Herzenswille von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 4: Hilflos ------------------ Um die Nachmittagszeit kam der Arzt wieder, um nach den beiden Kranken zu sehen. André war immer noch nicht aufgewacht. Doktor Lasonne untersuchte ihn und wechselte ihm die Bandagen. Zu seiner Großmutter sagte er, dass es ihm schon bald besser gehen würde, um sie zu beruhigen. Oscar befand sich wieder in dem Zimmer und ließ ihren Blick nicht von ihrem langjährigen Freund – wie friedlich er da lag... Jedoch in seinem Herzen herrschte schon lange kein Frieden – wegen der unerwiderten Liebe zu ihr... Oscar hatte seinen tief verborgenen Schmerz in jener Nacht verstanden, als er über sie beinahe hergefallen war – aus Verzweiflung und weil sie seine Liebe nie bemerkt hatte, obwohl er immer an ihrer Seite war... Nun lag das fast vier Monate zurück und sie hätte sich gerne bei ihm entschuldigt... Aber wofür? Für seine Liebesqual? Dafür, dass sie ihm immer Unglück brachte? Oder weil sie ihre eigene Gefühle niemals eingestehen konnte und sie stets gekonnt unterdrückte?   André war ihr doch nicht gleichgültig: Er war ihr Gefährte seit sie denken konnte, er half ihr schon immer aus misslichen Lagen und sogar das eine oder andere Mal hatte er sie vor Gefahren beschützt, in die sie waghalsig gestürzt hätte... Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gekommen, um sich mit ihm auszusprechen? Ihm, dem einzigen Menschen, der sie verstand, der ihre Entscheidung nie in Frage stellte und der niemals würde über sie bestimmen wollen, könnte sie ihr Herz öffnen? Dafür müsste er aber nur aufwachen...   „Und nun müssen wir bei Euch den Verband wechseln.“   Oscar war zu sehr in ihrer Gedankenwelt vertieft, um mitzubekommen, dass der Arzt mit seiner Untersuchung bei André fertig wurde und nun sich an sie wandte. „Natürlich“, sagte sie nur und mühte sich, ihren Gedanken nicht mehr so schnell zu verfallen – das würde sie besser dann tun können, wenn sie alleine sein würde. Jedoch widerwillig verließ sie André und ging mit dem Arzt in ihre Gemächer, während Sophie bei ihrem Enkel blieb.   In ihrem Salon wechselte der Doktor ihr den Verband und reinigte ihre Abschürfungen, bevor er einen neuen Verband anlegte. „Eure Wunden verheilen genauso gut, wie bei Eurem Freund.“   „Das freut mich.“ Mehr sagte Oscar nicht.   Der Doktor wirkte auf einmal nachdenklich, als wäre er unschlüssig geworden. Dann entschied er sich doch noch. „Sagt, Lady Oscar, was macht Andrés Sehkraft auf seinem rechten Auge? Ich wollte seine Großmutter damit nicht beunruhigen, deswegen frage ich Euch.“   Die Frage traf Oscar unvorbereitet. „Was meint Ihr damit? Was soll mit seiner Sehkraft schon sein?“   „Nun, er hat mich vor Monaten konsultiert. Er meinte, er sähe auf seinem rechten Auge vor Zeit zu Zeit verschwommen. Ich habe ihn beruhigt, dass es nur die Überanstrengung wegen seines linken Auges ist.“   „Was sagt Ihr?“ Oscar sah ihn fassungslos an.   „Hatte er etwa Euch nichts von dem Besuch bei mir erzählt?“ Auch der Doktor schien etwas überrascht zu sein.   „Nein, hatte er nicht! Was ist nun mit seiner Sehkraft?!“ Das war unfassbar! Oscar hatte immer stärker ein flaues Gefühl im Magen.   Doktor Lasonne rang etwas mit sich, bevor er weiter sprach: „Nun, zum Vergleich vor wenigen Monaten befürchte ich, dass seine Sehkraft nachgelassen hat.“   „Was soll das heißen?!“ Und vor allem, warum verschwieg ihr André so etwas Wichtiges?!   Doktor Lasonne knotete ihr den Verband auf einer Hand zu und machte das gleiche mit der anderen. „Das könnte bedeuten, dass André, wenn er sich nicht vorsieht und nicht behandeln lässt, auf seinem rechten Auge auch erblinden wird.“   „Nein, das kann nicht sein!“ Oscar geriet außer sich und nur mit Mühe versuchte sie krampfhaft Ruhe zu bewahren. „Das darf nicht passieren!“   „Es gibt eine Möglichkeit.“ Doktor Lasonne packte die restlichen Sachen von Bandagen in seine Medizintasche ein und war dann wieder bei ihr. „Wenn er sich daran hält, dann wird sein Auge gerettet sein.“   „Welche?! Sprecht!“ Oscar konnte nicht mehr ihr aufgewühltes Gemüt verbergen, ihr ganzer Körper war angespannt und ihre Gedanken überschlugen sich – sie war auf alles gefasst. „Ich werde dafür sorgen, dass er alles befolgt!