Freaky Hell von Platan ================================================================================ Prolog: Prolog: Licht --------------------- Ein frecher und leicht überheblicher Ausdruck lag stets auf dem Gesicht des Jungen, der sein Ziel soeben erreicht hatte. Inzwischen war er allerdings schon lange nicht mehr dieser kleine Rotzlöffel von damals, dem nachgesagt wurde, er hätte nichts als Unfug im Kopf. Unter seinen sogenannten Streichen litt einst ganz Abyssus. Feuerrot glänzte sein langes, glattes Haar, das er seit kurzem erst zu einem geflochtenen Zopf gebändigt trug. Seine goldenen Augen, das einzigartige Markenzeichen der unbekannten Teufelsrasse, funkelten regelrecht vor Faszination beim Anblick des grünen Lichtspiels, dem er gerade gegenüber stand und wonach er sich so sehr gesehnt hatte. Schon seit langer Zeit. Das hautenge, schwarze Oberteil war mit Dreck und sogar Blut verschmiert, ebenso wie die Hose, die ihm eigentlich zu groß war. Beides Hinweise darauf, wie schwer und hart der Weg hierher für ihn gewesen war. Irgendwo hatte er unterwegs dann auch noch seine Schuhe verloren, aber denen trauerte er nicht wirklich nach. Sie gefielen ihm sowieso nicht, er war froh sie los zu sein. Nach all den anstrengenden Prüfungen und der nervenraubenden Reise jammerte er bestimmt nicht mehr solchen Kleinigkeiten hinterher. Ihm war es tatsächlich gelungen, eine Veränderung zu durchleben, wobei er seinen Prinzipien dennoch nach wie vor die Treue schwor. Des Weiteren hatte er es sogar geschafft sein persönliches Ziel zu erreichen, es trennten ihn nur noch wenige Schritte von dem gewaltigen Tor zur Erfüllung all seiner Träume. Nicht mal eine Minute stand zwischen ihm und diesem Glück, in das er sich ohne weitere Hindernisse sofort begeben könnte, wäre da nicht ein gewisser Haken: Bei seiner Wenigkeit handelte es sich um etwas Unreines, noch schlimmer als bei einem niederen Dämonen. Schlimmstenfalls brachte sein Lebenstraum ihm also den Tod, doch er wich nicht zurück. Nicht mehr. „Ich habe dich also wirklich gefunden, was?“, murmelte er, zufrieden mit sich und seiner Leistung. „Lumenia.“ Obwohl ihm das Atmen angesichts der letzten Strapazen deutlich schwer fiel und die Wunden seinen Körper schwächten, fühlte er sich gut. Besser als jemals zuvor sogar. Jedenfalls versuchte er vergeblich, sich das einzureden. Jetzt bin ich zwar so weit gekommen, aber ... Erschöpft sank er auf dem schneeweißen Marmorboden zusammen, ohne den Blick von diesem traumhaft schönen Portal nehmen zu können, zu dem ein paar Treppenstufen empor auf eine schwebende Plattform führten. Einige Augenschläge später musste er hart schlucken. „Aber zu welchem Preis?“ Ein schweres Seufzen entglitt ihm. Auch wenn er sein Ziel erreicht hatte, konnte er diesen Triumph nicht wirklich genießen. Etwas fehlte. Und was es war, wusste er ganz genau. „Vermaledeit. Vermaledeit nochmal!“ Wütend schlug er mit den Fäusten auf die erste Treppenstufe vor sich und stieß dabei einen bitteren Fluch aus, der sich in dem düsteren Nebelschleier um ihn herum verlor. Erst jetzt erkannte er es. Erkannte, was man ihm bereits von Anfang an näher bringen wollte und konnte sich selbst nicht für seine eigene Dummheit verzeihen. Wie blind er doch gewesen war. Ich habe alles, was ich hatte, aufgegeben. Alles. Nur um ... Stille eroberte diesen Moment. So sollte es also zu Ende gehen? Auch wenn ich umdrehen und einfach zurückgehen würde ... ich wäre unglücklich. Sehr sogar. Und mein Vater? Wäre er es auch? Nachdenklich wandte er den Blick von Lumenia ab und führte ihn bedrückt auf den dichten Schleier aus Dunkelheit, durch den er an diesen heiligen Ort gelangt war, den für gewöhnlich niemand so leicht zu Gesicht bekam und schon gar nicht jemand von seiner Sorte. Es zählte als eine Sünde. Er dürfte eigentlich gar nicht hier sein. Sollte auch nur ansatzweise die Chance dafür bestehen, nach Abyssus zurückkehren und herausfinden zu können, ob sein Vater oder seine Brüder auf ihn warteten, ihn vermissten, sollte er dann nicht besser kehrt machen? Ja, er hatte in der Vergangenheit viele Fehler gemacht, was bestimmte Regeln betraf, und die konnte man leider nicht rückgängig machen. Aber falls es trotzdem eine Möglichkeit gäbe, alles wieder in Ordnung zu bringen und Vergebung erwarten zu können? „Nein“, presste er ausdruckslos als Antwort hervor. „Das ist unmöglich. Oder, Lumenia?“ Irgendwas musste er jedoch tun, schließlich zerbrach gerade alles in der Ferne dieser scheinheiligen Ruhe. Eine Idee hatte er bereits. Die wahrscheinlich verrückteste Idee überhaupt: Er würde sie um Rat fragen, selbst wenn es ihm nicht erlaubt war. Selbst wenn es für mich bedeuten könnte für immer zu verschwinden, gibt es nur diese eine Möglichkeit. Und wenn es für mich tatsächlich nur das Nichts geben sollte, dann ist es eben so. Langsam richtete der Junge sich wieder auf, atmete ein letztes Mal tief durch und machte sich auf den Weg, seinem Schicksal zu begegnen. Egal wo er letztendlich landen würde, er war froh über die Entscheidung seines Vaters. Denn dadurch hatte er lernen können, worauf es im Leben wirklich ankam, was er leider viel zu spät verstanden hatte. „Mein Name ist Lucien“, sprach er mit fester Stimme zu Lumenia, kaum dass er die Treppen emporgestiegen war. „Ich möchte das Licht sehen. Ich weiß, ich bin kein Engel und nicht heilig, aber wenn ich es doch wert bin, dann zeige es mir bitte.“ In seinem Kopf hallte plötzlich eine unvergleichbar sanftmütige Stimme wider, während er sich von dem warmen Licht umarmen ließ und tiefer in dieses schwerelose Meer aus Geborgenheit eintauchte. „Das Licht, Lucien, ist überall. Überall dort, wo der Mut in den Herzen schlägt, es erreichen zu wollen. Also musst du mutig sein. Mutig genug, um das Licht sehen und verstehen zu können, genau wie ein Held sich schweren Prüfungen stellen muss. Bist du dafür bereit? Gut. Ich zeige es dir, aber du wirst mit Sicherheit enttäuscht über die Wahrheit sein. So lass uns gemeinsam in der Vergangenheit auf die Suche nach dem Licht gehen. Was man als Licht bezeichnet, findet vor genau einem Jahr in einem legendären Königreich seinen Anfang. Es ist eine lange, aber spannende Geschichte.