Cake & Scissors von BexChan (Diary of a mad girl) ================================================================================ Kapitel 1: Entry 1 ------------------ „Schwester! Schwester, kommen Sie schnell! Emilie hat schon wieder eines der Jungen angegriffen!“ Ich nahm die Stimme der jüngeren Schwester des Waisenhauses gar nicht mehr wahr. Ich sah zu dem Jungen runter, der sich unter Tränen die blutende Hand hielt. In meiner zitternden Kinderhand die eine Schere, die ich der Schwester aus dem Nähkasten entwendet habe. Er hatte es aber provoziert, oder? Sie sahen nie, wie mich die anderen Kinder verhöhnten und mich beschimpften. Ich konnte nichts dafür. Mich hatte niemand gefragt, hier zu sein. Ich spürte, wie mir die oberste Schwester die Schere aus der Hand riss und mich an dem roten, mit Locken durchgezogenen Schopf, den ich meine Haare nannte, packte und mich von dem Jungen wegzerrte. „Emilie, was hast du wieder angerichtet?“ Die darauffolgenden Schläge waren bereits zur Gewohnheit geworden. Sie taten schon gar nicht mehr weh. Ich war es gewohnt. Er hätte auch einfach den Mund halten können. „Was willst du überhaupt hier? Deine Eltern haben dich sicher abgegeben, weil sie dich nicht wollten! Du wirst nie richtige Eltern finden!“ Hätten die Schwestern mich nicht aufgehalten, ich weiß nicht, wozu ich fähig gewesen wäre. Aber war es meine Schuld? Ich denke nicht. Ich war ein Kind. Die Schwestern erzählten mir als ich alt genug war, dass mich jemand in einer dunklen, verschneiten Nacht auf die Schwelle des Waisenhauses gelegt hatte. Derjenige oder diejenige hielt es anscheinend nicht mal für nötig, mich in die Babyklappe zu legen. Wahrscheinlich hätten sie am liebsten gewollt, dass ich in der Kälte erfriere. Aber meine Schreie hatten die Stille so durchzogen, dass die Schwestern mich fanden und ins Waisenhaus aufnahmen. Sie dachten, ich wäre ein einfaches Kind. Spätestens als ich acht Jahre alt wurde, merkten sie, dass ich das nicht war. Von wegen, die Schwestern im Waisenhaus ziehen die Kinder mit Liebe und Geduld groß. Kein Wunder, dass ich so war wie ich war. Von klein auf war ich eines der Kinder, das die meisten Schläge einstecken musste. Jeder andere kam mit seinen Schandtaten immer wieder durch aber ich...ich musste nur einen Keks aus der Keksdose geklaut haben, schon rissen sie mir wieder an den Haaren und schlugen mich so hart ins Gesicht, dass ich mir wünschte, ich würde sterben. Frustrierte, alte Frauen, die in ihrem Leben nichts erreicht hatten oder von ihren Männern sitzen gelassen wurden und ihre letzten Jahre in einem Waisenhaus fristen, nur um ihren angestauten Frust an uns Kindern auszulassen. An mir hatten sie einen Narren gefressen. Sie wussten, dass die meisten Familien an mir vorbeigingen und mich mieden als wäre ich ein Kadaver einer toten Katze auf der Straße. Wenn sie mich ansahen, sahen sie den Teufel auf meiner Schulter sitzen. Ich sah Kinder ins Heim kommen und mit glücklichen Augen an der Seite ihrer neuen Eltern gehen. Tagein, tagaus beobachtete ich sie, während ich meinen Puppen die Haare abriss und und ihnen die Köpfe abdrückte. Ich wurde leider in eine Zeit geboren, in denen nur Menschen das Wissen zugänglich war, wenn sie in Wohlstand lebten. Leider konnte ich davon bis ich acht Jahre alt wurde nicht profitieren. Ich hatte damit abgeschlossen, ein liebevolles Elternpaar zu finden. Gab es doch mal ein Paar, das sich für mich interessierte, strafte ich sie mit Ignoranz. Ich glaubte nicht an die Liebe der Eltern. Es war doch alles eine Farce. In jenem Moment verstellten sie sich, nur um einem Kind ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern, im nächsten Moment musste ich vielleicht damit rechnen, wieder ins Heim zu müssen, weil ich ihnen zu anstrengend war oder ich vielleicht ihrem geliebten Haustier mit der Schere ein Auge ausgestochen habe. Ich verstellte mich und begann mich mit dem Gedanken abzufinden, jemals ein Elternpaar für mich zu finden. Ich würde lieber alleine bleiben und eines Tages aus diesem Folterhaus ausbrechen wenn ich alt genug bin. Doch meine Einsamkeit sollte nicht von langer Dauer sein. Es war an jedem schicksalhaften Tag als diese Familie in mein Leben trat. Ich hatte gerade das achte Lebensjahr durchschritten und wie jedes Jahr kein Geschenk und keinen Kuchen bekommen. Ich saß schweigend auf meinem Bett und hatte den zerrupften Teddybären so feste an mich gedrückt, als ob er mein Leben wäre. Viele Kinder warteten auf die Ankunft der heutigen, vielleicht zukünftig werdenen Eltern. Es dauerte nicht lange, da traten sie ein. Eine Familie ähnlicher als die andere. Wie heuchlerisch sie alle waren. Als ob sie wirklich genug Platz zum spielen hätten. Alles Lügen! Zumindest dachte ich das. Ich hatte die Hoffnung längst aufgegeben. Man sagt, die Hoffnung stirbt zuletzt. Bis zu jenem Augenblick flackerte sie noch wie das Licht einer Kerze, die kurz davor ist zu erlöschen. Dann erblickte ich aus dem Augenwinkel einen Schatten, der sich zu mir runterbeugte und eine Stimme ertöhnte, die wie eine süße Melodie aus dem Himmel klang. „Hallöchen, kleines Fräulein. Darf ich fragen, wie du heißt?“ Ich blickte mit großen Augen hoch und sah in das Gesicht eines Engels. Und so war auch meine Reaktion als ich den wunderschönen jungen Mann mit dem edlen Gehstock ansah. „Bist du...ein Engel?“ Der Mann blickte verwundert drein, lächelte dann aber gütig. „Nein, ich bin kein Engel. Aber deine Worte schmeicheln mir. Junges Fräulein, darf ich nochmal fragen, wie du heißt?“ Ich war wie in seinen Bann gezogen. Ich habe viele Menschen in das Waisenhaus kommen und gehen sehen aber keiner war je so schön und ohne Makel gewesen wie dieser Mann. „Emilie, Sir. Mein Name ist Emilie.“ Er setzte sich zu mir auf das Bett, um mit mir auf Augenhöhe zu sein und legte den Gehstock beiseite. „Emilie, das ist wirklich ein wunderschöner Name. Emilie, mein Name ist Andreas. Sag mir, die Schwestern sagen, dass du bisher keine Familie finden konntest. Kannst du mir sagen, woran das liegt?“ Wollte er mich testen? Ich sank immer mehr zusammen und würdigte ihn keines Blickes. „Keine Sorge, du kannst es mir sagen. Hab keine Angst.“ Ich schaute vorsichtig aus. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass ich ihm vertrauen konnte. „Es ist nicht meine Schuld! Die anderen Kinder...sie hassen und beschimpfen mich! Sie sagen andauernd, dass ich besser sterben sollte weil mich eh niemand haben möchte! Sie sollen alle ruhig sein!“ Ich spürte, wie ich einknickte. Dann fühlte ich die sanfte Berührung dieses Mannes auf meinem zierlichen Handgelenk. „Emilie, möchtest du hier raus? Möchtest du eine Familie haben? Du müsstest nie wieder Angst haben.“ Mein Blick war voller Hoffnung als ich den Worten des Engels lauschte. Ich presste den Teddybär an mich. „Kriege...kriege ich auch Schokokuchen? Heute...heute wäre mein Geburtstag. Aber ich habe wieder nichts geschenkt bekommen.“ Der Engel fuhr mit einer Hand durch mein Locken und mein Blick war auf ihn gerichtet. „So viel Schokokuchen, wie du essen kannst.“ In meinem kleinen Herz glimmte der Docht einer Kerze, die gerade erloschen war, wieder auf. Gab es doch noch Menschen mit einem guten Herzen? Ich beobachtete, wie der Engel zu der obersten Schwester sprach und sie allen ernstes noch versuchte, ihn davon abzuhalten, mich zu nehmen, da ich so anstrengend sei. Sie machte nicht mal Halt davor zu sagen, dass ich bereits mehrere Kinder verletzt hätte. Ich dachte, das würde den Engel abschrecken. Doch mit seiner Antwort, die folgte, hatte ich nicht gerechnet. „Emilie ist noch ein Kind. So, wie ich das sehe, wurde sie keiner vernünftigen Erziehung unterzogen, woran sie keine Schuld hat, sondern nur Sie und ihre Schwestern alleine! Dieses Kind braucht keine harte Hand, sondern Menschen, die sie lieben, wie sie ist.“ Die Schwester versuchte sich verzweifelt rauszureden. Anscheinend hatte er die Blessuren an meinen Armen und meinem Gesicht gesehen. Der Engel ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen, selbst als die Schwester ihm noch einmal ins Gewissen reden wollte, ob er seine Entscheidung, mich zu adoptieren, nicht nochmal überdenken wollte. Seine Antwort stand fest. „Wir haben uns entschieden. Wir nehmen Emilie.“ Als die Formalitäten erledigt waren, konnte ich es immer noch nicht fassen. Meine Augen füllten sich nach Jahren des Wartens mit Tränen der Freude als der Mann auf mich zukam und mir die Hand entgegenstreckte. „Komm, Emilie. Komm zu mir!“ Ich ergriff vorsichtig seine Hand und spürte zum ersten Mal ein Feuer. Ein Feuer, das Liebe und Fürsorge versprach. Ein Leben in Glück. Ich sah zu dem Mann auf. „Mein Engel...ist wunderschön.“ Ich bekam die Worte fast kaum hervor, ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet, doch der Engel lachte und nahm mich hoch auf den Arm. „Dann bin ich eben dein Engel.