Desolate von abgemeldet ================================================================================ Prolog: the first one to blame ------------------------------ If I'm honest I think you'll see I'm scared to share what's calling for me       I     Irgendeine Jukebox in der Nähe spielt Cat's in the Cradle und in dem Moment, als der junge Mann auf dem Boden der Bowlingbahn das realisiert, weiß er, dass irgendetwas schief gelaufen ist. Gleich aus mehreren Gründen. Es gibt keine Jukebox in dem Ort, den er sein Zuhause nennt. Und dass er hier liegt – auf dem nackten Grund, mit mörderischen Kopfschmerzen – ergibt genauso wenig Sinn.   When you comin' home?   Das Lied bricht an dieser Stelle ab. Morris dreht sich auf den Rücken und starrt an die Decke, als könne sie ihm dabei helfen, sich an das zu erinnern, was geschehen ist. Als er den Kopf hebt, um über seinen Bauch hinweg nachzusehen, wo er sich überhaupt befindet, bringt ihm das nicht die gewünschte Klarheit, sondern verursacht nur noch mehr Verwirrung. Eine Bowlingbahn. So eine gibt es in seiner Heimatstadt auch, aber nur eine und das hier … ist sie nicht. Zusammengefasst – er weiß nicht, wo er ist oder wie er hierher gekommen ist. So etwas hat bisher nicht einmal der schlimmste Alkoholexzess zustande bekommen, zumal er sich nicht daran erinnern kann, überhaupt getrunken zu haben, geschweige denn irgendwohin gefahren zu sein. Gut … erst einmal gilt es herauszufinden, wo er sich befindet. Über alles andere kann er sich später noch Gedanken machen. Manchmal passieren eben seltsame Dinge, die man sich nicht gleich erklären kann, auch wenn sie nicht geschehen sollten. Mit dieser erzwungen positiven Einstellung setzt er sich auf und sieht sich noch weiter um. Niemand ist hier. Aber die Bahnen sind beleuchtet. Alles in allem macht das Etablissement einen gepflegten Eindruck. Schon seltsam, dass es verlassen ist. Morris schüttelt seinen Ärmel und wirft einen Blick auf seine Uhr. Der Sekundenzeiger bewegt sich nicht mehr. »Scheiße …« Die Uhr ist kurz nach Vier stehengeblieben. Nachmittag. Mitten am Tag an einem fremden Ort aufwachen – nein, das hatte er so auch noch nicht. Als er aufsteht, intensivieren sich die Kopfschmerzen so sehr, dass er kurz schwankt, weil ihm schwindelig wird, aber nach den ersten Schritten legt sich das Gefühl.   -     Als er die Tür nach draußen aufstößt, ist das Erste, was er sehen kann, eine weiße Wand. Als er tief Luft holen will, entpuppt sich der Nebel nicht als das, was man erwarten würde. Keine feuchte, etwas kühle Luft. Ihm kommt es vor, als hätte er den Qualm einer sehr starken Zigarette eingeatmet. Er hustet und als er die Hand von seinem Mund zurückzieht, sieht sie … dreckig aus. Morris runzelt die Stirn, wischt sich über die Haut und verschmiert irgendetwas … Dunkles. Er hebt den Blick, blinzelt in den Himmel und erkennt, dass da irgendetwas auf ihn hinunter rieselt. Für Schnee ist es zu warm. Aber was kann es sonst sein? »Was zum Henker ist hier los?«, brummt er irritiert. Er schaut nach links und rechts. Kein einziges sich bewegendes Fahrzeug auf der Straße, kein einziger Mensch zu sehen. Nicht einmal in der Ferne hört man irgendetwas. Er fühlt sich wie der letzte Mensch auf Erden. »Hallo?« Er wiederholt das einige Male – so laut er kann. Eine Antwort bekommt er nicht. Er kramt in seiner Jacke nach seinem Smartphone. Vielleicht kann er jemanden anrufen. Das Display ist schwarz. Als er versucht, es anzuschalten, zeigt sich nur der rote Ladebalken. Tot. Das kann er vergessen. Sein Mut sinkt unter den Nullpunkt. Er steckt es zurück und geht weiter. Nach etwa einer halben Stunde lösen sich die Häuser auf. Der Stadtrand? Morris hofft es sehr, denn das Ende einer Stadt bedeutet, dass irgendwo ein Schild stehen muss. Ohne es bewusst zu merken, verfällt er in einen leichten Trab und läuft fast am Schild vorbei, das sich wegen des dichten Nebels kaum von der Umgebung abhebt. Nach dem Sinn dieses Chaos' muss er wohl noch weiter suchen. »Das … gibt’s doch nicht.