“ [Akt 1] Kapitel 1: Eine beunruhigende Warnung --------------------------------------------- Über die Unterwelt, bei den Menschen auch als Hölle geläufig, herrschte einzig und allein ein Mann, bekannt als eine allzeit mächtige und überall gefürchtete Kreatur. Dieses Wesen ließ sich in keiner Weise mit den Dämonen – egal welcher Art – vergleichen, von denen dieses riesige Reich bewohnt wurde. Nein, ihr König war von einem viel höheren Geblüt, als man es sich überhaupt vorstellen konnte. Sein Name lautete Lucifer. Lucifer war bekannt für seine grenzenlose Bosheit, weit über die Grenzen der Unterwelt hinaus. Selbst für das Himmelreich waren seine Untaten, dank denen er ihnen immer wieder einen Strich durch die Rechnung zu machen wusste, schon lange ein spürbares Problem. Mit strenger Hand führte er seine Untertanen wie willenlose Puppen, sein Spielzeug. Niemals würde es einer von ihnen wagen, Lucifer Widerstand zu leisten, denn auch in der Unterwelt hing man an seinem Leben, egal was für ein klägliches Dasein es sein mochte. Und dennoch: Obwohl Lucifer als der wohl gnadenloseste Herrscher aller Zeiten galt, akzeptierte sein Volk ihn nicht nur, sondern verehrte ihn regelrecht. Sie alle folgten ihm letztendlich aus freien Stücken. Ausschlaggebend dafür war der anhaltende Erfolg im Krieg gegen das Himmelreich, den man Dank ihm täglich feiern durfte. Unter Lucifers Führung gab es zwar manchmal auch weniger schöne Zeiten, jedoch konnten die meisten Lebewesen der Unterwelt nur wegen seiner unermesslichen Kraft und Hingabe für den Kampf in Wohlstand leben, statt sich von den Heiligen des Himmels unterdrücken lassen zu müssen. Woher Lucifer überhaupt kam, wusste niemand. Eines Tages war er wie aus dem Nichts in der Unterwelt aufgetaucht und hatte sie blitzschnell übernommen. Da es keinerlei Hinweise für die Abstammung ihres Königs gab, bezeichnete man Lucifer bald einfach als den Teufel. Somit wurde eine bis dahin unbekannte Teufelsrasse geboren. Abyssus war das Königreich dieses Teufels und gleichzeitig die größte Stadt der gesamten Unterwelt. Dementsprechend hatten sich an diesem Ort auch Unmengen von Dämonen eingenistet, damit sie ihrem Herrscher möglichst nahe sein konnten, in dem Glauben, allein seine Aura verlieh auch ihnen mehr Stärke. Inzwischen war es aber nicht mehr allein Lucifer, der von allen gefürchtet wurde, außer ihm gab es nämlich noch sechs weitere Sprösslinge dieser geheimnisvollen Rasse: Seine Söhne. Jeder von ihnen hatte individuelle, ganz spezielle Fähigkeiten und Eigenarten. Zwar mochte es ihnen noch lange nicht bestimmt sein, den Thron ihres Vaters zu übernehmen, doch brachte man ihnen genauso viel Respekt entgegen. Andernfalls wären die Folgen sicherlich ziemlich fatal, es wurden schnell Strafen für Ungehorsam oder Lästerei ausgesprochen. Diabolus war der älteste unter den sechs Söhnen von Lucifer. Danach folgten Belial, Incubus, Nero, Nox und zu guter Letzt Lucien, der von jedem schlicht Lux genannt wurde. Lux war unter all seinen anderen Brüdern ein regelrechtes Problemkind. Einer der Gründe dafür waren seine ständigen Streiche, zumindest nahm man sie als solche wahr. Schlimmer als das war die unerhörte Tatsache, wie wenig er von den Methoden seines eigenen Vaters hielt. Als einziger in der Unterwelt wagte Lux es, offen über den großen Herrscher zu lästern und sich gegen seine Regeln zu stellen, eigene Wege zu gehen. Dadurch ruinierte er allmählich den Ruf seines Vaters, wenn auch nur schleichend. Einige Dämonen begannen mit den Jahren wegen Lux heimlich miteinander zu tuscheln, über ihren König: „Unser Herrscher droht offenbar alt zu werden. Er ist nicht mal mehr dazu imstande, seinen jüngsten Sohn richtig zu kontrollieren. Nicht sehr überzeugend. Vielleicht sollte ein neuer König her.“ Rebellion war etwas, wovor sich vermutlich jeder Herrscher fürchtete. Bei Lucifer war es allerdings gewiss keine Frage von Furcht, als er nach vielen Jahren bezüglich Lux endlich zu einer Entscheidung kam, die das bisher gemütliche Leben seines Sohnes auf einen Schlag verändern und seinem Volk wieder den nötigen Respekt beibringen sollte. Davon ahnte Lux aber natürlich überhaupt nichts ... *** „Ehehehe ...“ Grinsend hockte Lux auf einem dicken Ast in der Baumkrone eines Seelenbaumes, dessen blutrote Blätter diese wertvollen und höchst empfindlichen Bäume äußerst königlich aussehen ließen. Wie stolze Riesen streckten sie sich dem Himmel entgegen, wodurch sie schon von weitem einen Blickfang abgaben. „Heute Abend entlasse ich euch in die Freiheit, meine Lieben. Ihr dürft mir ruhig dafür dankbar sein“, flüsterte das junge Teufelchen begierig und zog einen Dolch hervor, den er hinter seinen Gürtel geklemmt hatte. „Mal sehen ... bei der Lage müsste eigentlich alles reibungslos funktionieren.“ Genervt verbannte er sein ellenlanges, rotes Haar mit einer raschen Handbewegung wieder hinter die Schultern und nahm den zukünftigen Tatort seines Vorhabens zur Sicherheit erneut in Augenschein: Aktuell hielt er sich im Palastgarten auf. Anders als im Himmel oder auf der Erde, hielt man hier nicht viel von Dekorationen, solange sie nicht als Symbol irgendeines Erfolges gesehen werden konnten. Abgesehen von den Seelenbäumen, die ohne ein festes Muster kreuz und quer wuchsen, gab es nur einen gepflasterten Pfad, der durch weite, violette Grasflächen führte. Sie endeten an der schützenden Mauer, die sich um den Palast herum zog. Eingebettet in diesem Schutzwall gab es vier Wachtürme in der Nähe, keine weiteren Gebäude oder Zeugen. Glücklicherweise behielten die Wachmänner grundsätzlich die Gegend außerhalb der Mauer im Auge, denn jeder, dem es gelingen sollte sie zu überwinden, galt ohnehin schon als tot. Eindringlinge schätzte Lucifer nicht, das bewies auch die Sammlung an Skeletten, die zur Abschreckung gut sichtbar an der Außenseite an billigen Seilen hingen. Ehrlich gesagt war Lux froh, sie vom Inneren der Mauer aus nicht sehen zu können. Für ihn war diese Methode geschmacklos – und er bildete sich ein, er könnte die letzten Todesschreie aus den leblosen Knochen der Skelette hören. Fröstelnd lenkte er sich lieber davon ab und wandte den Blick zu einem anderen Punkt im Garten. Wenige Meter von seinem Standpunkt entfernt bildete eine magische, rötlich schimmernde Barriere eine Halbkugel über den Boden, das Gefängnis der bemitleidenswerten Dämonenschoßtierchen. Ansonsten standen wirklich bloß einige weitere Seelenbäume reglos in der Gegend herum, von denen keine Gefahr zu erwarten war. Sie gehörte sogar zu seinem genialen Plan. Summend ritzte Lux mit der Klinge seines Spielzeuges einige Markierungen in das Holz des Baumes, auf dem er saß, bis plötzlich eine dunkle Stimme ertönte und ihn erschrocken zusammenzucken ließ. „Lux!“, rief jemand ungehalten seinen Namen. „Was treibst du da schon wieder?! Komm auf der Stelle zu mir runter!“ Oh nein, dachte er. Nicht gerade er. Nicht ausgerechnet jetzt. Nervös stöhnte Lux auf und überlegte kurz, ob er die Chance hätte, sich aus dem Staub zu machen, aber seinem großen Bruder Diabolus entkommen zu können war nahezu unmöglich. Wie hatte dieser ihn überhaupt ausfindig machen können? Jedes Mal schien Diabolus genau zu wissen, wo er sich herumtrieb, und den Trick dahinter wollte er nicht verraten. Zähneknirschend steckte Lux den Dolch widerwillig zurück an seinen alten Platz, bevor er fluchend von seinem Versteck kletterte. Es dauerte eine Weile, er war mehr als vorsichtig dabei. Er wollte nicht fallen und auch nicht zu schnell unten ankommen. Was will der denn schon wieder von mir? Welche meiner Heldentaten sind dieses Mal aufgeflogen? Düstere Schatten zogen sich über seine ziemlich schlecht gelaunte Miene, mit der Diabolus seinen kleinen Bruder empfing. Wie gehabt fiel sein schwarzes Haar, das noch länger als das von Lux war, glatt über seinen Rücken und das Gesicht verschwand zur Hälfte in dem hohen Kragen seines ebenso dunklen Mantels. Fordernd durchbohrte Lux ein goldenes Augenpaar, die von Müdigkeit geprägt waren und somit noch gereizter wirkten als sonst. „Was denn?!“, stieß Lux hervor und blickte ihn gespielt unschuldig an, wofür er den Kopf in den Nacken legen musste. „Gibt es irgendein Problem?