’ und ‘Es tut mir leid, dass ich das Battle gegen Sumeragi vergeigt habe’”, antwortete Yuriy und lachte angesichts Kais pikierter Miene schon wieder. „Und wenn du wissen willst, warum…” Er stützte das Kinn in die Hand. „Hm, schwer zu beschreiben. Vielleicht, weil du immer so schön Konter gibst, wenn Boris dich beleidigen will. Vielleicht, weil weder der sibirische Winter noch ein Schlag ins Gesicht noch eine Niederlage deinen Stolz brechen können. Oder, weil du mit deinen Bladebreakers auf der Tanzfläche ziemlich peinlich zu ‘eurem’ Song abgehst, obwohl du sonst der coolste Typ der Welt bist.” Er schnaubte kurz. „Und hübsch bist du bei alledem auch noch, also was soll die Frage?” „Also hübsch ist so ziemlich der letzte Begriff, mit dem ich mich selbst beschreiben würde”, murmelte Kai. „Verzeih, du bist natürlich ein ganzer Mann, so wie Vin Diesel, quasi.” „Was, du kennst Vin Diesel, aber von Labyrinth hast du noch nie was gehört? Du hast echt eine selektive Wahrnehmung.” „Fängst du schon wieder damit an? Was ist so besonders an diesem Film?” „Vier Worte”, sagte Kai und stieß seinen Zeigefinger im Takt auf die Tischplatte. „David Bowie in Strumpfhosen.” Yuriy kniff die Augen zusammen und ließ den Blick über ihn wandern. Vielleicht versuchte er immer noch, sich ein Bild von Kais Männergeschmack zu machen. Dabei gab es da gar nicht viel zu verstehen: You Know Who fand er auf rein körperlicher Ebene attraktiv. Er hatte ihn anfassen wollen, diesen sehr großen und sehr harten Körper spüren und endlich einmal herausfinden, wie es war, jemandem zumindest in diesem Bezug unterlegen zu sein. Klar, smart war sein Ex auch, aber eher auf die langweilige Art, was längerfristig nichts brachte. Kai hörte gern zu; wenn jemand gut reden konnte, wurde er schwach. Er mochte den Klang bestimmter Stimmlagen. Und äußerliche Attraktivität entstand für ihn vor allem dadurch, wie jemand sich bewegte, wie diese Person sich gab. Eine selbstvergessene Geste konnte ihn mehr in den Bann schlagen als ein ebenmäßiges Gesicht. „Erinnerst du dich an Kolja?”, fragte Yuriy plötzlich und riss Kai aus seinen Gedanken. „Nikolai Petrowitsch? Er war in der Abtei. Ein paar Jahre älter als wir.” Er dachte nach, dann tauchte ein Junge aus den tiefen seines Gedächtnisses auf. Blond, breitschultrig, ziemlich stark. „Ja, glaube schon”, sagte er. Dann runzelte er die Stirn, suchte nach noch mehr Erinnerungen. „Ah, Kolja, klar. Der, der immer Zigaretten vertickt hat, oder? Sergeij hat ständig mit ihm herumgelungert.” „Genau.” Yuriy hielt einen Moment inne. „Der hatte verdammt schöne Augen.” „Ah. Das weiß ich nicht mehr”, sagte Kai, doch er schmunzelte. „Weißt du, was aus ihm geworden ist?” „Nein. Er hat die Abtei verlassen, als er alt genug war. Ich glaube, er ist zur Armee gegangen.” Wie immer, wenn sie auf die Abtei zu sprechen kamen, drückte es die Stimmung. Sie wussten beide, dass es so gut wie unmöglich war, herauszufinden, wo Kolja mit den schönen Augen jetzt war. Oder ob er überhaupt noch lebte. Doch bevor sie allzu tief in ihren düsteren Gedanken versinken konnten, klingelte erneut ein Handy, diesmal Yuriys. „Oh oh”, machte er, bevor er abnahm, „Borjuschka! Was ist los?” Er sah Kai mit hochgezogenen Augenbrauen an, während Boris’ Stimme selbst für letzteren noch zu hören war, so laut sprach er. Anders als erwartet klang ihr Teamkollege jedoch nicht erbost über ihre lange Abwesenheit, sondern ziemlich aufgeregt. Yuriys Miene wurde starr und Kai legte die Hand auf seinen Unterarm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Was ist los?” Yuriy ließ das Handy sinken. „Daitenji wurde rausgeschmissen”, sagte er, „Und die BBA ist verkauft.” Es war wie der sprichwörtliche schlechte Traum. Kaum dass der Wechsel an der Spitze der BBA bekannt wurde, rissen sie das alte Trainingscenter ab. Selbst Kai tat der Anblick der Brachfläche weh; er hatte sich sehr oft über dieses viel zu kleine und viel zu alte Gebäude geärgert, doch es war nun einmal immer die einzige Anlaufstelle für sie als Blader gewesen. Manchmal hatte er sogar heimlich dort übernachtet, wenn sowohl Takao als auch Voltaire zu viel für ihn waren. Und jetzt war das alles - weg. Sie versuchten ihr bestes, irgendetwas in Erfahrung zu bringen. Kai tauschte sich mit den anderen Bladebreakers aus, doch diese wussten genauso wenig wie er. Als er seinen Teamkollegen davon erzählte, wurde Yuriy noch fahriger als ohnehin schon; es war nicht zu übersehen, dass er seit Schließung der BBA komplett neben sich stand. Er fing an, ständig Nachrichten auf seinem Handy zu tippen, etwas, das er sonst nie tat. Man sah ihn für gewöhnlich