«   Welcome to SILENT HILL   Er kennt diesen Ort. Aber nur von Geschichten. Von diversen Internetseiten, die man eben so abgrast, wenn man sich für paranormale Dinge interessiert. Aber es sind … Geschichten, nicht wahr? Was für Substanzen hat er bitte zu sich genommen? Morris reibt sich die Augen, blinzelt, doch das Schild bleibt dasselbe. Dafür gibt es keine logische Erklärung. Er blickt die Straße hinunter. Er muss hier weg. Er will nicht darüber nachdenken, wie er hierher gekommen ist, denn es ergibt mehr Sinn, wenn er es für einen Traum hält. Zehn Meter. Zwanzig Meter. Seine Schritte frieren ein. Dann rennt er die restlichen Meter, bis das Ende der Straße ihn abermals anhalten lässt. Und es ist tatsächlich ein … Ende. Vor ihm erstreckt sich ein Abgrund, der nach einem kurzen Stück im Nebel versinkt, aber der Drang … dieser Drang einfach zu springen, ist so mächtig, dass er alle Kraft aufwenden muss, um ein paar Schritte zurückzutorkeln. Morris korrigiert sich selbst. Kein Traum. Ein Albtraum. »Okay … okay, Morris. Reiß dich zusammen. Es gibt sicher noch ein anderes Ortsende. Geh einfach die Straße zurück und suche es. Gerate nicht in Panik, weil niemand dich schreien hören wird. Hah … genau.« Diese leise gemurmelten Worte beruhigen ihn nur nicht wirklich. Noch einmal geht er zu dem Abgrund und schielt hinunter, dann dreht er sich um und kann gerade noch so einen hochfrequenten Schrei unterdrücken. Da steht ein anderer Mann vor ihm, kaum größer als er. Der Nebel und das, was auch immer da vom Himmel fällt, lassen das Gesicht verschwimmen, doch als er die Stimme hört, erkennt er sie. »Du hättest niemals herkommen dürfen.« »Samuel?« Die Überraschung wird zu Entsetzen und das Entsetzen zu nackter Angst, als sein Freund die Arme nach vorn schnellen lässt und ihn nach hinten stößt. Freier Fall. Der Schrei … endlos … Kapitel 1: the second one to jugde ---------------------------------- I hold a candle through the darkness so I believe     II     … schreiend setzt er sich auf, die Hände noch vor dem Gesicht. Doch er fällt nicht mehr. Er sitzt auf einem Bett und abgestandene Luft füllt seine Lungen, als er zu hastig einatmet und alle Selbstbeherrschung zusammenkratzt, um seine verkrampften Finger von seinem Kopf zu lösen. Eine rote Notlichtlampe erhellt den Raum gerade genug, um eine Tür, ein Waschbecken und einige Trümmer zu erkennen. Es ist unglaublich heiß. Irgendwo in der Ferne wummert etwas in regelmäßiger Folge. Morris muss sich zum Weiteratmen zwingen, weil die Panik ihm die Kehle zuschnürt. Dieses Gefühl ist zu lange her, um noch vertraut zu sein. Er denkt an seine Kindheit zurück. Daran, dass da ein Monster in seinem Schrank gelebt hat, von dessen Existenz er niemanden überzeugen konnte, bis es ihn das erste Mal angegriffen hat. Die Wunde auf seiner Brust ist nie richtig geheilt. Mittlerweile ist da nur eine wulstige, hässliche Narbe, die hochsensibel auf Wetterumschwünge reagiert. So auch jetzt. Die plötzliche Hitze lässt sie spannen und jucken. Morris kratzt sie nicht. Morris fixiert stattdessen das Licht und versucht nicht darüber nachzudenken, dass der rote Schein den Raum aussehen lässt wie das Setting eines Splatterfilms. Es fühlt sich einfach nicht gut an. Nichtsdestotrotz schwingt er die Beine aus dem Bett und zuckt