“ Als Antwort bekam er von Diabolus zuerst einen kräftigen Schlag auf den Kopf, ehe dieser mit einer Erklärung für seine schlechte Laune herausrückte: „Du müsstest doch inzwischen wissen, wie unersetzlich diese Bäume für die Unterwelt sind. Hast du ihn denn nicht schreien hören?“ „Wen denn?“, murmelte Lux ratlos, während er sich über den schmerzenden Kopf rieb und die Tränen zu unterdrücken versuchte – sonst bezeichnete man ihn nur wieder als Mimose, dabei tat so ein Schlag von einem ausgewachsenen Teufel durchaus weh. „Den Seelenbaum!“, fügte der älteste Sohn ungeduldig hinzu. Solche Bäume fingen die rastlosen Seelen der Toten auf dem Weg in die Unterwelt ab und sperrten sie so lange in deren goldenen Früchten ein, bis sie von ihrer Schuld reingewaschen waren. Aber Schreie? Das kannte er nur von den Skeletten. Wenn Lux welche gehört hätte, dann wäre er vor Schreck vermutlich rückwärts vom Ast gefallen – aus Versehen, versteht sich. Immerhin durfte ein Teufel vor nichts Angst haben. Wie auch immer, weil diese Seelenbäume angeblich derart außergewöhnlich waren, sollten sie auch einiges aushalten, fand Lux. Andernfalls konnten sie doch nicht so wertvoll sein, wie alle behaupteten. Nicht für einen gewissen Mann namens Lucifer, dem Härte mindestens so wichtig war wie Stärke. Lux hatte beides nicht wirklich. Meiner Meinung nach dienen diese Teile sowieso nur einem Zweck, der ausschließlich das Auge beglücken soll und nichts weiter. Weiterhin ungeduldig erwartete Diabolus von ihm eine ausgiebige Entschuldigung für dieses Fehlverhalten, jedoch sah Lux das nicht ein. Er hatte aber auch keine Lust sich jetzt auf die Schnelle eine passende Ausrede auszudenken, zumal er es Diabolus so oder so nicht Recht machen könnte, auch nicht mit Reue. Wieso sollte er sie also heucheln? „Ach so“, tat er verstehend, ohne mehr dazu zu sagen. Dummerweise wurde Diabolus' Blick noch finsterer, weshalb ein wenig Heuchelei vielleicht doch keine allzu schlechte Idee wäre. Darum seufzte Lux übertrieben theatralisch und legte bestürzt eine Hand auf seine Stirn, worauf eine gelogene Erkenntnis folgte: „Oh je, du hast ja recht! Wie grausam von mir, ich mache unserem Vater glatt alle Ehre. Das geht mal gar nicht. Es ist so teuflisch von mir, etwas zu zerstören.“ Darüber konnte Diabolus nur verständnislos den Kopf schütteln. „Hör auf, fang nicht wieder damit an. Das Thema hatten wir schon zur Genüge. Ich dachte eigentlich mit 195 Jahren wärst du endlich reif genug, aber da haben wir uns offensichtlich umsonst Hoffnungen gemacht.“ „Seit wann hoffen Teufel denn auf etwas?“, stichelte Lux weiter. „Ist mir neu. War hoffen nicht mal ein Zeichen von Schwäche? Hab ich was in der Lehre der ach so großen Teufelhaftigkeit verpasst?“ „Schluss jetzt!“, ermahnte Diabolus ihn, bevor er noch mehr ausschweifen konnte. „Vater lässt dich eines Tages noch köpfen, wenn du nicht aufhörst, so über unsere Familie zu reden. Du gehörst zu uns, egal wem es passt und wem nicht. Es ist mir unbegreiflich, wie jemand, der schon bei kleinsten Verletzungen zu heulen anfängt und nur die Kraft eines Flohs aufbringt, so vorlaut sein kann. Stolz oder Ehre hast du auf jeden Fall auch nicht im Blut.“ Angespannt biss Lux die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Heute hatte Diabolus anscheinend einen dieser schlechten Tage, an denen er sich nicht damit zurückhielt, ihm die Tatsachen ins Gesicht zu sagen. Was konnte Lux denn dafür, dass er sich nicht seiner Familie zugehörig fühlte? Er empfand das Dasein als Teufel nicht als erstrebenswert, aber alle erwarteten genau das von ihm. Scheiß Abstammung. Scheiß Predigten. Gerade wollte Lux sich über diese harten Worte beschweren, doch da hatte Diabolus sich bereits ohne weitere Kommentare von ihm abgewendet und gab seinem kleinen Bruder ein knappes Zeichen, ihm zügig zu folgen. Ungern beugte Lux sich zwar diesem Befehl und setzte sich in Bewegung, dachte aber nun doch darüber nach, wie er am besten abhauen könnte. Seine schlechte Laune hat nichts Gutes für mich zu bedeuten. Wie könnte ich mich aus der Affäre ziehen? Diabolus ahnte bestimmt schon längst, was für Gedanken Lux durch den Kopf schwirrten, ließ es sich jedoch nicht anmerken und lief souverän voraus Richtung Palast. Schließlich kannte niemand den Plagegeist der Nation besser als Diabolus, nicht einmal der eigene Vater könnte viel über Lux sagen. Seit der zweite Sohn des Teufels zur Welt gekommen war, hatte Diabolus die wohl härteste Aufgabe im gesamten Universum zu meistern, da ihr eigentlicher Vormund als Herrscher der Unterwelt bereits vollkommen ausgelastet war. So kam es irgendwie dazu, dass der älteste Bruder sozusagen zu einer Art Ersatzmutter wurde und sich um die jüngeren Geschwister kümmern musste. Selten mischte Lucifer sich persönlich in die Erziehung seiner Kinder ein, außer Diabolus kam alleine nicht mehr damit zurecht und musste seinen Vater um Hilfe bitten, was diesen in solchen Fällen nicht gerade erfreute. Ab und zu tat es Lux deswegen wirklich ziemlich Leid, wenn er seinem großen Bruder zu viele Schwierigkeiten bereitete. Oft mochte dieser genauso streng wirken wie ihr Vater, war aber in Wirklichkeit recht umgänglich und konnte auch sehr nett sein. Trotzdem besaß er mehr Eigenschaften eines Teufels. „Lux? Du hattest nichts Bestimmtes im Sinn, als du den Seelenbaum verletzt hast, oder?“, fragte Diabolus unterwegs mit ernster Stimme. Prompt wurde Lux aus seinen Gedanken gerissen und blickte zu ihm auf. „Äh?“ Auch wenn er nicht in das Gesicht seines Bruders schauen konnte wusste er genau, mit welchem Ausdruck er ihm diese Frage stellte. Es weckte Schuldgefühle in Lux, ein kleines bisschen. Dennoch konnte er nicht die Wahrheit sagen, dafür waren Teufel auch gar nicht bekannt, also beugte er sich mit der Antwort im Prinzip ausnahmsweise seiner Abstammung: „Nein“, log Lux gekonnt. „Wieso?“ Darauf bekam er keine Antwort mehr von Diabolus. *** Der Blutmärpalast war der Hauptsitz von Lucifer und konnte von fast allen Stellen der Unterwelt aus gesehen werden. Grund dafür war zum einen die enorme Größe dieses Bauwerks, das sich durch mehrere einzelne Türme auszeichnete, und zum anderen das zwar matte, jedoch permanente Leuchten des Gesteins, das einst durch die starke Magie des damaligen Herrschers geformt wurde. Dadurch veränderte sich die Substanz des früher gewöhnlichen Materials und pulsierte seitdem wie ein lebendiger Organismus. Selbst nach vielen Jahren floss die Magie ohne Unterbrechungen durch die Adern des Gebäudes und färbte durch die daraus entstehende Energie, die aus dem Palast in die Atmosphäre abgegeben wurde, den sonst pechschwarzen Himmel der Unterwelt auch heute noch blutrot. Zügig und ohne Umwege führte Diabolus seinen Bruder durch den riesigen, verwinkelten Palast direkt in sein Zimmer, wo er ihn erneut zur Rede stellte – zum Leidwesen von Lux. „Du solltest in nächster Zeit auf Streiche verzichten, Lux“, riet er ihm. „Hört endlich auf von Streichen zu reden!“ Grummelnd stieß Lux einen Fluch aus und warf sich empört auf sein Bett. „Ich vollbringe Heldentaten! Keiner von euch versteht mich, aber ihr seid eben Teufel. Das nervt echt.