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„Wie kann ich Ihnen helfen?“
Die Frau beugte sich ein wenig auf ihrem Drehstuhl nach vorne und beäugte mich misstrauisch, als erwarte sie, dass ich nur hergekommen war um ihre Zeit zu stehlen. Das Plastik ächzte leise unter ihrem Gewicht, als sie sich bewegte. Vor ihr auf dem Schreibtisch lagen haufenweise Formulare und Blätter, die über und über mit Post-Its voller Notizen beklebt waren. Unter den Papieren spitzte eine Art Kalender hervor, der jedoch nicht oft gebraucht zu werden schien. Vermutlich saß die Frau den lieben langen Tag in ihrem Büro und wartete auf Studenten wie mich, die irgendein Anliegen hatten.
„Ich würde gerne ein Urlaubssemester beantragen und brauche das Formular.“
Ich lächelte sie freundlich an, doch ihre Miene blieb skeptisch.
„Studiengang?“, fragte sie knirschend und musterte mich abschätzig, als würde sie bereits vermuten, was meine Antwort auf ihre Frage sein würde.
„Soziale Arbeit“, antwortete ich knapp.
Sie drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl um und begann in ein paar Fächern zu kramen. Wieder ächzte der Stuhl leise. Es war mir schleierhaft, wie man bei dieser Unordnung irgendetwas wiederfinden sollte, doch scheinbar hatte ihr Chaos System. Nur wenige Sekunden später hielt sie mir bereits das Formular unter die Nase.
„Sie wissen aber, dass Sie die Unterschrift des zuständigen Professors brauchen?“
Ich nickte.
„Ja, kein Problem, das hab ich schon geregelt. Kann ich das Formular dann wieder hier bei Ihnen abgeben oder muss ich woanders hin?“, erkundigte ich mich.
Allmählich wirkte sie ein wenig genervt, als würde ich sie permanent mit überflüssigen Fragen bombardieren. Dabei hatte ich sie bisher noch nicht einmal fünf Minuten ihrer kostbaren Zeit gekostet. Ihre genervte Art machte mich ebenfalls wütend. Meine Laune war heute sowieso nicht gerade die Beste, was nicht zuletzt an dem Formular selbst lag. Es war mal wieder soweit – ich musste ein Leben verlassen, dass ich mir mühsam aufgebaut hatte und der einzige Lichtblick war das Formular, das es mir eventuell ermöglichen würde, irgendwann wieder zurückzukehren und wieder dort anzusetzen, wo ich aufgehört hatte. Aufhören musste. Ein Urlaubssemester war kein Studienabbruch.
„Sie können das Formular auch mit der Post schicken“, die Frau funkelte mich entnervt an.
Vermutlich würde ich genau das auch machen. Ich hatte absolut keine Lust hier noch einmal persönlich vorbei zu kommen. Noch dazu befand sich das Büro am hintersten Ende des Campus, wo man noch nicht einmal mit dem Bus hingelangte. An sich hatte ich nichts gegen ein bisschen Laufen, aber wenn man dann auch noch so unfreundlich behandelt wurde, konnte ich gerne darauf verzichten.
„Vielen Dank“, erwiderte ich dennoch bemüht freundlich. „Schönen Tag noch.“
Ich ging aus dem Büro und schloss die Tür hinter mir. Das Formular hielt ich fest umklammert. Wenigstens hatte ich es jetzt. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich den Aufzug nehmen sollte, steuerte dann jedoch auf die Treppe zu. Am oberen Ende standen zwei Personen – ein schwarzhaariger junger Mann und eine Frau – die offenbar in eine angeregte Diskussion vertieft waren. Doch als ich mich ihnen näherte, verstummten die beiden. Ich spürte wie sich mich mit ihren Blicken taxierten und genau musterten.
Es war mir unangenehm und ich wollte ein wenig schneller gehen, um der Situation möglichst bald zu entkommen, doch irgendetwas bremste mich aus. Meine Schritte waren mit einem Mal so schwerfällig, als würde mich irgendetwas Unsichtbares festhalten und meine Füße umklammern. Erschrocken blieb ich stehen. Der Junge hatte sich an die Wand neben dem Geländer gelehnt, den einen Ellenbogen lässig darauf abgestützt und beobachtete mich ganz ungeniert. Das Mädchen stand ein paar Treppenstufen unter ihm und sah ebenfalls in meine Richtung.
