Lektionen der Magie von Alaiya ================================================================================ Lektion Eins ------------ Es war ein Dienstag, die Straßen waren schon dunkel und noch immer lag Schnee. Kyra sah sich zu Watson um, der wie immer auf ihren Rücksitz saß und müde aus dem Fenster sah, als der Wagen endlich vor dem weißen Reihenhaus am Rand von Livingston stand. „Na, was meinst du, Watson?“ Er sah sie nur verwirrt an und gab einen leisen Kehllaut von sich. Kyra seufzte. Sie war etwas nervös. „Wollen wir etwas Magie lernen?“ Watson bellte. Er hatte absolut keine Ahnung, was Magie sein sollte, da war sie sich sicher, aber ihr Tonfall ließ ihn begeistert klingen. Vielleicht erkannte er auch nur das Haus und erwartete, sich Welpenfutter erschnorren zu können. Dabei war er ohnehin schon ein leicht übergewichtiger Hund. „Dann lass uns mal.“ Sie stieg aus und klappte den Fahrersitz vor, um Watson aussteigen zu lassen. Nachdem sie die Tür geschlossen und den Wagen verriegelt hatte, ging sie mit unsicheren Schritten zur Haustür. Der schwarze Familienvan der Sterling-Familie stand bereits in der Einfahrt, was wohl bedeutete, dass ihre Mentorinnen – es machte ihr beinahe Spaß, so über die beiden zu denken – bereits hier waren. Watson trappelte neben ihr und sah erwartungsvoll zur Tür, als Kyra klingelte. Schritte erklangen auf der anderen Seite der Tür und dann öffnete einer der beiden Zwillinge. Kyra war nicht sicher, ob es Lilly oder Luna war. Sie konnte die beiden einfach nicht auseinander halten. „Hey, Kyra, da bist du ja!“ Der Zwilling grinste sie breit an. Also war es Luna? Sie trat zur Seite und ließ Kyra eintreten. „Lilly, unsere süße, kleine Schülerin ist da“, flötete sie dann in die Wohnung, während sie die Tür schloss. Es war Luna. „Ich bin nicht zu spät, oder?“, fragte Kyra und öffnete ihre Jacke. Sie schlüpfte heraus, während sie Luna in Richtung der Wohnzimmertür am anderen Ende des Flurs folgte, und warf sie auf die Garderobe. „Nein, nein.“ Luna winkte ab und ging durch die Tür. Im Wohnzimmer saß auch Lilly, die abgesehen von ihrem Lächeln Luna bis ins letzte Detail ähnelte, am Tisch. Sie stand auf und kam ihnen entgegen. „Da bist du ja“, kam es auch von ihr. Kyra seufzte. „Ja, da bin ich.“ Watson stürmte an ihr vorbei und sah sich um. Er hechelte und sah sich um, rannte zwei Mal um den Wohnzimmertisch und dann in die Küche, ehe er verwirrt inne hielt. „Es tut mir leid, Watson“, meinte Lilly. „Die Welpen sind mit Andrew in Edinburgh.“ „Er ist mit ihnen allein?“, fragte Kyra. Ein wenig tat er ihr leid, da es bedeutete, dass er auf drei eigentlich ausgewachsene, aber noch immer energetische Wolfswelpen, zwei fünfjährige Kinder und ein Baby aufpasste. Jedenfalls sah sie auch keins der Kinder hier. „Ja.“ Luna grinste. „Wir dachten, es wäre vielleicht besser, wenn wir erst einmal“ – sie räusperte sich – „nur zu dritt sind. Ungefährlicher, weißt du?“ Kyra runzelte die Stirn. Sagte Luna gerade, dass sie Angst hatte, dass Kyra etwas in die Luft jagte? Hatte sie so wenig Vertrauen in Kyras magische Kräfte? Nicht, dass Kyra selbst Vertrauen hatte. Sie hatte selbst keine Ahnung von Magie. Zur Hölle, bis vor vier Tagen hatte sie nicht gewusst, dass sie ein magisches Talent hatte. Sie war sich auch jetzt nicht sicher, ob die beiden sie nicht zum Narren hielten. Für einen Moment senkte sich eine peinliche Stille über die Runde, ehe sich Lilly räusperte. „Willst du vielleicht einen Tee?