Christmas Crush von Hoellenhund ([Secret Love]) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es war der 22. Dezember und im Wohnheimblock C herrschte reges Treiben. Die Türen der meisten Zimmer standen offen und überall auf den Fluren lehnten Schüler an den Wänden und schwatzten, während andere versuchten, sich mit mehr oder weniger großen Taschen zwischen ihnen hindurch zu quetschen. Es war das reinste Durcheinander – doch über allem hing eine freudige Erwartung in der Luft: Morgen würden die Winterferien beginnen. Wie die meisten anderen Schüler würde auch Takeda über Weihnachten und Neujahr nach Hause fahren. Da er jedoch nicht viel zu packen gehabt hatte, saß er längst abmarschbereit auf seinem Bett und ließ die Beine baumeln, während er seinen Mitbewohner dabei beobachtete, wie er zwischen seinem riesigen Rollkoffer und dem Wandschrank hin und her wirbelte. „Willst du das wirklich alles mitnehmen?“, fragte er mehr aus purem Erstaunen denn aus Neugierde heraus. „Nicht jeder legt sich in den Ferien auf die faule Haut, so wie du“, entgegnete Kimura in seinem üblichen überheblichen Tonfall, ohne sich auch nur umzudrehen, während er versuchte, einen seiner Seidenkimonos so vorsichtig wie möglich in den Koffer zu verfrachten. Kimura wollte also während der Ferien Nô-Tanzen üben. Das hätte sich Takeda auch denken können. Auch wenn er sich ernsthaft fragte, ob Kimura nicht noch eine weitere Nô-Ausstattung zu Hause hatte. Schließlich war seine Familie stinkreich. „Ich lege mich nicht auf die faule Haut“, gab Takeda schließlich leicht angesäuert zurück. „Es gibt Leute, die arbeiten müssen. Nicht jeder hat reiche Eltern, so wie du.“ Kimura warf Takeda einen finsteren Seitenblick zu. Es ärgerte ihn ganz offensichtlich, dass Takeda seinen eigenen Wortlaut gegen ihn verwendet hatte. Doch er verkniff sich den Kommentar. Gerade als Takeda sich frage, ob er wirklich auf Kimura warten oder sich doch schon mal auf den Weg zum Bahnhof machen sollte, klopfte es an der offen stehenden Zimmertür. Überrascht hob Takeda den Kopf. Im Türrahmen stand Hirakawa. Vermutlich war er gerade dabei gewesen, in seiner Funktion als Wohnheimsprecher einen Rundgang zu machen. Seine dunklen Augen wanderten kurz zwischen den hektischen Packversuchen Kimuras und Takeda, der sich, die fertig gepackte Tasche zu Füßen, entspannt auf seinem Bett zurücklehnte, hin und her. „Gehst du?“, fragte er nach einem raschen Blick auf die Wanduhr an Takeda gewandt. „In ein paar Minuten“, gab dieser zurück und folgte Hirakawas Blick hinüber zu Kimura, der nun versuchte, den Reißverschluss des Koffers zu zukriegen und fluchte. „Soll ich mich draufsetzen?“ „Bist du bescheuert?!“, fauchte Kimura zurück und Takeda konnte im Augenwinkel sehen, wie Hirakawa eine Augenbraue anhob. Rasch wandte er sich wieder ihm zu. „Und du? Willst du wirklich hierbleiben?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. Hirakawa würde über die Ferien die wenigen Schüler betreuen, die im Wohnheim blieben. Seine Mutter hatte eine Wohnung hier in Osaka, also würde er sie jederzeit besuchen können. Und doch… Bei dem Gedanken, Hirakawa allein zurückzulassen, spürte Takeda im Herzen einen kleinen Stich. Es musste einsam für ihn sein – Takeda selbst würde einsam sein. Seine Gedanken mussten sich auf seinem Gesicht abgezeichnet haben, denn etwas in Hirakawas Blick veränderte sich – wurde ernst, ernster als sonst. Und während er sprach, sah er Takeda direkt in die Augen: „Ich schreibe dir.“ Ohne, dass er sich bewusst dazu entschieden hatte, schloss sich Takedas Hand um sein Handy, das neben ihm auf der Bettdecke gelegen hatte. Er kannte diese Worte. Hirakawa hatte sie schon einmal zu ihm gesagt – damals, vor nun beinahe drei Jahren, als er aus Tokyo fortgezogen war. Jeden Tag hatte Takeda auf eine Nachricht von ihm gewartet – und jeden Tag war seine Hoffnung aufs Neue enttäuscht worden. Und doch hatte er niemals aufgehört zu warten. Wie ein Ertrinkender, der den Blick verzweifelt auf die Wasseroberfläche geheftet hält, obwohl er weiß, dass niemand ihn retten wird. „Ich schreibe dir.