“ Wir wollten gerade das Waisenhaus verlassen, da hielt ich ihn nochmal zurück. „Moment! Wir können erst gehen, wenn sie mir meine Violine wiedergegeben haben! Sie haben sie mir weggenommen, nachdem ich den ersten Jungen verletzt hatte. Sie ist mein Ein und Alles! Bitte, ich brauche sie!“ Der Engel schaute erstaunt drein. „Oh, du bist also musikalisch begabt? Erstaunlich! Keine Sorge, wir holen deine Violine!“ Und so war es auch. Nachdem ich den kleinen Violinenkoffer mit der darin enthaltenden Violine, die ich als einziges Geschenk erhalten hatte, weil ich mich schon immer für Musik begeistern konnte, zurückbekommen hatte, traten wir nach draußen und obwohl der Tag trüb war, sah ich das erste Mal die Sonne für mich scheinen. Kapitel 2: Entry 2 ------------------ Ab heute sollte also mein neues Leben in Wohlstand beginnen. Ich lernte Olivia kennen, die Frau, von der ich zuerst dachte, sie wäre meine zukünftige Mutter. Auf eine gewisse Weise war sie dies auch die Jahre darauf aber dazu komme ich zu einem späteren Zeitpunkt. Als ich sie ansah, dachte ich zuerst, dass eine wunderschöne Puppe vor mir stand. Ihre Haut war so weiß und makellos wie Porzellan, ihre Lippen rot wie eine rote Rose und ihr Haar schwarz wie die Nacht. Ihr Körper zierte ein schwarzes Kleid, ihr Haar trug sie zu einer Hochsteckfrisur, die mit einer angesteckten Blume ihre Vollkommenheit fand. Ihre Augen waren genauso hellblau wie meine. Sie beugte sich zu mir runter und lächelte mich liebevoll an. „Hallo kleine Emilie, mein Name ist Olivia. Ich freue mich sehr dich kennenzulernen.“ Ein Lächeln huschte mir über das Gesicht. Ihre Stimme glich der eines Engels. Bevor ich überhaupt wusste, dass sie einst Sängerin in einer Templerbar gewesen ist, dachte ich mir schon, dass ihre Stimme eine wunderschöne Melodie hatte. Bevor wir in meinem zukünftigen Zuhause ankamen, kaufte mir mein neuer Papa den versprochenen Schokoladenkuchen, auf den ich mich den ganzen Weg über tierisch freute. Als ich das riesige Anwesen, weit ab von der Innenstadt in Augenschein nahm, staunte ich nicht schlecht. Es war prachtvoll, kein Vergleich zu einem normalen Haus, geschweige denn dem heruntergekommenen Waisenhaus. Als wir durch die großen Flügeltüren in die Eingangshalle traten, stand mir vor Staunen der Mund weit auf. Ich wusste, dass das unhöflich war aber ich konnte es einfach nicht glauben. „Sieh an, Emilie ist ja ganz aus dem Häusschen.“ Olivia kicherte als sie meinen verblüfften Gesichtsausdruck sah. Andreas stellte den Kuchen ab und beugte sich zu mir runter. „Alles in Ordnung, Emilie? Ich weiß, es wirkt alles sehr groß. Das ist ab heute dein neues Zuhause. Freust du dich?“ Als ich in Andrea's Augen sah, nickte ich eifrig und lächelte. „Ja, ich...ich freue mich wirklich sehr. Es ist nur...ich...kann immer noch nicht glauben, dass ich endlich ein richtiges Zuhause und...richtige Eltern haben werde. Ich...ich kann es einfach immer noch nicht glauben. Ich bin...so unendlich dankbar.“ Andrea's sah, dass ich Tränen vor Freude und Erleichterung in den Augen hatte und streichelte mir ein paar einzelne Strähnen aus der Stirn. „Emilie, wir sind wirklich sehr glücklich, dich unsere Tochter nennen zu dürfen. Sieh dieses Haus bitte ab heute als dein neues Heim an und zöger nicht zu fragen, wenn du etwas brauchst. Eine Sache müssen wir allerdings noch aufklären, denn es gibt noch etwas, was du noch nicht weißt.“ Ich schaute Andreas fragend an und war auf alles gefasst. In dem Moment hörte ich, wie im Hintergrund Schritte auf der großen Treppe ertöhnten und ein junger Mann, anscheinend im selben Alter wie Andreas hinunterschritt. „Ah, da seid ihr ja wieder! Ich habe die Türe gehört und dachte, ihr seid wieder zurück. Ich habe das Kinderzimmer noch ein wenig aufgeräumt.“ Ich blickte hinter Andreas und erblickte einen wunderschönen Mann. Er war mindestens genauso hübsch wie Andreas, nur hatte seine Haut eine Art Kupferton an sich und seine Haare waren tiefschwarz wie die von Olivia. Er trug sie zu einem festen Pferdeschwanz zusammengebunden und zwischen dem rötlichen Hautton kamen zwei ungewöhnlich himmelblaue Augen zum Vorschein. „Ah Chatan, da bist du ja! Darf ich dir unsere Tochter vorstellen? Das ist Emilie. Ab heute Emilie von Kaustein!“ Erstaunt blickte ich Andreas an. „Unsere Tochter? Ist Olivia nicht meine Mama?“ Es war nicht so, als ob ich traurig darüber wäre, ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass ich in Zukunft zwei Väter hätte. Der junge Mann, der sich Chatan nannte, kniete sich zu mir und griff vorsichtig nach meiner Hand. Sein Gesicht war so schön wie aus einem Bilderbuch. „Kleine Emilie, es freut mich sehr dich kennenzulernen. Meine Name ist Chatan. Dein Vater und ich werden in Zukunft deine beiden Papa's sein.“ Andreas sah zu mir runter und versuchte mich aufzuklären. „Emilie, die Sache ist die. Olivia hier ist meine beste Freundin aus Kindheitstagen. Sie selbst ist allerdings selbst in einer Ehe mit meinem Zwillingsbruder Manuel. Chatan und ich sind seit vielen Jahren ein Liebespaar, können unsere Liebe aber leider in der Öffentlichkeit nicht offen zeigen. Da wir allerdings gerne ein Kind zusammen gehabt hätten, hatte sich Olivia bereit erklärt, meine Frau zu spielen für die Zeit, wo wir im Waisenhaus sind. Kannst du das verstehen?“ Die beiden jungen Männer sowie Olivia sahen mich etwas besorgt an. Wahrscheinlich hatten sie Sorge, dass ich diese Art von Elternteile nicht akzeptieren würde. Doch...ich ging auf Andreas und Chatan zu, legte um beide meine Arme so gut wie es ging und lächelte. „Ob eine Mama und ein Papa oder zwei Papa's, ich habe ein Zuhause und eine Familie. Ich habe...Eltern. Ich bin so glücklich.“ Und das war ich auch und ich zeigte dies damit, dass ich nach all der Zeit endlich vor Glück weinen konnte. Gefühle, dich ich jahrelang verborgen hielt weil ich nie glücklich war und nun war da diese wohlhabende Familie, die mich aufnahm, um mir ein Heim und eine zweite Chance zu schenken. Ein Leben in Wohlstand. Ein glückliches Leben. Ich spürte, wie die beiden Männer ihre Hände auf meinen Kopf legten und mir durch das rote Haar streichelten. „Emilie...willkommen Zuhause. Alles Gute zum Geburtstag.“ Ich krallte mich in Andrea's Hose und ließ meinen Tränen freien Lauf. „Das ist...der schönste Geburtstag in meinem Leben. Danke...Papa.“ Nachdem wir den wirklich köstlichen Schokokuchen verzehrt hatten, führten mich Andreas und Chatan durch das hiesige Anwesen. Es war wirklich wunderschön und so erhaben, in einem herrlichen hellen Weißton gehalten und sehr prunkvoll eingerichtet. Ich staunte als ich das Arbeitszimmer von Andreas sah. Es war über und über mit Dokumenten und herumfliegenden Blättern übersäht. Überall lagen benutzte Kohlesreste herum. Wie er mir erklärte, gehörte einer seiner Leidenschaften dem Zeichnen von Menschen. Wie ich später feststellen musste als ich älter wurde auch das Darstellen diverser Aktszenen. Als wir schließlich an meinem Zimmer ankamen, schlug mein kleines Herz wie verrückt. Ich war nervös und aufgeregt, ich würde ein eigenes Zimmer besitzen! Mit einem Lächeln öffnete Andreas die große Türe. „Emilie, das ist dein Reich.“ Als er die Türe öffnete, konnte ich meinen Augen kaum trauen. Ein riesiges Bett ganz für mich alleine. Eine Sitzecke am Fenster mit einem wunderschönen Ausblick nach draußen. Ich sah Regale gefüllt mit Puppen und Teddybären, eine Staffelei, falls ich vielleicht auch mal den Hang zum Zeichnen entwickeln sollte. Ich legte meinen Violinenkoffer auf den kleinen Tisch, auf dem ein großer Spiegel stand, an dem ich später meine Haare vorbereiten, hochstecken oder flechten konnte und sah mich um. Ich schaute nach draußen, sah die Natur und spürte die Sonne auf meiner Haut. Ich ging zum Bett, sah dort das weiße Nachthemd, das ich Zukunft tragen würde wenn ich schlafen ginge. In meinen Augen funkelten Tränen. „Was ist, Emilie? Gefällt es dir nicht?“ Andreas klang ernsthaft besorgt aber es war alles andere als das. Ich drehte mich um und fing bitterlich an zu weinen. „Nein, es...ist alles so wunderschön! Ich habe ein Zuhause! Ein eigenes Zimmer! Meine eigenen Spielsachen! Mein eigenes Bett! Eine Familie!“ Meine neue Familie setzte sich mit mir auf das Bett und kuschelte mich. Ich war so glücklich und so erleichtert. Chatan streichelte mir ein paar Tränen weg. „Emilie, du bist ab heute unsere Tochter. Wir möchten, dass du ein gutes, kindgerechtes Leben hier hast und du glücklich bist.“ Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen und wischte die Tränen weg. Andreas erhob sich und öffnete den Kleiderschrank. „Aber eine Sache haben wir uns aufgesparrt.