zurück, als seine Hände das Laken berühren. Es ist von Motten zerfressen und fühlt sich an, als wäre es nass. Der Sprung und die nachfolgenden Schritte lassen seinen Kreislauf wimmern, doch er bleibt stehen und starrt auf seine Hände hinunter. Da war … Blut auf dem Laken. Oder irgendeine andere dunkle Flüssigkeit. Und jetzt ist es an seinen Händen. Würgend wischt er sich die Finger an seiner Hose sauber und sieht mit geweiteten Augen zur Tür. Er will da nicht raus, aber er will auch nicht hierbleiben. Die entfernten Schläge werden lauter und ein konstantes Surren mischt sich darunter. Als er vor der Tür stehenbleibt und durch das Fenster schaut, erwartet ihn mehr Dunkelheit. Dort draußen ist kein rotes Licht, dass den Gang erhellt. Die Angst verstärkt sich noch und vielleicht sucht er etwas zu hastig nach seinem Sturmfeuerzeug. Er findet es in seiner Jackentasche und braucht lange, um es anzuzünden. Der Schein der flackernden Flamme beruhigt ihn nicht. Er will endlich aufwachen. Das ist alles, woran er denken kann. Dann drängt sich Samuels Bild vor sein inneres Auge und mit ihm zu viele unbeantwortete Fragen. Warum ist der Andere hier? Warum hat er ihn in den Abgrund gestoßen? Was hat er damit gemeint, dass Morris nicht hier sein soll? Sie … kennen sich noch nicht einmal sonderlich lange.   Samuel hat vor gut zwei Monaten in der IT-Firma angefangen, in der auch er tätig ist. Sie haben sich gut verstanden, waren ab und an einen Kaffee zusammen trinken und irgendwann haben sie nachts eine Kneipentour gemacht, sind danach im Bett gelandet und haben beschlossen, es miteinander zu versuchen. Doch zwischen dem letzten Treffen und dem Moment des freien Falls fehlt ein Stück Film. Haben sie sich … hiervor noch einmal gesehen? Hat Samuel ihn hergebracht? Das ergibt keinen Sinn. Sie sind hier in West Virginia, wenn man den Geschichten des Internets glauben kann. Sie beide leben aber in Nebraska. Er schon sein ganzes Leben und Samuel seit den letzten beiden Monaten. Niemand fährt durch halb Amerika, nur um jemanden in irgendeiner x-beliebigen Bowlingbahn zurückzulassen. Oder? Oder? Sollte er sich so sehr in diesem eigentlich recht ruhigen Menschen geirrt haben?   Er schüttelt die zahllosen Fragen ab, streckt die Hand aus und drückt die rostig aussehende Türklinke nach unten. Die Flamme seines Feuerzeugs flackert stärker. Dampf verschluckt den Schein. Er kommt aus dem Boden und als er hinunterblickt, stockt sein Herzschlag. Er steht auf einem Gitter und hunderte Meter unter ihm … glüht der Grund. Was brennt dort? Morris muss den Blick losreißen. Gegenüber ist eine weitere Tür. B 6 steht auf ihr. Er wendet sich nach links und hebt das Feuerzeug. Noch mehr Türen. Doch direkt zu seiner rechten ist nur eine Wand. Die Flamme schwenkt zurück. »Shit, wo bin ich jetzt wieder?«, zischt er. Sein Atem ist holprig. Der Dampf und die Hitze machen das Atmen schwer. Sein verengter Brustkorb tut sein Übriges. Alles in ihm weigert sich weiterzugehen. Aber er muss. Er will hier keine Sekunde länger bleiben. Dem Gitter unter seinen Schuhen traut er keinen Meter weit, umso vorsichtiger bewegt er sich vorwärts, während er das Sturmfeuerzeug in sämtliche Richtungen schwenkt, damit ihm nichts entgeht. Türen über Türen – manche verschlossen, andere angelehnt oder ganz eingeschlagen. Dieser Ort ist eine einzige Ruine, bestehend aus Gittern, Rohren, zischenden Ventilen und ab und an spärlich gefliesten Räumen hinter kaputten Metalltüren. Überall hängen undefinierbare, leicht pulsierende Fetzen herum, die nach Innereien stinken und von denen er sich sehr penibel fernhält. Definitiv nicht mit dem Bowlingcenter zu vergleichen, in