Are you ready!? von Cirque_des_Reves ================================================================================ Kapitel 4: Autumn leaves ------------------------ Der Tempel war eher klein. Er war so typisch, dass Iku in dem traditionell japanischen Bauwerk nichts Besonderes fand – dafür war er völlig eingenommen von den Bäumen, die rings um das Tempelgelände wuchsen und in den leuchtendsten Herbstfarben schillerten. Unter ihren Füßen waren bunte Blätter, die bei jedem Schritt raschelten. In einer Ecke des großen Innenhofes sah Iku einen hübschen, jungen Mann, der gerade dabei war, das Laub aufzufegen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie You ihm bedeutete, den Camcorder in eine andere Richtung zu schwenken, und sofort gehorchte er. „Mein älterer Bruder“, murmelte You ihm leise zu, „Er hat gesagt, ich krieg Prügel, wenn sein Gesicht irgendwo auftaucht.“ Iku lachte leise. You klang auch nicht, als würde es ihn wirklich stören; so schlimm war es vermutlich also gar nicht. „Ich habe mit dem Tempeloberhaupt gesprochen. Ich darf dir einen Rundgang durch den gesamten Tempel anbieten, wenn du möchtest. Ich warne dich aber, so wahnsinnig spannend ist es nicht, und so wahnsinnig viel Ahnung von Religion hab ich auch nicht.“ Ein Blick hinüber zu Yoru, der gutmütig die Augen verdrehte, ließ Iku ahnen, dass das so nicht ganz stimmte. Er ließ es unkommentiert, willigte nur ein, sich den Tempel zeigen zu lassen. Er wusste, dass man als nicht dem Tempel zugehöriger Mensch in viele Räumlichkeiten eigentlich gar keinen Einblick bekam; ein bisschen war er also selbst neugierig, nicht nur um der Fans Willen. Ein Gähnen unterdrückend folgte er You, als er mit Yoru an seiner Seite auf den Haupteingang zusteuerte.   Iku war müde. Seit Shuns Horrorgeschichten vor zwei Tagen hatte er grauenhaft geschlafen. Ohne kleine Finger, bisher, aber das machte es nicht einmal besonders viel besser! Er wollte wahlweise diesen Traum oder diese Woche hinter sich bringen, damit er gar nicht mehr darüber nachdenken musste, denn offensichtlich setzte es ihm zu. Er war allein in der letzten Nacht dreimal aus dem Schlaf geschreckt, und obwohl er als Pendler eigentlich ein Meister darin war, in den Zügen zu schlafen, war er bei der Fahrt hierher bei jedem leisen Rumpeln sofort wieder panisch hochgefahren. Dass sie heute alle bei You übernachten würden, war da unglaublich tröstlich. In einem buddhistischen Tempel würde sich doch kein Geist der Welt wagen, ihn belästigen, nicht wahr? Eine Nacht voll friedlichem Schlaf klang gerade wirklich verlockend – auch wenn die Nacht noch lange hin war. Es war zwölf Uhr mittags, und ihr Plan sah vor, dass sie sich den Tempel ansehen würden, gegebenenfalls ein bisschen über die dazugehörige Religion plaudern würden, und schließlich noch einen Spaziergang hinaus ins nächste Wäldchen unternahmen, das jetzt im Herbst atemberaubend schön sein musste. (You hatte es natürlich anders ausgedrückt, aber das war die Botschaft seiner Worte gewesen.) Besonders auf den Spaziergang freute Iku sich. Er war einfach gern in Bewegung!   