Changing the Game von Morwen ================================================================================ Part 2 ------ Die Templer waren mit Liams Geschichte bereits vertraut, und so erzählte Shay ihnen seine Seite der Ereignisse und beantwortete dabei geduldig alle Fragen, die die Templer – und insbesondere ihr Großmeister, Kenway – an ihn hatten. Er berichtete, wie sich die Bruderschaft unter Achilles seit Liams Verrat verändert hatte und wie groß die Angst seines Mentors seitdem war, dass es weitere Verräter in ihren Reihen geben würde. Er erzählte, wie Hope seit Wochen mit der Schatulle herumexperimentierte, in dem Versuch, sie ein zweites Mal zu aktivieren – und wie Achilles all seine Hoffnungen darauf setzte, dass die Schatulle die Position weiterer Artefakte verriet, die die Vorherrschaft der Assassinen in diesem Teil der Welt sichern würden. „Sie haben keine Ahnung, welchen Schaden diese Artefakte anrichten können“, beendete Shay schließlich seinen Bericht. „Und wenn sie es wissen, dann scheint es sie wenig zu kümmern. Ich kann nicht länger tatenlos danebenstehen und zusehen, wie sie die Welt zerstören, weil sie mit Mächten spielen, die sie weder begreifen, noch beherrschen.“ Für eine Weile herrschte Schweigen im Raum, während die Anwesenden verarbeiteten, was sie soeben gehört hatten. „Also ist Eure Taktik... was?“, fragte Kenway schließlich. „Die Bruderschaft von innen heraus zu sabotieren, um Achilles schließlich zu stürzen?“ Er musterte Shay aufmerksam. „Wäre es nicht leichter, sich gänzlich von den Assassinen loszusagen und sie in Zukunft offen anzugreifen, anstatt weiter dieses gefährliche Versteckspiel zu spielen?“ „Ihr missversteht mich, Sir“, entgegnete Shay. „Es sind nicht die Ideale der Assassinen, die das Problem sind. Es sind ihre derzeitigen Anführer.“ „Master Kenway hat nicht Unrecht“, sagte der Mann mit dem breitkrempigen Hut, den Liam als Christopher Gist vorgestellt hatte, mit nachdenklicher Miene. „Würdet Ihr die Bruderschaft verlassen und den Templern beitreten, könntet Ihr mehr bewirken. Mit unserer Unterstützung–“ „Ich werde niemals den Templern beitreten“, unterbrach Shay ihn nicht ohne eine gewisse Schärfe in der Stimme, den Blick auf Kenway gerichtet. Für einen kurzen Moment flackerte ein seltsamer Ausdruck in den Augen des Mannes auf, doch bevor Shay ihn identifizieren konnte, war er auch schon wieder verschwunden. Ein leises Seufzen ließ ihn schließlich zu seinem Freund hinübersehen. „Die Vernünftigkeit dieser Entscheidung einmal außen vorgelassen“, sagte Liam, „ich glaube, wir sind uns alle einig, dass wir das gleiche Ziel verfolgen: weitere Erdbeben zu verhindern.“ Shay nickte. „Die Frage ist nun“, fuhr Liam fort, „wie wir dich darin unterstützen und deine Position an Achilles‘ Seite sichern können, ohne dass er ahnt, dass du gegen ihn arbeitest.“ Kenway tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen die Lippen, dann sprach er: „Ich denke, die beste Strategie wird es sein, Master Cormacs Aufstieg innerhalb der Bruderschaft zu beschleunigen, indem wir seine Konkurrenz – und Achilles‘ engste Vertraute – nach und nach ausschalten. Die Assassinen lediglich zu schwächen, ist auf Dauer keine Lösung. Unser Ziel wird es daher sein, Achilles Davenport zu beseitigen und Master Cormac als neuen Anführer der Bruderschaft in den Kolonien zu etablieren. Nur so kann ein dauerhafter Waffenstillstand mit den Assassinen gewährleistet werden.“ Ein Raunen des Erstaunens ging bei diesen Worten durch das Zimmer, und auch Shay konnte den Templer nur überrascht anstarren. Achilles zu stürzen war die eine Sache, doch die Kontrolle über die Bruderschaft übernehmen? Das war etwas, woran Shay bislang im Traum nicht gedacht hätte. „Verstehe ich das recht?