“   „Ich bin beruhigt, Lady Oscar. Auf Euch wird er bestimmt hören.“ Doktor Lasonne schmunzelte gar zufrieden – auch in Anbetracht Oscars gereiztem Gemüt. Er konnte das ihr nicht verdenken und würde sich höchstwahrscheinlich genauso fühlen, wenn ein Freund vor ihm etwas verheimlichen würde. „Ich lasse Medizin, die er auf seinem Auge anwenden soll. Das reinigt und entspannt. Etwa zwei Wochen darf er keine Anstrengungen sich zumuten und an einem ruhigen Ort sich ausruhen. Das würde ihm helfen können“, empfahl er und holte aus seiner Tasche eine Phiole, die er sogleich Oscar reichte.   Oscar beschaute die Phiole aus dunklem Glas in ihren Händen und die darin sich befindende Flüssigkeit. „Dafür werde ich sorgen! Ich schwöre es!“ Das war schrecklich! Warum hatte André ihr davon nichts erzählt, dass seine Sehkraft nachließ, fragte sie sich zum wiederholten Male. Sie waren doch Freunde! Sie hatten doch keine Geheimnisse voreinander! Was hatte sich denn zwischen ihnen geändert, dass es zu so etwas kam?!       - - -       Oscar befand sich wieder auf Andrés Zimmer und stand am Fenster mit verschränkten Armen vor der Brust, nachdem sie die Phiole mit der flüssigen Medizin auf dem kleinen Tischlein neben seinem Bett abgestellt hatte. Zu der Sorge um ihn kreiste nun das Arztgespräch in ihrem Kopf durch. Sie versuchte Andrés Verschwiegenheit ihr gegenüber zu begreifen. War sie etwa auch der Grund dafür?   Es war in der letzten Zeit vieles passiert, um es in einfache Worte zu fassen... Zwischen ihnen war vieles passiert!   Oscar seufzte schwer. Darüber zu grübeln bereitete ihr noch mehr Kopfzerbrechen. An aller erster Stelle stand jedoch, dass André bald aufwachen würde. „Gib nicht auf...“, murmelte Oscar beinahe tonlos und ihre Augen schimmerten wieder ungewollt. „Tu das bitte für mich... Nur dieses eine mal noch... Dann werde ich für dich sorgen, ich verspreche es... ich werde mich um dich kümmern...“   Und wieder einmal kam keine Regung von André. Das schien fast hoffnungslos zu sein, hier zu verweilen und über ihn zu wachen. Aber Oscar gab nicht nach. Sie war schon öfters weggerannt – von ihren Problemen und Gefühlen, mit denen sie selbst nicht fertig werden wollte. Diesmal würde sie aber bleiben. Sie würde André nicht im Stich lassen, so wie er sie niemals im Stich gelassen hatte!   Die Tür zu seinem Zimmer ging auf und wie erwartet kam Sophie herein. Sie sah kurz auf ihren Enkel, senkte dann etwas bedauernd ihren Kopf und schaute gleich zu ihrem Schützling. „Lady Oscar. Es ist Zeit zum Speisen und der Tisch ist bereits angerichtet. Eure Mutter beabsichtigt danach nach Versailles zurückzukehren. Ach, ja, und Euer Vater ist gerade heimgekommen und will dann wieder nach Versailles aufbrechen, nachdem er mit Euch gesprochen hat.“   „Danke, Sophie.“ Oscar entriss sich widerwillig von dem Fenster und bewegte ihre Füße. „Falls er mich sucht, ich bin im Speisezimmer.“   Das war schon lange her, dass Oscar mit ihren Eltern an einem Tisch gesessen und gespeist hatte. Sie musste zugeben, dass war schon irgendwo ein merkwürdiges Gefühl. Kaum als die ganze Familie de Jarjayes den Platz am Tisch nahm, begann schon Reynier mit dem Gespräch. Er hatte seine Tochter bei der Begrüßung verstohlen gemustert und eine Entscheidung getroffen. „Ich werde nachher nach Versailles aufbrechen und mit der Königin reden.“   „Mit der Königin?“ Was gab es da mit ihr zu reden? Das verstand Oscar nicht so recht. „Aber wieso?“   „Du bist nicht gerade in bester Verfassung, um deinen Dienst weiterführen zu können.“ Reynier legte seine Gabel neben dem Teller und schaute seine Tochter, die ihren Eltern gegenüber saß, eindringlich an. „Und zweitens, du brauchst einen neuen Gardist.“   „André ist noch bewusstlos, Vater.“ Auch wenn in Oscar ein ungutes Gefühl keimte, bewahrte sie ihre Ruhe – zumindest versuchte sie das. „Und ich beabsichtigte ohnehin für ein bis zwei Wochen dienstfrei zu nehmen.“   „Gut.“ Der General schien mit dieser Aussage zufrieden zu sein. „In drei Wochen wirst du deinen Dienst wieder antreten können.