Bevor sie im Inneren des Tempels verschwanden, blieb er noch einmal zurück, um möglichst viel des altmodischen Tempelgebäudes und –Geländes filmen zu können. Für Iku mochte der Anblick völlig vertraut sein, aber ihre Fans draußen in der ganzen Welt hatten sicherlich keine Ahnung von traditioneller, japanischer Architektur. „Ich kann Tempel und Schreine kaum auseinanderhalten“, kommentierte er, als er wieder zu You und Yoru aufschloss, die abwartend im Eingang standen. You sah ihn amüsiert an und schüttelte den Kopf. „Wundert mich nicht. Sie bauen beide auf den gleichen architektonischen Grundgedanken auf. Wusstest du, dass es früher sogar richtig viele Schreintempel gab? Also Tempel und Schreine in einem? Shintoismus und Buddhismus waren sich mal ziemlich nah.“ – „Echt?“ Nein, das hatte Iku nicht gewusst. Religion war nicht seine Welt. Klar, es gehörte irgendwie zum Alltag dazu, aber es war nichts, das Iku sehr stark interessiert hätte. Er hätte einen Vortrag über alle großen Laufbahnen in Japan halten können, kein Problem, aber das, was You ihm gerade erzählte, war völliges Neuland für ihn. „Jap. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde ein Gesetz verabschiedet, dass jedwede Mischung der beiden Religionen verbot. Im Zuge dessen mussten viele Schreine ihren buddhistischen Einflüsse aufgeben, und umgekehrt viele Tempel ihre shintoistischen. Unser Tempel hatte früher auch einen kleinen Schrein dabei. Ich kann dir die Ecke später zeigen, wo er stand – man sieht heute nichts mehr davon.“ „Hast du ne Ahnung, wieso das Gesetz aufgekommen ist?“ „Das war Teil einer Anti-Buddhismus-Bewegung. Die hat wohl schon zur Mitte der Edo-Epoche angefangen und dann ihren Höhepunkt in der Meiji-Ära gefunden. Man hat Buddhismus damals als Störenfried von außen betrachtet und wollte dem japanischstämmigen Shintoismus mehr Möglichkeiten geben, seine Macht auszudehnen. Ich glaube, es hatte unter anderem auch damit zu tun, dass der damalige Kaiser Anhänger einer Shinto-Sekte war. Heutzutage steigt die Anzahl an Buddhisten in Japan übrigens wieder; wenn ich es richtig im Kopf habe, müsste sie bei etwa dreißig Prozent der Bevölkerung liegen.“   Während sie durch die Flure des Tempels liefen, blieb es danach relativ still. Iku war sich fast sicher, dass es einfach daran lag, dass You dazu erzogen war, im Tempel mit Respekt herumzustreifen. Sicherlich waren einige Priester im Gebet, oder in Studien vertieft, oder mit irgendetwas anderem beschäftigt, wo sie dankend darauf verzichten konnten, von drei lärmenden Jugendlichen gestört zu werden. Es war faszinierend, wie viel man hier finden konnte. Neben Räumen und Hallen, die zum Gebet dienten oder besondere Artefakte und Statuen beherbergten, gab es genauso viele Räumlichkeiten, die sich mit den weltlichen Belangen der Menschen hier befassten. Büros, Küchen, eine kleine Bibliothek mit Nachschlagewerken zum Buddhismus. Und natürlich Privaträume. Vor seinem alten Kinderzimmer blieb You grinsend stehen und verkündete, dass da niemand reinkommen würde. Er gab nicht nach, egal, wie oft Iku darum bettelte. „Lass ihn“, murmelte Yoru nach dem fünften Mal. Er lachte leise, „Er will doch nur seine Sailor-Moon-Poster verstecken.“  - „Yoru!“ You schnaubte empört. „Ich habe keine Sailor-Moon-Poster, das weißt du genau!“ Yorus Blick sagte etwas anderes. Der verdächtige, leichte Rotschimmer auf Yous Wangen auch. Er schnaubte noch einmal empört, dann öffnete er ein bisschen zu schwungvoll die Schiebetür und deutete unwirsch in den Raum. „Bitte sehr! Keine Poster.