sowieso nie mit einem Telefon in der Hand, nun war es quasi immer präsent. Während er auf dem Gerät herumdrückte, ließ sich von Nervosität bis Zorn eine ganze Bandbreite von Emotionen in seinem Gesicht ablesen. All das führte sogar so weit, dass Boris Kai zur Seite nahm und darauf ansprach, doch der konnte sich auch keinen Reim darauf machen. Yuriys Verhalten machte die ganze Situation noch schlimmer, denn mit ihm fehlte der Ruhepol des Teams. Selbst Sergeijs Nervenkostüm schien darunter zu leiden, seine Aura war wie die eines Vulkans kurz vor dem Ausbruch. Es hätte Kai nicht gewundert, wenn ihm irgendwann einfach die Hand ausrutschen würde, sobald ihn jemand unerwartet berührte. Also machte er lieber einen Bogen um ihn, und um Boris sowieso. Wenn es Yuriy schlecht ging, ging es Boris zum Kotzen. Als hätte er alle Stabilität verloren. Boris verstand nicht, was mit ihrem Teamchef los war, und er war derjenige, der dies am allerwenigsten akzeptieren konnte. Ein paar Mal wirkte es, als wolle er sich einfach auf Yuriy stürzen und sein Geheimnis aus ihm herauspressen. Kai konnte es ihm nicht verübeln. Er selbst versuchte, seinen Freund für ein klärendes Gespräch beiseite zu nehmen, doch der wich ihm jedes Mal aus. Es verletzte ihn, ja, aber er schluckte seinen Frust herunter und wartete. Ihnen blieb eh nichts anderes übrig als zu warten, Tag um Tag um Tag. KNN übertrug alle Entwicklungen zuverlässig und quasi in Echtzeit, also saßen sie, wenn sie sich nicht irgendwo anders nach Neuigkeiten und Gerüchten umhörten, in Kobayashi-sans Haus vor dem Fernseher. - Bis Yuriy plötzlich aufsprang und fluchte. Während ihre erstaunten Blicke ihm folgten, hob er sein Handy zum Ohr und starrte zu ihnen zurück, seine Miene unleserlich bis auf die Frustration, die sie alle fühlten, dann wurde am anderen Ende der Hörer abgehoben. „Vanja!”, rief Yuriy, „Was zur Hölle machst du die ganze Zeit? Sag mir endlich, wo er ist, verdammt!” Sergeij und Boris sahen sich an, Sergeijs Mund formte noch einmal den Namen Vanja. Warum rief Yuriy Ivan drüben in Russland an? Sie beugten sich vor und Kai stellte den Fernseher auf stumm. Yuriy allerdings beachtete sie schon nicht mehr. „Was soll das heißen, du hast ihn verloren?” Es entstand eine Pause, als Ivan sprach. „Schelesnogorsk? Meine Güte, da gibt es doch gar nicht so viele Möglichkeiten… Was ist mit Anatolij, vielleicht weiß der was… Hm, ja, das hätte ich auch zuerst angenommen… „ Während Ivan redete, begann Yuriy im Zimmer auf und ab zu gehen. Als er sich erneut in ihre Richtung drehte, biss er nervös auf seine Unterlippe. Was auch immer Ivan zu berichten hatte, es war nichts Gutes. „Wann?... Scheiße… Ja, ja, versuch das. Und bete, dass er dort auftaucht. Wenn nicht… Ja. Ich rufe dich an. Bis dann.” Er beendete das Gespräch und starrte ins Leere, das Telefon immer noch in der Hand. Dann ließ er sich zurück auf die Tatami-Matten fallen und strich sich durch die Haare. Auf einmal sah er müde und ausgezehrt aus, viel schlimmer noch als nach dem Finalmatch. „Yuriy”, sagte Sergeij sehr ruhig, „Was ist los?” Ihr Leader sah sie alle der Reihe nach an, sein Mund bewegte sich, doch er schwieg. Was auch immer er gerade in Erfahrung gebracht hatte, er schien eine Weile zu brauchen, um die Informationen selbst verarbeiten zu können. „Rede endlich!” Boris’ Stimme war lauter als die seines Teamkollegen. Es wirkte, als hätte er Yuriy am liebsten gepackt und geschüttelt, damit er aus seiner Lethargie erwachte. „Seit Wochen warte ich, dass du mit der Sprache rausrückst und mir erzählst, was du die ganze Zeit treibst - sieh mich nicht so an, denkst du, ich merke nichts von deiner Geheimnistuerei? Du hättest mich während des Turniers nicht auf die Bank setzen dürfen, wenn du nicht wolltest, dass ich dich beobachte! Und Vanja weiß davon? Ausgerechnet Vanja? Was zur Hölle geht hier vor sich?” Kai hielt sich zurück. Er beobachtete die Szene vor sich: Yuriy, der offensichtlich nach einem letzten Ausweg suchte, um nicht aussprechen zu müssen, was er wusste; der aber erkennen musste, dass Boris ihn nicht davonkommen lassen würde. Sein Team würde keiner seiner Ausreden mehr Glauben schenken, er hatte ihre Geduldsfäden zum wahrscheinlich ersten Mal überspannt. Warum war er nicht einfach für das Telefonat nach draußen gegangen? Nun, es war sowieso vorbei, vielleicht hatte er das schon geahnt. Jetzt griff Boris wirklich nach Yuriys Shirt. Er hielt ihn nur fest, als hätte er Angst, dass ihr Leader aufspringen und verschwinden könnte, doch der sah einfach nur mit versteinerter Miene zu ihm auf. Boris beugte sich noch ein Stück vor. „Rede.” Und zum ersten Mal schaffte Yuriy es nicht, seinem Blick standzuhalten. Er senkte den Kopf und griff nach Boris’ Hand, um sie von seiner Kleidung zu lösen. „Ist ja gut”, murmelte er. Boris sank wieder zurück in den Schneidersitz und Sergeij und Kai kamen etwas näher, sodass sie alle um den niedrigen Tisch herum saßen, während der Fernseher unbeachtet hinter ihnen flimmerte. Eine seltsame Stille breitete sich aus, während Yuriy nach Worten suchte; irgendwo weiter hinten im Haus hantierte Kobayashi-san laut herum. Yuriy holte tief Luft. Dann stieß er sie wieder aus, ohne gesprochen zu haben. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.” „Vielleicht erklärst du uns, was du mit Vanja im Schilde führst”, schlug Sergeij vor. „Gut.” Yuriy sah erst ihn, dann Boris an. „Vanja beobachtet Volkov.” Kai war genauso überrascht wie seine Teamkollegen. „Aber Volkov ist im Knast!”, entfuhr es Boris, doch seine Stimme klang bereits, als würde er sich selbst nicht mehr glauben. Und Yuriy schüttelte langsam den Kopf. „Er ist frei. Schon seit einer ganzen Weile. Fragt mich nicht, wie er das geschafft hat, wahrscheinlich hat er irgendwelche Lügenmärchen erzählt und mit Geld gewedelt. Dann haben sie ihn klammheimlich rausgelassen.” „Und woher weißt du davon?” Yuriy seufzte. „Er hat mich kontaktiert”, antwortete er, „Das muss eines der ersten Dinge gewesen sein, die er draußen getan hat. Wir waren noch in Moskau und mitten in der Therapie. Er rief mich an und fragte, ob ich… zurückkommen will.” Dabei verzog er den Mund. „Zurückkommen”, wiederholte er. Kai lief allein bei der Vorstellung von Volkovs Stimme ein Schauer über den Rücken. Dessen Beweggründe lagen für ihn klar auf der Hand: Yuriy war immer sein Liebling gewesen. Er musste glauben, dass sein bester Schüler sich nichts sehnlicher wünschte, als die guten alten Abteizeiten wieder aufleben zu lassen. Da hatte er die Rechnung allerdings ohne Takaos Charme gemacht, der schon längst auf Team Borg wirkte. „Ich habe ihm gesagt, dass er sich ficken soll”, sagte Yuriy wie zur Bestätigung, „Ich frage mich bis heute, wie er nur denken konnte, dass… Ach, lassen wir das. So wusste ich jedenfalls, dass er auf freiem Fuß war, und ich war mir damals schon sicher, dass er irgendwann wieder irgendetwas versuchen würde. Also habe ich ihn beobachtet. Boris, Sergeij.” Wieder sah er sie direkt an. „Ich konnte es euch nicht sagen. Unser Leben war schon so schwer genug. Ivan wusste es zuerst auch nicht. Aber dann wurde es immer komplizierter, Volkov im Auge zu behalten. Ich habe also alle Abteijungen kontaktiert, die ich kannte, vor allem die, von denen ich wusste, dass sie nicht so schlimm dran waren wie wir. Ihr wisst ja, wie weit wir verstreut sind. Einige haben mir geholfen - Vadim in Omsk, Ljoscha in Krasnodar, Jewgenij in Wladiwostok und noch ein paar andere. Wir konnten seine Spur von Moskau nach Noworossijsk verfolgen, dann ist er weiter nach Osten gezogen. Als Vanja dazukam, war er gerade in Tscheljabinsk und ich dachte, er würde sich irgendwo in Sibirien ein Versteck für den Rest seines Lebens suchen. Vanja hat mitbekommen, wie ich mit den anderen telefoniert habe.” Yuriys Mund verzog sich sehr kurz zu einem Grinsen. „Natürlich wollte er dann auch mitmachen. Er meinte, es sei schon okay, weil er ja nicht mehr bladet. Als würde ihn das vor irgendetwas schützen.” Sie seufzten kollektiv, als sie an Ivan dachten. Kai kannte seine Geschichte nur zum Teil. Fakt war, dass er zu viele Narben, innerlich wie äußerlich, von der Abtei behalten und deswegen den Sport aufgegeben hatte. „Jedenfalls haben wir es Vanja zu verdanken, dass wir von seinen Plänen erfahren haben”, sagte Yuriy, „Zusammen mit Ljoscha hat er es irgendwie geschafft, seinen E-Mail-Account zu hacken. Ein paar Tage lang konnten sie mitlesen, bevor er es gemerkt hat. Doch jetzt haben wir seine Spur komplett verloren.” Noch einmal strich er sich fahrig durchs Haar. „Das letzte Mal haben wir ihn in Schelesnogorsk aufgespürt. Vielleicht ist er von dort einfach in die Taiga abgetaucht, dann wäre er kein Problem mehr für uns. Aber wenn mein Verdacht richtig ist, tut er das genaue Gegenteil.” Kai, der inzwischen ahnte, worauf das alles hinauslief, stützte die Arme auf den Tisch und kam näher. „Hat Volkov was mit dem Verkauf der BBA zu tun?”, fragte er. „Ganz ehrlich: Ich bin nicht sicher”, sagte Yuriy, „Aber es gibt einige Zeichen, die darauf hindeuten.” Er machte eine kurze Pause. „Während wir beide schon in Irkutsk waren, hat Vanja noch mehr Nachforschungen angestellt und unter anderem mit Ralf Jürgens gesprochen. Jürgens hatte keine Ahnung, aber Vanja