“ Meine Augen wurden größer als ich dachte als ich plötzlich dieses wunderschöne Kleid in Andrea's Hand sah. Mit vielen Rüschen besetzt durchzog das Kleid ein herrlicher Rot Orange Ton, der im Licht der Sonne strahlte. Mein erstes eigenes Kleid. Das habe ich mir immer gewünscht. „Nochmal alles Gute zum Geburtstag, Emilie und willkommen Zuhause!“ Ich schloss Andreas und Chatan feste in die Arme und weinte von neuem. In dem Moment war ich wohl das glücklichste Mädchen auf dieser Welt. Als Andreas mich Abends zu Bett brachte, blieb er noch eine Weile bei mir am Bettrand sitzen. Die kleine Nachttischkerze flackerte aufgeregt und warf Schatten an die Wände. Ich hatte einen der neuen Teddybären an meine Brust gepresst und genoss das weiche Gefühl des neuen Kissens an meinem Kopf. „Ich...kann euch gar nicht genug danken. Ihr habt so viel für mich getan, ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gutmachen soll. Das habe ich doch gar nicht verdient.“ Andreas schüttelte den Kopf. „Emilie, wir sind froh, dass du bei uns bist. Wir haben uns für dich entschieden und wollen, dass du hier ein glückliches und unbeschwertes Leben führen kannst. Du hast viel mehr verdient als du denkst.“ Nachdenklich ließ ich den Kopf sinken. „Die Schwester im Waisenhaus...sie hat sicher schlimme Dinge über mich erzählt. Es stimmt, ich habe andere Kinder verletzt aber das war nicht meine Schuld! Ich weiß, dass es falsch war aber...ich war so wütend! Sie haben immer so schlimme Sachen gesagt! Aber ihr habt mir eine zweite Chance gegeben. Ich möchte nicht noch mehr Menschen verletzen. Wie könnt ihr mich jetzt schon so lieben, obwohl ihr wisst, dass ich diese schlimmen Dinge getan habe?“ Etwas bedrückt blickte Andreas mit seinen blauen Augen zu mir runter, dann lächelte er gütig und streichelte meine Stirn. „Es stimmt, dass du diese Kinder verletzt hast, war nicht rechtens aber ich verurteile dich nicht. Schuld war die falsche Erziehung dieser Schwestern. Wir wollen aber, dass du mit Liebe und Fürsorge aufwächst. Du brauchst nie mehr Angst zu haben, dass dich jemand schlägt oder dir weh tut. Das verspreche ich dir.“ Ich lächelte und streckte ihm den kleinen Finger hin. „Großes Indianerehrenwort?“ Und Andreas erwiderte, indem er seinen kleinen Finger mit meinem verschränkte. „Großes Indianerehrenwort! Das hat dir doch sicher Chatan beigerbacht, oder?“ Ich nickte zustimmend. „Er ist sehr lieb, er hat mir erzählt, dass er von sehr weit herkommt und die Menschen dort Indianer genannt werden. Sind Indianer alle so wunderschön?“ Es schien, als hätte ich einen wunden Punkt getroffen, denn Andreas nickte etwas in Gedanken verloren. „Ja, das sind sie. Sie sind wundervolle Menschen, die die Natur und die Tiere achten. Aber auch, wenn sie von ihrer Hautfarbe anders sind als wir, wir sind trotzdem alle gleich und alle Menschen. Vergiss das nie, Emilie. Jeder Mensch ist wertvoll, ganz egal, von wo er abstammt. Auch wenn wir unterschiedliche Hautfarben tragen, leben wir doch alle unter demselben Himmel.“ Diese Aussage sollte meine erste Lektion für diesen Abend sein und ich nickte und nahm mir vor, die Worte meines Papa's zu beherzigen. „Weißt du, Chatan kam einst zu mir, da waren wir beide noch Kinder. Er wurde aus seinem eigenen Land entführt, um hier als Sklave verkauft zu werden, also wie ein Diener in einem Haus. Er schaffte es zu entkommen und kam zu mir. Auch er musste damals noch viel lernen. Natürlich war er anders als ich, er war damals wild, hatte keine Erziehung und trotzdem nahm ich ihn auf, so wie er war. Er ist ein wundervoller Mensch und ich kann dem Allmächtigen gar nicht genug danken, dass er Chatan in mein Leben gebracht hat und genauso ist es für uns mit dir, Emilie. Wir möchten, dass du ein Teil unserer Familie wirst. Wir werden dir viel beibringen und dich zu einer eleganten, jungen Frau erziehen aber mit Liebe.“ Ich senkte den Blick und begann zu lächeln. „Chatan ist also...so wie ich. Ich verstehe, was du mir sagen möchtest und ich möchte deine Worte beherzigen. Ich möchte, dass du eins weißt, Papa. Ich möchte eine gute Tochter werden. Ich habe so lange gewartet und gehofft, dass ich irgendwann meine eigene Familie haben kann. Ich habe meinen Wunsch nie aufgegeben. Ich weiß, dass ich manchmal nicht einfach sein kann. Ich hoffe, ich werde euch keine Probleme bereiten. Aber...ich freue mich und bin euch unendlich dankbar. Ich werde euch keinen Ärger machen.“ Vorsichtig nahm mich Andreas in den Arm. „Das weiß ich, Emilie. Und egal, was passiert, du kannst immer mit uns reden. Ruh dich jetzt erst mal aus und schlaf ein bisschen, das war sicher ein sehr aufregender Tag für dich.“ Vorsichtig legte Andreas die Decke über mich und küsste noch einmal meine Stirn bevor er das Licht der Kerze löschte. „Ich hab dich lieb, Emilie. Schlaf gut.“ Ich schloss glücklich die Augen. „Ich hab dich auch lieb, Papa.“ Kapitel 3: Entry 3 ------------------ Die Zeit stand nicht mehr still seit ich bei meinen neuen Eltern lebte. Es war, als hätte man die Sanduhr, die über Jahre still stand, zum ersten Mal nach langer Zeit umgedreht, doch der Sand hörte nicht auf zu rieseln. Jeder Tag brachte mir neues Wissen, neue Erkenntnisse und ein Leben in Wohlstand. Es verging einige Zeit bis ich mich im Tagesablauf der Kaustein's eingelebt hatte aber ich passte mich ihren Regeln an. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so schnell in die Familie einfügen und mich anpassen konnte. Ich hatte nichts von Etikette und musste dies alles noch lernen. Mein Tagesablauf wurde danach strikt eingeteilt, wenn Papa mich morgens zu Frühstück weckte, kämmte er mir meine Haare. Nach dem Frühstück stieg ich in die Wanne und wurde anschließend von Papa in Kunst und Geschichte unterrichtet. Ich merkte, dass ich als Kind nicht viel gefordert wurde, dennoch saugte ich das neue Wissen auf wie einen Schwamm. Wenn der Unterricht beendet war, nahmen mich meine Väter mit nach draußen und wir spazierten durch die Stadt. Wenn ich mich benahm, gab es zum Ende des Tages immer ein Stück Schokokuchen aus meiner Lieblingskonditorei. Ich liebte es, wenn wir draußen waren und in den Park gingen, leider musste ich früh feststellen, dass ich Probleme hatte, unter vielen Menschen zu sein. Sobald wir in eine größere Menge von Menschen traten, bekam ich Panik und hatte das Gefühl, als ob man mir die Luft abschnüren wollte. Da diese Angst die Furcht vor der Schule schürrte, und soweit ich weiß war es Frauen zu meiner Zeit eh nicht erlaubt sich höheres Wissen anzueignen, engagierte Papa über meinen neuen Großvater Ludwig von Kaustein einen Privatlehrer, dem sie vertrauten. Dieser lernte wohl seinerzeit auch schon meinen Papa an als dieser noch ein Kind war. Meinen Vätern war es sehr wictig, dass ich lernte. Natürlich war es Frauen zu meiner Zeit nicht gestattet arbeiten zu gehen aber ich war sehr wissbegierig und wollte so viel wissen, wie es nur ging. Wenn Papa bemerkte, dass ich mich wieder stundenlang selbst nachdem der Lehrer die Lehrstunden beendet hatte mit dem Kopf in meinen Büchern verkroch und er besorgt fragte, ob es nicht genug für heute sei, antwortete ich „Ich habe das Gefühl, dass ich die letzten acht Jahre mit Nichtstun verschwendet habe. Mein Kopf fühlt sich an wie ein Schwamm, der lange ausgetrocknet war und sich nun von Tag zu Tag mit Wasser vollsaugt. Ich möchte so viel wissen wie möglich. Ich möchte später nicht dumm sterben.“ Papa rechnete mir diesen eisernen Willen hoch an. Ich denke, er hatte früh gemerkt, dass ich anders war als andere Kinder. Auf eine Art gab es Momente, wo ich mich in mich zurückzog, dann wiederrum gab es Momente, wo ich wieder voller Tatendrang mich auf meine Bücher stürzte. Es vergingen einige Monate bis mich Andreas und Chatan zum ersten Mal auf eine größere Feier mitnahmen. Zu der Zeit hatten sie mir diverse neue Kleider gekauft und mich soweit vorbereitet, dass ich zumindest einen Abend unter Menschen verbringen konnte. Außerdem wollte ich meine neuen Verwandten kennenlernen. „In dem Kleid wirst du sicher bezaubernd aussehen.“ Ein smaragdfarbenes Kleid passend zu meinen kupferroten Locken. Es war ein Traum von einem Kleid. Ich hoffte, dass ich für den Rest der Familie auch ansehnlich aussah. Die Feier war eher ein Banquet, das als Friedensbeweis zwischen den beiden Familienfehden abgehalten wurde. Wie ich später herausfand war zwar die ganze Familie anwesend, allerdings sowohl der Teil, der den Assassinen angehörte sowie der der Templer. Ein wenig Unbehagen machte sich in meiner Magengegend breit, doch als ich Olivia sah in einem Traum von einem kirschroten Kleid wurde es mir etwas leichter ums Herz. Sie kam freudigerregt auf mich zu, legte den Fächer, den sie in der einen Hand hielt zur Seite und drückte mich vorsichtig. „Emilie, das ist wirklich eine Überraschung! Ich freue mich sehr dich zu sehen! Kaum zu glauben Andreas, aus ihr ist in den wenigen Monaten bereits eine stattliche junge Lady geworden. Findest du nicht auch, Manuel?