“ „Gern“, erwiderte Kyra. „Schwarz.“ Lilly lächelte. „Okay.“ Damit ging sie zur Küche, während Luna sich an den Esstisch im Wohnzimmer setzte und Kyra bedeutete, sich ihr gegenüber nieder zu lassen. „Okay, Kyra“, meinte sie. Ihr Grinsen wirkte etwas steif. „Was weißt du über Magie?“ Gott, das alles fühlte sich so surreal an. „Ähm, irgendetwas über Wutschen und Snipsen?“ Luna kicherte kurz, seufzte aber dann. „Okay. Dann fangen wir vielleicht so an: Wir benutzen keinen Zauberstab.“ „Aha.“ Kyra überlegte. „Also eher wie in Jasons komischen Rollenspielen?“ „Ich weiß nicht, was für Rollenspiele Jason spielt“, erwiderte Luna. „Jedenfalls, wir nutzen keine Zauberstäbe.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das habe ich schon gesagt.“ Sie seufzte. „Wir nutzen meistens auch keine Zauberformeln.“ „Was ist mit Tränken?“, fragte Kyra. „Dazu kommen wir später.“ Luna sah zu ihrer Schwester in der Küche. „Also, ja.“ Sie leckte sich die Lippen. „Heute wollen wir erst einmal ein paar Grundlagen herausfinden, um darauf unser späteres Training aufzubauen.“ „Was wollt ihr denn herausfinden?“ Immerhin wussten die beiden doch schon alles über Magie, oder? Wie sonst wollten sie sie unterrichten? Luna grinste und gab ein übertriebenes Seufzen von sich. „Wir müssen erst einmal deine Begabung einschätzen, oder?“ „Begabung einschätzen?“ Kyra runzelte die Stirn, während Watson in die Küche lief und bellte. Lilly kam aus der Küche zurück. Statt einer Tasse Tee brachte sie eine breite, abgerundete Plastikschüssel mit sich, wie man sie manchmal nutzte, um Salat oder vergleichbares zu mischen. Die Schüssel war mit klaren Wasser gefüllt und als Lilly sie auf dem Tisch abstellte, war ein Stein – ein runder, dunkler Kiesel, etwa so groß wie Kyras Handfläche – am Boden der Schüssel zu erkennen. Entgeistert hob Kyra eine Augenbraue. Lilly lächelte ihr zu und ging dann in die Küche zurück, wo Watson bellend wartete. „Du scheinst Hunger zu haben, hmm?“, meinte sie lachend. Watson bellte. Nach einem kurzen Blick zu ihrem Hund, sah Kyra zu Luna. „Und was soll ich damit machen?“ Sie ging davon aus, dass sie etwas machen sollte. Vielleicht sollte sie ihre Hände an die Schüssel legen, um zu sehen, was geschah? Aber das war wahrschenlich zu einfach. Luna lächelte. „Du sollst den Stein aus dem Wasser heben.“ Sie machte eine Pause und schien auf etwas zu warten. Als Kyra verwirrt einen Ärmel hochkrempelte, fügte sie hinzu: „Ohne den Stein zu berühren.“ „Ah.“ Das machte beinahe Sinn. Sie sah die Schüssel an. „Also …“ Sie hielt inne. „Mit Magie?