“ Schweigend schritt Diabolus leichtfüßig zu ihm und setzte sich neben seinen kleinen Bruder, wo er die Hände ineinander faltete. Etwas schien ihn zu beschäftigen, sogar beinahe Kummer zu bereiten. Natürlich war der älteste Sohn von Lucifer ununterbrochen im Stress, keine Frage, auf einmal wirkte er aber sichtlich besorgt. Was ist los mit ihm? Habe ich etwas zu Dummes angestellt, wofür er den Ärger von Vater einstecken muss? „Du bist auch ein Teufel. Vergiss das nicht.“ Nach dieser Aussage erhob Diabolus sich wieder, weil er vermutlich nicht die richtigen Worte für eine Predigt oder ein klärendes Gespräch finden konnte, was überaus untypisch für ihn war. Anschließend begab er sich bereits zur Tür und Lux hatte irgendwie das erdrückende Gefühl etwas sagen zu müssen, um seinen Bruder ein bisschen zu entlasten, aber er konnte ebenfalls nicht den geeigneten Anfang finden. Dann brachte Diabolus doch noch eine Frage über die Lippen, von der Lux förmlich überrollt wurde: „Sind es deine sogenannten Heldentaten denn Wert, etwas dafür zu opfern?“ „Opfern?“, wiederholte er perplex. „Wie meinst du das?“ Über die Schulter blickend, strich Diabolus behutsam über das warme Gestein zu seiner Linken und schien den Atem anzuhalten. Unruhig richtete Lux sich auf und wartete auf eine Erklärung, die er tatsächlich bekam: „Demnächst könnte dir etwas Unerwartetes widerfahren, Bruder. Du solltest dir ernsthaft darüber Gedanken machen, wie weit du für dein Ziel gehen willst.“ Nickend verschwand Diabolus nach diesem letzten Ratschlag durch die Tür und zog sie hinter sich zu. Stille kehrte augenblicklich ein. Verwirrt hockte Lux im Schneidersitz da und versuchte den versteckten Hinweis in dieser Aussage zu finden, der ganz offensichtlich vorhanden sein musste. Denken war nur leider nie seine Stärke gewesen, genauso wenig wie Geduld. In dem Moment kam er sich mehr als dumm vor. „Alter, ich verstehe echt kein Wort! Und warum hast du mich überhaupt hierher geschleppt?!“, schrie Lux ihm kurze Zeit später hinterher, aber es blieb still. [Akt 1] Kapitel 2: Ein Held lässt sich nicht aufhalten ------------------------------------------------------ Leitfaden zur Verbesserung der Unterwelt: ● Ausnahmslos jeden befreien, der eingesperrt und/oder gefangen wirkt (Da gibt es einen großen Unterschied, aber beides geht gar nicht!). ● Gefährliche Waffen und brutale Folterwerkzeuge restlos zerstören (Die sind altmodisch und geschmacklos!). ● Sinnlose Tötungen aus Spaß an der Freude verhindern (Wir rotten uns noch selbst aus!). ● Etwas gegen die übertriebene Anbetung von meinem Alten unternehmen (Er ist kein Gott, nur ein Angeber … Diabolus, falls du das irgendwann mal entdecken und lesen solltest: Das ist keine Beleidigung, sondern eine Tatsache!). ● Dem dummen, treudoofen Volk beibringen, dass jeder ein Individuum sein kann und es deswegen Schwachsinn ist, nach dem Muster seiner Vorfahren zu leben (Scheiß Abstammung!). ● Eine allgemeine, dringend nötige Renovierung der Unterwelt anregen (Überall schwarz, wir sind doch keine Emos!). ● Sämtliche Knochen in allen Größen und Farben in ganz Abyssus zusammensammeln und begraben, um ihnen die letzte Ruhe zu schenken (Amen!). Ein langer Seufzer entglitt Lux, während er sich diese Liste, die er eigentlich schon in und auswendig kannte, wieder einmal durchlas. „Warum muss es so schwer sein, etwas zu verändern? Ich mache wohl etwas falsch.“ Nach diesen Worten hielt er kurz inne und schüttelte anschließend entschieden mit dem Kopf. „Nein, an mir liegt es absolut nicht. Unterweltler sind einfach nur verdammt stur und unbelehrbar! Die sollten froh sein, dass sie mich haben.“ Damit klappte Lux energisch das Buch zu, in dem er all seine Pläne und Erfolge schriftlich festhielt. Manchmal benötigte man einen Blick auf vergangene Taten, um neuen Mut und Motivation zu fassen, auch wenn Lux bislang nur selten gut aus seinen Aktionen herausgekommen war. Das eine Mal hatte er aus Versehen einen ganzen Laden in die Luft gejagt, wofür er auch noch Bewunderung für diese Zerstörungskraft bekam, außer von Diabolus, denn ihm war der wahre Hintergrund dieser Geschichte klar gewesen. Schade, dass das Volk es nicht ebenso begriffen hatte. Bestimmten waren sie davon ausgegangen, Lux wäre doch noch zur Vernunft gekommen und hätte sich zu einem Teufel gewandelt. Grübelnd drehte er sein Lebenswerk in den Händen, der blutrote Ledereinband fühlte sich unerwartet weich an. Ihm war bewusst, dass es sich um die Haut eines armen Wesens handeln musste, das einst für die Produktion dieses Buches seinen Tod fand, aber darüber dachte er lieber nicht nach. Es sollte genügen, sich darum zu bemühen, solche Abschlachtungen zukünftig abzuschaffen, was nicht leicht war. Gar nichts war leicht, als wollte das Schicksal ihm sämtliche Steine in den Weg legen, die es in der Unterwelt zu finden gab. Trotzdem müsste es doch etwas bringen, diesem selbst aufgestellten Leitfaden zu folgen. Wenigstens ein klitzekleines bisschen. Jeder einzelne Plan war an einen dieser sechs Punkte angelehnt, abgesehen vom letzten: Den verdrängte Lux gern bis zum Schluss, Tote hatten mehr als genug Zeit und konnten warten. Erst will ich beweisen, dass ich es gut meine, damit sie mich nicht verfluchen, erinnerte er sich nervös. Schnaubend richtete Lux sich auf dem Bett auf und starrte zu der kleinen Sanduhr auf seinem Nachttisch. Statt feinen Körnern befand sich ein dunkler Schatten in dem Glasbehälter, der je nach Tageszeit von oben nach unten wanderte und umgekehrt. Im Moment schwebte die Schwärze hoch, nur noch knapp von dem oberen Ende des Stundenglases entfernt. Allmählich rückte die Nacht näher, ihm lief die Zeit davon. Tagsüber schlief der Großteil der Unterwelt, nachts hätte Lux keine Chance mehr möglichst unbemerkt seinen Plan durchzuziehen: Die gefangenen Dämonenschoßtierchen aus dem Palastgarten zu befreien. Nachts könnten sie niemals gefahrlos fliehen. „Ich habe mich lange genug still verhalten“, sagte Lux zu sich selbst und stand auf. „Diabolus sollte längst mit anderen Dingen beschäftigt sein. Also auf zum nächsten Versuch.“ Zielstrebig bewegte er sich auf die peinlich pompöse Doppeltür zu, dem einzigen Ausgang aus seinem Zimmer. Fenster gab es in diesem Raum nämlich nicht, weil niemand von draußen einen Blick auf die Privatsphäre eines Teufels werfen durfte. Eine der wenigen Regelungen, mit denen er sich anfreunden konnte. Wer wollte schon in seiner Freizeit beobachtet oder gar gestalkt werden? Ja, in einigen Punkten waren sich eben alle Welten ähnlich. An der Tür angekommen, drückte Lux wie selbstverständlich die Klinke nach unten, doch es brachte nichts. Auch die weiteren Versuchen blieben erfolglos, egal wie stark er zog und rüttelte. Abgeschlossen, die massive Doppeltür rührte sich nicht mal einen Millimeter. Ungläubig blickte Lux gegen das vergoldete Hindernis vor sich. „Das kann nicht sein ernst sein.