fand heraus, dass Barthez mit Volkov angebandelt hat.” Als er das sagte, wurde Kai einiges klar: Warum Barthez Yuriy in Kairo so provoziert hatte. Und warum Yuriy dessen Team so zutiefst verabscheute, obwohl Miguel und die anderen ihm nie etwas getan hatten. Das alles ergab auf einmal Sinn. „Die Teilnahme von Barthez Soldiers an der Meisterschaft war nur ein Test”, fuhr Yuriy fort, „Wofür genau, weiß ich noch nicht. Aber wenn mein Verdacht stimmt und… Volkov die BBA übernehmen will… Es wäre ein logischer Schachzug. Er wollte schon vorher ein Team etablieren, mit ihm den Titel gewinnen und dann seine neue Organisation gründen. Was ist besser fürs Image, als dabei von den Weltmeistern unterstützt zu werden?” Boris brummte und auch Kai nickte zustimmend. Wenn Volkov es wirklich nicht lassen konnte und wieder Pläne schmiedete, so brauchte er neue Verbündete. Yuriy hatte ihm klar gezeigt, dass er nichts mehr von ihm wissen wollte, und da war er sicher nicht der einzige. Also hatte er sich mit anderen machthungrigen alten Männern zusammengetan. Wie immer. Dann kam Kai ein neuer Gedanke, der ihn augenblicklich erstarren ließ. Wie hatte er so blind sein können! „Deswegen wolltest du den Titel gewinnen!”, sagte er zu Yuriy, „Um Volkov aufzuhalten.” Boris und Sergeij runzelten beinahe zeitgleich die Stirn, für sie war das wohl noch nicht klar. „Als Weltmeister hätten wir Volkov niemals unterstützt”, erklärte Kai, „Er kann vielleicht jedem anderen etwas vorspielen, aber nicht uns. Und wir haben eine Menge Fans. Wenn wir den Titel geholt und uns dann deutlich gegen Volkov ausgesprochen hätten, hätte er viel schwerer Fuß fassen können.” „Richtig”, bestätigte Yuriy, „Nur war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, dass die BBA-Blader viel weniger von den Tätigkeiten des Managements mitbekommen, als wir damals. Es sind zwei getrennte Welten. Unser Einfluss ist marginal. Inzwischen fürchte ich, dass auch der Titel keinen Unterschied machen würde.” Er rieb sich die Augen, offensichtlich am Ende seiner Ausführungen. Wieder entstand Stille, sie alle mussten erst einmal verdauen, was sie gerade erfahren hatten. Yuriy hatte also all das von Anfang an gewusst und versucht, das Schlimmste zu verhindern. Barthez besiegen, den Titel holen, an Volkov dranbleiben. Kein Wunder, dass er zeitweilig so verbissen war. Kai konnte nicht verhindern, dass er sich ausgenutzt fühlte - ohne die Bedrohung durch Volkov hätte Yuriy ihm womöglich nicht verraten, wie der Krasnaja Kometa funktionierte. Viel mehr noch, wahrscheinlich wäre er einfach mit Boris als Partner angetreten und hätte ihn nie ins Team geholt. Doch er verscheuchte den Gedanken, es war nicht der richtige Augenblick für ein angekratztes Ego. Viel wichtiger war doch, ob Yuriy Recht hatte und tatsächlich Volkov für den Untergang der alten BBA verantwortlich war. Und wenn ja, was sie dann tun würden. „Wir müssen die anderen warnen”, sagte er langsam. „Wenn Volkov da draußen ist und wieder Blader rekrutiert, dann müssen wir Takao und die anderen davon in Kenntnis setzen.” Doch Yuriy schüttelte den Kopf. „Es ist schon schlimm genug, dass ihr jetzt davon wisst. Das hier hat nichts mit Kinomiya zu tun, also sollten wir ihn da nicht mit reinziehen. Es ist allein mein…” „Unser Problem!”, unterbrach Boris ihn. Yuriy öffnete den Mund, doch er machte eine unwirsche Geste, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Wenn du richtig liegst und wirklich Volkov hinter all dem steckt, dann werden wir ihn dem Erdboden gleich machen, sobald er sich zu erkennen gibt. Kurz und schmerzlos - für uns zumindest.” „Und wie wollt ihr das tun, hm?”, brauste Kai auf, „Auf dem BBA-Gelände bauen sie gerade einen verfickten Wolkenkratzer - wenn es Volkov ist, dann hat er verdammt noch mal Verbündete und Geld! Was wollt ihr machen, in sein Büro marschieren und ihm den Schädel einschlagen? Außerdem…” Er atmete einmal durch, um sachlich weitersprechen zu können, „Wer sagt denn, dass sich unsere...Freunde… nicht auch mit Volkov verbünden? So wie Barthez Soldiers? Die meisten von ihnen kennen doch gar nicht das ganze Ausmaß von Borg. Wir haben uns nie bemüht, diese Informationen zu streuen.” „Was willst du denn tun, Kai?”, fragte Yuriy, „Zu Kinomiya gehen und ihm unsere ganze, abgefuckte Lebensgeschichte erzählen, nur damit er sich ja nicht auf Volkov einlässt? Mal abgesehen davon, dass er sicher schon einiges weiß - Kinomiya ist nicht so naiv, und er ist nicht wie wir. Er wird sich von Volkov nicht einlullen lassen, und die anderen auch nicht.” Kai war sich der Ironie dieser Situation bewusst: Ausgerechnet Yuriy, der