“   Es war ein Kinderzimmer. Kein Jugendzimmer. Ein Kinderzimmer. Kein Bett, stattdessen wohl ein Futon, der gerade eingerollt in irgendeinem Schrank verbrachte. Stofftiere, die man dem You von heute gar nicht mehr zutrauen würde. Bei einem Teddybär, der selig in einer Ecke des Raumes auf einer niedrigen Kommode samt Nachtlicht stand, war Iku sich sicher, dass er ein Gegenstück dazu einmal auf einem Kinderfoto in Yorus Zimmer gesehen hatte. An den Wänden hing nichts mehr, aber der blassgrüne Anstrich wies an einigen Stellen verräterisch rechteckige Verfärbungen auf, die auf Poster oder Bilderrahmen hindeuteten. Weil Iku nirgendwo Löcher entdeckte, ging er eher von Postern aus. Insgesamt war es relativ leer. Auf einem Schubladenschrank, der etwa hüfthoch war, lag ein Fußball. An einer Pinnwand pinnte ein alter, zerknitterter Songtext. Vielleicht von einer Choraufführung? Das Bücherregal war weitgehend ausgeräumt, aber Iku entdeckte einen guten Stoß an Kinderbüchern. Sogar Kinderkochbücher, ein Anblick, der ihn unwillkürlich schmunzeln ließ. „Langweilig, huh? Das Meiste ist mit mir ausgezogen“, kommentierte You. Als Iku wieder zu ihm hinübersah, stand er neben dem Nachttischchen und ließ das Stummelärmchen des Teddybärs winken.   Nostalgie war ein seltsamer Ausdruck auf Yous Gesicht.   „Ich hätte das Zimmer gern mal in all seiner Pracht gesehen“, erwiderte er grinsend. You lachte – „Vergiss es! Dafür bist du ein paar Jahre zu spät, ha!“ Und leider, das wusste Iku dafür umso besser, war Yous Zimmer in ihrer WG wirklich, wirklich unspektakulär. Ein Zimmer eben. Wie man es von einem jungen Erwachsenen erwarten würde. Ordentlich, nicht besonders viel Dekokrempel. Eigentlich war es fast schade, aber andererseits musste Iku zugeben, dass er auch selbst niemals auf die Idee kommen würde, sein Zimmer allzu bunt vollzukleistern, selbst wenn es ihm gefallen würde. Selbst bei Koi hielt es sich in Grenzen! Vielleicht war das einfach der Einfluss des WG-Lebens, gegen den nur Shun und sein Hajime-Altar immun waren.   Die Gedanken wieder weggeschoben ging es weiter; inzwischen hatte Yoru die Kamera übernommen. Wie er sagte, damit die Fans auch mal ein bisschen mehr von Iku sahen, immerhin war das Projekt seine Idee gewesen und damit sollte eigentlich doch er der Star des Programms sein, nicht wahr? Es war lieb, und Iku genoss die neue Freiheit, wo er nicht mehr darauf achten musste, dass er ordentlich filmte und nicht irgendwann versehentlich nur noch den Fußboden aufs digitale Band brachte. „Oh, aber You, sag mal. Yoru-San hat letztens erwähnt, dass der Buddhismus Fleischverzehr verbietet.“ You brummte vage. „Verbieten ist nicht ganz das richtige Wort. Der Buddhismus, so wie ich ihn kenne, hat keine strikten Verbote und Vorschriften, sondern es sind mehr… Anregungen. Die werden trotzdem meistens recht streng eingehalten – Stichwort Karma. Weil Buddhisten glaubten, dass alles, was sie in diesem Leben falsch machen, im nächsten wieder auf sie zurückfällt, sind sie natürlich nicht blöd genug, fröhlich gegen jedes Idealbild ihrer Religion zu verstoßen. Wie kommt ihr denn auf sowas?“ „Fleisch steht doch noch gar nicht so lange so groß auf dem Speiseplan der Japaner, You. Erinnerst du dich? Wir haben etwas drüber gelesen, als wir fürs Theater recherchiert haben.“ – „Ja, richtig. Ich erinnere mich. Fand ich damals schon seltsam. Na ja, ich denke mal, heutzutage wird religiöse Maxime einfach nicht mehr so streng gesehen, huh? Und es deckt sich auch ziemlich gut. Hat das mit dem Fleisch nicht angefangen, kurz nach der Sache mit den Anti-Buddhismus-Bewegungen? Ende neunzehntes Jahrhundert?