“, ergriff schließlich der Mann mit den eisblauen Augen das Wort. „Wir ziehen nicht nur die Zusammenarbeit mit den Assassinen in Betracht, sondern mit einem, der sie schon mehrfach verraten hat? Woher sollen wir wissen, ob er am Ende nicht auch uns verrät, wenn er erst die Führung über die Bruderschaft übernommen hat?“ Kenway warf ihm einen warnenden Blick zu. „Charles...“, begann er, doch Shay gab ihm keine Gelegenheit, für ihn zu sprechen. Wenn Kenway dachte, er müsste ihn verteidigen, dann hatte er sich getäuscht. „Ihr habt Recht“, sagte er zu Lees großer Überraschung. „Ihr habt keinen Grund, mir zu trauen. Alles, was ich Euch geben kann, ist mein Ehrenwort, dass ich Euch nicht hintergehen werde, solange unser Bündnis besteht.“ „Euer... Ehrenwort?“, fragte Lee und sah ihn an, als würde Shay sich über ihn lustig machen. „Mein Ehrenwort, ja“, wiederholte Shay. Dann beschloss er, sein Glück auf die Probe zu stellen, und fügte hinzu: „Nach meiner Erfahrung ist es mehr wert, als alles andere. Oder ist das Konzept von Ehre etwas, womit Ihr nicht vertraut seid, Sir?“ Während Lees Gesicht vor Wut rot anlief, war die Stimmung im Raum für einen Moment zum Zerreißen gespannt. Spätestens jetzt hätte Shay damit gerechnet, dass Kenway eingriff und sie an die Regeln erinnerte, die sie zu Beginn ihres Gesprächs aufgestellt hatten, doch der Templer lehnte sich nur zurück, während der Hauch eines Lächelns um seine Lippen spielte, als würde der Wortwechsel ihn lediglich amüsieren. „Ich denke, Master Cormac hat deutlich gemacht, dass ihm daran gelegen ist, sich unser Vertrauen zu erarbeiten“, sagte der Großmeister schließlich und Shay seufzte innerlich vor Erleichterung auf, als sich die angespannte Stille endlich wieder auflöste. „Wir sollten ihm die Möglichkeit geben, sich zu beweisen, bevor wir ein Urteil darüber fällen, ob er zuverlässig ist.“ „Mit Respekt, Sir“, warf Liam behutsam ein, „ist die Tatsache, dass er schwere Verletzungen durch meine Hand erlitten hat, um Achilles‘ Misstrauen nicht zu erregen, nicht Beweis genug dafür, dass  wir ihm vertrauen können?“ Kenway schwieg für einen Moment und warf Shay dabei einen nachdenklichen Blick zu. „Es ist ein Anfang“, erwiderte er schließlich. Dann erhob er sich, und die restlichen Templer folgten seinem Beispiel. „Ich denke, wir haben fürs Erste genug erfahren“, fuhr er fort und wandte sich dann an Shay. „Master Cormac, wenn Euch ernsthaft an einer Zusammenarbeit mit dem Orden liegt, dann sollten wir von nun an in Kontakt bleiben. Ich schlage regelmäßige Treffen im Abstand von sechs bis acht Wochen vor. Den Ort und Zeitpunkt dieser Treffen werden Euch unsere Spione rechtzeitig mitteilen. Für den Augenblick möchte ich, dass Ihr Euch bis zu unserer nächsten Begegnung einen Plan zurechtlegt, gegen welche Mitglieder der Bruderschaft wir zuerst vorgehen sollen, um Achilles‘ Einfluss zu schwächen. Wie wir es anstellen, werden wir dann gemeinsam entscheiden, wenn es so weit ist.“ Shay nickte. „Ja, Sir.“ Ein zufriedener Ausdruck trat auf das Gesicht des Templers. „Gut. Dann wünsche ich Euch bis dahin viel Erfolg, Master Cormac.“ Er nickte Shay zum Abschied zu, und verließ dann den Raum, gefolgt von Lee und den restlichen Templern. Nur Liam blieb zurück, und seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen hatte er nur auf die Gelegenheit gewartet, sich endlich mit Shay allein unterhalten zu können. „Das... lief besser, als ich erwartet hätte“, sagte er mit schiefem Lächeln und lehnte sich gegen den Türrahmen. „Ja“, meinte Shay, der noch immer am Tisch saß. Die Unterhaltung mit den Templern hatte ihn viel Kraft gekostet, und er hatte im Moment kein Bedürfnis, sich zu erheben. „Lee hasst mich“, stellte er dann fest und runzelte die Stirn. „Charles Lee verachtet fast jeden, außer Master Kenway“, entgegnete Liam. „Du hast dir seinen Unmut nur schneller zugezogen, als die meisten anderen es tun.