Es schien als würden sie auf etwas warten. Wahrscheinlich aber wunderten sie sich einfach nur, warum ich plötzlich stehen geblieben war, und ich bildete mir das alles nur ein. Um mir selbst zu beweisen, dass ich Recht hatte, ging ich zögerlich einen Schritt nach vorne und es klappte ohne Probleme. Es musste unheimlich dämlich ausgesehen haben, wie ich mich hier langsam den Gang entlang bewegte, kein Wunder dass die beiden mich so anstarrten. Ich lächelte unsicher, weil mir die Situation mehr als nur peinlich war.
„Soziale Arbeit also, hm?“, die Stimme des Jungen klang tief und melodisch.
Es bestand kein Zweifel daran, dass er mit mir gesprochen hatte. Sein Blick lag immer noch auf mir und seine dunklen Augen durchbohrten mich, während ein süffisantes Grinsen seine Lippen umspielte. Obwohl er einige Stufen unter mir stand, hatte ich das Gefühl, dass er auf mich herab sah.
„Äh… was?“, fragte ich nicht gerade wortgewandt.
„Du studierst Soziale Arbeit“, stellte er fest.
„Ähm ja. Und?“, ich wusste nicht was ich sagen sollte. Was wollte der Typ von mir?
Ich war mittlerweile stehen geblieben und hielt vorsichtshalber etwas Abstand zu den beiden. Mir war nicht ganz bewusst woran es lag, doch irgendwie kam er mir unheimlich vor und ich traute mich nicht, an ihm vorbeizugehen. Gleichzeitig hatte ich aber ein seltsames Gefühl der Vertrautheit, sodass ich nicht genau wusste, wie ich ihm nun gegenübertreten sollte. Er verunsicherte mich. Und das rosahaarige Mädchen neben ihm hatte bisher noch keinen einzigen Ton gesagt.
„Hast du im Abi so versagt, dass du nichts Ordentliches studieren kannst?“
Ich knurrte. Anscheinend ging es dem Bastard einfach nur darum, mich zu provozieren. Wahrscheinlich hatte er mitgekriegt, wie ich im Büro das Formular abgeholt hatte und machte sich jetzt einen Spaß daraus, aber das musste ich mir nicht gefallen lassen. Mein Blick huschte einmal über seinen Körper und ich stellte zufrieden fest, dass er etwa genauso groß war wie ich. Zudem war er eher schmaler gebaut, wenn auch recht sportlich, aber das war nichts, was mich irgendwie einschüchtern konnte.
„Ist dir langweilig oder so?“, fauchte ich ihn an.
Provokativ zog er eine Augenbraue nach oben.
„Und wenn es so wäre?“
Seine Selbstgefälligkeit machte mich aggressiv. Es war mehr als nur offensichtlich, dass er sich für etwas Besseres hielt, und ich hätte ihm am liebsten das arrogante Grinsen aus dem Gesicht geprügelt. Allerdings würde sich das hier auf dem Flur wahrscheinlich nicht so gut machen und ich wollte unter keinen Umständen Aufmerksamkeit erregen. Nicht jetzt und so kurz vor meinem zwanzigsten Geburtstag.
„Dann würde ich sagen, dass du dich verpissen kannst“, zischte ich. „Ich hab keine Lust auf deinen kranken Scheiß.“
Ein leises Glucksen verließ seine Kehle und zu sagen, dass es merkwürdig klang, wäre noch untertrieben gewesen.
„Es muss dir nicht peinlich sein, dass du ein armseliger Loser bist.“
Mit der rechten Hand strich er über das Treppengeländer und warf mir einen herausfordernden Blick zu. In mir begann es zu brodeln. Was bildete der Typ sich ein? Bisher hatte ich gerade mal fünf Sätze mit ihm gewechselt und er glaubte sich ein Urteil über mich erlauben zu können? Wütend ging ich einen Schritt auf ihn zu. Dem würde ich es zeigen und wenn ich dafür alle Vorsicht über Bord werfen müsste.
„Du mieser…“
Meine Hand war bereits in Richtung seines Hemdkragens ausgestreckt und ich wollte ihn packen und gegen die Wand drücken, als ich plötzlich erstarrte. Niemand hatte mich berührt und nichts war geschehen. Trotzdem konnte ich mich keinen Millimeter mehr fortbewegen. Ein wenig fühlte es sich an wie vorhin, als ich so ausgebremst worden war, doch nun war das Gefühl viel deutlicher und stärker. Fast so als wäre ich mitten in der Bewegung eingefroren.
