Something Strange von ReptarCrane (Vanished) ================================================================================ Kapitel 10: Chapter 10 ---------------------- Bis jetzt war dieser Tag absolut beschissen verlaufen. Es hatte in Strömen geregnet, als Liv ihren alten Plymouth Fury auf dem Parkplatz in der Camin Street abgestellt hatte, der ungefähr fünf Minuten Fußweg entfernt von ihrem Arbeitsplatz lag, und als sie schließlich durch die Tür des Supermarktes getreten war, war sie vollkommen durchnässt gewesen. Sofort hatte Mrs. Parson sie abgefangen und sie nach hinten ins Lager geschickt, nur, damit keine halbe Stunde später Mr. Yard, der Geschäftsführer dieses Ladens, vollkommen angepisst auf sie zu gestapft kam und sie mit vor Wut zitternder Stimme fragte, weshalb zur Hölle sie nicht an der Kasse saß. Nicht, dass Liv solche Vorfälle nicht gewohnt war. Sie arbeitete seit fast drei Jahren hier, und während dieser Zeit hatte sie gelernt, dass Kommunikation in diesem Unternehmen nicht allzu groß geschrieben wurde. Nicht selten bekam man von drei verschiedenen Mitarbeitern drei völlig verschiedene Dinge zugeteilt. Und am Ende noch den Ärger, weil man nicht mit der vierten Sache beschäftigt war. Doch an diesem Morgen hatte Liv absolut keinen Nerv dafür, von Mr. Yard für irgendwelche angeblich falschen Tätigkeiten ihrerseits angepampt zu werden. Nachdem sie sich nach der unerwünschten Unterbrechung ihres Schlafes in der letzten Nacht wieder ins Bett hatte fallen lassen, hatte sie beinahe anderthalb Stunden lang wach gelegen, und war beim Klingeln des Weckers vollkommen übermüdet aufgewacht. Nur drei Tassen Kaffee beim Frühstück und auf der Fahrt hier her hatten verhindern können, dass sie bei der nächstbesten Gelegenheit wieder in einen tiefen Schlaf gefallen war. Doch änderte Koffein nichts daran, dass dieser Schlafmangel sie ausgesprochen reizbar machte. Der einzige Grund dafür, dass sie ihren Chef nicht angefaucht hatte wie eine wütende Katze, der man im Schlaf auf dem Schwanz getreten hatte, war der ausgesprochen befreiende Gedanke daran, dass diese Woche Livs vorletzte in diesem Laden hier war. Wenn sie am übernächsten Freitag Feierabend machte, würde sie ihre Arbeitskleidung abgeben, sich von ihren Kollegen verabschieden - und denen, die sie nicht leiden konnte, vielleicht auch zum Abschluss noch die Meinung sagen würde, die sie sich all die Jahre über immer wieder verkniffen hatte - und dann würde sie nach Hause fahren, und ihre Sachen würden bereits alle weg sein, abgeholt vom Umzugsunternehmen, das sie in ihre neue Wohnung brachte, und sie würde noch ein letztes Mal mit ihrer Familie zu Abend essen, bevor sie in ein neues Leben aufbrach. Ja. Dieser Gedanke war wirklich unglaublich befreiend. Also hatte sie bloß resigniert genickt, sich an Mr. Yard vorbei in den Laden geschoben und war zur Kasse gegangen, und es hatte keine zwei Minuten gedauert, bis sich eine Schlange von fast zwanzig Kunden vor ihr gebildet hatten, von denen die meisten der Größe ihres Einkaufes nach zu urteilen in nächster Zeit einen Atomangriff zu erwarten schienen. Anstrengend, doch das gehörte schließlich zum Job. Liv war gerade dabei gewesen, sich ein wenig zu entspannen, sich selbst einzureden, dass der Tag doch gar nicht so furchtbar war, dass es Schlimmeres gab, als durchgeregnet und vom Chef angemeckert zu werden, als sie in der Schlange zwei Personen ausgemacht hatte, die ihr nur zu gut bekannt waren. Ein Nachteil von solch kleinen Städten, wie Clover Rock es ist, ist die Tatsache, dass man immer und immer wieder bekannte Gesichter