“ „Wie beruhigend“, meinte Shay und lächelte schwach. Liam zog einen Stuhl zurück und ließ sich seufzend darauf nieder. „Was mich mehr überrascht hat, ist, dass er dich mag“, sagte er dann. Shay sah ihn verwirrt an. „‚Er‘?“ „Master Kenway“, erklärte Liam. Sein Freund gab nur ein Schnauben von sich. „Ich wage zu bezweifeln, dass er viel Sympathie für mich empfindet.“ „Glaub mir, Shay, du würdest es wissen, wenn er es nicht täte“, erwiderte Liam mit ernster Miene. „Haytham weiß es zu schätzen, wenn jemand für sich selbst einstehen kann, selbst wenn er seine Meinung nicht teilen sollte. Er mag Leute, die für sich selbst denken können.“ Er schwieg für einen Moment. „Wenn unser Vorhaben gelingt und du es tatsächlich schaffst, Achilles als Anführer der Assassinen abzulösen, dann könnte eine gute Beziehung zu Haytham von unschätzbarem Wert für dich sein.“ Shay gab keine Antwort. Die Aufgabe, die vor ihm lag, erschien ihm auf einmal schier unmöglich. So groß sein Vertrauen in seine Fähigkeiten auch war, erst in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, wie lang und steinig der Weg zu seinem Ziel tatsächlich werden würde, ob mit oder ohne Unterstützung der Templer. Er wollte die Bruderschaft selbst verändern, und gegen Achilles vorgehen, den Mann, der an der Spitze der Assassinen in den Kolonien stand, und der nicht nur Hunderte von loyalen Anhängern befehligte, sondern auch eng mit den Führern der Assassinen in den anderen Teilen der Welt zusammenarbeitete. Achilles zu stürzen war die eine Sache – wenn es so weit war, musste Shay gleichzeitig bereit sein, ein ganzes Netzwerk von Beziehungen und Allianzen aufzufangen, das sein Mentor über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatte und von denen Shay bislang nur einen Bruchteil kannte. Er begriff plötzlich, dass ihm nur zwei Möglichkeiten blieben: entweder den völligen Absturz der Assassinen in Kauf zu nehmen und ihr Netz von Informanten eigenhändig von Grund auf neu aufzubauen, oder aber in Zukunft noch enger mit Achilles zusammenzuarbeiten, bis sein Mentor ihm so weit vertraute, dass er ihn auch in die letzten seiner Geheimnisse einweihte. Shay schloss für einen Moment die Augen, überwältigt von den zahllosen Problemen, die vor ihm lagen. Nein, ermahnte er sich schließlich. Hör auf damit. So weit durfte er nicht denken. Er stand noch ganz am Anfang, und das wichtigste war in diesem Augenblick, sich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Über alles andere konnte er sich auch später noch den Kopf zerbrechen. Er schlug die Augen wieder auf und erhob sich, Entschlossenheit im Blick. Liam sah ihn fragend an. „Also gut“, meinte Shay und schenkte seinem Freund ein grimmiges Lächeln. „Packen wir es an.“   Am Anfang waren es nur kleine Dinge. Shay überlegte sich gut, was er über die Bruderschaft preisgab, und er rechnete es den Templern hoch an, dass sie sich bemühten, ihre Spuren stets zu vertuschen. Nach und nach verschwanden einzelne Informanten der Assassinen von den Straßen New Yorks und den anderen großen Städten. Oft kamen sie in Unfällen um, die jedem hätten passieren können, doch Shay, der ihre Identitäten weitergeleitet hatte, wusste es besser. Mit der Zeit erlitten die Assassinen noch ganz andere Verluste – ein niedergebranntes Lagerhaus, ein sabotiertes Schiff, der Verlust eines Karrens voller Waffen durch einen Überfall von Straßenbanden. Die Vorfälle waren zu zufällig und unvorhersehbar, als dass man ein Schema dahinter hätte erkennen können, doch jeder von ihnen schwächte Achilles ein kleines bisschen mehr, und in den langen, stillen Nächten in Davenport konnte Shay seinen Mentor oft leise fluchen hören, wenn ein neuer Bericht über den Verlust eines Verbündeten eintraf.   ~*~ Boston, Dezember 1758   Haytham war an diesem Abend ungewöhnlich still. Es war ihr sechstes Treffen seit dem Tag, an dem sie ihre Zusammenarbeit beschlossen hatten, und das erste Mal, dass Shay ihn allein antraf, und nicht in Begleitung von Liam oder einem der anderen Templer. Gesang tönte aus dem Erdgeschoss herauf, doch Haytham schien ihn nicht zu hören. Als Shay sich schließlich räusperte, hob er nicht einmal den Blick, sondern hielt ihn starr auf die Flamme der Kerze gerichtet, die vor ihm auf dem Tisch stand. „Sir“, sagte Shay. Und dann, als er keine Reaktion bekam, mit etwas leiserer Stimme: „Haytham.“ Der andere sah schließlich auf und schenkte Shay ein schwaches Lächeln, als würde er ihn erst jetzt wahrnehmen. „Shay“, entgegnete er und forderte ihn mit einem kurzen Nicken auf, sich zu ihm zu setzen. „Ihr wart für einen Moment abwesend, Sir“, sagte Shay, als er Platz nahm. „Ist alles in Ordnung?“ Der Templer sah auf seine Hände herab, die er vor sich auf dem Tisch gefaltet hatte. „Adéwalé ist tot.“ Shay hob überrascht die Augenbrauen. Er hatte den Templern vor wenigen Tagen eine Nachricht mit dem Aufenthaltsort des Assassinen geschickt, in der Hoffnung, dass sie einen von Achilles‘ mächtigsten Verbündeten ausschalten würden. Doch obwohl es ihnen gelungen war, schien Haytham sich nicht besonders über diesen Sieg zu freuen. „Er und ich kannten uns von früher“, fuhr der Templer nach einer Weile fort. „Er sagte... Dinge. Über mich und meinen Vater.“ „Euren Vater, Sir?“ „Edward.“ „Edward–?“ Und dann begriff Shay endlich und seine Augen weiteten sich. „... oh.“ Er musste blind gewesen sein, dass er das Offensichtliche nicht schon früher gesehen hatte. Jeder Assassine kannte die Geschichten von Edward Kenway, furchtlosem Piraten und Helden der Karibik, der viele Jahre lang mit der Bruderschaft zusammengearbeitet und den Einfluss der Templer in dieser Region deutlich geschwächt hatte. Doch der Familienname Kenway war weit verbreitet und Shay wäre nie auf die Idee gekommen, dass eine Verwandtschaft zwischen Edward und Haytham bestehen könnte. Was nicht überraschend war, wenn man bedachte, dass Haytham später den Templern beigetreten war, und die Assassinen seine Existenz erfolgreich aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht hatten. Der Sohn eines berühmten Assassinen ein Templer? Nein, es wunderte Shay nicht, dass er noch nie zuvor davon gehört hatte, musste es doch eine beschämende Angelegenheit für die Assassinen gewesen sein. „Hatte er Recht?“, fragte Shay schließlich und sah den anderen ruhig an. „... was?“ Haytham warf ihm einen Blick zu, der besagte, dass er ihm nicht ganz folgen konnte. „Adéwalé“, entgegnete Shay. „Hatte er Recht mit dem, was er gesagt hat?“ Ein harter Ausdruck trat in die Augen des Templers. „Nein.“ „Was kümmern Euch dann seine Worte?“, fragte Shay leise. „Er ist tot und Ihr nicht. Das ist alles, was zählt.