“ Luna grinste sie an, lehnte sich dann auf dem Holzstuhl zurück und wartete. Großartig. Kyra starrte die Schüssel an. Wie sollte sie das jetzt anfangen? Sollte sie irgendeine Art Telekinese benutzen? Gab es überhaupt so etwas wie Telekinese? Praktisch wäre es ja schon. Wahrscheinlich allerdings erforderte es Konzentration, die sie wohl kaum hatte, wenn sie über mögliche Anwendungen von einer solchen Fähigkeit nachdachte. Sie starrte auf die Schüssel. Ihr blasses Spiegelbild starrte von der Wasseroberfläche aus zurück. Ihre Nase juckte etwas. Eine Strähne ihres Haares war ihr ins Gesicht gefallen. Natürlich. Ihre Haare blieben auch nie in ihrem Zopf. Vielleicht sollte sie sich die Haare kurz schneiden lassen. Frustriert wischte sie die Strähne zurück. Sie sah auf die Schüssel. Die Oberfläche warf leichte Wellen, als Lilly zurückkam, dieses Mal mit Tee. Watson aß derweil laut schmatzend Welpenfutter in der Küche. Lilly stellte eine Tasse Tee vor Kyra, setzte sich dann neben ihre Schwester Kyra gegenüber. Kyra seufzte. Sie trank etwas Tee und sah dann zu den beiden hinüber. „Irgendwelche Tipps?“ Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick, wie sie es so oft taten. „Versuch es noch eine Weile allein.“ Noch einmal seufzte Kyra. Dann sah sie wieder aufs Wasser. Zur Hölle, sie hatte bisher nie bewusst gezaubert. Sie hatte wahrscheinlich gezaubert, als sie im Wald vor den Wölfen entkommen war, hatte irgendwie die Pflanzen verändert. Zumindest sagte das Lilly. Auch hatte sie offenbar magisch Molly geheilt, als die Bärin sie verletzt hatte. Zumindest sagte das Lilly. Na ja, und vor vier Tagen hatte sie Wasser für eine Weile in der Luft schweben lassen, als Luna es beinahe auf sie gekippt hatte. Wie hatte sie es da gemacht? Sie hatte darüber nicht nachgedacht. Also: Was war passiert? Hatte sie es wirklich selbst getan? Sie warf den Zwillingen einen kurzen Blick zu. Manchmal fragte sie sich, ob die beiden sie verarschten. Doch verdammt, sie wollte Magie lernen. Irgendwie. Immerhin könnte es nützlich sein. Wegen den Wölfen, aber auch wegen ihrem normalen Job. Wie viel einfacher wäre es verschwundene Dinge und Leute mit Magie zu finden? Also los. Irgendwie musste es ja gehen. Bisher hatte sie nie darüber viel nachgedacht. Viel eher war – angeblich – einfach dass passiert, was sie wollte. Sie wollte, dass der Stein sich bewegte. Mit diesem Gedanken starrte sie den Stein an. Der Stein lag am Grund der Schüssel. Verdammtes Ding. Er sollte sich bewegen. Nur ein wenig. Nur ein wenig, um zu zeigen, dass sie nicht verrückt war. Er sollte sich bewegen. Der dumme Stein sollte sich bewegen. Doch leider tat er ihr den Gefallen nicht. Vielleicht ließen sich Steine nicht bewegen? Vielleicht war die ganze Aufgabe ja ein Trick. Also. Wie sollte sie den Stein sonst aus dem Wasser bekommen? Sie runzelte die Stirn und griff nach ihrer Tasse Tee. Es gab immer mehrere Möglichkeiten. Was wenn sie das Wasser bewegte? Luna hatte gesagt, sie solle den Stein aus dem Wasser heben. Okay, das war nicht ganz dasselbe. Aber vielleicht konnte sie das Wasser irgendwie nutzen, um den Stein zu bewegen. Angeblich hatte sie ja schon Wasser mit ihren Gedanken manipuliert. Also konnte sie es versuchen, oder? Sie starrte auf das Wasser und stellte sich erst einmal etwas kleines vor. Sie wollte, ja, sie wollte, dass ein einzelner Tropfen Wasser sich aus der Oberfläche löste und den Rand der Schüssel hinaufwanderte. Einfach nur um zu sehen, ob es funktionierte. Sie blinzelte, zog die Augenbrauen zusammen und konzentrierte sich. Noch immer geschah nichts. Verdammt. Was machte sie