“ Hirakawas Stimme riss Takeda aus seinen Gedanken. Ohne, dass er es bemerkt hatte, war Hirakawa zu ihm hinüber getreten und hatte sich neben ihn an die Bettkante gesetzt. Es war ein anderer Hirakawa als der aus Takedas Erinnerung – ein Hirakawa, der ihm sein Herz geöffnet hatte, der ihm fest in die Augen sehen und ein Versprechen geben konnte, das er halten würde. „Ich schicke dir Fotos vom Weihnachtsmarkt in Roppongi“, sagte Takeda mit der zuversichtlichsten Stimme, die er sich abringen konnte - doch es gelang ihm nicht, sich ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen. „Schick mir lieber Fotos von dir“, gab Hirakawa in schelmischem Tonfall zurück und Takedas Herz tat einen Hüpfer. „Ich muss gleich kotzen“, kam es prompt von der anderen Zimmerseite her. Takeda wollte Kimura gerade entgegenschleudern, dass ihn das überhaupt nichts anging, als sein Blick auf den großen Rollkoffer fiel. Kimura hatte es offenbar endlich geschafft, den Reißverschluss zu schließen. „Wenn wir uns beeilen, kriegen wir den Bus noch“, fuhr Kimura also unbeirrt fort und Takeda seufzte. Er war es schließlich nicht gewesen, der ihre Abreise so lange hinausgezögert hatte. Trotzdem hievte er sich vom Bett hoch und schob sein Handy in die Hosentasche seiner Jeans, bevor er sich die Reisetasche zu seinen Füßen über die Schulter schwang. Schließlich wollte er heute auch noch irgendwann mal in Tokyo ankommen. Hirakawa war ebenfalls aufgestanden. Sie tauschten einen langen Blick und Takedas Herz wurde schwer. ‚Es sind doch nur zwei Wochen‘, sagte er sich und dieses Mal gelang es ihm zu lächeln. „Schöne Ferien“, raunte Hirakawa ihm zu und seine Hand streifte noch einmal flüchtig Takedas Haar. Dann trennten sich ihre Wege. *** Nirgendwo ist es so schön wie Zuhause. Takedas Meinung nach war dieses Sprichwort erstunken und erlogen. Oder doch zumindest eine schamlose Übertreibung. Er hatte einen Aushilfsjob in einem kleinen Café nahe des Tokyo Towers gefunden, das über die Winterferien besonders gut besucht war und so jede helfende Hand gebrauchen konnte. Der Besitzer war ein schlecht rasierter Mittvierziger, der für Takedas Geschmack ein bisschen zu viel redete und sich ein bisschen zu wenig um das Café kümmerte - Herr Kanao. Seine Tochter, Mizuki Kanao, war ein oder zwei Jahre jünger als Takeda und half während ihrer Schulferien ebenfalls im Café aus. Allerdings unbezahlt, wie sie immer wieder gern betonte. Gerade in diesem Augenblick betrat ein Pärchen das Café. Kaum hatte es sich an einen der kleinen Tische am Fenster gesetzt, drängte sich Mizuki auch schon an Takeda vorbei und knipste noch im Gehen ein strahlendes Lächeln an: „Willkommen im Nishi Machi. Darf ich Ihnen die Karte bringen?“ Als sie nur wenige Augenblicke später hinter die Theke zurückkehrte, war ihr Lächeln genauso schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. „Kannst du mal eben die freien Tische abwischen?“, wies sie Takeda in geschäftlichem Tonfall an und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Mizuki war unglaublich gut in ihrem Job. Sie hatte für jeden Kunden ein freundliches Lächeln auf den Lippen – selbst dann, wenn sie sich im Nachhinein bei Takeda mit einem genervten Augenrollen über den ein oder anderen beklagte. Und irgendwie gelang es ihr, trotz des regen Treibens im Café ständig den Überblick zu behalten. Sie brachte Karten, gab die Bestellungen an die Küche weiter, kassierte und schaffte es irgendwie auch noch nebenbei, Takeda zu sagen, was er zu tun hatte. Sie hatte deutlich mehr von einer Chefin als ihr Vater, der gerade mal wieder die Ellenbogen auf die Theke gestützt dastand, und mit einem