“ Haytham sah ihn für einen Moment mit undeutbarer Miene an. Dann trat ein Lächeln auf sein Gesicht, und dieses Mal erreichte es auch seine Augen. „Ihr steckt voller Lebensweisheiten, Master Cormac“, sagte er spöttisch, doch es war keine Boshaftigkeit in seiner Stimme. „Als zukünftiger Anführer der Assassinen sollte ich das auch“, entgegnete Shay mit bewusst übertriebener Arroganz und erwiderte das Lächeln. Haytham gab ein leises Schnauben von sich. „Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Shay nach einer Weile „Hope konnte die Schatulle bislang noch nicht öffnen, aber mein Gefühl sagt mir, dass sie auf dem richtigen Weg ist und bald Erfolg haben wird.“ „Dann sollten wir sie als nächstes eliminieren“, sagte Haytham. „Wir können kein Risiko eingehen. Die Zerstörung jedes weiteren Artefaktes könnte das Ende der Welt bedeuten.“ Seine Stimme war sachlich, als würde er lediglich ein mathematisches Problem diskutieren und nicht den Tod der Frau, für die Shay viele Jahre lang Gefühle gehegt hatte. Doch ihr Tod war nötig, das wusste Shay, auch wenn der Gedanke schmerzte. Hope war die letzte enge Vertraute von Achilles, und war sie erst einmal beseitigt, würde Shay nichts mehr im Wege stehen, außer dem Anführer der Assassinen selbst. „Gibt es Probleme, Master Cormac?“, riss Haythams Stimme ihn aus seinen Gedanken. Shay blinzelte und ihm wurde plötzlich bewusst, dass sich seine Gefühle für einen Moment deutlich auf seinem Gesicht widergespiegelt haben mussten. „Nein, Sir“, meinte er kopfschüttelnd, während er seine Emotionen erneut hinter einer Fassade versteckte. „Gut“, entgegnete der Templer. „Dann lasst mich Euch meinen Plan erläutern...“   ~*~ Davenport, August 1759   „Unter uns ist ein Verräter.“ Shays Atem stockte, als er die Worte hörte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Achilles überrascht von den Papieren aufsah, die er und Shay bis eben durchgegangen waren. „Das ist eine schwere Anklage“, sagte ihr Mentor schließlich. „Hast du Beweise dafür?“ Hope schüttelte den Kopf. „Noch nicht“, meinte sie. „Aber ich werde welche finden, das verspreche ich. Und dann werde ich den Verräter zur Rechenschaft ziehen. – Shay? Kann ich dich einen Moment sprechen?“ Sie wandte sich ab, bevor er ihr eine Antwort geben konnte, und stürmte mit wehenden Röcken aus dem Raum. Shay tauschte einen fragenden Blick mit Achilles, doch er erhob sich und folgte ihr nach draußen. Sie liefen für eine Weile schweigend den Pfad entlang, der im weiten Bogen die Klippe hinab bis zum Strand führte. „Anfangs waren es nur vereinzelte Vorfälle“, begann Hope schließlich zu sprechen. „Hier ein Überfall auf einen unserer Stützpunkte, dort der Tod eines Verbündeten... Zu wenig, um ein Muster zu ergeben. Doch in letzter Zeit haben sich diese Vorfälle auf eine Weise gehäuft, die einen Zufall ausschließt. Irgendjemand leitet Informationen an die Templer weiter und verrät ihnen unsere Pläne. Jemand, der Achilles nahe genug steht, um einen Einblick in unsere geheimsten Operationen zu haben.“ „Ich habe ähnliche Beobachtungen gemacht, wie du“, sagte Shay und nickte. „Aber ich dachte bislang immer, ich bilde sie mir nur ein...“ „Nein“, meinte Hope. „Das tust du nicht.“ Sie blieb stehen und warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Shay ahnte, was in ihr vorging. „Du verdächtigst mich“, stellte er fest. „Ich verdächtige im Moment jeden“, erwiderte sie, eine stumme Entschuldigung im Blick. „Nimm es nicht persönlich. Aber nach dem, was mit Liam passiert ist...“ Sie setzten sich wieder in Bewegung. „Liam war ein ehrloser Mistkerl“, sagte Shay und legte all seine Verachtung in diese Worte. „Ich sehne mich nach dem Tag, an dem er endlich bekommt, was er schon lange verdient hat!“ Hope gab keine Antwort, doch sie lächelte schwach. Shays hasserfüllte Bemerkung musste sehr überzeugend gewesen sein – was vermutlich daran lag, dass er bei seinen Worten an Achilles gedacht hatte. „Halt die Augen auf, Shay“, entgegnete Hope nur. „Und wenn du etwas Verdächtiges bemerkst, lass es mich wissen, okay?