falsch? Machte sie überhaupt was falsch? Nein. Nein. Nein. Wenn sie irgendetwas wusste – vielleicht war es auch falsch sich auf so etwas zu verlassen – dann, dass nichts funktionierte, wenn man zweifelte, ob es funktionieren konnte. Was war vorher anders gewesen? Sie überlegte. Ihr fiel ein, wie ausgelaugt sie sich gefühlt hatte, nachdem sie aus dem Wald geflohen war und vor allem, als sie Molly – angeblich – geheilt hatte. Vielleicht lag es an ihrer Energie. Vielleicht musste sie irgendwie Energie bewegen. Es machte ja auch Sinn, oder? Eigentlich änderte Energie ja nur ihren Zustand, konnte aber nicht geschaffen werden. Vielleicht auch nicht mit Magie. Also musste sie irgendwie, ja, was? Sie musste irgendwie Energie aus sich heraus in das Wasser leiten. Ach, verdammt, wahrscheinlich hätte sie einmal lernen müssen, zu meditieren. Doch so musste sie halt sehen, wie sie es am besten anstellte. Sie versuchte sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Immerhin kannte sie zumindest die Theorie von Meditation und all diesen Dingen. Sie stellte sich vor, wie sie ein wenig ihrer eigenen Energie, ihrer eigenen Wärme ausatmete. Wieder, wieder und wieder. Und dann versuchte sie sich vorzustellen, wie diese Wärme in das Wasser lief und dort einen kleinen Wassertropfen löste. Sie sah auf das Wasser. Wellen bildeten sich an der Oberfläche. War das ihre Magie? War das irgendeine Magie? Oder war nur jemand an den Tisch gekommen? Noch einmal. Einatmen, ausatmen, vorstellen. Erneute Wellen, nur dass dieses Mal kurz ein kleiner Tropfen sich in der Mitte aus dem Wasser zu heben schien. Huh. Ein weiteres Mal. Einatmen, ausatmen, Konzentration auf den Tropfen, dabei wieder atmen. Und da löste sich ein einzelner Tropfen, dieses Mal am rechten Rand der Schüssel, kroch langsam, aber beharrlich – weiter atmen, immer weiter – die Schüssel hinauf, nur um dann vom Rand der Schüssel auf den Tisch zu fallen. Erwartungsvoll sah sie zu den Zwillingen, die wie Spiegelbilder der jeweils anderen vor ihr saßen. Luna hatte ihre Tasse in der rechten, Lilly die ihre in der linken Hand. Sie tranken und schenkten ihr gleich ein doppeltes, mysteriöses Lächeln. Ach, die beiden hatten doch nur ihren Spaß mit ihr. Kyra runzelte die Stirn und sah wieder auf die Schüssel. Also wie bekam sie den Stein mit der Hilfe des Wassers am einfachsten daraus? Etwas sagte ihr, dass es schwer wäre, Wasser, das immerhin nicht fest war, zu nutzen, um ihn zu heben. Also, was? Der Stein war klein, sehr klein. Er würde sich mit dem Wasser bewegen, oder? Und die Schüssel war rund. Wenn sie das Wasser im Kreis bewegte, als würde sie es umrühren, könnte die Zentrifugalkraft ihn vielleicht für sie heben. Das war zumindest einen Versuch wert. Was würde eigentlich passieren, wenn sie sich überanstrengte? Würde sie dann ohnmächtig werden, so wie nachdem sie Molly geheilt hatte? Vielleicht sollte sie es besser nicht probieren. Positiv denken! Sie würde das hier irgendwie schaffen. Mal sehen, wie geheimnisvoll die beiden Zwillinge dann lächeln würden! Sie änderte ihre Vorstellung. Das Wasser sollte sich bewegen, als ob jemand umrühren würde. Praktisch so, wie mit diesen komischen Magnetrührstäben, an die sie sich noch