dem er aufgewacht ist, aber wie ist das nur möglich? Morris kommt es vor, als wäre er von einer Sekunde auf die andere in der Hölle gelandet. Dem siebten Kreis vermutlich. Es würde ihn nicht einmal wundern, wenn der Teufel höchstpersönlich dort unten auf dem brennenden Grund sitzt und sich ins Fäustchen lacht. Bei allem, was ihm heilig ist – solche Gedankengänge sollte er gerade nicht haben. Die machen seine Situation nicht einfacher. Wenigstens ist er allein. Und er hofft, dass es so bleibt, auch wenn ein kleiner Teil in ihm Samuel suchen und zur Rede stellen will. Doch die Wut hat keine Chance gegen das bedrückende Gefühl der Angst und der Ungewissheit. Seine Hand hört nicht auf zu zittern und nicht nur einmal droht die Flamme zu erlöschen. Nichts wäre schrecklicher, als plötzlich in absoluter Finsternis zu stehen und das Feuer vielleicht nicht noch einmal in Gang zu bekommen.   Als eine Doppeltür in Sichtweite kommt, fällt ihm nicht nur auf, dass das ein Ausgang sein könnte, sondern auch, dass das Wummern irgendwann auf den paar Metern aufgehört hat und dass bemerkt er auch nur deshalb, weil es plötzlich um einiges lauter wieder einsetzt – offenbar direkt hinter der Tür, die er nach einer gefühlten Ewigkeit erreicht hat. Er weicht zurück. Wer macht dort solchen Krach? Er kann nur durch diese eine Tür, um nach draußen zu gelangen. Raus aus diesem Höllenloch. »Aufwachen … wach endlich auf, Morris!«, flüstert er sich selbst zu. Das Wummern stoppt. Das Feuerzeug geht aus, als der nächste Hieb die Tür trifft und sie auffliegen lässt. Das Kreischen der Scharniere fügt sich nahtlos in sein eigenes ein. Das, was er da sieht … er hat keine Worte dafür. Riesig, viel zu breit, um daran vorbei zu kommen und … da, wo das Gesicht sein sollte …   So weit kommt er nicht. Auf dem Absatz dreht er um und sprintet los, ganz ungeachtet des instabilen Grunds unter seinen Füßen. Hinter ihm kracht es wieder, dann erfüllt ein Brüllen den Gang und es lässt das Blut in seinen Adern gefrieren. Er springt durch die erste offene Tür und wirft sie hinter sich zu. Das Feuerzeug geht nicht an, aber die Funken reichen, um das Bett zu erkennen. Ohne weiter zu überlegen, wirft er sich unter das verrostete Gestell samt einer stinkenden Matratze und presst sich die Hand auf den Mund. Poltern vor der Tür. Ein weiterer Hieb der Kreatur und die Tür fliegt auf. Morris presst die Lippen zusammen und starrt panisch in die Dunkelheit. Er kann kaum etwas erkennen, aber umso besser hören. Zwei Schritte macht der Hüne in den Raum hinein, ehe er stehenbleibt. Morris kann das gepresste Atmen hören. Der Gestank von Innereien schwebt in seine Richtung und lässt seinen Magen rebellieren. Er presst sich die Faust, die das Feuerzeug umschlossen hält, ebenfalls gegen den Mund und vielleicht … vielleicht sollte er sich zeigen, um zu sterben, denn gerade wünscht er sich nichts sehnlicher als das, dabei ist er kein Mensch, der solche Gedanken hegt. Dieser Ort … er reißt an seinem Inneren und zerrt es in tiefe Abgründe. Zuvor schon, als er an der Klippe stand. Er hat keine Höhenangst. Er hat keinen Todeswunsch und doch … wäre er beinahe gesprungen. Gedanken, die durch seinen Kopf rasen, während dieses Etwas weiter mitten im Raum steht und nach ihm sucht. Wittert es ihn? Gott … hoffentlich nicht! Der Gedanke, dass, wenn dem so wäre, dieses Wesen ihn schon längst unter dem Bett hervorgezerrt hätte, beruhigt ihn etwas. Dennoch rast das Blut durch seine Adern und sein Herzschlag dröhnt in seinen Ohren. Sekunden werden zu Minuten, zu gefühlten Stunden. Die Kreatur entlässt ein Schnauben und die Schritte entfernen sich. Der Schatten