“ Sie nahm seine Hand und drückte sie warm. „Ich werde das Rätsel der Schatulle bald gelöst haben“, fuhr sie fort. „Bis dahin darf uns niemand mehr in den Weg kommen. Niemand, Shay. Hast du verstanden?“ „Verlass dich auf mich“, entgegnete er, dann hob er ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. „Gemeinsam werden wir den Verräter schon ausfindig machen.“   „Die Schatulle ist verschwunden.“ Shay sah von seinem Teller auf. Er saß in der Küche des Herrenhauses und hatte sich gerade eine Kelle heiße Suppe genehmigt, als Hope in den Raum trat. Sie wirkte gleichermaßen verzweifelt wie verärgert. „Ich dachte, du wärst bereits auf dem Weg nach New York“, sagte Shay überrascht. „Das wäre ich auch längst, wenn nicht jemand die Schatulle gestohlen hätte“, entgegnete sie. „Ich hatte sie in einem Geheimfach im Arbeitszimmer versteckt, und nun ist sie nicht mehr da.“ Sie strich sich aufgebracht eine Locke hinter das Ohr. „Shay!“, sagte sie dann. „War in der letzten halben Stunde außer dir noch jemand im Haus?“ Shay tat, als würde er für einen Moment intensiv über diese Frage nachdenken, dann nickte er. „Der Chevalier de la Vérendrye“, erwiderte er. Er runzelte die Stirn. „Der Mann ist zweifellos ein Narr, aber ich kann mir nicht ernsthaft vorstellen, dass er so dumm wäre, dich zu bestehlen.“ Hope lächelte kalt. „Das werde ich gleich herausfinden.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Shay wartete, bis sich die Eingangstür wieder geschlossen hatte, dann stand er auf und folgte Hope in sicherem Abstand zum Haus des Chevaliers. In einer Astgabelung, sicher verborgen vor den Augen der Assassinen, lauschte er der gedämpften Unterhaltung, die sich im Haus abspielte. „Wo ist sie?“ „Miss Jensen!“ Das war die Stimme des Chevaliers. „Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr sprecht.“ „Stellt Euch nicht dumm, Louis! Ich rede von der Schatulle, warum sonst sollte ich hier sein?“ „Bezichtigt Ihr mich etwa des Diebstahls, Miss?“ „Ich bezichtige Euch des Verrats, wenn Ihr mir nicht unverzüglich die Schatulle aushändigt!“ „Ich weiß nicht, wo sie ist!“ Doch Hope war misstrauisch geworden, das konnte Shay an ihrer Stimme hören. Er hatte in den letzten Monaten behutsam so viele subtile Andeutungen gemacht, dass die junge Frau mittlerweile kaum wusste, wem sie noch trauen konnte. „Wagt es nicht, Miss Jensen! Das sind meine privaten Räumlichkeiten!“ Jetzt konnte Shay die beiden von seinem Versteck aus sehen. Hope hatte das Arbeitszimmer des Chevaliers betreten und begonnen, sämtliche Schubladen zu durchwühlen. „Was fällt Euch ein!“ Der Chevalier war ihr gefolgt und sah mit wutverzerrter Miene ihrem Treiben zu. Da das Fenster des Arbeitszimmers offenstand, war seine Stimme klar und deutlich zu hören. Shay sah, wie mehrere Passanten auf dem Weg vor dem Haus verwundert die Köpfe drehten, als sie den Streit hörten. Sehr gut. „Aha!“ Hope gab ein triumphierendes Geräusch von sich, als sie schließlich fündig wurde und die Schatulle in der untersten Schublade des Schreibtischs entdeckte. Die Augen des Chevaliers weiteten sich. „Ich habe keine Ahnung, wie das dorthin gekommen ist, Miss, Ihr müsst mir glauben!“ „Ich muss gar nichts glauben“, erwiderte Hope und nahm die Schatulle an sich. „Aber ich kann Euch versprechen, dass dies ein Nachspiel haben wird. Ihr könnt von Glück sagen, dass Achilles erst heute Abend aus Boston zurückkehrt, sonst würde er sofort kurzen Prozess mit Euch machen.“ Sie wandte sich ab. „Leider kann mein Schiff nicht länger warten. Ich werde Shay zu Euch schicken, um Euch in Gewahrsam zu nehmen. Achilles wird über Euch richten, wenn er wieder da ist.