“ – „Genau.“ Iku verfolgte das Gespräch zwischen seinen Freunden schweigend, interessiert. Jetzt war es natürlich dumm, dass Yoru hinter dem Camcorder verborgen war. Es schien aber, dass er sich wohler hinter der Kamera als davor fühlte, und möglich hätten sie gar nicht so intensiv miteinander geredet, wäre er jetzt nicht da hinten.   Es war zuerst irgendwie unerwartet gewesen, aber Iku war froh, dass Yoru sie begleitet hatte.       ***     Nach dem Mittagessen – das nicht gefilmt wurde – gingen sie hinaus in den Wald. You hatte alles andere als zu viel versprochen. Es war wunderschön. Die Bäume – „Fächerahorn“, wusste Yoru zu berichten – strahlten in leuchtenden Rottönen, und jetzt, da der Herbst noch nicht so weit fortgeschritten war, waren ihre Kronen noch dicht belaubt, obwohl die roten Sprenkel auf dem weichen Waldboden langsam dichter wurden. Iku hatte den Camcorder wieder an sich genommen, einem spontanen Impuls folgend. You und Yoru liefen vor ihm, halb rückwärts und halb vorwärts. Die ersten Augenblicke ihres Spaziergangs war es still, während Iku versuchte, möglichst viel der herbstlichen Schönheit um sie herum auf Film festzuhalten. Wie das Sonnenlicht durch die dichten Baumkronen tröpfelte und die Blätter am Boden und an den Zweigen zum Strahlen brachte. Wie das Wispern des Windes die sonnenhellen Tupfer auf der Walderde wieder und wieder neu zeichnete. „Sag mal, weißt du noch?“ Das waren die Worte, die nach einigen Minuten die Stille durchbrachen. You grinste. Er stand gerade auf einem großen Flecken sonnenbeleuchtetem Waldboden, wurde selbst direkt vom Licht angestrahlt – er sah aus wie die Sonne persönlich. Yoru blieb blinzelnd stehen. Im ersten Moment wusste er offensichtlich nicht, worauf sein Freund anspielte. „Was denn?“, hakte Iku neugierig nach. „In der Grundschule haben wir mit einem Freund hier in der Gegend verstecken gespielt.“ – „Oh! Ich weiß es wieder! Mattsun hatte sich ein kleines Loch in den Boden gebuddelt und sich dann unter Herbstlaub versteckt. Bist du nicht erst auf ihn draufgetreten und dann noch auf ihn gefallen?“ You lachte herzlich. Yoru stimmte mit ein, und auch Iku ließ sich schnell von der heiteren Stimmung anstecken.   Es war eine gute Idee gewesen, die Kamera wieder zurückzunehmen.   Ihr weiterer Weg über die gewundenen Pfade des Waldes war gespickt mit kleinen Anekdoten, die Iku immer wieder ein Grinsen ins Gesicht trieben. Yoru, der sich abends im Dunkeln verlaufen hatte und dann so lange weinte, bis You ihn gefunden hatte – „Ich hab überhaupt nicht geweint!“, protestierte Yoru mit hochroten Wangen. You allerdings behauptete steif und fest, dass er ihn ohne sein lautes Heulen doch niemals gefunden hätte –, You, Yoru und ihr gemeinsamer Freund beim Käfersammeln im Sommer, wobei sie sich scheinbar immer gegenseitig Steine in den Weg gelegt hatten, um die besten, größten, coolsten Käfer zu finden. „Ich weiß noch, wie You damals versucht hat, die Mädchen mit seinen Fängen zu beeindrucken.“ Yoru grinste breit und liebevoll. Diesmal war es an You, zu protestieren. Iku konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Mädchen scharenweise davonliefen, auch wenn das gar nicht mehr zu dem Bild passte, das man heute von You bekam. Er war einfach ein Frauenheld! Irgendwie war es tröstlich, zu wissen, dass er auch nicht ganz oben angefangen hatte. „Du hast deinen ersten Liebesbrief vor Schreck fallen lassen, Yoru. Der Wind hat ihn den ganzen Hügel runtergepustet und wir sind ihm stundenlang nachgelaufen.