verschwindet nach links in den Gang. Das Wummern setzt wieder ein. Schlägt sich dieser Riese selbst gegen den Kopf oder gegen die Wände? Morris löst die Hände von seinem Mund, ringt hastig nach Luft und schiebt sich langsam unter dem Bett hervor. Wenn er schnell genug rennt, kann er vielleicht fliehen. Der große Körper bewegt sich träge, das verraten die schleppenden Schritte. Allerdings war dieses Monstrum recht schnell an der Tür dieses Raumes. So sehr er die Vor- und Nachteile auch abwägt – Fakt ist, dass es nur einen Weg aus diesem Trakt gibt. Wie es weitergeht, wenn er ihn hinter sich gelassen hat, muss er sehen, wenn es soweit ist. Langsam und so lautlos wie möglich nähert er sich dem Trümmerhaufen, der noch von der Tür übrig ist und wartet so lange, bis das Scheppern in einem weiteren Zimmer verschwunden ist. Dann rennt er. Das Brüllen setzt sofort mit dem lauten Klappern seiner eigenen Schritte ein und Morris beschleunigt noch. Durch die kaputte Flügeltür. Noch mehr Zimmer mit Nummern und Buchstaben, die an ihm vorbeiziehen und noch eine Tür am Ende. Er wirft sich gegen sie und rennt direkt in eine Wand. Er braucht das Feuerzeug, aber bei dem Tempo wird die Flamme nicht brennen. Gehetzt sieht er sich um. Die Tür zu seiner Linken ist näher. Der Gang in der anderen Richtung hat eine ungewisse Länge. Das Glühen unter ihm reicht wirklich kaum aus, um die eigene Hand vor Augen zu sehen, doch durch die dunkle Rotfärbung sieht man doch vereinzelte Unterbrechungen. Er betet einfach dafür, dass er dort eine Tür sieht und sie sich öffnen lässt. Er rast weiter, greift nach den Türklinken und … kann sie nicht nach unten drücken.   »Nein … neinneinnein …«   Das Brüllen ist zu nahe. Mit seinem ganzen Gewicht wirft er sich gegen den Spalt zwischen den Flügeltüren. Immer und immer wieder. Dann … hat er keine Zeit mehr. Das nächste Brüllen erklingt direkt hinter ihm und instinktiv wirft er sich zu Boden, rollt zur Seite und sieht, wie die Faust der Kreatur die Tür und auch einen Teil des Gitters trifft. Es gibt nach. Plötzlich steigt die Temperatur. Der Dampf wird zu Rauch. Schieflage. Morris schreit. Die Kreatur brüllt. Das Gitter gibt unter dem Gewicht nach und sie fällt. Sein eigener Körper schlittert und mehr aus einem Impuls heraus krallt er sich fest. Schmerz zuckt durch seine Finger, aber … er folgt dem Monster nicht in die Glut. An was auch immer er sich da genau krallt – es hält. Er fragt sich nicht wie lange, sondern nur, wie er zu der Tür kommen soll. Das Feuerzeug – seine einzige Lichtquelle – ist fort. Der Mut hat ihn schon vorher verlassen. Jetzt droht auch sein Verstand die Segel zu streichen.   Lass einfach los …   »Nein … nein! Ich lass nicht los!« Egal, wen er da anschreit, auch wenn er selbst es ist – es verschafft ihm den nötigen Ansporn. Er löst die rechte Hand und greift weiter zur Seite. Dann lässt er die Linke folgen. Das Gitter, an das er sich krallt, ächzt qualvoll. Er schielt hinter sich. Gut einen Meter trennen ihn von der Kante, über der die offene Tür ist. Er kneift die Augen zusammen und erkennt, dass das Gitter bis dorthin reicht, aber der letzte Abschnitt nach der Ecke, die er überwinden muss, sieht instabiler aus als das, an dem er gerade hängt. Wenn er seine Füße wenigstens abstützen könnte, doch unter ihm ist Nichts und dann … Feuer.   Lass los!   