seiner Stammgäste plauderte. Takeda hatte keine Zweifel daran, dass Mizuki nach ihrem Schulabschluss das Café übernehmen würde. Die Gäste mochten sie – und irgendwie mochte Takeda sie auch. Er war gerade mit dem Abwischen der Tische fertig, als die Tür noch einmal aufschwang. Zwei Mädchen schlenderten kichernd zu einem der freien Tische nahe der Küche hinüber. Takeda zog zwei Speisekarten aus dem Stapel hinter der Theke und wollte gerade zu ihnen hinübergehen, als er mitten in der Bewegung erstarrte. Die größere der beiden, die mit dem langen, schwarzen Haar, starrte auffällig zu ihm hinüber. Er kannte dieses Mädchen. 'Wieso hast du nicht angerufen?', hallte ihre vorwurfsvolle Stimme in Takedas Ohren wider. Ihr Name war Sadako. In diesem Augenblick schob sich Mizuki mit einem Tablett voller gebrauchter Tassen und Teller an ihm vorbei. „Versuchst du gerade mit der Wand zu verschmelzen?“, fragte sie in neckischem Tonfall und begann, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. Takeda wusste nicht, was er sagen sollte. Er konnte Mizuki seine Tische nicht auch noch aufhalsen, nur weil er nicht mit irgendeinem Mädchen reden wollte, das er vor eineinhalb Jahren mal flüchtig gekannt hatte... „Ist das eine Ex von dir?“, bohrte Mizuki weiter nach und ihrer Stimme war deutlich anzuhören, dass sie innerlich lachte. „Du sollst auf der Mittelschule ja ein richtiger Draufgänger gewesen sein.“ „Woher weißt du das?“ Takeda war verblüfft. „Jeder weiß das“, gab Mizuki ein wenig übertrieben echauffiert zurück und lachte dann. „Das ist schon lange vorbei.“ Takedas Gedanken wanderten zu Hirakawa. Zu seinen dunklen Augen, seinem kühlen Lächeln. Seit Takeda mit ihm zusammen war, hatte er nicht einen Augenblick lang an irgendein Mädchen gedacht. Ob es ihm wohl genauso ging? „Oh, wirklich?“, unterbrach Mizukis Stimme Takedas Gedanken. Für seinen Geschmack wirkte sie ein wenig ZU interessiert an diesem Thema. „Ich muss jetzt bedienen“, sagte er schnell und wollte sich gerade auf den Weg zu den neuen Gästen machen, als Mizuki ihm die Speisekarten aus der Hand zog. „Ich mach‘ das schon. Du kannst Tisch sieben übernehmen.“ Takeda blieb nichts anderes übrig, als ihr irritiert nach zu starren, als sie sich zurück in den vollen Gastraum drängte. Sie war wirklich etwas Besonderes. Takeda hatte während seiner Mittelschulzeit viele Mädchen kennengelernt – doch keines von ihnen war so gewesen wie sie. *** Hirakawa schlenderte durch die leeren Flure des Wohnheims. Es war zu still. Die meisten Schüler waren bereits zu ihren Eltern und Verwandten nach Hause gefahren. Nur er war geblieben – wie ein Hausgeist, der auf die Rückkehr seiner Meister wartete. An einem der großen Fenster, die einen weiten Blick über den Campus boten, blieb Hirakawa stehen. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ohne sich bewusst dazu entschieden zu haben, warf Hirakawa einen Blick auf das Display seines Handys. Er stellte sich vor, wie Takeda in diesem Augenblick genau dasselbe tat. Oder vielleicht dachte er auch überhaupt nicht an ihn. Hirakawa schnitt den Gedanken ab. Er sollte mal wieder ein gutes Buch lesen. Die Bibliothek war während der Ferien zwar geschlossen, doch das hatte Hirakawa nicht überrascht. Im Gegenteil: Er hatte sich am letzten Schultag extra ein paar interessante Werke ausgeliehen. Am liebsten las er klassische westliche Literatur. Oder japanische Poesie. Er hatte vor einer ganzen Weile angefangen, selbst einige Haiku zu schreiben. Einfach so, nur für sich. Er würde sie niemals jemandem zeigen. Noch einmal ließ er den Blick aus dem Fenster wandern, sog die Kälte des Betons und der kahlen Bäume in sich auf. Dann nahm er sein Handy zur Hand und schrieb: Jouni gatsu ni Kasumi de odoru Matteiru yo Dezembergrau Ich tanze im Nebel Und warte. Hosted by Animexx e.V. 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