aus dem Chemieunterricht erinnerte. Atmen. Konzentrieren. Atmen. Beweg dich schon, Wasser! Sie sah auf die Oberfläche, als sich tatsächlich eine leichte Strömung zu bilden schien. Ja. Ja, das Wasser begann zu rotieren! Es funktionierte! „Ha“, kam es ihr leise über die Lippen, ehe sie sich wieder an die Sache mit ihrer Atmung, die soweit ja zu funktionieren schien, konzentrierte. Die Rotation des Wassers verstärkte sich, brachte den Kiesel langsam dazu am Boden der Schüssel ein paar langsame Kreisbahnen zu drehen. Okay, sie brauchte mehr Energie, eine schnellere Drehung. Sie konzentrierte sich weiter, merkte, wie ein leichter, kühler Schauer über ihren Rücken wanderte, ließ jedoch nicht nach. Atmen, weiter atmen. Konzentrieren. Wasser. Rotieren. Der Stein sollte sich bewegen. Erstes Wasser schwappte über den Rand der Schüssel, als sich ein Strudel in der Mitte des Gefäßes bildete. Doch es schien zu funktionieren. Der Kiesel schrappte am Rand der Schüssel entlang. Super. Nur noch ein bisschen. Nur ein bisschen. Noch mehr Wasser schwappte auf den Tisch, doch soweit hielt sie niemand auf. Und dann, auf einmal, schoss der Kiesel über den Rand der Schüssel hinweg, flog auf den Tisch, kullerte über diesen und landete schließlich mit einem leisen „Pleng“ auf dem Boden. Noch einmal atmete Kyra aus, dann sah sie zu den Zwillingen, während das Wasser erst langsam wieder zur Ruhe kam. Luna grinste, Lilly wirkte weit weniger begeistert. „Eigentlich habe ich gesagt, den Stein aus dem Wasser heben“, meinte Luna. Kyra zuckte mit den Schultern. „Der Stein wollte sich nicht bewegen.“ „Ich sehe schon“, erwiderte die Magierin. „Wir neigen zur indirekten Problemlösung.“ „Wie wäre es mit direkten Lösungen, um den Tisch zu säubern?“, meinte ihre Schwester und warf ihr einen Seitenblick zu. Luna lächelte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Tisch zu, woraufhin das Wasser wie umgekehrte Regentropfen nach oben schwebte, wo es sich in einer Blase sammelte und sich langsam zurück in die Schüssel senkte. Dann zwinkerte sie Kyra zu. „Man muss ja auch etwas angeben, oder?“ Kyra sah sie nur mit hochgezogener Augenbraue an. Sie war sich noch immer nicht ganz sicher, was sie von alledem denken sollte. „Und was sagt mir das ganze jetzt?“ „Das du interessante Lösungsansätze hast“, erwiderte Luna. Ihre Schwester sah zu ihr, wandte sich dann aber Kyra zu. „Ganz offenbar, dass dir Wasser eher liegt als Gestein.“ Noch einmal sah sie zu ihrer Schwester und murmelte: „Etwas ungewöhnlich.“ Luna zuckte mit den Schultern. Dann stand sie auf, ging zur Medienwand auf der anderen Seite des Zimmers und öffnete eine Schublade unter dem Fernseher. Sie holte etwas daraus hervor und kam damit zurück. Es war, wie sich herausstellte, eine Feder. Eine große, Klischeehafte weiße Feder. Unwillkürlich wanderten Kyras Augenbrauen erneut zweifelnd nach oben. „Ähm, Wingadium Leviosa? Mit dem A schön lang?“, meinte sie fragend. Luna kicherte leise. „Ja, so in etwa.“ Sie schob die Schüssel zur Seite und legte die Feder vor Kyra ab. „Du hast schon richtig erkannt worauf wir hinaus wollen: Bring die Feder zum Schweben.