„Was…?“, stieß ich erschrocken hervor.
Ich starre den Jungen ungläubig an. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Hatte er das etwa getan? Er löste sich geschmeidig von der Wand und kam ebenfalls einen Schritt auf mich zu, sodass wir nun ganz nah beieinander standen. Seine Bewegungen waren ruhig und flüssig und glichen denen einer Katze. Wieder umspielte ein triumphierendes Lächeln seine Lippen.
„Sasuke, spinnst du?! Lass ihn sofort los!“, mischte sich nun auch das Mädchen ein.
Sie kam die paar Stufen hinaufgerannt, die sie noch von uns trennten und packte den Typen grob am Arm. Jetzt wo ich ihm so nahe war, wurde das Gefühl der Vertrautheit mit einem Mal noch viel stärker und ich kniff angestrengt die Augen zusammen. Wo hatte ich diesen Sasuke schon mal gesehen? Möglicherweise in der Akte mit verdächtigen Personen, die Kakashi in seinem Büro aufbewahrte? Der Name kam mir jedenfalls nicht bekannt vor. Mein Herz begann dennoch schneller zu schlagen und ich hatte das Gefühl, dass er es bemerkte. Hatten sie mich gefunden?
Wenn man es sich genauer überlegte, sah er schon ein wenig gefährlich aus. Das Gesicht war schmal und blass, wirkte fast ein bisschen kränklich und die hohen Wangenknochen verliehen ihm zusätzlich eine markante Strenge. Dazu kamen dann noch diese stechenden dunklen Augen, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Seine Kleidung war unauffällig, ganz im Gegensatz zu ihm selbst und erinnerte eher an den typischen Durchschnittsstudenten. Aber gerade das machte ihn in meinen Augen noch viel verdächtiger. Wer garantierte mir, dass er überhaupt an dieser Uni studierte?
Wenn er wirklich einer von ihnen war, hatte ich jetzt ein verdammtes Problem. Mein Blick wanderte ziellos den Gang am Fuß der Treppe auf und ab. Der Flur schien wie ausgestorben und ich fragte mich, wie wahrscheinlich es war, dass innerhalb der nächsten paar Minuten jemand hier vorbeikommen und mir helfen würde. Vermutlich mehr als nur unwahrscheinlich. Auch die schlechtgelaunte Sekretärin würde sich wohl eher nicht in nächster Zeit aus ihrem gemütlichen Drehstuhl bequemen, um mir den Arsch zu retten. Ich musste also selber zusehen, wie ich aus dieser Situation wieder herauskam.
„Sasuke“, schimpfte das Mädchen und zog an seinem Arm.
Ein letztes Mal sah er mir tief in die Augen, dann wandte er scheinbar desinteressiert den Blick ab.
„Vorsicht!“
Noch bevor ich begriff was er meinte, verlor ich bereits das Gleichgewicht, da mich mit einem Mal nichts mehr zurückhielt. Fast fühlte es sich so an, als hätte er mir einen kleinen Schubs verpasst, doch zwischen unseren Körpern waren immer noch mehrere Zentimeter Abstand. Er hatte mich zu keinem Zeitpunkt berührt. Ungeschickt ruderte ich mit den Armen und versuchte das Treppengeländer hinter mir zu fassen zu kriegen. Gerade noch so gelang es mir mich abzufangen, um schlimmeres zu verhindern, doch mein Kopf donnerte mit voller Wucht gegen die Wand.
„Hast du dir wehgetan?“, fragte das Mädchen sofort besorgt.
Benommen rieb ich mir den Hinterkopf. Er pochte schmerzhaft.
„Geht schon“, antwortete ich.
„Du solltest besser aufpassen“, schmunzelte Sasuke.
Ich hatte zwar keine Ahnung, wie er es angestellt hatte, aber ich war mir sicher, dass er nicht ganz unschuldig an meinem Fast-Sturz war. Während ich ihm einen wütenden Blick zuwarf und versuchte herauszufinden, wie er das gemacht hatte, musterte mich das Mädchen noch immer beunruhigt.