“ Auf solch eine lächerliche Art wollte Diabolus ihn also handlungsunfähig machen? Indem er Lux in seinem Zimmer einsperrte, wie man es in der Menschenwelt mit ungezogenen Kleinkindern oder alten Greisen tat? Andauernd sprach Diabolus von der Ehre eines Teufels und dann tat er so etwas. Ein eingesperrter Teufel verlor doch erst recht jegliche Würde. Lux hatte in seinen letzten 195 Lebensjahren gewiss schon einiges über sich ergehen lassen müssen, aber diese verzweifelte Erziehungsmaßnahme seines großen Bruders verletzte seinen Stolz – den er durchaus besaß – tiefgehend. Wie konnte der erstgeborene Sohn des Teufels auch nur ansatzweise annehmen, ihn mit so einem halbherzigen Versuch von seiner selbsternannten Bestimmung abhalten zu können? Abyssus brauchte eine Veränderung! Einen Helden! Und der werde ich sein. Daran änderte sich nichts, er hatte das schon in jungen Jahren beschlossen. Ohne einen Heldenstatus könnte er sich seinen größten Traum sonst nicht erfüllen und niemals das finden, wonach er suchte. Aus einigen Büchern von der Erde – heimlich eingeschmuggelt – wusste er, dass Helden sich nicht geschlagen gaben, egal wie aussichtslos die Lage erscheinen mochte. Hier stand ihm nur eine verschlossene Tür im Weg. Normalerweise war Diabolus sonst nicht so einfallslos in Sachen Strafen und Kontrolle. Ob es etwas mit seinen Worten von vorhin zu tun hatte? Falls er glaubt, mich damit verunsichern zu können, hat er sich aber gewaltig getäuscht! Ein Grinsen verdrängte die Ungläubigkeit aus seinem Gesicht. „Ich bin also ein Teufel, ja? Na, dann benehme ich mich mal wie einer. So eine Tür zertrümmere ich doch mit links! Zeit für dämonische Kräfte!“ Zuversichtlich nahm Lux vor der Doppeltür einen festen Stand ein. Konzentriert atmete einmal tief ein und aus, ehe er seine Hände zu Fäusten ballte. Mit viel Schwung holte er weit aus und schlug mit voller Wucht gegen diese gewöhnliche Barriere vor sich. Kaum traf er gegen den eisenharten Widerstand, war ein lautes, knackendes Geräusch zu hören. Danach kehrte vorerst Stille ein. Nachdem Lux eine Weile schweigend in dieser Position verharrt hatte, zog er schließlich zitternd seine blau anlaufende Hand zurück und biss sich auf die Unterlippe, bis er es nicht mehr zurückhalten konnte. „Vermaledeit!“, fluchte er lauthals und krümmte sich jammernd zusammen. „Vermaledeit nochmal! Warum?! Das sollte ganz anders ablaufen.“ Schon die kleinsten Bewegungen sorgten für furchtbare Schmerzen in der Hand, weshalb er sich gar nicht mehr zu rühren wagte. Seine Wut war aber dann größer und er stellte sich wieder aufrecht hin. Aus seinen Augen schossen imaginäre Blitze, mit denen er vorwurfsvoll die Tür fixierte, die nicht mal einen Kratzer abbekommen hatte. Grummelnd verpasste er ihr dafür einen kräftigen Tritt und war darum bemüht, nicht den gesamten Palast frustriert zusammenzuschreien. Bald zog der Schmerz sich von seiner Hand aus durch den restlichen Arm. Offensichtlich hatte diese Situation nicht ausgereicht, damit seine Dämonenkräfte erwachten, wie er insgeheim gehofft, sogar darauf gebaut hatte. „So ein Mist!“, schmollend drehte er der Tür den Rücken zu. „Dabei bin ich doch schon erwachsen genug. Warum erwachen meine Kräfte dann nicht?!“ Die dämonischen Fähigkeiten eines Teufels oder von diversen anderen Rassen erwachten nur unter bestimmten Bedingungen. Zum einen musste man eine gewisse Reife und somit genug Lebenserfahrung erlangt haben. Zudem war ein starkes, emotionales Ereignis nötig, mit dessen Hilfe die wahre Macht im Inneren zum Brodeln und somit problemlos hervorgebracht werden konnte. Bisher verfügte jeder einzelne seiner älteren Brüder über seine speziellen Fähigkeiten, nur Lux war noch Rohfleisch, wie man in dieser Welt Leute ohne Dämonenkräfte schimpfte. Für ihn blieb das nur ein weiterer Beweis dafür, dass er nicht richtig in diese Familie hinein passte, dennoch wären ein paar Kräfte überaus praktisch. Verstoßen würde er sie nicht. „Pff! Schön, sollen meine teuflischen Gene ihre Macht behalten. Ich lasse mich nicht von meiner heutigen Mission abbringen! So eine dämliche Tür wird mich garantiert nicht aufhalten. Ich komme auf anderem Wege hier raus“, sprach er sich selbstbewusst zu und begann damit, in seinem Zimmer nach einem Hilfsmittel oder einer Lösung zu suchen. Erstaunlicherweise war es relativ menschlich eingerichtet, zumindest von den Möbeln her. An sich sprach nichts dagegen, bereits vorhandene Dinge aus anderen Welten zu übernehmen, allerdings wurden sie hier entsprechend angepasst. Zum Beispiel verzierten farbige Augäpfel das dunkle Holz seines Bettes, anstelle von Juwelen. Immer wieder hatte Lux Diabolus darum gebeten, sie entfernen zu lassen, weil er sich von ihnen beobachtet fühlte, aber sein Bruder konnte ziemlich erbarmungslos sein. Also verdeckte Lux sie inzwischen einfach mit der übergroßen Bettdecke – diese war gefüllt mit einer speziellen Wolle, gewonnen aus seltenen Pflanzen der Unterwelt. Aufgrund seiner schweren Arbeit als Hoffnungsträger für Abyssus, nahm Lux sich selten die Zeit dazu aufzuräumen, wodurch ein wenig Chaos entstand. Den Dienstmädchen hatte er verboten, hier für ihn Ordnung zu schaffen, denn das waren seine privaten Sachen. Niemand sollte darin herumschnüffeln, da lebte er lieber mit dem Chaos. Solange er trotzdem stets wusste, wo was zu finden war, gab es daran auch nichts auszusetzen, wie er fand. Hinzu kam, dass der Raum groß genug war, um über die Unordnung hinwegtäuschen zu können. Wenn er wollte, könnte er hier Wagenrennen veranstalten, genug Platz wäre vorhanden. Wenige Minuten später bekam Lux endlich eine Idee für seinen Ausbruch, also musste sie nur noch so gut wie möglich umgesetzt werden. Zwar mochte die Tür verschlossen sein, davor standen jedoch garantiert trotzdem zwei ihm bekannte Personen wache. Genau das könnte er geschickt ausnutzen. Suchend durchwühlte er seine Sachen nach etwas bestimmten und fand recht schnell genau das Richtige für seine Flucht aus den eigenen vier Wänden. Sorgsam hatte er diese geheime Waffe in der hintersten Ecke von einem der Schränke versteckt, begraben unter einem großen Haufen anderer Gegenstände. Manchmal bekam er den Eindruck, in diesen Schränken lag eine eigene Dimension verborgen, so riesig wie der Innenraum ausfiel. Lucifer schien wirklich ein Faible für Größe zu haben, passend zu dessen Ego. Wie gut, dass Diabolus keine Gedanken lesen kann, sonst hätte ich dauernd mit Prügel zu rechnen. Am besten dachte Lux erst mal nicht mehr an seinen Vater, sondern an den Ausbruch. Zufrieden betrachtete er die Lösung in seiner – nicht schmerzenden – Hand und fühlte sich gleich gestärkt. Wer brauchte schon dämonische Kräfte, wenn man etwas Köpfchen und ein bisschen illegale, falsche Magie besaß? Rasch kleidete Lux sich noch etwas um, zog sich Handschuhe über und band ein Stirnband um seinen Kopf. Danach zog er die vier Gürtel nochmal ordentlich fest, die er bereits trug. Drei um die Hüfte, einen quer über die Brust – jeder hatte seine Vorlieben. Dahinter ließen sich viele nützliche Dinge klemmen und sie waren viel schneller griffbereit, als in einer Hosentasche, zudem sah es cool aus. Einsatzbereit nickte Lux sich selbst zu. „Es kann losgehen.