“ Und damit ließ sie den sprachlosen Chevalier stehen und verließ das Haus. Kaum war sie außer Sichtweite, kletterte Shay vorsichtig den Baum herab, bis er auf Höhe des offenen Fensters war. Er nahm das Blasrohr zur Hand, das er zu diesem Zweck mitgenommen hatte, und richtete es auf den Hals des Chevaliers. „Es ist nichts Persönliches“, wisperte er, während er vorsichtig den vergifteten Pfeil in das Rohr schob. Als der Mann nur wenig später zuckend zusammenbrach, war Shay schon nicht mehr da. Nur mit Mühe schaffte er es, das Anwesen vor Hope zu erreichen, ohne dass ihn jemand sah. „Es war tatsächlich der Chevalier“, sagte sie erregt, als sie erneut die Küche betrat, die Schatulle unter dem Arm. Shay stand sofort vom Tisch auf und trat auf sie zu. „Ich hätte nie geglaubt, dass er uns verraten würde...!“ Sie schloss für einen Moment mit schmerzvoller Miene die Augen. „Aber das dachte ich bei Liam damals auch.“ „Ich werde mich um ihn kümmern“, versprach Shay mit ernster Stimme und strich beruhigend über ihre Oberarme. „Geh du nur. Ich weiß, wie viel vom Erfolg deines Experiments abhängt. Wenn Achilles wieder da ist, werde ich ihm alles erklären.“ Sie lächelte schwach. „Danke, Shay.“ Sie küsste ihn auf die Wange. „Bis bald.“ „Bis bald“, entgegnete er, als sie sich zum Gehen wandte. Nachdem sie das Haus verlassen hatte, setzte Shay sich wieder an den Tisch. Es würde Stunden dauern, bis sie die Leiche des Chevaliers finden würden. Zu diesem Zeitpunkt wäre Hopes Schiff schon längst auf dem offenen Meer. Er konnte sein Glück kaum fassen, dass sein Plan bis jetzt so reibungslos funktioniert hatte. Nun gab es nur noch eine letzte Sache zu tun... Er öffnete die Tasche seiner Jacke und zog eine winzige Glasphiole hervor, die er mehrere Wochen zuvor aus Hopes Zimmer gestohlen hatte. Für eine Weile starrte er reglos die trübe, farblose Flüssigkeit darin an. In dieser kleinen Menge würde ihn das Gift nicht töten, doch es würde seinen Körper für mehrere Stunden lähmen und so schreckliche Schmerzen und Übelkeit hervorrufen, dass Shay sich jede Sekunde lang wünschen würde, er wäre tatsächlich gestorben. Doch er hatte keine Wahl, wollte er Achilles überzeugen. Bedauernd sah Shay auf die angefangene Suppe auf seinem Teller hinab. Dann öffnete er die Phiole und ließ das Gift in die Suppe tröpfeln. Nachdem er die leere Phiole in den Kamin geworfen hatte, griff er nach dem Löffel und führte ihn zum Mund. Denk an die Zukunft, Shay. Denk daran, dass du geschworen hast, die Assassinen stärker und bedeutender zu machen, als sie es je waren. Der Gedanke gab ihm etwas Mut. Shay schloss die Augen und aß.   ~*~ New York, August 1759   Drei Tage später legte die Morrigan im Hafen von New York an. Shay hatte sich mittlerweile wieder so weit von seiner Vergiftung erholt, dass Achilles ihn bei der ersten Gelegenheit auf Hope angesetzt hatte. Sein Mentor war außer sich gewesen vor Wut und Sorge, als er Shay verkrampft und schweißnass am Abend seiner Rückkehr auf dem Boden des Herrenhauses vorgefunden hatte. Als er wenig später hörte, dass der Chevalier ermordet worden war, nachdem Hope und er einen heftigen Streit gehabt hatten, hatte er schließlich seine eigenen Schlüsse gezogen. „Ich hätte es sofort sehen müssen“, sagte er am Abend, als er an Shays Bett saß. „Sie war die erste, die das Wort ‚Verräter‘ in den Mund genommen hat. Dabei hat sie die ganze Zeit über nur versucht, von ihrem eigenen Tun abzulenken.