“ Also gab es mehrere von diesen Prüfungen? Huh. Und was kam als nächstes? Feuer? Sie sah auf die Feder, während Luna sich setzte. Erneut trank Kyra einen Schluck Tee. Logischer Weise würde es wohl darauf hinaus laufen, die Luft zu bewegen. Nun, gut. Einatmen, ausatmen. Harry Potter Referenzen verdrängen. Nicht der Versuchung erliegen, einfach zu pusten. Sie kam dennoch nicht umher leise „Wingardium Leviosa“ zu murmeln, als sie sich vorstellte, wie die Luft sich unter die Feder bewegte und sie nach oben drückte. Einatmen, ausatmen. Energie. Die Seiten der Feder bewegten sich – gut, weiter! – und dann, auf einmal schoss die Feder nach oben. Wie ein Kronkorken aus einer Flasche schoss sie in die Luft, bis sie beinahe die Decke erreichte, ehe sie langsam wieder hinabsegelte und vor Kyra liegen blieb. „Oh“, machten die Zwillinge beinahe synchron. „Luft scheint dir eher zu liegen, hmm?“, meinte Luna amüsiert. „Sehr schön.“ Kyra sah zu ihr. „Wann kommt der Teil, wo ihr mir etwas erklärt?“ Luna zuckte mit den Schultern. „Später. Wie gesagt, wir wollen erst deine Begabungen verstehen.“ „Wir wollen nicht zuletzt wissen, wer von uns beiden dich besser unterrichtet“, erwiderte Lilly. Kyra sah von Lilly zu Luna und wieder zurück. „Okay.“ Wieso waren ihre Begabungen wichtig dafür, wer sie unterrichtete. Sie seufzte. „Also, was soll ich als nächstes machen?“ Sie war sich relativ sicher, dass das noch nicht alles war. Wieder tauschten die beiden Schwestern Blicke, ehe Luna wieder aufstand und in die Küche ging. Sie holte einen Kerzenständer, samt einer hohen, weißen Kerze, die sie offenbar extra vorbereitet haben. „Soll ich die anzünden?“, riet Kyra, als Luna sie vor sie stellte. „Nein“, sagte Luna schnell. „Auf keinen Fall.“ Sie ging zum Medienregal und holte eine Packung Streichhölzer hervor. Kyra sah sie zweifelnd an. „Meine liebe, süße Schülerin“, meinte Luna. „Ich möchte dich warnen, deine Finger vom Beschwören von Feuerbällen und dergleichen zu lassen. Wirklich.“ Sie sah sie eindringlich an. Unsicher hob Kyra eine Augenbraue. „Wieso?“ „Weil sehr viel schief gehen kann.“ Lilly tauschte Blicke mit ihrer Schwester. „Feuermagie kann sehr verzehrend sein und ist manchmal schwer zu kontrollieren. Speziell wenn man versucht Flammen zu beschwören. Also beschränken wir uns auf die Kontrolle von Feuer.“ Sie lächelte. „Erst einmal.“ Kyra sah sie an und hob eine Augenbraue. „Okay.“ Was sollte sie sonst sagen? Dabei hatte sie sich eigentlich darauf gefreut, Feuerbälle zu beschwören. Es war immerhin der coolste, allgemein bekannte Zauber. Also allgemein bekannt in dem Sinne, dass man ständig sah, wie Charaktere in Film und Fernsehen es taten. Luna zündete die Kerze an. „Kontrolle.“ Sie lächelte. „Wir wollen nur von dir, dass die die Flamme höher flackern lässt. Mehr nicht.“ „Okay.“ Langsam kam sich Kyra sehr einsilbig vor. Doch was blieb ihr sonst zu sagen? Außer: „Das ist wirklich alles?“ „Oh, da wird jemand selbstbewusst, hmm?“ Luna grinste. „Ich meine nur … Alles andere wirkte … Komplexer.“ Kyra hob eine Augenbraue. Die beiden Schwestern tauschten einen Blick. „Nun, dann schau einmal, wie gut es dir gelingt“, meinte Lilly. „Sorg dafür, dass die Flamme höher flackert.“ „So, als wäre die Kerze am Ende?“ „Genau so.