“ Er tupfte mit einer Serviette an seine Mundwinkel, ohne Oscar aus seinen strenggesonnenen Blick zu lassen. „Was allerdings André betrifft... Mir wäre es lieber, wenn du dir eine neue Leibgarde suchen würdest. Was nützt ein halbblinder Gardist, auf den man selbst aufpassen muss?“   „Was sagt Ihr?!“ Oscar glaubte sich verhört zu haben! Wut stieg in ihr hoch, die sie aber krampfhaft niederrang. „Ihr sprecht von André, als wäre er ein Gegenstand, den man beiseiteschieben kann, wenn er nicht mehr brauchbar ist! Niemals werde ich es tun! André ist mit mir aufgewachsen, er ist mein Freund und ich werde ihn nicht gegen einen anderen ersetzen!“   Madame de Jarjayes befürchtete schon eine Auseinandersetzung zwischen den beiden Hitzköpfen und wollte sich schon einmischen, um die Gemüter zu beruhigen, als ihr Gemahl schon unverhohlen zu Oscar weitersprach: „Die Entscheidung liegt bei dir. Aber wenn noch so ein Vorfall vorkommt, dann werde ich dafür sorgen, dass André seiner Pflichten entlassen wird und du eine neue Leibgarde bekommst.“   „Dazu wird es nicht kommen!“, sagte Oscar kühl und ihre blauen Augen funkelten. „André wird wieder gesund! Sobald er erwacht, fahre ich mit ihm in die Normandie und kümmere mich um ihn!“   „Das liegt auch bei dir, Tochter. Aber es ändert dennoch nichts an meiner Entscheidung.“ Reynier beeindruckte ihre Rage keineswegs. „Du solltest mir lieber die Schurken beschreiben, die dich überfallen haben. So ein Vergehen darf nicht ungestraft bleiben.“   „Es war Nacht, Vater!“ Oscar hielt es nicht mehr aus, ihr platzte der Kragen. „Das waren hunderte Menschen! Wie konnte ich da jemanden erkennen und dessen Gesicht mir merken?! Oder wollt Ihr etwa ganz Paris dafür jagen und jeden Verdächtigen festnehmen?“   Auch Reyniers Geduld neigte an seine Grenzen. Er zog seine Augenbrauen zusammen, schob beiläufig sein Teller von sich und fügte seiner Stimme ein grimmigen Ton hinzu. „Wenn es sein muss, ja.“   „Aber, Vater!“, protestierte Oscar empört und drohte wie ein nahendes Gewitter auszubrechen. „Wäre es nicht besser gegen die Armut des Volkes etwas zu unternehmen, anstelle die Menschen wie eine Plage zu bekämpfen? Weil es ist nämlich genau das, warum sie anfangen die Kutschen der Adligen zu überfallen!“   „Genug!“, donnerte Reynier barsch und hob seinen Ton noch lauter an: „Der Mob hat dich fast zu Tode geprügelt und du verteidigst sie noch?!“ Nicht einmal Emilies Hand auf seinem Armgelenk konnte ihn milde zustimmen. Sie müsste doch wissen, solange sich Oscar ihm widersetzte, würde er sich nicht beruhigen können!   „In Anbetracht der Umstände, ja.“ Trotz der aufgeladenen Stimmung zwischen ihr und ihrem Vater, versuchte sie ihm die Augen zu öffnen: „Man muss die Kehrseite der Münze auch betrachten, Vater. Wenn die Verhältnisse sich nicht ändern, wird noch Schlimmeres geschehen. Bitte, Vater, spricht mit dem König. Macht ihm klar, dass es so nicht weitergehen kann. Er liebt doch sein Volk...“   „Ich werde mit seiner Majestät so oder so sprechen und gegen die Aufständischen militärisch vorgehen!“ Reynier missverstand sie wie immer – er wollte sie nicht einmal zuhören. „Einen anderen Ausweg gibt es nicht.“   „Nein, Vater! Das könnt Ihr nicht tun!“   „Doch, Tochter!“ Reynier reichte es. „Und wenn es der Befehl des Königs wird, umso mehr!“   „Aber, Vater!“   „Wir sind treue und loyale Diener des Königs und seiner Familie, vergiss das nicht!“ Reynier erhob sich, um nicht noch mehr mit seiner widerspenstigen Tochter debattieren zu müssen und schaute zu seiner Gemahlin. „Ich bin gesättigt und warte auf dich bei der Kutsche.“   Oscar wartete bis ihre Eltern fort waren und donnerte dann heftig gegen die Tischplatte mit ihrer Faust. Das war unfassbar! Die Worte ihres Vaters hatten sie noch mehr in die Rage getrieben als die Erkenntnis, dass André über seine schwindende Sehkraft vor ihr verheimlicht hatte! Oscar konnte nicht mehr ruhig sitzen – sie musste sich unbedingt abreagieren, sonst würde sie vor Wut platzen! Wie in Windeseile rannte sie aufgebracht auf ihr Zimmer, schnappte hastig ihren Degen und stürzte auf den Hof und dann in den Garten hinaus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)