„Wir wollten dich nicht erschrecken“, beteuerte sie. „Wir kommen von der Akademie. Kakashi hat dir sicher schon von uns erzählt. Ich bin Sakura.“
Sie hielt mir ihre Hand entgegen, doch ich starrte sie nur verblüfft an. Von der Akademie? Damit hatte ich nun mal überhaupt nicht gerechnet und vor allem nicht so plötzlich und hier an diesem Ort, wo uns theoretisch jeder sehen konnte. Außerdem waren die beiden unglaublich jung. Ich war automatisch davon ausgegangen, dass die Akademie sich für einen erfahrenen Wächter entscheiden würde, der schon mehrere Missionen ausgeführt hatte. Nicht, dass ich mich mit diesen Auswahlprozessen besonders gut auskannte, aber die Schatten waren ein Gefahrenpotential, das man definitiv nicht unterschätzen sollte.
„Ich muss mich für meinen Partner entschuldigen – er ist wohl etwas übers Ziel hinausgeschossen“, fügte Sakura hinzu, nachdem ich immer noch keine Reaktion gezeigt hatte. „Wir wollten dich in einer ruhigen Minute abpassen und erst mal mit dir reden. Das hat dann wohl nicht so gut geklappt.“
Sie schoss zornig funkelnde Blicke in Sasukes Richtung, der sich jedoch gänzlich unbeeindruckt zeigte. Allmählich begann ich die neuen Informationen zu verdauen und das alles ergab auch einen Sinn. Noch einmal musterte ich die beiden ganz genau, um abzuschätzen, ob ich ihnen wirklich trauen konnte. Kakashi hatte mir schließlich beigebracht stets vorsichtig zu sein.
Das Mädchen, Sakura, war nicht besonders groß, dafür aber schlank und sportlich gebaut. Das auffälligste an ihr waren ohne Zweifel die etwa schulterlangen rosafarbenen Haare. Im Gegensatz zu Sasuke wirkten ihre Augen viel heller und freundlicher und auch insgesamt waren ihr Auftreten und ihre Erscheinung um einiges sympathischer und angenehmer. Meiner Ansicht nach wirkte sie weitestgehend vertrauenswürdig. War sie meine Wächterin oder hatte man sie mir nur zugeteilt? Ich hoffte ersteres, denn andernfalls würde das bedeuten, dass er mein Wächter war.
Mein Blick wanderte zu Sasuke und er erwiderte ihn entschlossen mit seinen tiefdunklen Augen, die einen direkt zu durchbohren schienen. Noch immer fand ich ihn irgendwie unheimlich und suchte nach einer Erklärung für das, was da gerade eben passiert war. Er hatte mich doch eindeutig mit Absicht provoziert und das nur, um mir im Anschluss daran seine Fähigkeiten zu demonstrieren. Auch wenn ich zugeben musste, dass es irgendwie beeindruckend war, konnte ich den Kerl jetzt schon nicht leiden.
„Und du?“, fragte ich schroff. „Wer bist du?“
Seinen Namen kannte ich bereits, aber das spielte keine Rolle. Hier ging es darum, dass gewisse Höflichkeitsformen eingehalten werden mussten und nachdem er mich bereits die halbe Treppe hinuntergeworfen hatte, fand ich es nur angemessen, dass er sich nun auch vorstellte.
„Mein Name ist Sasuke Uchiha. Ich bin dein Wächter.“
Verdammt, also war wirklich er derjenige, mit dem ich von Geburt an verbunden war und Sakura nur die Unterstützung. Augenblicklich musste ich wieder an Kakashis Worte denken. Du wirst regelrecht erstarren, wenn du ihn zum ersten Mal siehst. Er hatte es also nicht nur im übertragenden, sondern im tatsächlichen Sinne so gemeint. Es war seine Fähigkeit. Na, das konnte ja noch heiter werden.
„Naruto“, antwortete ich knapp und reichte ihm ein wenig widerwillig die Hand.
„Ich weiß.“
Einen Moment lang hatte ich Angst, dass er mich direkt wieder einfrieren würde, doch er schmunzelte nur und erwiderte meinen Griff. Sofort überlief mich ein kribbelnder Schauer, der sich anfühlte wie ein leichter Stromstoß und ich musste dem Drang widerstehen, meine Hand wieder wegzuziehen. Was zum Teufel war das?