“ Kyra antwortete nicht, sondern sah auf die leicht tänzelnde Kerzenflamme. Sie erinnerte sie an die bald beginnende Weihnachtszeit und allen Dingen, die damit verbunden waren. Sie starrte auf die Flamme und versuchte es zu tun, wie zuvor: Sie versuchte sich vorzustellen, wie die Flamme höher und immer höher flackerte. Doch für den Moment geschah nichts. Die Flamme tanzte nur ein wenig hin und her, so als wäre ein Wind durch den Raum geweht. Verdammtes Ding. Jetzt wollte Kyra es zeigen. Wieder legte sie die Stirn in Falten, konzentrierte sich auf ihre Atmung. Ein, aus, ein aus. Na, würde etwas geschehen? Würde es funktionieren? Noch einmal stellte sie sich vor, wie die Flamme der Kerze in die Höhe schnellte, versuchte diesen Gedanken irgendwie in Einklang mit ihrem Atem zu bringen. Größer, befahl sie innerlich der Flamme. Größer. Ein, aus, ein … Und dann auf einmal explodierte die Flamme förmlich, nicht nur in die Höhe, sondern auch in die Breite. Der Geruch von versengtem Haar breitete sich aus, als die Flamme einzelne Haare von Kyras Pony umzüngelte, dankbarerweise jedoch nicht ihr ganzes Haar in Brand steckte. Watson, der noch immer in der Küche saß, machte einen Sprung in die Höhe, jaulte auf und ging hinter den Tresen der Küche in Sicherheit. Ein eisiger Schauer überkam Kyra. Dann erlosch die Flamme. „Oh“, machte Kyra leise. Sie starrte die erloschene Kerze an. „Das war …“ Sie merkte, wie sie selbst zitterte. „Alles okay?“, fragte Lilly. „Wir sagten ja“ – Luna stand auf und kam zu ihr herum – „Feuer ist verzehrend.“ Sie legte ihr die Hand auf die Stirn, als wolle sie ihre Temperatur fühlen. „Nun, es könnte schlimmer sein.“ Kyra sah zu ihr auf. „Was ist gerade passiert?“ „Du hast ein wenig zu viel Energie in den Zauber gelegt“, erwiderte Luna. „Feuer lädt dazu ein.“ Sie lächelte, grinste nicht, und seufzte. „Aber es ist alles noch relativ gut. Andere Anfänger knocken sich damit komplett aus und setzen Häuser in Flammen. Also: Es könnte schlimmer sein.“ Auch Lilly ließ ein Seufzen hören. „Vielleicht sollten wir es dabei für heute belassen.“ Luna sah sich zu ihrer Schwester um. „Lils.“ In ihrer Stimme klang eine Mischung, aus Amüsement und scherzhafter Warnung mit. „Ich brauche die Tulpen noch.“ Lilly sah sie an. „Wir haben noch andere Tulpenzwiebeln“, meinte Luna. „Aber es sind Pflanzen.“ Lilly zog verspielt einen Schmollmund. „Willst du wirklich …“ „Früher oder später müssen wir eh“, erwiderte Luna. „Pflanzen?“, fragte Kyra. Also sollte sie als nächstes was genau machen? Zugegebener Maßen wäre sie mittlerweile um eine Pause dankbar gewesen. Immerhin fröstelte sie noch immer. Auch spürte sie langsam aber sicher Hunger. Machte Zaubern hungrig? Lilly seufzte schwer. „Ja. Pflanzen.“ Sie sah ihre Schwester lang an, ließ dann jedoch ein weiteres Seufzen hören und stand auf. „Ich hole sie.“ Damit ging sie zur Tür des Wohnzimmers und in den Flur. Ein Knarzen verriet, dass sie offenbar ins obere Stockwerk des Hauses ging. Kyra sah zu Luna. „Was …?“ Luna lächelte. Sie ging wieder zur anderen Seite des Tisches, um sich zu setzen. „Lilly hängt an ihren Pflanzen.