trifft, ob man nun will oder nicht: Ehemalige Mitschüler oder Lehrer, frühere beste Freunde, mit denen man seit Jahren nichts mehr zu tun hat, Ex-Freunde, alles mögliche. Wenn man Glück hat, dann auch solche Leute, von denen man hofft, sie irgendwann einmal wiederzusehen...das scheint jedoch immer eher die Ausnahme zu sein. Meist sind es Leute, auf deren Wiedersehen man gut und gerne hätte verzichten können. In Livs Fall waren es zwei ehemalige Mitschülerinnen, die an ihrer Kasse standen und sich angeregt über ihre aus Kosmetikartikeln bestehenden Einkauf unterhielten, und bedauerlicherweise gehörten sie zu eben den Mitschülern, mit denen Liv während ihrer Schulzeit nicht sonderlich gut klar gekommen war. Sie hatten sich nicht gehasst, aber eben auch nicht sonderlich gut leiden können, als sie sie an diesem Morgen an der Kasse erblickt hatte, hatte sie das übermächtige Gefühl verspürt, sich auf der Stelle wieder nach hinten ins Lager zu verziehen. Cassidy Adkins und Peggy Phelbs gehörten zu der Art von Mädchen, die sich aus welchen Gründen auch immer stets ein wenig über andere stellten. Wenn Liv ihnen damals über den Weg gelaufen war, hatten sie immer so ein leicht überhebliches Lächeln auf den Lippen gehabt, und allein der Tonfall, den sie an den Tag gelegt hatten, wenn sie denn mal ein paar Worte mit ihr gewechselt hatten, hatte geradezu geschrien: "Wir sind was besseres als du. Und du kannst dich ja wirklich geehrt fühlen, dass wir überhaupt mit dir reden!" Niemand in ihrem Jahrgang hatte sie scheinbar wirklich leiden können. Doch irgendwie war ihnen das vollkommen egal gewesen. Vielleicht erkennen sie mich ja nicht., hatte Liv bei sich gedacht, während sie ein Bund Limetten, das der ganze Einkauf einer alten Frau gewesen war, über den Warenscanner zog und dieser dabei gedanklich abwesend den Preis verkündete, das Geld entgegen nahm und Wechselgeld heraus gab. Ist immerhin drei Jahre her. Und so viel hatten wir auch nicht miteinander zu tun... Das mochte vielleicht stimmen. Doch trotzdem hatte sie sich dahingehend keine ernsthaften Hoffnungen gemacht. Zurecht, wie sie gleich darauf hatte feststellen müssen. "Ach, Liv! Lange nicht gesehen!" Die alte Frau hatte noch nicht einmal ihre Limetten in ihrem Beutel verstaut, da hatte Peggy bereits mit aufgesetzter Begeisterung zu einer Begrüßung angesetzt, als hätte sie gerade eine lang verschollene Freundin wiedergetroffen. "Ich wusste ja gar nicht, dass du hier arbeitest!" Peggy konnte nicht oft hier einkaufen, ansonsten hätten sie sich bestimmt schon früher einmal gesehen. Liv hatte genickt und begonnen, die Einkäufe über den Scanner zu ziehen, dabei irgendeine Erwiderung von sich gegeben, an die sie sich im Nachhinein selbst nicht mehr hatte erinnern können, und dabei war sie sich sicher gewesen, obwohl ihr Blick auf die Eyeliner und Mascara und Lidschatten gerichtet gewesen war, dass Peggy und Cassidy sie eingehend musterten. Und dann, ohne weitere geheuchelte Freundlichkeit, wie sie es von den beiden eigentlich erwartet hätte, hatte Cassidy diese Frage gestellt, die Liv einen Schauer der Wut über den Rücken gejagt hatte: "Wie geht’s deinem Bruder? Haben sie ihn immer noch nicht verhaftet?" Vollkommen fassungslos hatte Liv die beide mit weit aufgerissenen Augen angestarrt. War unfähig gewesen, etwas zu erwidern, überhaupt irgendetwas zu tun, wie eingefroren hatte sie dagesessen, die rechte Hand, die sie gerade nach einem Eyeliner ausgestreckt gehabt hatte, verharrte in der Bewegung knapp fünf Zentimeter über dem Lieferband, als sei sie nicht mehr in der Lage, irgendwelche vom Gehirn gesendeten Befehle auszuführen. Im Nachhinein wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass sie einfach ausgeholt und ihrer ehemaligen Mitschülerin eine geknallt hätte. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie auf der Arbeit auf Randall angesprochen worden war. Viele Leute wussten, dass sie seine Schwester war, und nicht wenige waren offenbar der Meinung, dass man von ihr irgendwelche geheimen Insider-Informationen bekommen konnte, doch das letzte Mal war mittlerweile Monate her, vielsagende Blicke waren nun das einzige, was sie noch mit Deutlichkeit mitbekam, und so dreist, wie Cassidy an diesem Morgen, waren nur die wenigsten dabei gewesen. Die Beiden hatten sie erwartungsvoll angeblickt, offenbar allen ernstes eine Antwort auf diese Frage erwartet, und Liv hatte all ihre an diesem Morgen noch vorhandene Selbstbeherrschung zusammennehmen müssen, um nicht einfach aufzuspringen und ihnen ins Gesicht zu brüllen. Es war eine Sache, zu wissen, dass sich hinter ihrem Rücken das Maul über ihren Bruder zerrissen wurde, zu wissen, dass die meisten Leute dieser Stadt davon überzeugt waren, dass er schuldig war, wegen ihr konnten sie sich bei ihren Kaffeekränzchen oder Stammtischen darüber auslassen, denn diese Lästereien kümmerten sie schon lange nicht mehr wirklich. So etwas konnte sie hinnehmen, das hatte sie mit der Zeit gelernt, lernen müssen, denn die Alternative dazu, zu tolerieren, dass die Bewohner von Clover Rock ihre Vermutungen und Meinungen als Fakten verkauften, wäre gewesen, verrückt zu werden. Doch auf solch eine freche Art darauf angesprochen zu werden, ohne jedes offensichtliche Empfinden für ein auch nur geringes Maß an Pietät, das war etwas anderes. Letztendlich hatte sie einfach nichts erwidert. War einfach sprachlos gewesen, und erst im Nachhinein waren ihr hunderte Dinge eingefallen, die sie hätte zurückgeben können, die dieses selbstgefällige Grinsen von den Gesichtern der Beiden gewischt hätten, doch so etwas fiel ihr meistens erst hinterher ein, und so bedauerlich sie dies auch fand: Wahrscheinlich war es besser so gewesen. Denn keine dieser nachträglichen Erwiderungen wäre auch nur im entferntesten höflich gewesen. So jedoch war der Preis der Einkäufe das einzige, was Liv herausgebracht hatte, und Peggy hatte bezahlt, ohne ihrerseits ein Wort hervorzubringen, und hätten sie und Cassidy sich dabei nicht solch amüsierte Blicke zugeworfen, hätte man sie für ganz normale Kunden halten können. Sie hatten nicht noch einmal nachgefragt, das ganze wahrscheinlich auch eher als eine Art Provokation angesehen, vielleicht auch als nicht mehr als eine harmlose Neckerei, doch spätestens nach dieser Begegnung war Liv für diesen Tag absolut bedient gewesen. Gegen Mittag war sie schließlich an der Kasse abgelöst und zum Befüllen der Regale geschickt worden, und dafür war sie ausgesprochen dankbar gewesen. Die Regale legten immerhin keinen Wert darauf, dass man ihnen ein falsches Lächeln schenkte und einen schönen Tag wünschte. Es war eine routinierte Tätigkeit, der sie nachgehen konnte, und das half ihr, sich zu entspannen… aber nicht so sehr, dass die Begegnung mit Peggy und Cassidy aus ihren Gedanken verschwunden wäre. Es war so frustrierend. Jeden Tag, immer wieder, und es gab nichts, was man dagegen tun konnte. Und so sehr Liv ihre Familie nach ihrem Auszug auch vermissen würde, so sehr erfüllte der Gedanke sie mit unfassbarer Erleichterung, dass in der Stadt, in der sie wohnen würde, niemand wissen würde, wer sie war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)