“ – „Haha, ja. Du hast ganz schön geflucht! Und deine neue Hose hatte nachher so viele Grasflecken…“ „Und das nur dafür, dass du dem armen Ding dann einen Korb gegeben hast.“   Es war schade, dass viel von dem, das sie gerade besprachen, am Ende dem Schnitt zum Opfer fallen würde, einfach, weil es eine Zeitgrenze gab, die es einzuhalten galt. Vielleicht würde sogar noch etwas rausfallen, weil You und Yoru selbst beschlossen, dass es doch zu privat war, und sie im Eifer des Gefechts ihre eigenen Grenzen nicht mehr gefunden hatten. Ikus Meinung nach war zwar nichts Verfängliches dabei, aber er konnte nachvollziehen, dass man einfach nicht alles an die Öffentlichkeit tragen wollte. Und vielleicht war es Yoru unangenehm, wenn die Fans davon wussten, wie er mit seinen ersten Liebesbriefen umgegangen war. Vielleicht war es You unangenehm, wenn die Fans erfuhren, dass er als Kind einfach noch kein Mädchenschwarm gewesen war. Vielleicht wollten sie einfach nur vermeiden, dass ihr Freund am Ende genug Erwähnung fand, dass irgendein aufmerksamer Fan ihn sich merken würde. Ob sie das ungeschnittene Filmmaterial behalten dürften? Iku wollte es aufheben, denn er fand die kleinen Geschichten aus Yous und Yorus Kindheit unglaublich liebenswert. Beneidenswert. Er hatte keinen Kindheitsfreund, der sich durch sein ganzes Leben zog.   Wie er ihnen da zuhörte, wurde er glatt neidisch.   Eine hübsche, kleine Lichtung war erst einmal Endstation ihrer Reise. Yoru hatte Proviant eingepackt, und weil Iku auch langsam wieder hungrig wurde, meckerte er sicher nicht, als sein Freund verkündete, es wurde Zeit für ein Picknick. Nachdem sie sichergestellt hatten, dass sie ausreichend Speicherplatz auf dem Camcorder übrig hatten, und noch einen Ersatzakku in der Tasche, wurde das Gerät laufen lassen. Es bekam einen Platz in den niedrigen Ästen des Baumes, in dessen Schatten sie sich niederließen. Das Bild war an den Seiten verdeckt von dem bunten Laub, das sich vor die Linse schob. Ein hübscher Effekt, wie Iku fand. „Sag mal, Ikkun.“ Yoru schob ihm ein Reisbällchen zu, sah ihn dabei lächelnd an. In seinen Augen schimmerte Sorge. „Du siehst schon ein ganzes Weilchen sehr müde aus. Ist alles okay?“ „Ähm… Ja. Doch. Haha… Shun-Sans Gruselgeschichten haben mich vielleicht ein bisschen mitgenommen, aber keine Sorge! Ich lass mich doch nicht unterkriegen!“ – „Ich weiß doch. Aber trotzdem. Wenn es dir nicht gut geht, dann sag Bescheid, ja? Wir müssen nicht noch ewig herumlaufen, wenn du zu erschöpft bist.“ Es war okay. Iku fühlte sich wohl hier draußen zwischen Oktobersonne und Herbstlaub, und die frische Luft half ihm, seine Gedanken zu klären und einfach nicht mehr an die seltsame Traumgeschichte zu denken, an die er nicht denken wollte. „Was hat der alte Dämon wieder getrieben?“ Iku blinzelte. Er biss nachdenklich von seinem Reisbällchen ab und begann schließlich, zu erzählen, was Shun ihm erzählt hatte – nur so verallgemeinert, dass welcher obskure Fluch auch immer sich nicht auf seine Freunde ausweiten dürfte. You bedachte die kleine Anekdote mit einem Augenrollen und einem Kopfschütteln, während Yoru mitleidig lächelte.   „Mach dir keinen Stress. Solchen Schwachsinn gibt’s mit Sicherheit nicht. Geister verhalten sich hoffentlich nicht ganz so dämlich.“ Der Gedanke brachte Iku dazu, sich an ein ganz anderes Thema zu erinnern. „You, sag mal – wie ist das eigentlich mit Exorzismus? Gibt es sowas bei euch?“ – „Hah?!“ Eindeutig nicht begeistert. Der Rotschopf warf ihm über sein eigenes Reisbällchen hinweg vernichtende Blicke zu. Iku fürchtete schon, dass You ihn jetzt demonstrativ ausschweigen würde, oder noch schlimmeres tun, aber nach einem würdevollen Schnaufen schien er sich wieder soweit zusammengerissen zu haben. „Ja, es gibt Exorzismus. Bin mir ziemlich sicher, dass irgendwelche Formen von Geisteraustreibung in jeder Religion betrieben werden. Nein, ich kann’s nicht, also komm nicht auf Ideen. So ein Zeug wie Talismane oder Ofuda findest du bei Buddhisten übrigens auch nicht wirklich, das sind Sachen, die eher aus dem Shintoismus kommen. Bei uns sind’s nur Rituale, Mantras, bestimmtes Räucherwerk.“ Auch wenn er das nicht laut sagen würde – Iku war enttäuscht. Irgendwie hatte er gehofft, dass You einen Talisman hervorzaubern könnte, der ihn vor bösen Geistern beschützen konnte. Wirklich, er glaubte Shun nicht so ganz, was er erzählte, aber es nahm ihn mit! Er schlief nicht gut, und mit einem Talisman würde er vermutlich bedeutend besser schlafen. Er seufzte leise. „Also kennst du die nötigen Mantras und Prozeduren zum Exorzieren nicht?“ – „Nein. Wenn ich in irgendeiner Form bewandert wäre, hätte ich unseren Dämonenkönig längst ausgetrieben!“ You zwinkerte. Iku lachte leise, nicht ganz motiviert dazu, sich zu amüsieren. Er fing Yorus Blick auf, der wieder sorgenvoll in seine Richtung wanderte, dann aber lächelte der Ältere aufmunternd. „Hey. Wir könnten Morgen noch zu dem Schrein hier in der Nähe? Ikkun einen Talisman kaufen. Und wenn wir dort kurz filmen dürfen, haben wir einen hübschen Vergleich zum buddhistischen Tempel.“ Und das war es mit dem Thema. (Iku war übrigens sehr angetan von dem Gedanken an den Talisman!) Ein paar Scherze später war es erst einmal wieder vergessen, sie alle mit dem Essen beschäftigt. Als absehbar wurde, dass nichts Spannendes mehr passieren würde, schaltete Iku den Camcorder doch ab; er musste nicht unnötig viel Filmmaterial sammeln, nicht wahr?   Sie verbrachten die nächsten Stunden unter dem leuchtend roten Herbstlaub, tauschten Geschichten und Erinnerungen aus, die sie mit dem Herbst verbanden. You erzählte, dass er einmal bei einem kleinen Festival gewesen war, das ähnlich wie die großen Events zum Kirschblütenschauen im Frühling abgehalten wurde, um sich an der Pracht der Herbstbäume zu erfreuen. Nichts Besonderes, wie er sagte, sondern ein typisches kleines Straßenfest, wie es sie gerade im Sommer einfach zu Hauf gab. Iku hoffte, dass einer der Jungs das Thema wirklich noch aufgreifen würde. Vielleicht konnte er es Rui vorschlagen, wenn dem Jungen zeitnah nichts Schönes einfiel. Irgendwann waren sie auf den Pfaden ihrer Erinnerung so weit gelaufen, dass sie zusammenführten. Es war lustig, wie viele Dinge Iku schon vergessen hatte, die dafür Yoru oder You im Gedächtnis geblieben waren, und umgekehrt, wie viel er noch wusste, das seine Freunde vergessen hatten. Dass sein Spitzname auf Yous Kappe ging, hatte er wirklich schon verdrängt. Weshalb ausgerechnet You ihn jetzt aber gar nicht benutzte – na. Es störte Iku nicht. Er war glücklich, wie es war. „Ich bin froh. Über den Spitznamen.