“ „Aha“, meinte Kyra. Magier waren seltsame Leute – wenngleich nicht so seltsam, wie Werwölfe. Schritte auf der Treppe verkündeten Lillys Rückkehr und als sie ins Wohnzimmer kam, trug sie einen kleinen Blumentopf aus Porzellan bei sich, in dem das zarte Grün eines kleinen Sprößlings zu sehen war. „Was soll ich jetzt machen?“, fragte Kyra matt. Lilly bemühte sich um ein Lächeln. „Bring diese Pflanze zum Wachsen.“ „Okay.“ Schon wieder! Ach, sie sollte sich mehr verschiedene Antworten einfallen lassen. Sie sah auf die Pflanze. Die Aufgabe kam ihr komplexer vor, als die anderen, die fast durchgehend einfache Physik waren. Bewegung, Energie. Eine wachsende Pflanze, das war komplexer. Doch wenn die Zwillinge es von ihr verlangten, sollte es irgendwie möglich sein, oder? Sie sah auf den Sprößling. Tulpe, hatte Lilly gesagt. Mental erschuf Kyra das Bild einer wachsenden Pflanze, die zu einer bläulichen Tulpe wurde. Wie wusste nicht, warum bläulich. Gab es überhaupt bläuliche Tulpen? Wie auch immer. Sie hielt sich an diesem Bild der wachsenden Pflanze fest, hoffte, dass es damit getan war und konzentrierte sich erneut auf ihren Atem und was auch immer dieses Gefühl war, dass sie erfüllte, wenn sie diese Zauber konstruierte. Es fühlte sich an, als würde ihr ein wenig Wärme entzogen. Atmen. Energie. Wärme. Bild. Atmen. Und zu ihrer Überraschung bewegte sich die Pflanze ein wenig. Sie wuchs ein kleines bisschen in die Höhe. Nein. Nicht etwas. Sie wuchs weiter. Langsam, aber doch wie im Zeitraffer, wuchs der grüne Stängel der Pflanze in die Höhe. Die Knospe zeigte sich deutlich am Ende, kam zwischen den Blättern hervor, wuchs weiter, immer weiter. Langsam und doch unnatürlich schnell öffnete sich die Knospe – bläulich – als eine Stimme in Kyras Bewusstsein drang: „Kyra! Kyra!“ Jemand griff nach ihrem Arm. Kyra zuckte zusammen und sah auf. War sie so in den Zauber versunken gewesen? „Kyra?“, fragte einer der Zwillinge. Es musste Luna sein. Verwirrt blickte Kyra sie an. „Was?“ Luna sah auf den Tisch, wo die Tulpe bläulich blühte. Doch die Tulpe war nicht das einzige, das sich verändert hatte. Da waren auch Blätter und kleine Äste. Blätter und kleine Äste, die aus dem Tisch wuchsen. Die Zwillinge sahen sie an. Kyra starrte zurück. Hatte sie das gemacht? Nein, eine bessere Frage: Wie hatte sie das gemacht? Sie hatte sich dergleichen nicht vorgestellt. Wenn sie das gewesen sein sollte, dann war das einfach passiert. Watson kam vorsichtig aus seinem Versteck hervor, kam zu ihnen hinüber und schnüffelte an einem Ast. Er wirkte verwirrt, aber neugierig. Schließlich räusperte sich Luna. Noch einmal tauschte sie einen Blick mit ihrer Schwester. „Ich denke, wir haben dein Talent gefunden.“ Lilly schüttelte den Kopf. „Das erklärt zumindest einiges.“ „Was?“ Noch immer verwirrt sah Kyra zu ihnen. „Was ist gerade passiert?“ „Nun, meine liebe Schülerin“, meinte Luna süffisant. „Es sieht ganz so aus, als wüssten wir, wie du im Wald entkommen bist.“ Sie schenkte ihr das Luna-typische Grinsen. „Und ich denke“ – noch einmal wechselte sie Blicke mit ihrer Schwester – „das ich vorerst deine Ausbildung übernehmen werde.“ Kyra runzelte die Stirn. „Und das heißt?“ Lunas Grinsen verblasste nicht. „Das heißt, dass wir als erste Lektion sehen, wie wir diesen Tisch reparieren.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)