Morris weiß, dass er keine Zeit mehr hat. Diese dunkle Begierde nach dem Ende – sie wächst mit jeder Sekunde, die er länger hier zubringt und er kann es sich einfach nicht erklären. Was dieser Ort ist, was ihn ausmacht. Samuel. Nein. Er versteht es nicht. Aber alles wird gut werden, wenn er es hier raus schafft. Oder er wacht wirklich langsam auf. Zuhause, in seinem warmen Bett … Er greift wieder um. Das Gitter knarrt abermals. Noch einmal die Hand ausstrecken, die Ecke überwinden und den instabilen Streben blind vertrauen. Die Muskeln in seinen Armen beginnen zu zittern. Seine Finger werden feucht. Das Wimmern scheint nicht von ihm zu kommen. Er zittert am ganzen Körper. Vielleicht kommt das auch vom Gitter. So viele Randeindrücke, die verloren gehen, weil er sich nur auf die Kante der Tür konzentriert. Er kann sie erreichen, wenn er sich nur einmal richtig streckt … Die Metallverstrebungen geben nach, als er es tut. Er schreit und doch … hängt er mit der rechten an der Kante. Das Metall gräbt sich durch seine Haut. Hastig hebt er die linke Hand, versucht mit ihr zuzugreifen, doch er rutscht ab. Noch einmal. Erst nach vier Anläufen und dem intensiven Geruch seines eigenen Blutes bekommt er sie zu fassen und legt seine letzte Kraft in seine Arme, um sich hochzuziehen. Er kann die Füße abstützen. Irgendein weiteres Gitter unterhalb der Tür. Es interessiert ihn nicht. Wichtig ist nur, dass es hilft und als er endlich seinen Oberkörper über dem Rand geschoben hat, will er einfach nur liegen bleiben. Aber er muss weiter. Schnaubend schiebt er sich vorwärts, bis auch seine Beine wieder auf festem Grund liegen. Atemlos bleibt er liegen, zuckend vom Schluchzen, das aus seiner Kehle dringt. Dass er so schnell an seine Grenzen gelangen würde, hätte er nicht gedacht. Er hat sich nie für einen schwachen Menschen gehalten, aber im Moment ist er nichts anderes. Hilflos … allein. Diese schrecklichen Gefühle fressen sich durch seine Eingeweide.   Ein paar Minuten nimmt er sich Zeit, um wenigstens wieder klar denken zu können, dann richtete er sich auf und blinzelt in die Dunkelheit. Er tastet seine Taschen ab, in der Hoffnung, vielleicht doch noch irgendwo ein kleineres Feuerzeug zu finden, aber vergeblich. Morris streckt die Hand aus, tastet ins Leere, bis er auf Widerstand trifft und sich an diesem entlang tastet. Hier sind die Geräusche anders. Kein Wummern oder Surren mehr, dafür ein permanentes Schmatzen und Gurgeln. Millimeter kriecht er vorwärts, bis das Metallgitter endet. Mit tränenden Augen starrt er angestrengt geradeaus. Türen … zwei an der Zahl. Er weiß nicht, was es für Räume sind, aber wenn er Glück hat, beinhalten sie irgendetwas, das ihm weiterhelfen kann. Eine Taschenlampe zum Beispiel. Was würde er für etwas Licht geben! Knarren und Knirschen in den einzelnen Verbindungsstücken der Gitter begleiten ihn auf den zwei Metern, die er bis zu der ersten Tür braucht. Keine Türklinke. Er versucht, sie mit seinem Gewicht aufzuschieben, aber etwas scheint sie von der anderen Seite zu blockieren. Morris tastet sich zur nächsten und seufzt erleichtert, als sich die metallene Tür quietschend öffnet. Dahinter nichts als Finsternis, aber er ist über den Punkt hinaus zu zögern. Er dreht sich und sucht an der Wand nach einem Lichtschalter. Seine Finger treffen direkt auf irgendetwas. Ein Schrank … oder ein Regal. Hastig kramt er sich durch den Unrat, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was er da in den Händen hat. Das würde ihn auch nur wieder zögern lassen, aber die Aussicht auf eine Taschenlampe spornt ihn an. Er findet etwas anderes. Zunächst hält er die schmalen Stäbe für Dynamit, belehrt sich dann aber eines Besseren. So etwas würde nicht einmal in so einer abgefuckten Welt einfach so herumliegen. Seine Finger ertasten eine Kappe und ihm dämmert, was er da in den Händen hält. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er es vermutlich ziemlich cool gefunden, doch gegenwärtig ist er einfach nur furchtbar erleichtert darüber, tatsächlich zwei Flaresticks gefunden zu haben. Er steckt einen in seine Hosentasche und erforscht den verbliebenen mit den Fingern. Er hat noch nie einen benutzt, doch weiß ungefähr, wie sie funktionieren. Manche haben so etwas in ihrem Auto für den Fall, dass sie auf einer einsamen, dunklen Straße einen Unfall bauen und gesehen werden wollen. Seine Fingerkuppen fahren über die Kappe und er bricht sie ab. Darunter ertastet er eine raue Fläche. Er hebt sie zur Nase. Sie riecht nicht nach irgendetwas Chemischen, also nimmt er an, dass es für die Aktivierung ist. Nur wie? Der Stick entgleitet ihm, als er ihn zu fahrig hin und her dreht. Nichts sehen zu können, erschwert es. Erst nach ein paar Augenblicken bemerkt er, dass er den Rest der Kappe abziehen kann. Er dreht sie um, zieht die Spitze des Sticks über sie und schließt geblendet die Augen. Das Licht ist gleißend, aber als er es etwas abschirmt, geht es. Weiter. Er muss weiter. Er durchquert die Tür wieder und leuchtet den Gang aus. Er folgt ihm nach links bis zum Ende. Ein kleines Schild – fast zu rostig, um die Buchstaben darauf zu erkennen – sagt etwas von Treppenhaus. Es wäre sinnvoll zu wissen, in welcher Etage er sich befindet, doch Fenster gibt es keine. Alles endet in dichter Schwärze, die selbst die rote Signalfackel nicht durchdringt. Gegenüber des Treppenhauses erblickt er wieder eine Flügeltür und beschließt, diese zu nehmen. Bisher ist er so gut vorangekommen. Vielleicht sollte er wirklich auf sein Gefühl vertrauen, das wohl irgendeinen Orientierungsmeister in seinem Inneren hervorkitzeln will.   Sie ist verschlossen. Auch als er sich gegen sie wirft, gibt keiner der beiden Abschnitte nach. Links ist eine schmalere Tür, die wohl in einen weiteren Raum führt. Das Schild kann er nicht mehr lesen. Vielleicht gelangt er durch dieses Zimmer auf die andere Seite der Doppeltür. Morris schluckt verzweifelt. Flüchtig ist da der Gedanke, dass er sich vermutlich noch tiefer ins Verderben stürzt, anstatt sich einem Ausgang zu näheren, aber er schüttelt ihn ab. Da sich von beiden Türen dieses Flures nur diese eine öffnen lässt, hat er wohl keine andere Wahl. Der Raum ist voller Schrott und so voll gestellt, dass er hier und da kriechen oder klettern muss, um vorwärts zu kommen.   Nachdem er abermals unter einem Tisch oder was auch immer das metallene, mit rotem Kleister versehene Ding einmal gewesen war, hervorkommt, nimmt er aus dem Augenwinkel eine Bewegung vor sich wahr. Hastig hebt er den leuchtenden Stick und lässt ihn vor Schreck fallen. Eine Frau steht vor ihm. Eine … Krankenschwester? Ihre schmutzige Kleidung kommt dem recht nahe. Schnell verzieht er sich zurück unter den Tisch und starrt sie an. Das Licht ist ein Stück weggerollt und außerhalb seiner Reichweite. Morris presst die Lippen zusammen, erinnert sich aber daran, dass er noch einen Stick in der Hosentasche hat. Die Frau bewegt sich mit abgehackten Schritten in Richtung des Lichtes. Der Anblick hat etwas Skurriles an sich. Und etwas Gefährliches, als er das Skalpell in ihren dreckigen Fingern erkennt. Scheinbar ist sie von dem Feuerschein abgelenkt. Warum? Sie besitzt nicht einmal Augen. Er hat zumindest keine gesehen in dem … Gesicht?   Er will nicht darüber nachdenken.   