“ – „Ernsthaft?“ You lachte. Er zog die Augenbrauen hoch, grinste provokant. „Heißt das, ich krieg jetzt ne Belohnung? Du darfst mir bei Gelegenheit ein Eis spendieren oder so.“ – „So war das nicht gemeint! Aber ja. Froh. Es hat Rui geholfen, sich mir anzunähern. Wisst ihr noch? Nachdem er angefangen hat, mich Ikkun zu rufen, ist er endlich aufgetaut.“ „Das hab ich auch bemerkt“, gab Yoru nachdenklich zurück. Er lächelte auf diese wehmütig-nostalgische Art, die Iku sonst nur von seiner Mutter kannte, wenn sie mal wieder auf dem Weg zur Amtspost statt dem Aktenordner das alte Kinderfotoalbum aus dem Schrank gezogen hatte. „Ich bin sehr froh darüber. Rui war am Anfang wirklich ein bisschen schwierig.“   Aber eigentlich waren sie das wohl alle gewesen. Und selbst wenn nicht. Iku wollte niemals einen anderen Partner als Rui haben.     ***     Die Sonne ging unter. Zwischen den Bäumen sickerte rötlich-goldenes Licht hindurch, tauchte die ohnehin schon roten Blätter in einen feurigen Glanz und ließ die ganze Welt erstrahlen wie in Gold getaucht. Allein für diesen Anblick hatte Iku die Aufnahme wieder begonnen. Vor ihnen zerstreute sich der Wald langsam, es ging bergauf zu einem kleinen, felsigen Hügel, der in den flammenden Abendhimmel hinaufragte. Yoru war stehengeblieben. Iku tat es ihm gleich, mehr aus Reflex. Auch You stand, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und etwas an seinem Blick sagte Iku, dass er diesen Ort kannte – und irgendetwas Wichtiges damit verband. So standen sie da, schweigend, jeder von ihnen mit Gedanken beschäftigt, die dem anderen nicht zugänglich waren. Zumindest war Iku nicht zugänglich, was in den beiden Älteren vor sich ging, und so verschlossen, wie ihre Gesichter gerade wirkten, war er sich nicht sicher, ob sie es denn gegenseitig wussten.   Es war schließlich Yoru, der die Stille des herbstlichen Abends unterbrach, indem er sich in Bewegung setzte. Iku verfolgte ihn mit dem Camcorder, sah zu, wie er den kleinen Hügel erklomm und schließlich dort oben stehen blieb. Ein kurzer Seitenblick zu You zeigte schweigende Überraschung.   Dann begann Yoru zu singen.   Iku erinnerte sich nicht, dass er ihn jemals so laut und kräftig gehört hatte. So selbstbewusst. Ohne Mikrofon, ohne instrumentale Begleitung, ohne jemanden, der mit ihm sang. Er war sprachlos. Und unsicher. Gehörte das wirklich noch in eine öffentliche Aufnahme? Iku wollte abschalten, aber – er wollte es festhalten. Egal, ob es dem Schnitt zum Opfer fiel. Aber für sie selbst. Oder würde Yoru dann böse werden? Hatte er überhaupt  noch im Blick, dass da eine Kamera lief? Der Gedanke verlor sich, als er sah, wie auch You loslief. Er gesellte sich zu seinem Freund auf den Hügel, stimmte in das Lied mit ein, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Die Sonne schien so grell auf ihre Gesichter, dass Iku in dem starken Kontrast aus strahlendem Licht und dunklen Schatten kaum etwas erkennen konnte, aber er war sich sicher, dass sie glücklich aussahen. Ein Windstoß wirbelte Laub auf.   Zwischen goldenem Sonnenlicht, feurigen Herbstblättern, und den letzten Tönen eines Liedes, das er nicht kannte, und das gerade vom Wind hinfortgetragen wurde, fühlte Iku sich zweifelsfrei fehl am Platz – und war trotzdem unglaublich froh, dass er hier sein konnte, um festzuhalten, was er sah. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)