“ *** Vor der Zimmertür des sechsten und jüngsten Sohnes hielten tatsächlich zwei Männer Wache. Sie gehörten zu den Canisang, einem Tochterstamm der Adelsrasse Infercanis. Man nannte sie Wutz und Taro, ein unzertrennliches Zwillingspaar. In ihrer natürlichen Form fielen sie besonders durch ihre platten Schnauzen, den scharfen Krallen an Händen und Füßen, den buschigen Schwänzen sowie den kleinen, spitzen Ohren oberhalb ihres Kopfes auf. Ihre Körper waren komplett mit einem dünnen, glatten Fell bedeckt, dessen Farbe sich bei jedem Individuum in feinen Nuancen unterschied. Das Fell von Taro war tiefschwarz und unterstrich somit seinen ernsten Charakter, den er häufig mit einer lockeren Art zu überspielen versuchte. Wutz dagegen hatte ein schneeweißes Fell, wodurch seine Naivität noch mehr zur Geltung kam. Natürlich scherzte man oft darüber, dass sie wie Yin und Yang waren – und da es sich dabei um eine Philosophie aus der Menschenwelt handelte, war das keineswegs ein Kompliment. Ansonsten wiesen sie optisch wie jeder andere in seiner Alltagsgestalt alle menschlichen Merkmale auf. Sobald diese Dämonen allerdings ihre animalische Form annahmen, also ihre wahre Gestalt, veränderte sich ihr Aussehen massiv, was aber nichts Ungewöhnliches war. Die Canisang wurden wegen ihrer übernatürlich feinen Gehör- und Geruchssinne überall in der Hölle als beliebte Jäger jeglicher Art eingesetzt, in seltenen Fällen auch als Spione. Für ihre Schnelligkeit waren sie ebenfalls nicht zu verachten, in ihrer Dämonengestalt nahm diese noch um ein vielfaches zu. Dafür besaßen sie nicht die beachtliche Körperstärke wie die Infercanis und auch im Bereich der Feuermagie waren sie im Vergleich zum Hauptstamm nicht sehr erfahren, darum waren sie als Wachen eigentlich keine gute Besetzung. Für die Bewachung des kleinen Rotzlöffels kamen jedoch nur die Canisang in Frage, da sie über alle nötigen Fähigkeiten verfügten, um Lux schnell und effektiv einfangen zu können, sollte dieser wieder versuchen auszubrechen oder Abyssus mit seinen Streichen belästigen. Ergänzend dazu war das Zwillingspaar seit der Geburt von Lux dessen persönliche Leibwache und hatte dementsprechend schon viele Erfahrungen mit ihm gemacht – vor allem Ärger. Auch heute standen sie stramm und aufmerksam an ihrem Platz, darauf hoffend, dass Lux zumindest für einige Stunden ruhig blieb. Dieser Wunsch wurde ihnen, wieder mal, nicht erfüllt. Wie aus dem Nichts ertönte plötzlich ein lauter Schrei aus dem Zimmer hinter ihnen und ließ die beiden Wachen vor der Tür des ehrwürdigen jungen Herrn synchron zusammenzucken. Unsicher warfen sie sich gegenseitig einen Blick zu. Eigentlich hatte Diabolus ihnen streng befohlen, dass sie Lux unter gar keinen Umständen aus seinem Zimmer lassen durften, egal was geschah. Diesmal war er dabei noch ernster als sonst gewesen, richtig einschüchternd. Andererseits waren sie auch dazu verpflichtet, sich um das Wohl dieses Bengels zu kümmern, auch wenn es ihnen nicht gefiel. Dennoch ahnte jeder von ihnen, dass hinter dem Schrei nichts weiter als eine neue Falle stecken könnte. „Ignorieren wir es. Er versucht nur Aufmerksamkeit zu erregen, damit wir die Tür öffnen und er abhauen kann“, meinte Taro schließlich gespielt gelassen. Nickend stimmte sein Bruder ihm zu, wie gewohnt, denn solche Entscheidungen überließ Wutz lieber ihm. Immerhin hatten sie durch ihr hervorragendes Gehör auch mitbekommen, dass Lux bereits an einem Ausbruchsversuch arbeitete. Außerdem wollte keiner von ihnen aufs Neue von irgendwelchen faulen Zaubern überwältigt werden. Letztes Mal war es eine verzauberte Hundepfeife gewesen, die sie ohne Unterlass in einem unerträglich hohen Ton um den Verstand gebracht hatte. Danach waren sie dazu gezwungen gewesen, sich für einige Tage in medizinische Behandlung zu begeben, damit sich ihre empfindlichen Ohren von der Folter erholen konnten. „Mein Gehör wird niemals mehr so sein wie früher“, jammerte Wutz und zupfte an seinen Ohren. Darauf hörte man Taro nur leise grummeln. „Es grenzt eh an ein Wunder, dass es überhaupt noch so gut funktioniert ...“ Schlagartig gewann ein verdächtiger Geruch ihre Aufmerksamkeit, der eindeutig aus dem Zimmer von Lux kam. Wutz war es, der zuerst in Panik geriet. „Oh nein, das riecht nicht gut. Sollen wir nicht lieber doch nachsehen?“ „Wir haben ja keine andere Wahl. Wenn dem kleinen Möchtegern-Helden etwas zustößt, lässt sein Vater uns sicher enthaupten“, seufzte Taro schwer und nahm den Zimmerschlüssel zur Hand, den er an einer silbernen Kette um den Hals trug. „Mach dich auf alles gefasst. Er darf hier nicht rauskommen. Und zieh den Schwanz nicht so ein, ein bisschen mehr Haltung!“ Hart schluckend begab Wutz sich nach dieser Aufforderung in Kampfstellung. „Entschuldige, ich bin bereit.“ „Gut, dann los.“ Taro schloss widerwillig mit einem flauen Gefühl im Magen die Tür auf, ehe er sie vorsichtig öffnete, doch kaum war diese nur einen winzigen Spalt breit geöffnet, entwich ein übel riechendes Gas aus dem Zimmer des Grauens und hüllte sie innerhalb von Sekunden vollständig ein. Der Geruch reizte ihre Nasen so sehr, dass es ihren Verstand vernebelte, aber nicht nur das. Obwohl sie versuchten dem Geruch zu entkommen, indem sie sich ihre Nasen zuhielten, trieb er sie nach wie vor in den Wahnsinn. Dahinter musste, wie so oft, ein übler Zauber stecken, jedoch war dieser der bisher Faulste von allen. Wimmernd warf Wutz sich auf den Boden und nur wenige Sekunden später tat Taro es ihm gleich. Lachend trat Lux aus seinem Zimmer, als sichergestellt war, dass die beiden nicht mehr so bald aufstehen würden. „Auf diese magischen Stinkbomben von Putagic ist echt Verlass. Simpel, aber wirkungsvoll! Ihr fallt immer wieder auf die Schnauze.“ „Ich hätte es wissen müssen!“, beklagte Taro sich und versuchte, den Täter mit den Augen ins Visier zu nehmen. „Woher hast du das Zeug immer?!“ „Das bleibt mein teuflisches, kleines, aber feines Geheimnis~.“ Lux stieg summend über die beiden hinweg und rannte geradewegs den Gang Richtung Ausgang entlang. Unterwegs winkte er seinen beiden amüsanten Leibwächtern noch über die Schulter hinweg zu, wofür er ein unschuldiges Lächeln aufsetzte. „Ihr solltet mal ernsthaft über einen Berufswechsel nachdenken, sonst werdet ihr ganz sicher nicht sehr alt. Ciao!“ „Du verdammter Giftzwerg! Eines Tages zahle ich dir das alles heim!“, rief Taro ihm wutentbrannt hinterher, auch auf die Gefahr hin, dass es jemand hören könnte. Aber davon bekam nicht mal mehr der Ausreißer selbst etwas mit, daher könnte ihnen niemand einen geplanten Verrat anhängen. Lux hatte es geschafft zu entkommen und das bedeutete nichts Gutes. [Akt 1] Kapitel 3: Auch Heldentaten haben Folgen ------------------------------------------------ Auch für einen Sohn von Lucifer gab es im Blutmärpalast noch reichlich versteckte Ecken, von deren Existenz Lux bisher sicherlich nicht einmal etwas ahnte, und leider gab es keine Karte vom Innenleben des Gebäudes – deshalb wäre es durchaus angebracht, endlich eine zu erstellen. Sich hier zu verlaufen war mit eine der größten Gefahren, die auf einen lauerten. Warum hatte Lux das noch nicht mit auf seine Liste gesetzt? Gedanklich machte er sich dazu eine Notiz, hoffentlich vergaß er das nicht. Glücklicherweise kannte sich Lux an diesem Ort – er wohnte immerhin hier – dennoch gut genug aus, um allen anderen Wachen, bestehend aus bunt gemischten Rassen, problemlos durch einige Geheimgänge aus dem Weg gehen zu können und somit zu verhindern, dass sie zu früh etwas von seinem Ausbruch bemerkten. Also reichte sein aktueller Wissenstand über den Blutmärpalast aus, er kam gut voran. Jetzt hieß es zügig das Ziel zu erreichen, bevor Diabolus oder sein Vater etwas von alldem erfuhren. Im Gegensatz zu den meisten Wachen besaßen die beiden ein besonderes Gespür dafür, zu erahnen, wann Lux etwas anstellte, und demnach könnte seine Zeit begrenzt ausfallen. Draußen hatte der blutrote Himmel inzwischen einen dunkleren Farbton angenommen, wodurch der späte Abend zu erkennen war. Lux holte sich eines der, mit dämonischen Kräften kontrollierten, Skelettpferde aus dem königlichen Stall und ritt auf dessen Rücken zu seinem Einsatzort, dem Gefängnis der Dämonenschoßtierchen. Sicher, er hätte auch wieder laufen können, aber so war er deutlich schneller. Der Palastgarten breitete sich nämlich über eine großzügige Fläche aus. Am Ziel angekommen, bei den Seelenbäumen, schickte er das Reittier mit einem Befehl zum Palast zurück, ehe er sich auf seine Mission konzentrierte. Vorsichtig schlich Lux zu dem Seelenbaum hinüber, an dem er mit seinem Dolch heute vorsorglich einige Markierungen eingeritzt hatte, und kletterte dort wieder hinauf. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, denn aus den mit Gewalt zugefügten Unebenheiten im Holz strömten kaum sichtbare Geistersphären hervor, die sich in der Nähe der Einkerbungen sammelten. Geistersphären waren klitzekleine Kugeln und leuchteten in einem geheimnisvollen Blau. Sie konnten Störungen verursachen, sobald eine große Menge von ihnen in Erscheinung trat. Genau diese Störungen wollte Lux nutzen, damit er ungesehen die Dämonenschoßtierchen befreien zu konnte. Welche Aufgaben diese Geistersphären eigentlich hatten und was sie ursprünglich symbolisierten war unklar, da sie als heilig galten und nicht von unreinen Wesen wie Dämonen erforscht werden durften. Einzig das Himmelreich besaß die Erlaubnis dazu, diese merkwürdigen Erscheinungen näher unter die Lupe zu nehmen und selbst die konnten sich nach mehr als 1000 Jahren immer noch nicht erklären, woher die Geistersphären kamen oder was sie genau bedeuteten. Alles, was man bis zum heutigen Tage über sie herausgefunden hatte, war, dass sie auf manche Lebewesen eine heilende Wirkung ausübten und unter anderem in den Seelenbäumen ruhten, wo sie vermutlich bei der Reinigung halfen. Und sie waren nachtaktiv. Aus diesem Grund konnte Lux seine Rettungsaktion sowieso erst gegen Abend beginnen, wenn es dunkel genug war, so wie in diesem Augenblick. Daher war der Zeitverlust, den er durch das Gespräch mit seinem Bruder und bei der Flucht aus dem Palast erlitten hatte, im Grunde doch nicht allzu tragisch gewesen. Solche Hindernisse sah er trotzdem nicht gern, sie blieben störend, und die Nacht zu gefährlich für die Flüchtlinge. Wenigstens hatten sich auf diese Art bereits einige von den heiligen Leuchtkügelchen bilden können, was angeblich eine Weile in Anspruch nahm. Behutsam strich er über das Holz des Seelenbaumes und hielt kurz den Atem an. „Entschuldige bitte“, flüsterte Lux dem wertvollen Gewächs zu. „Aber es ist für eine gute Tat, ehrlich. Deine Wunde heilt wieder.“ Er nahm seinen Dolch zur Hand und holte weit genug aus, um genug Schwung für den folgenden Schlag aufbringen zu können, mit dem er die Einschnitte im Holz weit genug vergrößern wollte, damit noch mehr Geistersphären erschienen. Mit aller Kraft bohrte er das Metall tief in das Holz hinein und erschrak, als ihn plötzlich eine heftige Windböe vom Ast fegte. Wie ein Stein fiel er geradewegs zu Boden und prallte unsanft mit diesem zusammen. Statt vor Schmerz aufzuschreien, knirschte er nur mit den Zähnen. Autsch! Verdammter Mist, was war denn das?! Aus dem Schnitt im Holz war auf einmal dieser starke Wind gekommen. Ihm verschlug es die Sprache, als er einen prüfenden Blick nach oben warf. Zahlreiche blaue Lichter fluteten wie ein Wasserfall aus der Einkerbung heraus und verteilten sich in der gesamten Gegend, viel weiter als geplant. Wie tausende Glühwürmchen tanzten die Geistersphären elegant in der Luft herum, mit jeder Sekunde wurden es mehr. „Krass! Mit so vielen hätte ich nie im Leben gerechnet, Wahnsinn!“ „Hey du!“, hörte er jemanden alarmiert aus der Ferne brüllen. „Was treibst du da?! Hier ist kein Spielplatz! Verschwinde oder-“ Mitten im Satz verblasste die Stimme schon wieder, noch bevor Lux ausmachen konnte, woher sie gekommen war und vor allem wem sie gehört hatte. Eigentlich gab es aber nur eine Möglichkeit. Zur Vorsicht kontrollierte er rasch mit einem flüchtigen Blick zu den Wachtürmen, ob dort jemand auf ihn aufmerksam geworden war, doch offenbar hatte sein Plan Erfolg. Er konnte sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen, als er niemanden mehr entdeckte. Demnach mussten die Gerüchte wahr sein. Diese sogenannten Störungen, die durch Geisterspähren zustande kamen, erschufen eine Art Parallelwelt. Eine neue Ebene, die man nicht auf normalem Wege erreichen konnte, es sei denn, man befand sich während der Entstehung der Störung vorher bereits im Kern des Geschehens, was bei Lux und den Dämonenschoßtierchen der Fall war. Dafür hatte er schließlich extra den passenden Seelenbaum ausgesucht, damit dies sichergestellt werden konnte. Also, das hier wird echt die epischste Aktion von mir, die ich je durchführt habe. Da die Wachposten außerhalb des Radius waren, befanden sie sich zu diesem Zeitpunkt noch in der realen Ebene der Hölle. Auf den ersten Blick mochten sich zwischen den beiden Welten zwar keinerlei Unterschiede erkennen lassen, allerdings war es hier im Gegensatz zur Wirklichkeit unnatürlich still. Nahezu geräuschlos. „Jetzt habe ich Zeit, die Dämonenschoßtierchen zu befreien, ohne dabei gestört zu werden~.“ Seine Stimme schien doppelt so laut zu sein wie üblich, durch diese unheimliche Stille. Wie lange die Störung anhielt, wollte er lieber nicht austesten, sondern machte sich gleich auf dem Weg zum Gefängnis der verängstigten Wesen, die dicht beieinander hockten. Praktischerweise war die magische Barriere ebenfalls verschwunden, weil sich deren Schöpfer nicht in dieser Ebene befanden. Alles funktionierte bislang, wie es sollte. Angenehm reibungslos. „Warum hockt ihr denn alle noch hier herum? Ihr könnt jetzt abhauen!“, trieb Lux die Dämonenschoßtierchen zum Aufbruch an, doch sie starrten ihn nur entgeistert an. Jeder außerhalb der Unterwelt hätte mit Sicherheit behauptet, solche Wesen eher im Himmel zu erwarten, denn sie sahen alles andere als dämonisch aus. Das auffälligste Merkmal bildeten ihre rosafarbenen – genau, nicht schwarz oder rot – und molligen Körper, sie waren nicht mal einen halben Meter groß. Manche von ihnen trugen kleine Hörner auf dem Kopf, andere besaßen sogar winzige Flügel, jedoch schienen diese nicht allzu geeignet zum Fliegen zu sein. Das waren Dämonenschoßtierchen. Schwache, hilflose, kleine Geschöpfe, deren Stand mit den Haustieren der Menschen verglichen werden konnte. Nur missbrauchte man sie in der Hölle als Diener oder Sandsack, zum Stressabbau. Ihr Leben mussten sie in engen Käfigen aus magischen Barrieren verbringen, bis sie jemand zu sich holte. So etwas durfte Lux nicht länger zulassen! „Bewegt euch doch schon! Oder wollt ihr weiterhin hier eingesperrt bleiben?