“ „Es tut mir leid“, wisperte Shay. Er fühlte sich erschöpft und elend, und das lag nicht nur an dem Gift in seinem Körper. Was er Hope angetan hatte, würde er sich bis zu seinem Lebensende nicht verzeihen. Achilles‘ Blick wurde weicher. „Du kannst nichts dafür, Shay, sie hat dich ebenso überrumpelt, wie mich. Du kannst von Glück sagen, dass du überlebt hast.“ „Das bleibt... abzuwarten“, stieß Shay mit freudlosem Lächeln hervor. Er hatte sich in den letzten Stunden so häufig übergeben müssen, dass er sich ganz entkräftet fühlte. „Du wirst nicht sterben, Shay“, sagte Achilles fest und nahm seine Hand. „Nicht heute.“ In diesem Moment fiel Shay mehr als je zuvor auf, wie alt und müde sein Mentor aussah. Achilles hatte in den letzten Jahren mehr Freunde verloren und Verluste hinnehmen müssen, als ein Mann ertragen konnte, und jeder davon hatte ihn nur verbitterter gemacht. Und nun hatte auch Hope ihn hintergangen, die für ihn wie eine Tochter gewesen war... Vermutlich war das auch der Grund gewesen, weshalb er Hope nicht persönlich hatte stellen wollen. Er hätte ihr vor Enttäuschung niemals in die Augen sehen können.   Als Shay an die Tür des Herrenhauses klopfte, das Hope von ihren Eltern geerbt hatte, dauerte es mehrere Minuten, bis ihm schließlich geöffnet wurde. Zu seiner Überraschung war es Hope selbst, die ihm gegenüberstand, was bedeutete, dass sie allein im Haus sein musste. Das würde die ganze Sache erleichtern. Hope sah ihn ebenso verwirrt an, wie er sie, doch schließlich war sie es, die die Stille durchbrach. „Shay“, sagte sie. „Was machst du hier?“ Sie runzelte die Stirn. „Und warum bist du so blass im Gesicht?“ „Muss mir eine Erkältung eingefangen haben“, entgegnete Shay mit schiefem Lächeln. „Darf ich reinkommen?“ Sie schien einen Moment lang mit sich selbst zu hadern, doch dann stieß sie die Tür auf und ließ ihn eintreten. „Du bist gerade zum richtigen Zeitpunkt gekommen“, sagte sie, während sie die Tür hinter ihm schloss. „Heute will ich das Experiment durchführen, das die Schatulle endlich öffnen wird...“ Sie drehte sich zu ihm herum – und Shay stach zu. „Verzeih mir“, wisperte er, während er sie auffing. Sie starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die Klinge hinab, die er in ihren Unterleib gestoßen hatte, dann hob sie den Blick und sah ihn an. „Du bist der Verräter“, flüsterte sie ungläubig. „Du warst es von Anfang an!“ „Ich hatte keine Wahl“, entgegnete Shay betrübt. „Ich konnte nicht länger zusehen, wie die Assassinen in ihrer Ignoranz die Welt zerstören. Die Bruderschaft könnte so viel Gutes leisten, wenn ihre Anführer bessere Entscheidungen treffen würden.“ „Und du glaubst, du könntest bessere Entscheidungen treffen?“, fragte sie spöttisch. „Bessere als Achilles? Ja“, meinte Shay. Hope sank zu Boden, und er kniete neben ihr nieder und nahm ihre Hand. „Der ‚Verrat‘ des Chevaliers war also nur eine Farce?“ Hope gab ein Lachen von sich, das jedoch schnell in ein Husten überging. Blut färbte ihre Lippen rot. „Er war Mittel zum Zweck“, bestätigte Shay. „Ich habe ihn ebenfalls getötet, kaum, dass du weg warst. Anschließend habe ich mich selbst vergiftet.“ Er verzog das Gesicht. „Achilles hat keinen Moment lang daran gezweifelt, dass du etwas damit zu tun hattest.“ „Von wegen Erkältung“, stieß sie hervor und lachte erneut. Shay schwieg. „Aber es war... nicht alles schlecht... oder?“, fragte sie nach einem Moment der Stille. „Nein“, sagte er und lächelte traurig. „Nein, das war es nicht.“ „Ich hoffe trotzdem... dass du auf ewig in der Hölle brennen wirst für... das, was du getan hast“, sagte sie mit einer Verachtung in der Stimme, die Shay tiefer traf als alles, was sie zuvor gesagt hatte. Dann war sie still und ihre Brust hob sich nicht länger. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)