Takao vor zwei Jahren noch vernichten wollte, hatte nun mehr Vertrauen in ihn als Kai, von dem der Champion doch behauptete, er wäre sein Freund. War Yuriy einfach zu verblendet von dem Match damals, oder schätzte Kai Takao völlig falsch ein? Er wusste in diesem Moment nur eins, und zwar, dass er kein Risiko eingehen wollte. Er hasste es, sich machtlos zu fühlen. „Ja, aber was machen wir denn jetzt?”, sagte er also und stellte verwirrt fest, dass er lauter war als er sein wollte. Er sah von einem zum anderen, zuletzt blieb sein Blick an Yuriy hängen und für einen Moment meinte er, den ganzen verrückten Plan an seinen Augen ablesen zu können. „Wir warten”, sagte Yuriy, „Und wenn Volkov hinter der Sache steckt, vernichten wir ihn mitsamt seiner Organisation.” Dann tauchte Daitenji wieder auf. Takao fand es durch Zufall heraus, anscheinend hatte der ehemalige BBA-Präsident sich regelrecht vor ihnen versteckt. Es war viel Überzeugungsarbeit nötig, ihn in das Dojo zu locken. Die wenigen Informationen, die Daitenji preisgab, streute Takao in die Runde. Wenn der Alte wusste, an wen die BBA verkauft worden war, so sagte er das nicht, sondern gab nur ein paar kryptische Bemerkungen von sich. „Was sollen wir tun?”, fragte Takao geradeheraus. Sie hatten sich am Aokigawa-Kanal getroffen, direkt neben der Brücke, unter der Kai und Takao ihr erstes Match überhaupt gespielt hatten. Bei der Treppe, auf der er Yuriy geküsst hatte; ihm war, als sei dieser Moment eine Ewigkeit her. Nun saßen Max und Daichi an genau dieser Stelle, Kyoujyu und Hiromi zwei Stufen darüber. Takao ließ Dragoon auf dem sandigen Boden Kreise ziehen und Kai stand mit verschränkten Armen daneben. „Was sagt dein Team, Kai?”, kam es von Max und er hob die Schultern. „Abwarten”, nuschelte er. „Ist wirklich nichts aus Daitenji herauszubekommen?” „Abgesehen davon, dass es morgen wohl eine Pressekonferenz gibt - nein”, antwortete Hiromi. „Wir gehen auf jeden Fall hin!”, beschloss Takao und ließ Dragoon in seine Hand springen, dann sah er Kai an, „Oder?” Er wandte den Blick ab. „Wir werden uns die Übertragung ansehen”, sagte er, woraufhin sein Gegenüber die Stirn runzelte. Er konnte ihm schlecht erzählen, dass Neo Borg, sollte Volkov wirklich auftauchen, keineswegs in seiner unmittelbaren Nähe sein wollten. Während sie sich hier unterhielten, versuchte Kais Team noch immer, Volkov wieder aufzuspüren, doch es schien unmöglich. Yuriys Netz aus ehemaligen Abteijungen war zu grobmaschig um Russland komplett abzudecken. Volkov musste irgendwie entkommen sein, und das bedeutete nichts Gutes. „Ich kann nicht glauben, dass sie wirklich eine Profi-Liga aufbauen wollen!”, entfuhr es Max in diesem Moment, „Ich meine, come on - Beyblade war immer ein Amateursport! Was soll das?” „Jemand will offensichtlich Geld mit euch verdienen”, sagte Kyoujyu, doch Hiromi fügte etwas düster hinzu: „Mit euch? Denkst du, die neue BBA wird sie alle zu Stars machen?” Kai gab ihr im Stillen Recht. Nur sehr wenige der aktuellen Blader besaßen auch nur annähernd etwas wie Starpotential, und er zählte sich selbst absolut nicht dazu. „Das heißt, sie würden uns ersetzen”, sagte er, „So wie Daitenji.” „Aber so einfach geht das doch nicht!”, brauste Takao auf. „Du hast doch gesehen, wie schnell das ging.” Kai machte eine vage Bewegung mit dem Kopf. „Es hat nicht mal eine Woche gedauert, um die BBA komplett umzukrempeln. Glaub mir, wenn du an den richtigen Hebeln sitzt, geht alles.” Er musste es wissen, bei Hiwatari Enterprises und ihren vielen Töchtern lief es ja nicht anders. „Kai.” Takao kam näher und hob die Hand, wie um sie auf seine Schulter zu legen, hielt sich dann aber zurück. „Wenn du etwas wüsstest, würdest du es uns doch sagen, oder?” Er setzte den Gesichtsausdruck auf, den sie alle von ihm gewöhnt waren, stoische Neutralität. „Wenn ich etwas sicher wüsste, würde ich es euch sagen”, wiederholte er und hoffte, Takao würde sich damit zufrieden geben. Es gefiel ihm nicht, seine Freunde jetzt anzulügen - zumal sie gemeinsam einfach stärker waren und es nicht schaden konnte, sich abzusprechen. Doch Yuriy bestand auf seiner Geheimhaltungsstrategie, als würde die Bedrohung durch Volkov erst dann Wirklichkeit werden, wenn sie es laut aussprachen. Nun, in den letzten Wochen hatte er gelernt, sich Yuriy zu fügen, also schwieg er. „Ich wünschte, Rei wäre hier”, sagte Max in diesem Augenblick, „Ich würde mich sicherer fühlen, wenn wir alle zusammen wären.” Aber Rei, und mit ihm Byakko, war in China, zusammen mit Baihuzu. Sie waren, wie die anderen Teams, kurz nach der Abschlussparty abgereist, und es hatte so geklungen, als