“ In dem Moment stieß ein Mann zu unserer kleinen Gruppe hinzu und als ich nach oben sah, sah ich das Ebenbild meines Vaters. Es war Andreas aber sein Gesicht strahlte nicht die gleiche Wärme aus. „Durchaus, liebste Olivia! Wirklich eine sehr hübsche junge Dame. Da habt ihr euch wirklich eine hübsche Tochter ausgesucht, werter Bruder.“ Ich merkte sofort eine gewisse Feindseligkeit zwischen Andreas und seinem Bruder, obwohl sie sich normal unterhielten. „Es freut mich auch dich zu sehen, Manuel. Wo ist denn euer Sohn?“ Manuel schaute kurz zur Seite und deutete mit seinem Gehstock auf einen Jungen, der sich auf eine auffordernde Handbewegung von Manuel sofort in Bewegung setzte und zu uns stieß. „Lukas, meinen Bruder und Chatan kennst du ja bereits. Darf ich dich mit ihrer Tochter Emilie bekannt machen?“ Ich wusste nicht, was es war aber in dem Moment, wo sich unsere Blicke trafen, wusste ich, dass Lukas eines Tages mir gehören sollte. Es klingt egoistisch aber vielleicht habe ich schon früh selbst im Kindesalter mein kleines Herz an ihn verloren. Seine Augen hatten diese wunderschöne Himmelblau seiner Mutter aber das sonnengleiche blonde Haar wie sein Vater. Er schien nur wenige Jahre älter als ich zu sein, trotzdem trug er schon stolz diesen Gesichtsausdruck wie sein Vater, voller Hochmut und doch Elegant. Er verbeugte sich leicht vor mir und reichte mir die Hand zu einem Handkuss. „Es freut mich deine Bekanntschaft zu machen, Emilie.“ Etwas überfordert von der liebevollen Geste stieß mir die röte ins Gesicht, die Gott sei Dank von meinen gefühlt 1000 Sommersprossen übertüncht wurde. Etwas verlegen knickste ich vor ihm. „Vielen Dank. Auch mir ist es eine Ehre dich kennenzulernen, Lukas. Und natürlich auch deinen werten Vater, Manuel.“ Ich wollte nur höflich sein, anscheinend beeindruckte Manuel das etwas. Ich bemerkte, wie er Andreas einen Moment zur Seite zog während Olivia angeregt sich mit Chatan unterhielt. Mich interessierte eher die Konversation zwischen meinem Onkel und meinem Vater. „Kaum zu glauben, dass ihr es tatsächlich nach all den Jahren geschafft habt, eine Tochter zu adoptieren. Gerade ihr, deren Stellung und pardon, Beziehung in der Gesellschaft so verpöhnt ist. Aber anscheinend seid auch ihr in der Lage ein Kind zu erziehen. Hut ab, mein lieber Bruder. Anscheinend hast du wenigstens einmal etwas richtig gemacht. Ob Emilie auch eine vollwertige Kaustein wird und diesen Namen auch wert ist? Ich wage dies noch zu bezweifeln!“ Ich bemerkte die feindseligen Blicke, die die beiden austauschten. Anscheinend waren sie nicht gut aufeinander zu sprechen, doch Andreas wusste genau, wie er reagieren musste. „Vertrau mir, Emilie wird dem Namen Kaustein alle Ehre machen, dessen bin ich mir bewusst. In den letzten Monaten, in denen sie bei uns lebt hat sie sich bereits enormes Wissen angeignet sowie eine angemessene Etikette.“ Er drehte sich etwas näher zu Manuel, sodass es für mich schwieriger war die beiden zu verstehen. „Ich weiß, dass du nicht viel von mir hälst, selbst nach all den Jahren kannst du unseren ewigen Familienstreit nicht begraben aber lass es nicht an Emilie aus! Sie ist ein Kind, dem in der Vergangenheit viel Leid angetan wurde und egal, ob ich Blute oder nicht, sie ist meine und Chatan's Tochter und ich erwarte von dir, dass du ihr mit demselben Respekt entgegentrittst wie mir!“ Manuel's Augen hatten sich zu kleinen Schlitzen verengt, dennoch sah ich sonst keinen Ausdruck von Agressivität in seiner Körpersprache. „Lieber Bruder, ich stelle nicht deine Kompetenzen in Frage, du warst schon immer ein Phänomen, was aus unserer Familie hevorging, wenn auch sehr eigenwillig mit deinen...außergewöhnlichen Interessen. Dennoch bist du mein Bruder und ich zweifele nicht daran, dass aus der jungen Dame eine ansehliche Frau eines Tages wird. Bedenke aber immer, dass sie im Vergleich zu uns aus niederen Verhältnissen stammt. Selbst wenn sie eines Tages eine reife, begehrenswerte Frau werden sollte, wird sie es schwer haben einen Mann zu finden, der sie aushält. Wie du es auch drehst, sie ist keine gebürtigte Kaustein. Aber mach dir keine Sorgen, wenn alle Stricke reißen, kannst du ja versuchen, sie zumindest in die Kunst des Tötens anzulernen. Ich sehe Feuer in ihren Augen, vielleicht würde sie eine gute Assassine abgeben.“ Ich verstand nicht, was Manuel meinte, da stellte sich Andreas drohend vor ihn. „Damit dir eine Sache klar ist, Manuel, ich habe niemals und werde niemals die Möglichkeit in Betracht ziehen und Emilie zu einer Assassine ausbilden. Wenn du dies mit deinem Sohn vorhast, ist das deine Sache aber hat da nicht Olivia auch noch ein Wort mitzureden?“ In dem Moment begann Andreas zu grinsen. „Wo wir gerade bei Olivia sind, solltest du, lieber Manuel, ganz besonders vorsichtig sein. Schließlich warst du es, der sich damals in eine Assassine verliebt hat und sie ist auch eine angeheiratete von Kaustein. Also sei vorsichtig, mit dem was du sagst! Wer weiß, vielleicht findet Lukas eines Tages Emilie sogar sehr attraktiv. Oder willst du sagen, dass meine Tochter unwürdig für euren Sohn ist? Lassen wir doch die Zeit für uns arbeiten, Manuel und lass die Kinder erst mal Kinder sein. Findest du nicht?“ Während Andreas sich siegreich grinsend ein Glas Weißwein genehmigte, sah ich die blanke Wut in Manuel, die er allerdings gut zu kontrollieren vermag. Anscheinend hatte Andreas einen wunden Punkt getroffen, doch ergriff auch Manuel ein Glas und stieß mit seinem Bruder an. „Touché, mein lieber Andreas. Trinken wir auf die Zukunft unserer Kinder!“ Für den Rest des Abends herrschte wohl Frieden zwischen den Parteien. Ich verbrachte viel Zeit mit Lukas und versuchte ihn näher kennenzulernen, allerdings schien er die Art seines Vaters schon ein wenig verinnerlicht zu haben. Er versuchte möglichst edel zu klingen, stand kerzengerade und wenn er mit mir sprach, dann kurz und bündig. „Und hast du schon überlegt, was du später mal werden möchtest?“ Lukas ging ein paar Schritte zu einer großen Terasse und schaute zum Himmel. „Wenn ich groß bin, möchte ich Arzt werden. Ich möchte allen Menschen helfen.“ Ich gesellte mich zu ihm und lächelte ihn von der Seite an. „Das ist ein schönes Ziel. Wenn ich groß bin, möchte ich Musikerin werden! Ich möchte vor vielen Menschen spielen. Das ist mein Wunsch.“ Lukas musterte mich skeptisch von der Seite. „Du und Musikerin? Mädchen dürfen nicht arbeiten! Das hat mein Papa gesagt! Ihr müsst das Haus und Kinder hüten!“ Erschrocken über seine Aussage blickte ich ihn an. „Hat dir das dein Papa gesagt? Du kannst auch nichts anderes tun als nachreden, was dein Vater dir sagt, oder?“ Da baute sich Lukas vor mir auf. „Sei still Mädchen, du hast gar nichts zu sagen!“ Das hielt ich nicht aus. Ich begann Lukas zu schubsen und es dauerte nicht lange, bis wir uns am Boden ringend an den Haaren zerrten und uns schlugen bis unsere Eltern eingriffen. So ging es bis zu einem bestimmten Alter übrigens immer wieder. Ich wollte böse auf Lukas sein aber er konnte nichts dafür. Er gab nur das wieder, was sein Vater ihm beibrachte, allerdings wurde ich mir dies erst später bewusst als ich älter wurde. Trotzdem waren seine Worte verletztend gewesen. Wir wurden anschließend auseinandergerissen. Auf unseren kleinen Streit folgte ein Wortgeplänkel zwischen unseren Eltern und wir hielten uns eher im Hintergrund. Unsere Väter hießen es nicht gut, dass wir direkt bei der ersten Zusammenkunft so aufeinander losgingen, doch der gute Geist von Olivia schaltete sich ein. „Jetzt beruhigt euch alle erst einmal und haltet die Luft an! Die beiden sind doch noch Kinder! Es ist doch klar, dass es da auch mal zu Streitereien kommt. Macht sie jetzt nicht dafür verantwortlich und du, mein lieber Manuel, ich denke, wir müssen Zuhause nochmal ein paar Worte wechseln! Ich finde, du setzt Lukas in der letzten Zeit zu viele Flausen in den Kopf, gerade im Hinblick auf die Stellung der Frauen! Darüber sollten wir nochmal reden!