“ Ihre großen, runden Augen suchten ratlos nach einer Erklärung für das seltsame Geschehen und Lux' Verhalten. Sie zitterten sogar vor Angst. Spürten sie denn nicht, dass er ihnen helfen wollte? Anscheinend hatte die Gefangenschaft sie stark traumatisiert und ihnen die Fähigkeit zu vertrauen genommen. Wie es aussah, musste Lux sie selbst bewegen, auch wenn das die Rettungsaktion unnötig schwerer und komplizierter machte. Ich bin ein Held, solchen Wendungen muss ich mich stellen. Gerade wollte er sich entschlossen einen von den kugelrunden Kaugummis – damit verglich er sie ganz gern – schnappen, als sie plötzlich innerhalb von Sekunden vor seinen Augen zu einer einzigen, großen Masse verschmolzen, die langsam im Boden versickerte. Ungläubig schüttelte Lux den Kopf und wich einen Schritt zurück. „W-was? Nein ... was soll das? Was ist denn jetzt los?“ Hitze begann sich in seinem Körper zu bilden und ihn wie ein hochansteckender Virus mit Panik zu erfüllen. Auch nach mehrmaligem Blinzeln blieben die Dämonenschoßtierchen fort, nur diese klebrig wirkende Substand lag vor seinen Füßen. Zu allem Überfluss wurde ihm dann auch noch allmählich schwindelig. Wurde er krank? Mitten in einer Mission. Keuchend rieb er sich die Augen, hielt jedoch inne, als sich ein unangenehmes Kribbeln von unten in seinem Körper ausbreitete. Reflexartig blickte Lux nach unten und ihm stockte abrupt der Atem. Er löste sich auf! Seine Beine waren bereits unauffindbar, einfach weg, und schleichend verlor sich auch der Rest seines Körper ins Nichts. „Nein!“, stieß er panisch hervor. Schwankend kippte er nach hinten, auf den Boden. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, das konnte nur ein Alptraum sein. Bestimmt war er in seinem Zimmer auf dem Bett eingeschlafen, nachdem er sich über Diabolus aufgeregt hatte. Er musste nur aufwachen. Aufwachen! „Nein! So war das nicht geplant!“, protestierte Lux missbilligend. „Das darf nicht wahr sein ... bitte, lass das nicht wahr sein. Ich wollte doch nur die armen Kaugummis retten.“ Von den Dämonenschoßtierchen war schon bald nichts mehr übrig, nicht mal mehr diese Flüssigkeit. Allesamt hatte sie der Boden förmlich verschluckt, der sich aufzuheizen schien. Oder kam das von der Hitze in Lux? Konnten Träume sich derart real anfühlen? Was, wenn das hier wirklich passiert? Ein erschreckender Gedanke. Etwas Unheimliches ging hier vor sich und das verstörte Flimmern der Geistersphären bestätigte sein ungutes Gefühl. Vor allem weil sich diese heiligen Lichter kein Stück mehr rührten, wie ihm erst jetzt auffiel. Regungslos schwebten sie wie versteinert auf der Stelle, schienen ihn jedoch zu beobachten. Sie wirkten beinahe bedrohlich. Kopfschüttelnd rutschte Lux unbeholfen über den Boden. „Ich ... ich habe nichts Böses getan! Ich wollte doch nur helfen! Wirklich!“ Keine Reaktion. Von wem erwartete er auch eine Antwort? Was soll ich denn jetzt machen?, fragte er sich selbst verzweifelt. Ich habe keine Ahnung, was hier abgeht. Ich habe echt Schiss. Jemand muss mir helfen. Bitte. Unaufhaltsam löste sein Körper sich immer weiter auf, was seltsamerweise keine Schmerzen mit sich brachte, vielmehr Leere. Eine unbeschreiblich leblose Leere. Er fühlte sich schrecklich hilflos, obwohl er sich noch etwas bewegen konnte. Weglaufen hätte die Sache aber wahrscheinlich auch nicht besser gemacht, jedenfalls glaubte er nicht daran. Sollte er etwa einfach so ins Nichts verschwinden? Hatte er endgültig versagt? „Lux!“, riss ihn eine vertraute Stimme aus seinen düsteren Gedanken. Sofort keimte Hoffnung in Lux auf und er er blickte sich hastig um. „Diabolus? Bist du das? Gott sei Dank!“ „Kannst du nicht mal jetzt aufhören mit diesen aufständischen Aussagen?“, reagierte sein großer Bruder tadelnd. „Gott ist nicht unser Herr.“ „Das ist mir gerade so was von scheißegal! Wo bist du?! Ich kann dich nicht sehen.“ Sein Sichtfeld war verschwommen, aber er konnte keinerlei Bewegungen ausmachen. Diabolus' Stimme konnte er aber klar und deutlich hören, als würde er direkt neben Lux stehen. Tatsächlich wünschte er sich gerade mehr als alles andere, er könnte Diabolus sehen. An seiner Seite würde Lux sich gleich sicher fühlen, sein Bruder besaß nämlich erstaunliche Kräfte. Garantiert wäre er sogar dazu fähig, zu verhindern, dass Lux einfach verschwand. „Keine Zeit für Erklärungen. Nimm meine Hand!“, forderte Diabolus. „Schnell!“ „Ich sehe doch nichts!“, wiederholte Lux nervös. „Wo denn?!“ „Hier! Schau genau hin.“ Lux kniff die Augen zusammen, in einem Versuch, auf diese Weise vielleicht etwas besser sehen zu können. Mühevoll suchte er seine nähere Umgebung ab und tatsächlich: Nur wenige Schritte vor ihm tauchte in der Luft eine Hand auf, gemeinsam mit dem restlichen Körper von Diabolus, der nur schemenhaft zu erkennen war. Ohne zu zögern und weiter nachzudenken, schaffte es Lux irgendwie, wieder auf die Beine zu kommen, die gar nicht mehr da waren. Taumelnd kam er seinem Bruder entgegen und nahm dessen Hand. Augenblicklich wurde er von Dunkelheit eingehüllt. *** „Lux?“, drang Diabolus' Stimme besorgt an sein Ohr, wie ein fernes Echo. „Lux, kannst du mich hören? Wach auf.“ „... Hm?“ Erschöpft öffnete Lux zögerlich die Augen und erblickte als erstes den dunkelroten Abendhimmel über sich. Von den Geistersphären gab es weit und breit keine Spur mehr, dabei waren es so viele gewesen. Also doch nur ein Traum? War er unterwegs etwa von einer Sekunde zur nächsten eingeschlafen? „Bin ich noch am Leben?“, murmelte Lux zweifelnd. Er fühlte sich mehr als schlapp, dabei hatte er eigentlich nichts Anstrengendes getan. Direkt neben ihm kniete sein älterer Bruder, Diabolus, der ihn aufmerksam musterte. Außer ihm hatten sich noch einige andere Personen um sie beide herum versammelt, hauptsächlich Wachen, darunter befanden sich auch Wutz und Taro. Alle machten einen sehr merkwürdig besorgten Eindruck. Falls Lux wirklich nur eingeschlafen war, wunderte er sich sehr darüber. Warum schauten denn alle so dumm aus der Wäsche? „Ja, scheint so“, antwortete Diabolus schließlich. Prüfend legte der älteste Sohn eine Hand auf die Stirn seines kleinen Bruders und kontrollierte zudem einige andere Lebenszeichen, bis er sich endlich sicher sein konnte, dass es Lux halbwegs gut ging. Offenbar war er nur mit knapper Not noch mal davon gekommen, zumindest sagte das Diabolus' Gesichtsausdruck aus. Genau das schienen ebenso die anderen Anwesenden in diesem Moment zu denken, wenn man von ihrer Mimik ausging. Diabolus seufzte leise. „Du hast also deine Entscheidung getroffen ...“ „Entscheidung?“, fragte Lux absolut konfus. Noch etwas schwankend richtete er sich auf, wobei Diabolus ihn vorsichtshalber stützte. „Wie meinst du das?“ Schweigend deutete der erste Sprössling in eine Richtung und Lux' Blick folgte ihm zu dem ehemaligen Käfig der Dämonenschoßtierchen, von denen kein einziges mehr da war. Bis auf die magische Barriere wies nichts mehr darauf hin, dass dort einst etwas gefangen gehalten wurde. Nichts als Leere. Freuen konnte Lux sich darüber aber nicht. Waren sie nun entkommen? „Was ist passiert?“, wollte er wissen. Statt zu antworten, stellte sein Bruder eine Gegenfrage: „Kannst du laufen? Wir müssen uns beeilen.“ „Beeilen?“, hakte er unruhig nach. Noch bevor Diabolus etwas dazu sagte, packte Lux eine überaus böse Vorahnung, als er dann auch den abgebrannten Seelenbaum in der Nähe entdeckte. „Lux, Vater will dich sehen. Unverzüglich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)