würde Rei erst zum Jahreswechsel wieder nach Japan kommen wollen. Sein Heimatdorf war so abgelegen, dass man ihn nicht einfach anrufen konnte; auf seine Hilfe mussten sie also wohl oder übel verzichten. „Ich habe ihm eine E-Mail geschickt, aber wer weiß, wann er das nächste Mal in sein Postfach sieht”, sagte Kyoujyu. „Mehr als warten können wir jetzt nicht tun.” Als Kai am nächsten Tag zu seinem Team stieß, lag so viel Unbehagen in der Luft, dass er es körperlich spüren konnte. Sie wechselten kaum ein Wort, doch die Blicke, die sie sich zuwarfen, sprachen Bände. Ivan hatte sich gemeldet, ebenso wie eine Reihe anderer Kontakte, doch auch heute gab es keine Neuigkeiten. Kai wusste ebenfalls nichts zu berichten. Kurz bevor die Übertragung der Pressekonferenz beginnen sollte, gingen sie zum Rauchen in den Garten. Boris und Sergeij blieben zurück, als würden sie ahnen, dass ihre Teamkollegen ein paar Minuten für sich brauchten. Kai nickte in Richtung von Yuriys Hand. „Gras?” „Aber hallo. Ich sehe mir diese Pressekonferenz nicht unvorbereitet an.” „Also gehst du davon aus, dass es Volkov sein wird.” Yuriy stieß den Rauch aus und wandte den Blick ab, doch dann nickte er. „Ganz ehrlich, wer sonst? Voltaire?” „Es wäre ihm zuzutrauen”, meinte Kai und hob die Schultern, „Aber ich wüsste nicht, was seine Motivation sein sollte.” Er sah sich nach etwas um, woran er seinen Zigarettenstummel ausdrücken konnte und hockte sich, in Ermangelung von etwas Besserem, schließlich hin, um das Bodenpflaster zu nutzen. Seine Beine fühlten sich heute seltsam schwach an, sodass er froh war, einen Grund zu finden, um nicht mehr stehen zu müssen. Doch dann hielt Yuriy ihm auffordernd die Hand hin. „Ich habe mich noch gar nicht für den Ausflug ins Café neulich bedankt”, sagte er, als er Kai hochzog und ihn dann weiter festhielt. Ihre Finger verschränkten sich. „Tut mir leid, dass wir das nicht wiederholen konnten.” Kai brachte ein schiefes Lächeln zustande. „Das können wir ja tun, wenn das hier alles vorbei ist.” Er trat noch etwas näher an seinen Freund heran und Yuriy löste sich aus seinem Griff, jedoch nur, um den freien Arm um ihn zu legen und ihn an sich zu ziehen. So verharrten sie, während er ebenfalls die letzten Züge von seiner Zigarette nahm. Dann erklang schließlich Boris’ Stimme: „Hey, es fängt an!” Kai fühlte, wie ihm der Hals eng wurde, als sie nach drinnen gingen und sich um den Fernseher versammelten. Boris hatte ein Feuerzeug in der Hand, mit dem er unentwegt herumspiele; es war nervtötend, denn immer wenn das Plastik auf die Tischplatte schlug, gab es einen lauten, dumpfen Ton von sich. Doch niemand sagte Boris, dass er damit aufhören sollte. Sergeijs Miene war versteinert und Yuriy hatte begonnen, sehr leicht zu zittern. Das erste, was auf dem Bildschirm zu sehen war, war der Name der neuen Organisation: BEGA. Beyblade Entertainment Global Association. Kai stieß die Luft aus. „Globale Unterhaltung”, sagte er, „Das sagt ja schon alles.” „Aber seit wann braucht eine Unterhaltungsagentur so viel Security?”, murmelte Boris. Richtig. Diese ganze Show kam harmlos daher - immerhin hatten sie Blader DJ als Clown engagiert und alles in rosa und gelb dekoriert - aber irgendetwas schien ganz und gar verkehrt. Die schiere Größe der neuen Headquarters. Die kleine Security-Armee in ihren BEGA-Jacken. Dann füllte sich das Bild mit Qualm, und aus ihm heraus rannte ein Mädchen mit türkisblauen Haaren und riesigen, glänzenden Augen. Musik setzte ein. „Was zum - ?”, entfuhr es Boris. Yuriy hob eine Augenbraue. „Das ist doch diese Sängerin, in die Kyoujyu so verknallt ist…” „Wirklich?”, fragte Kai. Er hatte sie noch nie gesehen, geschweige denn den Song gehört - wobei es auch unmöglich war, jedem Trend und jedem Idol zu folgen, das durch dieses Land getrieben wurde. Dennoch… die ganze Nummer war ja niedlich, aber was hatte das bitte mit dem Beybladen zu tun? „Ist das ein verdammtes Ablenkungsmanöver oder was?” „Sie wollen uns einlullen”, murmelte Yuriy. „Wenn die Kleine seit Wochen in den Charts herumgeistert - und scheinbar kennen die meisten sie, so wie das Publikum da abgeht - dann ist das hier von sehr langer Hand geplant. Eine richtige Marketingmaschine, um die Menschen positiv auf BEGA zu stimmen.” „Und es wäre eine ähnliche Nummer wie mit Barthez Soldiers”, überlegte Boris laut. Er schloss die Hand so fest um sein Feuerzeug, dass es knackte. Für ein paar Minuten hatte Kai nicht darauf geachtet, was sich im Fernseher abspielte. Als er nun wieder hinsah, war er nur milde erstaunt, Takao, Max und Daichi vor der Kamera zu sehen. „Was ist denn da