“ Unglaublich, selbst der selbstbewusste Manuel ging in die Knie als seine Ehefrau ihn zusammenfaltete. Anschließend hatten sich die Parteien wieder beruhigt und man konnte wieder untereinander reden. Ich denke, der Höhepunkt des Abends für mich war, als ich das erste Mal mit meinem Großvater tanzen durfte. Nun sah ich auch, von wem die Zwillingsbrüder ihr engelsgleiches Aussehen hatten. In jüngeren Jahren muss auch er ein Bild von einem Engelsgesicht gehabt haben. Auch wenn seine Züge heute etwas härter waren und er durch den Bart etwas älter wirkte, tat dies seiner Schönheit nichts gleich. Seine langen blonden Haare trug er im Nacken zu einem festen Pferdeschwanz zusammengebunden und die hellblauen Augen hatten Andreas und Manuel eindeutig von ihm geerbt. Er war ein sehr lieber älterer Herr, der anscheinend mit Stolz Andreas auf die Schulter klopfte, als er endlich seine Enkelin kennenlernte. Am Anfang hatte ich noch Sorge, dass er mich wie Manuel nicht direkt akzeptieren würde aber er war ganz anders als ich es gedacht hatte. Er liebte seine beiden Söhne, vertrat aber anscheinend mehr die Meinung von Andreas. „Du weißt doch, wie Manuel ist. Im Gegensatz zu dir konnte ich ihn leider nicht vor dem Egoismus und Zorn seiner Mutter schützen. Ich denke, es wäre anders gekommen, hätte ich euch beide bei mir aufgenommen aber sie bestand darauf, eines ihrer Söhne zu behalten. Bitte verachte deinen Bruder nicht, Andreas, sein Verhalten rührt nur von eurer Mutter her. Sie hat ihn mit eiserner Hand erzogen und war besessen davon, ihn zu einem Templer zu erziehen. Ich weiß, dass Manuel sehr kalt und berechend sein kann aber ich weiß auch, dass in seiner Brust ein Herz schlägt und auch, wenn er deine Neigung nicht so akzeptiert wie ich weiß ich, dass er dich als seinen Bruder liebt. Außerdem...muss er immer daran denken, dass auch ich eine Templerin geliebt habe genauso wie sein Herz an eine Assassine verloren hat und ich finde, dass Olivia ein sehr gutes Pendant zu Manuel abgibt. Sie tut im gut und zeigt ihm Grenzen auf und auch, wenn er es nicht oft zeigt, auch er hat sich positiv verändert. Wir leben in einer anderen Zeit, Andreas. Die Beziehung deiner Mutter und mir war seinerzeit von einer Zwangsheirat geprägt aber ihr habt die Möglichkeit zu entscheiden, welchen Weg eure Kinder gehen werden und wer weiß, vielleicht haben sich Emilie und Lukas ja schon gefunden und wissen es nur noch nicht. Und wenn es nicht so ist, irgendwo wartet jemand auf sie. Also mach dir keine Gedanken. Ich bin jedenfalls sehr stolz auf dich und Chatan und sehr glücklich, dass eine so großartige Enkelin habe!“ Ich freute mich wirklich sehr über Großvater Ludwig's Worte, er war ein weiser Mann mit viel Erfahrung. Am selben Abend kam ich noch in den Genuss, den Engländer und Templeranführer Haytham Kenway kennzulernen. Es war eher Zufall, dass wir uns kennenlernten, denn ich rannte ungeachtet der Dinge, die da kommen mit meinen leichtsinnigen Gemüt auf die Tanzfläche und rempelte den Herrn versehentlich an. „Oh Gott, verzeihung Sir, das war nicht meine Absicht!“ Als ich zu ihm aufsah, blickte ich in zwei strahlende blaue Augen. Er hatte wirklich ruhige Ausstrahlung eines Engländers, war sehr elegant und edel gekleidet und trug sein schwarzes Haar ebenfalls in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er beugte sich zu mir runter und lächelte mich an. „Schon gut, junges Fräulein, es ist ja nichts passiert. Ich habe dich noch nie hier gesehen. Zu welcher Familie gehörst du?“ Andreas und Chatan gesellten sich in dem Moment dazu und verneigten sich ehrfürchtig. „Master Kenway, verzeiht, die junge Dame gehört zu uns. Ihr Name ist Emilie.“ Der Mann lächelte mich an. „Ah, Emilie, ein wirklich schöner Name zu einer schönen jungen Frau. Ich hatte mich schon gewundert, wann die Herren ihren Nachwuchs mitbringen würden. Anscheinend hat das Hause Kaustein vorgesorgt. Passt gut auf euren Schützling auf. Emilie, ich wünsche dir noch einen schönen Abend!“ Ich verbeugte mich vor dem Mann und verabschiedete mich. Als das Fest sich dem Ende neigte, fuhren wir mit der Kutsche wieder nach Hause. An dem Abend fiel ich totmüde ins Bett, war aber auch sehr glücklich, dass ich den Mut aufbringen konnte, endlich mal unter Menschen zu gehen. Kapitel 4: Entry 4 ------------------ Die Jahre darauf vergingen wie im Fluge, ich erweiterte mein Wissen durch Unmengen schwerster Lektüre, lernte durch Andreas das Zeichnen, bekam eine neue Violine sowie einen eigenen Flügel, auf denen ich spielen konnte und wohnte weiteren den Familienfeiern bei. Zudem lernte ich, wie man es von mir erwartete, die haushaltlichen Pflichten und wie man Speisen zubereitete. Ich liebte vor allem wenn ich Kuchen backen durfte, das gehörte zu meiner Spezialität. Von Jahr zu Jahr blühte ich immer mehr auf und wuchs zu einer, wie Olivia es ausdrückte, begehrenswerten, jungen Frau heran, deren Schönheit anscheinend ihresgleichen suchte. Ich fand die Beschreibung sehr weit hergeholt, im Gegensatz zu anderen Frauen in meinem Alter fand ich mich alles andere als hübsch. Meine langen kupferroten Haare gingen mir mittlerweile bis zum Steißbein. So sehr ich es auch gewollt hätte, ich konnte die wilden Locken nicht bändigen aber Olivia meinte, dass meine roten Locken gerade ihren Reiz hätten, vor allem gegenüber der Männer. Rothaarige Mädchen waren in unserer Zeit sehr ungewöhnlich, deswegen sollte ich stolz auf mein rotes Haupt sein. Wenn ich morgens in den Spiegel sah, konnte ich die neuen Sommersprossen direkt zählen. Ich hatte mittlerweile das sechszehnte Lebensjahr erreicht und konnte von Tag zu Tag zusehen, wie mein Gesicht an Punkten zunahm. Meine Stupsnase saß nach wie vor gerade in meinem Gesicht, jedoch waren meine Lippen fülliger und üppig geworden. Im Zusammenspiel mit meinen himmelblauen Augen, die von einem schwarzen Kranz umrandet wurden waren meine Lippen genau richtig, um von einem Mann erorbert zu werden. Sie würden regelrecht zum Küssen einladen. Wenn Olivia das anbrachte, spürte ich regelmäßig die Hitze in mein Gesicht steigen und Andreas fuhr jedes Mal aus der Haut. Natürlich brachte mir Olivia viele damenhafte Sachen bei, kämmte meine Haare, half mir bei Hochsteckfrisuren und brachte mir anhand ihrer Auswahl von Schminkuntensilien bei, wie man sich angemessen schminkte. Als mein Vater mich eines Tages mit diesem blutroten Lippenstift rumlaufen sah, habe ich die beiden das erste Mal streiten gehört. Ihm missfiel es anscheinend, dass Olivia mich zu sehr umgarnte. Er wusste ihre Bemühungen um mich sehr zu schätzen aber er wolle nicht, dass ich zu aufgesetzt wirkte. Bevor der Streit ausartete, ging ich dazwischen und meinte, dass ich natürlich doch schöner aussehe, obwohl ich mich schon nicht hübsch fand. In einer Sache waren sie sich wohl beide einig, und zwar dass ich ungeschminkt schöner aussähe als manch andere Frau, die auf der Straße umherlief. Die beiden sprachen sich dann noch aus und dann war die Sache erledigt. Andauernd sagte man mir, wie schön ich wäre, dabei hatte ich eigentlich nichts, was man an meinem Körper als damenhaft hätte einstufen können. Ich war viel zu schmal, dass ich manchmal Sorge hatte, meine Kleider würden nicht richtig sitzen und mein Busen sah selbst in einem korrekt zugeschnürrten Mieder zu klein aus. Olivia war der Meinung, dass mein Busen gut sei, so wie er ist und perfekt in eine Hand passen würde. Ob das jetzt gut oder schlecht war, konnte ich nicht beurteilen aber wenn ich manchmal so in ihren Ausschnitt sah, fragte ich mich manchmal, ob Manuel bei einer innigen Umarmung noch Luft bekam. Es begann eine Zeit, wo ich merkte, dass ich zu einer Frau heranreifte. Wenn wir auf Familienfeiern gingen, bekam ich Lukas zwar immer seltener zu Gesicht aber wenn ich ihn sah, umgab er sich meist mit anderen, meiner Meinung nach hübscheren Mädchen als mich. Meist blond oder brünett präsentierten sie sich wie Ware auf dem Markt und machten Lukas schöne Augen. Auch er war in den letzten Jahren zu einem hübschen, ansehnlichen Mann herangewachsen, das Gesicht frei von jeglichem Makel. Wie auch sein Vater trug er immer einen Gehstock bei sich und wurde anscheinend schon in die Kunst der Medizin eingeweiht. Er hatte wirklich Glück studieren zu dürfen. Wenigstens hatte er die Wahl. Ich fragte mich, ob mein Traum, eines Tages Musikerin zu werden, wirklich Bestand hatte. Ich sah Lukas aus weiter Ferne hinterher und wurde mir bewusst, dass ich nie das erreichen würde, was er hatte. Wahrscheinlich würde es mir auch unmöglich sein, ihn zu erreichen. Er war begehrt, das musste ich früh feststellen. Ich versuchte mir dennoch ein Herz zu fassen, trotz der Angst auf Ablehnung zu stoßen. Als ich einen Abend mit ihm reden wollte, wurde er wieder von mehreren jungen Damen, alle in prunkvollen Kleidern umgarnt. Ich hatte seit ich seinerzeit 14 geworden war die Angewohnheit nur noch schwarze Kleider zu tragen. Ich fand, sie passten am besten zu mir und hoben meine kupferrote Haarpracht hervor. Als ich mich Lukas näherte, hatte ich zuerst Sorge, dass er mich nicht erkennen würde. Wir hatten viele Jahre dazwischen keinen Kontakt, hatte ich ihn dennoch immer aus der Ferne beobachten können. Als ich ihn ansprach, versuchte ich zu lächeln und...träumte ich? Auch er lächelte mich an. „Emilie, welch ein Vergnügen dich wiederzusehen. Wie ist es dir ergangen? Du siehst...wunderschön aus.