Vorsichtig krabbelt Morris unter dem Tisch hervor, richtet sich auf und macht einen Schritt, während er sie im Auge behält. Ein Stöhnen dringt über ihre Lippen, ehe sie herumfährt. Morris unterdrückt einen Schrei, indem er sich die Hände über den Mund legt. Sie kommt nicht näher. Er weiß nicht warum. Es ist ihm auch egal. Sehr viel leiser schiebt er den Fuß wieder ein Stück vorwärts, zieht nach. Sie zuckt, wimmert ein wenig und bewegt ihren Oberkörper leicht, aber sie bleibt auf Distanz. Das Geräusch eben muss zu laut gewesen sein. Vielleicht reagiert sie nur auf Laute und auf hellen Lichtschein? Erst der Riese und jetzt eine dreckige, mit Skalpell bewaffnete Krankenschwester ohne Gesicht. Wo ist er hier nur gelandet? Solche Albträume hatte er nicht einmal in seiner Kindheit. Das Monster in seinem Schrank von damals kommt ihm in Anbetracht dessen, was er hier zu sehen kriegt, nahezu lächerlich vor. Die rettende Tür ist nicht mehr weit, auch wenn da die Befürchtung ist, noch mehr von diesen Damen zu begegnen. Oder anderen abscheulichen Kreaturen. Seine Füße schleichen weiter vorwärts. Das seltsame Konstrukt unter ihm, das weder fester Boden, noch Gitter ist, knarrt bei jedem Schritt, so vorsichtig er den Schuh auch aufsetzt. Die Krankenschwester nimmt die Geräusche wahr, aber offenbar sind sie leise genug, um ihr die akustische Orientierung zu nehmen. Morris will sich nicht vorstellen, wie sie ihn mit diesem Skalpell bearbeiten wird, sollte sie ihn in die Hände bekommen und tut es doch. Langsam fragt er sich, ob man sich hier nur die Art seines Todes aussuchen kann, weil der an sich schon längst feststeht, egal was er tut, um das zu verhindern. Kein schöner Gedanke.   Als nur noch ein beherzter Sprung ihn von der Tür trennt, greift er vorsichtig in seine Tasche, um das andere Flare hervorzuholen, damit er gleich wieder Licht hat. Dann macht er diesen einen Satz nach vorn, greift nach der Klinke und drückt sie fahrig nach unten. Der Schwung befördert ihn durch die Tür und ihm entgleitet fast der Stick, als er ihn zu hastig entzünden will. Das Licht verliert sich in der Größe des Saales. Nein. Kein Saal. Ein verdammtes Foyer! Geräusche drängen sich ihm auf, doch Morris ignoriert sie und stürmt los. Ihm bleiben nicht viele Möglichkeiten. Zu seiner Linken ist der Weg mit Trümmern verstellt, also rennt er nach rechts, beschreibt einen Kreis, in dessen Zentrum ein Abgrund ins Bodenlose führt. Kein Glühen am Grund. Nur Schwärze. Alles verzehrende Dunkelheit. Wenn er auch nur eine Sekunde länger hier bleibt, dann wird ihn die Finsternis verschlucken, dessen ist er sich sicher und diese Erkenntnis lässt ihn noch schneller laufen. Eine Tür. Eine … Stahltür. Keine, die ihm verschlossen bleibt.   Helles Licht blendet ihn, gleichzeitig mit einem frischen Windzug, der ihm mit einer nahezu sanften Berührung über das Gesicht streicht. Nach der Hitze im Inneren des Gebäudes ist die Luft hier draußen ein Segen. Erst nach mehrmaligem Blinzeln und noch immer sichtbaren Lichtblitzen auf seiner Pupille erkennt er das Grau in Grau, das ihn schon erwartet hat, nachdem er die Bowlingbahn hinter sich gelassen hat. Eben hatte es ganz anders ausgesehen. Was war das für ein verdammter Ort? Kraftlos stolperte er einige Schritte vorwärts, ehe er ein Schild passierte. Cedar Grove Sanitarium. Diesen Namen wird er nicht vergessen, denn hierher wird er nie zurückkehren. Nicht freiwillig. Vielleicht erst dann, wenn ihn die Stadt tatsächlich seines Verstandes beraubt und er sich selbst für verrückt hält. Dann wird er sich nicht mehr daran stören, dass ein klumpiger Riese mit Zähnen im ganzen Gesicht ihm ans Leder will. Dann wird er ihn freudestrahlend willkommen heißen und sich erlösen lassen. Aber dieser Zeitpunkt ist noch nicht jetzt. Morris nimmt Haltung an, versucht den Nebel mit Blicken zu durchdringen und weiß, dass er nach Samuel suchen muss. Von allein wird er hier nicht wegkommen. Das hat er längst begriffen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)