los?” „Stellt sich raus, die Kleine ist eine Pro-Bladerin”, sagte Sergeij. Sie alle wechselten einen wissenden Blick. Das süße Idol hatte Takao provoziert, um einen Showkampf zu bekommen, natürlich. „In Moskau gab es auch Showkämpfe”, sagte Yuriy, und Kai spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Ja, bei diesen Showkämpfen hatte er Baihuzu und die PPB besiegt. Mit Black Dranzer. Volkov stand auf Machtdemonstration. Dieser Showkampf hier verlief allerdings ganz anders. Die Musiker-Blader verloren haushoch gegen den Champion und seine Freunde, und es gelang der Sängerin, überzeugend niedlich die Niederlage ihrer Band einzusehen. In diesem Moment nahm der Schrecken seinen Lauf. Die Kamera schwenkte zum Eingang des neuen Gebäudes, und da war er - Wladimir Volkov, als hätte die Hölle ihn ausgespuckt. Das Feuerzeug in Boris’ Hand zerbrach, das Benzin tropfte auf den Tisch. Yuriy schnappte nach Luft. Kai sah, wie Volkovs Mund sich bewegte, doch in seinen Ohren war plötzlich ein Rauschen, das nur von Boris’ plötzlichem Ausruf durchbrochen wurde: „Sergeij!” Er fuhr herum. Sergeij - der große, sanfte Sergeij, dieser Fels in der Brandung - saß zusammengekrümmt, als wolle er sich vor einem Angriff schützen. Die Arme erhoben und den Kopf unter ihnen versteckt. Die Augenlider fest zusammengepresst. Sein Atem war außer Kontrolle, schnell und abgehackt. Yuriy sprang sofort auf und stürzte zu ihm, während Boris immer noch starrte, mit einem Ausdruck blanken Horrors im Gesicht. Auch Kai hatte noch nicht begriffen, was gerade passierte. Volkvos Gesicht schwebte zwischen ihnen, redete und redete; schließlich riss Kai sich los und packte die Fernbedienung. Erst jetzt merkte er, dass er zitterte. Dann schaltete er das Gerät aus. Es machte kaum einen Unterschied, noch immer erfüllten Sergeijs panische Atemzüge den Raum. Yuriy war nun direkt vor ihm und hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt. Als er sprach, klang seine Stimme ruhig und bestimmt, doch Kai konnte sehen, wie viel es ihm abverlangte, sich nicht seiner eigenen Furcht hinzugeben. „Seryoga, hör mir zu”, sagte Yuriy, „Das ist nur eine Angstattacke. Du kennst das. Alles ist gut. Wir sind hier. Aber du musst jetzt bitte versuchen, ruhig zu Atmen. Okay? So, wie Kyrill Pawlowitsch es dir gezeigt hat.” Er warf Boris einen Blick zu, der sich nun auch aufraffte und eine Hand auf Sergeijs Rücken legte, ihn ganz leicht tätschelte. Währenddessen sprach Yuriy weiter: „Du schaffst das. Ja, genau so. Ganz tief einatmen. Und wieder ausatmen. Sehr gut. Und noch mal.” Von Sergeij kamen nun längere, aber immer noch röchelnde Atemgeräusche. Yuriy drehte den Kopf zu Kai. „Hol mal ein Glas Wasser, bitte. Seryoga, willst du eine Tablette? … Nein? Okay.” Er nickte Kai noch einmal zu, der inzwischen aufgestanden war und nun in die Küche ging, froh, dass er etwas tun konnte. Als er ein Glas gefunden und gefüllt hatte, wurde ihm auf einmal schwindelig, sodass er sich kurz an der Spüle abstützen musste. Er legte eine Hand auf die Augen, nach ein paar Sekunden war alles vorbei. Doch nun war das Engegefühl in seinem Hals zurück; am liebsten hätte er angefangen zu heulen. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Sein nächster Atemzug war ein trockenes Schluchzen. Er kniff die Augen zusammen und krallte sich noch mehr in das Edelstahlbecken, musste alle Energie aufbringen, um sich zu beruhigen. Schließlich konnte er sich wieder entspannen, doch das Zittern kam nun umso stärker zurück. Die letzten Minuten hatten seinem Körper alles abverlangt. Er trug das Glas zurück und gab es Yuriy. Sergeij hatte die Knie angezogen und seine Stirn gegen sie gelehnt, seine Arme um die Beine geschlungen. Ein Bild absoluter Erschöpfung. Yuriy berührte ihn kurz, um ihm das Glas aufzudrängen. „Du musst was trinken, los.” Widerwillig stürzte Sergeij das Wasser hinunter. „Brav”, sagte Yuriy und konnte sich tatsächlich ein kurzes Grinsen abringen. „Willst du dich hinlegen? Boris, fass mal mit an.” Eine Viertelstunde später saßen Boris, Yuriy und Kai auf dem Engawa und starrten, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, in den sich langsam rot färbenden Himmel. Es gab nicht viel zu sagen. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Vor ein paar Minuten hatte Kai einen Blick auf sein Handy geworfen und mehrere Nachrichten von Takao gesehen, die sich sicher auf das heute Erlebte bezogen. Er hatte nicht die Kraft, ihm jetzt zu antworten. In seinem Kopf herrschte eine eigentümliche Leere, er hatte es aufgegeben, sich zu fragen, warum das alles passierte. Ein bisschen beneidete er Sergeij darum, dass er schlief; am liebsten würde er die Außenwelt jetzt aussperren, einfach schlafen, bis all das vorbei war. Würde es jemals vorbei sein? Wie um seine Gedanken zu bestätigen, stand Boris auf. „Es tut mir leid”, sagte er, „Ich werde jetzt eine Tablette nehmen und mich hinlegen. Ansonsten werdet ihr mit mir nichts anfangen können.” Er sah auf Yuriy hinab. „Vielleicht solltest du das auch tun.” Ihr Teamchef nickte. „Später. Ich muss noch mit Kai reden.” Boris schien davon nicht so überrascht wie Kai selbst. Er hob nur die Schultern und verließ sie. Sie hörten, wie er erst ins Bad, dann in die Küche und schließlich in den Raum ging, wo ihre Futonbetten ausgebreitet waren. Während er im Haus rumorte, schwiegen sie weiterhin. Dann, als schließlich alles still war, wandte Kai sich Yuriy zu. „Und?” „Kobayashi-san wird dich bald rauswerfen”, sagte Yuriy. „Dein Ernst? Darüber machst du dir Gedanken? Ich bin sicher, wenn wir ihr die Situation erklären-” „Ich will, dass du gehst.” Kai schloss den Mund, er wusste nicht, was er erwidern sollte. Yuriys Worte versetzten ihm einen Stich. „Du musst etwas für mich tun”, fuhr der Rothaarige fort. „Versuche, herauszufinden, ob Voltaire mit Volkov unter einer Decke steckt. Von irgendwoher muss er Geld bekommen haben.” Richtig, daran hatte Kai noch gar nicht gedacht. Ihm wurde schlecht. Was, wenn sein Großvater schon wieder in irgendwelche Machtspielchen verwickelt war? Konnte das sein, nach allem, was sie als Familie durchgemacht hatten? Er zwang sich, sachlich zu bleiben. „Okay, ich kümmere mich darum. Was werdet ihr tun?” „Oh, ich denke, wir sehen uns das alles mal aus der Nähe an. Vielleicht finden wir noch ein bisschen was heraus. Und dann machen wir einen Plan, wie wir BEGA stürzen.” „Hm.” Irgendetwas an Yuriys Tonfall gefiel ihm nicht, doch er konnte nicht sagen, was genau es war. Er sah auf die Uhr. „Voltaire ist in Tokio, aber ich bin ziemlich sicher, dass er heute Nacht nach Hause kommt. Ich werde dir die Infos morgen besorgen können.” „Gut.” Wieder Schweigen. Kai regte sich unbehaglich. „Das war doch nicht alles.” „Nein.” Zum ersten Mal sah Yuriy ihn wieder direkt an. Er wirkte müde - und traurig. „Ich will, dass du das Team verlässt, Kai.” „Was?!” „Bitte.” Er verschränkte die Arme. „Oh nein, vergiss es! Warum zur Hölle sollte ich das tun?” Yuriy legte den Kopf schief. „Weil du mir vertraust?”, sagte er und lächelte müde. Kai schnaubte nur. „Yuriy, wenn du mich aus dem Team raushaben willst, musst du mich schon rausschmeißen. Und das kannst du offiziell nur, wenn du es der BBA meldest. Oh! Die BBA gibt es nicht mehr. Tja. Sieht so aus, als würdest du mich nicht mehr loswerden können.” „Kai…” Er streckte die Hand nach ihm aus und berührte sein Gesicht; in diesem Moment schien endlich etwas in ihm zu brechen. Seine Mimik löste sich auf und kurz sah Kai, wie verzweifelt sein Freund war. Dann zog Yuriy ihn an sich und vergrub den Kopf an seinem Hals. Instinktiv schloss Kai ebenfalls die Arme um ihn. Er konnte nicht verhindern, dass eine unbestimmte Angst in ihm aufstieg - wie konnte Yuriy denken, dass er das Team in so einer Situation verlassen würde? Er verstand nicht. Er verstand es einfach nicht. „Du musst das nicht alleine tun”, sagte er schließlich. „Du hast Boris, Sergeij und Ivan, die würden dir bis in die Hölle folgen, wenn es sein muss. Und du hast mich. Ich gehe nicht weg.” Doch es war, als hätte Yuriy gar nicht zugehört. „Es ist deine Entscheidung, Kai”, murmelte er gegen seine Haut, „Wenn du das Team verlassen willst - tu es einfach. Bitte.” „Okay…”, sagte Kai; etwas anderes blieb ihm ja kaum übrig. Sie verharrten eine Weile in ihrer Umarmung, dann richtete Yuriy sich wieder auf, lehnte die Stirn an Kais. Der fühlte sich von dieser Geste überwältigt, erst recht, als Yuriy auch noch lächelte - als wäre er in diesem Augenblick das einzig Gute auf der Welt. „Zalatoj”, sagte er leise, und Kais Herz fing an zu rasen, er wusste nicht, ob aus Angst oder Zuneigung. Instinktiv lehnte er sich vor und küsste Yuriy, und für ein paar Sekunden konnte verdrängen, dass mit dem heutigen Tag wieder alles Chaos und Horror war. „Pass auf, Snegurotschka”, sagte er, als sie sich wieder lösten, „Wir treten Volkov in den Arsch, und zwar gemeinsam. Und sobald wir das erledigt haben, gehen wir beide auf ein Date. Ein scheiße romantisches Date.” Yuriy fing leise an zu lachen und auch Kais Mund verzog sich zu einem verzweifelten Grinsen. „Und danach nehme ich dich mit zu mir und wir treiben es die ganze Nacht. Verstanden?” „Die ganze Nacht”, bestätigte Yuriy. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)