“ Fand er das wirklich oder versuchte er nur nett vor den anderen Mädchen mit mir zu sein? Etwas verlegen versuchte ich das Gespräch etwas anzuheitern, meine Hoffnungen wurden allerdings zunichte gemacht als die Mädchen anfingen mich zu triezen. „Lukas, mit Verlaub aber dieses Mädchen ist doch unter deiner Würde! Wer ist sie überhaupt? Feuerrotes Haar und diese Sommersprossen! Woher kommst du? Wie ein Mädchen aus gutem Hause siehst du ja nicht aus!“ Meine Hände zitterten und ich schaute verlegen zu Boden. „Ich bin...heiße Emilie von Kaustein. Ich bin die Tochter von Andreas von Kaustein.“ Lautes Gelächter. Die Mädchen lachten über mich. „Eine von Kaustein? Nie im Leben! Seit wann nimmt sich eine Familie wie die von Kaustein's Straßenkindern und Hexen an? Du solltest dich schämen, überhaupt den Namen Kaustein auszusprechen! Lass Lukas in Ruhe, er möchte mit dir nichts zu tun haben!“ War das der Auslöser? Ich denke, ja, das war er. Der Abend, an dem die Schatten an den Wänden anfingen lebendig zu werden und die Wahnvorstellungen, die mich seit jeher quälten. Meine Erinnerungen an meine Kindheit holten mich ein. Die Erinnerungen, die ich über die letzten Jahre durch die Liebe, die ich erfahren hatte, so tief vergraben hatte, lebten durch einen einzigen Moment wieder auf. Ich hörte nur noch das Gelächter der Mädchen in meinen Ohren, wie es zu einem Schallen in meinen Ohren wurde und Lukas' Stimme, der sich anscheinend für mich einsetzte, wie ein Echo in weite Ferne glitt. Als ich spürte, wie Andreas seine Hand auf meine Schulter legte, kam ich wieder zu mir. „Emilie, ich möchte eure Konversation wirklich nicht unterbrechen aber die Gäste warten auf dich. Ist deine Violine gut gestimmt? Und...ist alles in Ordnung? Du siehst so blass um die Nase aus.“ Ich wollte Vater keinen Kummer bereiten und setzte ein gespieltes Lächeln auf. Ohne ein weiteres Wort rannte ich in den Raum, wo meine Violine lag und öffnete den kleinen Koffer und wollte sie nochmal richtig stimmen als ich mich durch meinen Handschuh an einer Saite schnitt und sah, wie das Blut zu Boden tropfte. Ein Flüstern drang an mein Ohr, ich schaute auf. Das Flüstern wurde lauter, die Wände, sie bewegten sich. Die Lichter in den Ölkerzen verloschen und ließen eine tiefe Dunkelheit zurück. Mein Atem ging schwer, ich wollte auf die Knie gehen. „Das ist nicht echt! Ihr seid nicht da! Ihr seid nicht da!“ Ich redete es mir so lange ein, bis ich die Augen öffnete und alles beim Alten war. Die Ölkerzen waren nicht verloschen und ich hatte mir auch nicht in den Finger geschnitten. Ich versuchte mich zusammen zu reißen, atmete tief durch und schritt in den Baalsaal, wo die anderen Gäste bereits auf mich warteten. Ich hörte sie klatschen, sah, wie sie mich mit ihren Blicken verfolgten. Vorsichtig stellte ich mich in die Mitte des Raumes und atmete tief durch. Ich musste mich konzentrieren! Die Stimmen, da waren sie wieder! Ich hörte aus der hintersten Ecke ein Kichern. Waren das die Mädchen oder spielte mir mein Kopf einen Streich? Als ob im hintersten Teil meines Gedächtnisses etwas lauern würde. Es wartete auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen. Ich spürte, wie mir die Luft wegblieb, meine Sicht verschwamm. „Emilie, geht es dir nicht gut?“ Vater! Er und alle anderen sahen zu mir auf und warteten auf mein Spiel. Ich konnte, nein! Ich durfte sie nicht enttäuschen! Ich öffnete die Augen, versuchte die Menge um mich herum komplett auszublenden und tat so, als ob ich die einzige in diesem riesen Raum sei. Ich atmete aus und begann zu spielen. Als die Violine erklang, hüllte mich eine angenehme Wärme ein und der Raum um mich wurde in weißes Licht getaucht. Ich nahm den Geruch von frisch gebackenen Kuchen und Schokolade wahr, alles Dinge, die ich gerne hatte und spielte und spielte. Ich merkte, wie ich mich dabei bewegte als ob es völlig normal wäre. Als ob meine Beine von selbst aus anfingen zu gehen. Wenn ich mir schöne Dinge vor meinem Auge vorstellte während ich spielte, waren da keine Schatten. Kein Kichern in meinen Ohren. Da war nur die Violine und ich, als ob wir eine Person seien. Als mein Spiel endete, öffnete ich die Augen. Für den Moment meines Stücks hatte ich mich vollkommen im Klang der Melodie verloren. Nun sah ich die Masse an Menschen vor mir und sie applaudierten und jubelten mir zu. Auch Lukas sah ich in der Ferne begeistert in die Hände klatschen sowie seinen Vater Manuel. Ich verneigte mich und verließ die kleine Bühne. Andreas sagte mir später, wie stolz er auf mich sei und er bereit wäre, mein musikalisches Talent weiter zu fördern, was mich wiederrum sehr erfreute. Auch Lukas teilte mir mit, wie sehr ihn mein Stück berührt hätte und er der Meinung sei, dass ich mein Ziel, Musikerin zu werden, nicht aus den Augen verlieren sollte. Ich hatte seine Worte als Kind nie vergessen, als ich ihn darauf ansprach, wurde er rot vor Verlegenheit. „Ich...habe doch nur nachgesprochen, was mein Vater mir gesagt hatte. Wenn ich dich mit meinen Worten verletzt habe, dann möchte ich mich hiermit in aller Form entschuldigen, Emilie. Ich habe noch nie einen Menschen so spielen hören. Du bist wirklich außergewöhnlich.“ Seine Worte gaben mir neue Hoffnung und Kraft in meinem Herzen. Als wir an dem Abend das Fest verließen, ging ich mit einem guten Gefühl von Zufriedenheit nach Hause. Ich wollte mich in die Kissen meines Bettes fallen lassen und den Tag Revue passieren lassen, ohne einen schlechten Gedanken zu verschwenden. Ich lag nicht ganz im Bett, da hörte ich sie wieder! Die Stimme in meinem Kopf. Ich öffnete die Augen, sah an die Decke und...die Schatten! Sie bewegten sich! Ich hörte die Stimme in meinem Kopf schreien, als ob sie mich brechen wollte. Ich versuchte zu schweigen und hielt mir die Ohren zu, doch es hörte nicht auf. Als ich mir das Kissen auf den Kopf drückte, hoffte ich, dass die Schreie bald aufhören würden, doch als ich sah, wie meine Eltern panisch die Türen zu meinem Zimmer aufrissen und meinen Namen rufend an mein Bett kamen, merkte ich, dass ich es war, die vor lauter Panik schrie. Die Schlinge legte sich um meinen Hals, drückte mir die Luft ab, an dem Abend stürzte ich in ein tiefes schwarzes Loch, aus dem ich mich nicht befreien konnte und das sollte erst der Anfang meines langwierigen Traumas oder besser gesagt, meiner Störung sein. Kapitel 5: Entry 5 ------------------ Mein Leben war von dem Tag an nicht mehr dasselbe wie bisher. Es war als ob jemand einen Schalter umgelegt und dem Bösen Einlass in meinen Kopf gewährt hätte. Jeder Tag war für mich ein neuer böser Traum, aus dem ich nicht erwachen wollte oder besser gesagt, nicht konnte. Nach dem ersten Vorfall nach dem Fest habe ich die Anfälle noch weitesgehend kontrollieren können, doch sie wurden von Tag zu Tag schlimmer, bis ausschlaggebende Fragen zu meinem täglich Brot gehörten. „Wieso bewegen sich die Schatten an den Wänden? Wieso wird es schwarz um mich herum? Wieseo verschwimmen die Gesichter auf den Gemälden zu hässlichen Fratzen? Wieso habe ich Blut an den Händen? Was wollte ich mit der Schere in meiner Hand?“ So schnell, wie diese Dinge auch passierten, so schnell war es meist auch wieder vorbei. Anfangs versuchte ich noch mit diesen Anfällen zurecht zu kommen, um meinen Eltern keine Angst zu machen, doch sobald eines dieser Dinge eintrat, fing ich an laut zu schreien, dass meine Stimme die Stimmen in meinem Kopf übertünchten. Zuerst war es nur ein leises Flüstern, dann wurde es zu einem lauten Schrei, der immer schriller wurde. Es war, als och ich Scherben in meinem Kopf hätte und sie andauernd in meinen Schädel und in die darüber liegende Haut schnitten. Wenn es unerträglich wurde, begann ich an meinen Haaren zu zerren bis ich mir einzelne Büschel rausgerissen hatte. Besonders schlimm war es als Vater an einem Tag mit mir wieder das Zeichnen an Porträts üben wollte. Ich war gerade dabei das Gesicht eines Mannes im mittleren Alters zu zeichnen, es fiel mir mittlerweile nichts mehr schwer Gesichter auf die Leinwand zu bringen und das Gemälde war so gut wie fertig als sich plötzlich anfingen, die Farben zu bewegen und vor meinen Augen zu zerfließen. Aus dem hübschen Gesicht wurde eine mich angrinsende Fratze mit leeren Augenhöhlen, es war, als ob sie mir trotz des leeren Blickes bis tief in den Abgrund meiner Seele schauen würde. Plötzlich bemerkte ich Bewegung in den leeren Höhlen und rote Farbe wie Blut lief in dickflüssigen Tropfen aus dem schwarzen Tiefen des Mannes wie blutige Tränen. Ich ließ vor lauter Panik den Pinsel fallen und starrte auf meine zitternden Hände, die ebenfalls mit roter Farbe beschmiert waren. Aus Angst, es könne sich dabei um Blut handeln, fing ich erneut an zu schreien. Immer wieder brüllte ich „Raus aus meinem Kopf!“, bis ich die warme Umarmung meines Vaters spürte und die Wahnvorstellung schwand. Als ich die Augen öffnete, war da kein rote Farbe an meinen Händen und auch das Gesicht des Mannes war wieder normal. Andreas hielt mich ganz fest umklammert und ich erwiderte mit pochendem Herzen seine Umarmung. „Meine kleine Emilie, ich bin da! Was hast du nur, mein Kind? Ich mache mir solche Sorgen um dich.“ Er tat mir so furchtbar leid. Ich hatte das Gefühl, dass Andreas mehr unter meinen Anfällen litt als ich. Noch nie hatte ein Mensch sich solche Sorgen um mich gemacht. Was mir sehr half gegen die Ängste anzukämpfen, waren die Nachmittage, die ich mit Papa Chatan im großen Garten verbrachte. Dort erzählte er mir viel über seine Herkunft, wie es so ist an dem Ort, wo er herkam, banden Lederketten mit Federn und zeigte mir, entgegen den des Verbots von Andreas, wie man auf Bäume kletterte. Es war ein befreiendes Gefühl wenn wir hoch oben in der Krone des Baumes saßen und wir den Sonnenuntergang beobachteten. Eine von ihm gebundene Blumenkette legte er mir ins Haar. „Vermisst du deine Familie manchmal, Papa Chatan?“ Eine Weile blieb es still, dann antwortete er nickend. „Ja, sehr sogar. Meine Gedanken sind jeden Tag bei meinem Volk und meinem Bruder. Natürlich seid ihr, du, Andreas und dein Großvater Ludwig auch meine Familie, ich verdanke Andreas mein Leben! Wer weiß, wo ich ohne ihn damals gelandet wäre. Als Sklave in einer gehobenen Familie oder vielleicht sogar in einem Freudenhaus. Aber Andreas...er hatte mich so herzlich aufgenommen. Er hatte keine Vorurteile gegenüber meiner Art und akzeptierte mich so, wie ich war.“ Ein verlegenes Lächeln huschte über sein hübsches Gesicht. „Ich war aber auch ein Wildfang. Man merkte, dass zwischen uns Welten lagen. Es war anfangs schwer, sich in diese Gesellschaft einzufügen aber mithilfe von Andreas' Unterricht sowie von Ludwig wurde aus mir ein Mann der Etikette. Emilie, du kannst mir glauben, dass ich sehr glücklich hier bin und auch, wenn es in unserer Welt verboten ist, ich liebe Andreas über alles. Ich würde ohne zu zögern mein Leben für ihn geben! Auch dich liebe ich wie mein eigen Fleisch und Blut. Aber manchmal blicke ich zum Horizont und höre mein Volk, wie es singend um das Feuer tanzt, eingehüllt in Federn und und die Gesichtsbemalung stolz tragend und vorne an mein Bruder, der seit einigen Jahren dort Häuptling ist. Ein Häuptling ist wie ein König, damit du es dir besser vorstellen kannst. Dyami...er ist sicher ein Häuptling, der seinesgleichen sucht. Ich würde ihn so gerne wiedersehen. Manchmal denke ich an die Zeit als Kind zurück und frage mich, ob ich es vielleicht irgendwann bereue, diesen Weg gegangen zu sein. Das Leben bei meinem Volk war unbeschwert, wie hatten unsere Regeln und jeder passte auf jeden auf, bis die Weißgesichter kamen und unser Volk durch einen Brand ausmerzten und mich entführten. Nicht alle Weißgesichter sind schlecht, das weiß ich jetzt aber wir hätten in Frieden weiterleben können. Mittlerweile, das weiß ich durch die Briefe, die mir mein Bruder zukommen lassen hat, haben sie das Dorf wieder aufgebaut und es herrscht Frieden dort.“ Eine Weile schaute ich Chatan traurig an. Sein sehnsüchtiger Blick glitt immer mehr in die Ferne, die ungewöhnlichen hellblauen Augen weit zum Horizont gerichtet. „Dann lass uns doch eines Tages dorthin fahren! Ich würde sehr gerne deine Welt kennenlernen, Papa Chatan und ich könnte deine Familie kennenlernen und du könntest deinen Bruder wiedersehen. Außerdem würde ich sehr gerne mal mit einem Schiff fahren.“ Beinah erschrocken blickte Chatan mich an, tätschelte dann aber zärtlich meinen Kopf. „Ja, das könnten wir eines Tages vielleicht sogar machen. Das wäre schön. Aber nehm die Schiffsfahrt nicht so leicht hin, Emilie, als ich damals nach Deutschland verschleppt wurde, waren wir knapp an die 76 Tage unterwegs. Ich frage mich nur, ob Andreas das zulassen würde wenn wir fahren. Er hatte schon seinerzeit seine Bedenken geäußert, dass er Sorge hätte, dass ich wieder zu meinem Volk zurückwolle und nicht mehr mit nach Deutschland kommen möchte. Aber ich denke, seine Bedenken sind unbegründet. Ich bin ein anderer Mensch geworden, ich denke nicht, dass mein Volk mich heute so wieder aufnehmen würde. Außerdem...habe ich jetzt meine eigene Familie.“ Er fasste vorsichtig an meinen Hinterkopf und drückte seine Stirn sanft gegen meine. Ich schenkte ihm ein Lächeln und küsste seine Wange. „Genauso wie Andreas bist auch du mein Papa und ich liebe dich genauso wie Andreas. Ich wünsche mir, dass du bei uns bleibst. Du bist ein wundervoller Mensch mit einer außergewöhnlichen Schönheit und einem sanften Wesen. Bitte bleib bei uns.“ Ich denke, damit hatte ich sein Herz berührt, denn ich sah Tränen vor Freude und Rührung in seinem Blick und merkte, wie er mich in den Arm nahm. „Kleine Emilie, ich werde euch nie verlassen! Ich liebe euch! Ich möchte dir diese Kette schenken. Es ist eine traditionelle Bindetechnik meines Volkes. Sie wird dich auf allen deinen Wegen beschützen und egal, was passiert, du bist nicht alleine!“ Vorsichtig legte Chatan mir die Lederkette mit den farbigen Perlen und und der Feder um. Seine Worte rührten mich so sehr. Wir stiegen darauf langsam vom Baum hinunter und verloren gegenüber Andreas natürlich kein Wort darüber. Ich wünschte mir so sehr, dass Chatan's Kette mich beschützen und mir seinen Segen geben würde aber die Schatten und Kreaturen und die Stimmen in meinem Kopf hielt sie leider nicht auf. Von Tag zu Tag wurden diese Zustände schlimmer, beinahe passierte es mir als mir mein Kopf vorgaukeln wollte, dass Blut in meiner Tasse statt Tee wäre, dass mir das Teeservice beinahe zu Boden gegangen wäre. Wenn ich baden ging, tauchte ich tief ins Wasser, um die Stimmen um mich herum nicht zu hören. Dabei vergass ich beinahe einmal das Atmen und wenn Papa Andreas nicht gerade in der Nähe gewesen wäre, wäre ich wohl ertrunken. Wenn es Abend wurde, spielte ich meistens noch ein paar Stücke auf meiner Violine auf der Fensterbank sitzend und hoffte, somit die bösen Gedanken zu verjagen, damit ich wenigstens mal eine Nacht vernünftig schlafen konnte. Doch sie kamen immer wieder. Ich begann mit mir selbst zu reden und mich zu beruhigen, bis ich das Gefühl bekam, jemand würde meinen Rufen antworten. „Du bist nicht normal! Du bist wahnsinnig genau wie wir alle hier! Du wirst nie normal sein und den Menschen um dich herum nur weiter weh tun wie du es schon als Kind getan hast! Warum erlöst du dich nicht einfach selbst?“ Ich sah in den Spiegel und sah...mich...doch meine Haare waren blutrot zu einer Hochsteckfrisur mit dicken Locken zusammengebunden, mein Kleid war teils zerrissen und meine Haut kreidebleich als wäre ich schon tot. Mein Selbst grinste mich durch den Spiegel mit einer hässlichen Fratze an und es sah so aus, als ob es versuchen wollte mich zu greifen und durch den Spiegel zu kriechen. Ich schrie vor lauter Panik. „LASS MICH IN RUHE!“ Ich holte aus, die Stimmen in meinem Kopf wurden zu einen schrillen Schrei und als meine Faust im Spiegel landete, dieser in tausend Teile zersprang und die Scherben kreischend zu Boden gingen, erfüllte Schweigen und Stille den Raum. Das einzige, was ich hörte, was mein eigener Atem, der schwer und zitternd ging. Ich bemerkte nicht, wie meine Hand blutete, erst als Andreas und Chatan in mein Zimmer mit Angst in den Augen stürmten und mich ergriffen. „Emilie, was ist geschehen? Um Gottes Willen, du blutest ja! Emilie, was ist passiert?“ Ich blickte Andreas schon fast geistesabwesend an. In meinem Kopf hallte das Klirren der Scherben wider und meine Stimme gleich einen leisen Wimmern, welches von einem Zittern durchzogen wurde. „Vater, ich kann nicht mehr. Ich bin krank. Ich habe Angst...Angst euch oder jemand anderes zu verletzen. Andauernd höre ich diese Stimmen in meinem Kopf und diese Schreie. Sie verfolgen mich Tag und Nacht. Ich bekomme Nachts kein Auge zu weil sie immer da sind. Ich brauche Hilfe! Bitte helft mir, ich habe solche Angst!“ Andreas' Arme schlossen sich eng um mich. Er versuchte mich zu beschwichtigen und sagte, dass alles gut werden würde. Noch am selben Abend, nachdem meine Väter die Scherben entsorgt hatten besuchte uns ein Arzt, dem Andreas vertraute und untersuchte mich. Er führte diverse Untersuchungen mit mir durch, die ich auch weitesgehend überstand ohne Probleme. Als er mir allerdings eine Injektion mit einem Beruhigungsmittel setzen wollte, begann ich aus lauter Panik vor der Nadel wieder an zu schreien. Als der Anfall verflogen war, entschuldigte ich mich bei dem Arzt und fragte ihn, ob es möglich wäre, die Medizin auch über den Mund aufzunehmen. Er nahm es mir nicht krumm, nichtsdestotrotz war es mir unangenehm. Später rief er meine Eltern zu uns. „Master von Kaustein, Ihre Tochter leidet an einer manischen Depression, auch bekannt als bipolare Störung. Die Wahnvorstellungen, unter denen sie leidet, rühren wohl von dem Missbrauch ihrer Vergangenheit im Waisenhaus her. Hat Emilie derartige Gefühlschwankungen schon mal vor Ihnen gezeigt?“ Andreas schaute an dem Doktor vorbei in meine Richtung, mein Blick war zum Fenster gerichtet. Ich beobachtete, wie die Gardinen durch den Wind immer wieder im Zimmer auf und ab wehten. „Ehrlich gesagt...ja, es gab schon häufig solche Momente aber ich habe mir nie etwas dabei gedacht. Kinder sind oft übermütig, ihre Stimmungen können sich von einem auf den anderen Moment ändern. Aber es gab schon manchmal Momente, wo sie älter wurde. In einem Moment war sie voller Euphorie, im nächsten Moment voller Trübsinn. Dann wirkte sie wieder sehr zerstreut und leicht ablenkbar, wieder voller Rededrang und Ruhelosigkeit mit tausenden von Ideen.“ Der Doktor nickte schweigend. „Hat Emilie jemals von ihren Erfahrungen im Waisenhaus erzählt?“ Andreas schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben ihr aber immer die Wahl gelassen. Sie hätte immer mit uns reden können wenn sie das Bedürfnis gehabt hätte. Wir haben ihre Vergangenheit nie hinterfragt weil wir Sorge hatten, dass alte Wunden aufreissen könnten. Wir wollten, dass Emilie ein glückliches und unbeschwertes Leben führen kann. Liegt es an uns, Herr Doktor? Sind wir die Sache falsch angegangen?“ Wie er sich sorgte. Nein, meine Eltern hätte ich nie die Schuld dafür geben können. Als ob der Doktor meine Gedanken hätte lesen können schüttelte er den Kopf. „Nein, Master von Kaustein, sie trifft keine Schuld. Wenn Emilie nicht über ihre Vergangenheit reden wollte, ist das verständlich. Allerdings konnte sie ihre traumatischen Ereignisse nie richtig verarbeiten. Ich bin leider kein Therapeut oder Psychater, Master von Kaustein aber ich empfehle ihnen, sollte sich Emilie's Zustand nicht bessern, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich habe ihrer Tochter soeben eine beruhigende Medizin gegeben, damit sie heute Nacht ruhig schlafe kann. Vielleicht wäre der erste richtige Weg zu reden. Gute Abend.“ Damit verließ der Doktor unser Haus, Chatan geleidete ihn noch zur Türe während Andreas sich zu mir ans Bett setzte. Eine Weile blickten wir uns schweigend an. „Es tut mir so leid, Papa. Das Letzte, was ich wollte, war, dass ihr euch solche Sorgen um mich machen müsst. Ich bin wirklich eine furchtbare Tochter. Ich hätte von Anfang an mit euch reden sollen aber ich habe mich so geschämt.“ Andreas griff nach meiner Hand und streichelte sanft meinen Handrücken. „Emilie, du brauchst dich für nichts schämen. Ich kann gut verstehen, dass du versucht hast deine Vergangenheit hinter dir zu lassen. Es ist aber auch zum Teil meine Schuld. Ich habe so oft gesehen, wie du gelitten hast und habe nichts getan und gehofft, dass es dir bald wieder besser geht. Ich hätte mit dir reden sollen. Es tut mir so leid.“ Vorsichtig legte ich meinen Kopf auf Andreas' Schoß. „Kannst du mir durch die Haare streicheln? Das beruhigt mich immer sehr.“ Ich schloss die Augen und ließ die Berührungen auf mich wirken. Sie waren warm und entspannten mich. „Ich habe die ganzen Ereignisse aus meiner Vergangenheit sehr gut verarbeitet nachdem ihr mich aufgenommen hattet, doch...an dem Abend, wo ich vor allen Gästen auf dem Fest spielen sollte, da ist etwas passiert. Da wären einige Mädchen um Lukas herum...dabei...wollte ich doch nur mit ihm reden. Sie fingen an mich zu triezen, hackten auf mir rum, beleidigten und beschimpften mich auf schlimmste Art. Danach...danach kam alles wieder hoch. So wie damals. Aber es war schlimmer als wie ich es als Kind erzählt hatte. Die Schwestern im Waisenhaus...ich denke, sie hatten mich bewusst als Opfer ausgewählt. Sie ließen andauernd ihren Frust an mir aus, schlugen mich mit Händen und Gegenständen, warfen Sachen nach mir, zogen mir an den Haaren. Sie meinten...ich hätte den Teufel auf der Schulter sitzen. Ich würde niemals eine Familie finden, die mich liebt. Sie waren der Meinung, dass ich nie aus dem Waisenhaus kämen und nahmen das zum Anlass, mich zu quälen. Mit den Schlägen kam ich irgendwann zurecht, auch wenn sie ungerechtfertigt waren. Ich bekam sogar Schläge für Dinge, die ich nicht verbrochen hatte. Aber sie taten mir immer wieder weh. Mit der Flamme einer Kerze verbrannten sie meine Hand als ich angeblich Kekse aus einer Keksdose gestohlen hätte. Sie pieksten mich mit einer Nähnadel in die Hand als ich mein einziges Kleid zerrissen hatte beim Toben. Ob ich denn wüsste, wieviel so ein Kleid wert wäre? Mehr als mein Leben, sagten sie. Sie suchten immer wieder Gründe, um mir zu schaden aber...ich ließ nicht zu, dass sie mich brachen. Ich war noch ein Kind aber ich wollte stark sein. Ich wollte die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit nicht aufgeben. Und jetzt...wo ich endlich frei bin...ich sehe andauernd Gesichter im Spiegel, die Wände, die Schatten bewegen sich und immer wieder sind da diese Stimmen und Schreie in meinem Kopf und ich kann nichts dagegen tun. Manchmal...manchmal möchte ich ein Messer oder eine Schere greifen und alles beenden.“ Ich spürte, als ich das sagte, wie Andreas' Hand aufhörte durch mein Haar zu streicheln. Er sagte nichts aber ich hörte seinen Atem, der schwer ging. „Papa, bereut ihr es, dass ihr mich ausgesucht habt? Ich mache euch nur Ärger und Kummer, dabei...bin ich so glücklich bei euch und euch so dankbar.“ Bestürzt schaute ich hoch und sah...Tränen! Andreas...er weinte. Dann drückte er mich an sich. „Gott Emilie, wie kannst du nur sowas denken? Du bist meine, unsere Tochter und wir lieben dich über alles! Hätten wir das nur gewusst, hätte ich es gewusst! Ich würde alles dafür tun, um dir zu helfen! Bitte denk nie wieder, dass du uns eine Last wärst! Du bist unsere Tochter, wir wollten dich! Und nein, ich würde es niemals bereuen, dich ausgewählt zu haben! Emilie, für deine Störungen kannst du am wenigstens etwas! Du bist ein wundervolles, wissbegieriges und hübsches Mädchen und unglaublich begabt. Egal, was passiert, Chatan und ich, wir geben dich nicht auf! Wir werden alles tun, damit du ein glückliches Leben führen kannst.“ Ich war so erleichtert und so glücklich. Meine Arme legten sich um Andreas und hielten ihn feste. „Ich habe euch so furchtbar lieb, Papa.“ Die Tage darauf packte ich ein paar meiner wenigen Wertsachen ein, die ich fürs erste an den Ort nehmen würde, den ich von da an mein „neues Zuhause“ nennen würde. Wir hatten lange recherchiert und schließlich ein Heim für Geisteskranke gefunden, die dort behandelt werden sollten. Auf eigenen Wunsch wollte ich dort eingewiesen werden, denn ich wusste nicht, zu was ich in meinem jetzigen Zustand fähig wäre. Was wäre, wenn ich Chatan oder Andreas wirklich ernsthaft verletzen würde? Meiner einzigen Familie zu schaden war das Letzte, was ich wollte. Andreas fiel es sehr schwer mich gehen zu lassen. Ich bat inständig darum, kein Wort zum Rest der Familie zu verlieren, insbesondere Lukas nicht. Als Andreas fragte, warum insbesondere Lukas nicht von meinem Aufenthalt erfahren sollte, antwortete ich etwas verlegen und einem Lächeln auf den Lippen. „Ich möchte, dass Lukas mich in Erinnerung behält, so, wie wir nach meinem Stück miteinander gesprochen hatten. Noch nie...hatte er mich so angelächelt. Ich möchte dieses Lächeln für immer bei mir behalten. Die Erinnerung an diesen Abend, die Erinnerung mit Lukas, dieser Moment gehört nur mir.“ Andreas musste etwas grinsen. „Er scheint dir sehr wichtig geworden zu sein. Liebst du ihn?“ Zaghaft zuckte ich mit den Schultern. „Liebe? Vielleicht. Wenn ich an Lukas denke, fängt mein Herz an zu schlagen. Aber bin jemand wie ich überhaupt im meinem jetzigen Zustand überhaupt in der Lage, jemanden zu lieben? Ich denke nicht, dass ich diejenige bin, die an seiner Seite sein wird. Bestimmt...wird ein anderes Mädchen ihn eines Tages sehr glücklich machen.“ Vorsichtig legte Andreas mir eine Hand auf die Schulter. „Mach dich bitte nicht so fertig, Emilie. Du bist eine wundervolle junge Frau und glaub mir, wenn ich dir sage, dass du mir auf so viele schöne Arten bereits deine Liebe gezeigt hast. Wenn du wieder nach Hause kommst, solltest du Lukas aufsuchen und es ihm sagen.“ Ich sah Andreas hoffnungsvoll an und nickte anschließend. Ein letztes Mal schloss ich meinen Vater in den Arm. „Ich hab dich so lieb, Papa und auch Papa Chatan. Ich bin bald wieder da!“ „Wir lieben dich auch, von ganzem Herzen. Wir warten auf dich, Emilie. Das sollte fürs erste das letzte Mal sein, wo ich meinen Vater in die Arme schließen sollte. Hätte ich gewusst, welche Hölle auf mich wartete, ich wäre längst wieder aus der Kutsche gestiegen. In dem Moment, als ich die Anstalt betrat, wusste ich, dass es keinen Weg zurück geben würde. Ich hatte die Pforten zur Hölle betreten und mein Leben sollte nicht mehr dasselbe sein wie vorher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)