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Kinder der Freiheit

von

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(Nicht) mein Tag


 

Heute war ihr Tag.
 

Heute würde sich all das Leid und die Tränen bezahlt machen. Es war Zeit für einen Neuanfang. Nun hielt sie sowieso nichts mehr hier. Schon viel zu lange saß sie in diesem dunklen und dreckigen Loch fest. Ein Zuhause war es nie für sie gewesen, würde es auch niemals sein, und doch war es ihr Geburtsort. Der Platz, an dem sie schon viele Jahre lebte, an dem sie zum Leben dazu gelernt und ihre Träume gebildet hatte. Jetzt war es soweit diesen Abschnitt ihres Lebens hinter sich zu lassen und einen Schritt nach vorne zu gehen. Einen sehr großen Schritt.
 

Summend säuberte sie das große Schneidemesser, ehe sie es in den dafür vorhergesehenen Platz im Messerblock steckte.

Die Nacht nahte, also musste sie sich beeilen, bevor die Büttel auf den Straßen patrouillierten.
 

Sie blickte zu der Öllampe, die gefährlich nahe an der Tischkante stand. Für einen kurzen Moment überlegte sie, wägte Pro und Kontra ab, bevor sie der Schale einen Schubs gab. "Hoppla."

Scheppernd landete diese auf dem Holzfußboden, wo sie zerbarst. Das Öl breitete sich zu einer großen Lache aus und vermischte sich dort mit einer anderen, gerinnenden Flüssigkeit.

Die nächste Lampe, die sie zu Boden befördern wollte, sorgte für warmes Licht in der Küchenecke. Mit den langen schmalen Fingern umschloss sie die Schale, hob sie an und betrachtete die kleine Flamme. Erneut überdachte sie ihr Handeln, kam allerdings zu dem Schluss, dass ein Feuer ein gutes Ablenkungsmanöver sei und ihre Chance womöglich steigern könnte. Langsam öffnete sie ihre Hände und ließ sie zu Boden fallen.
 

Die anfangs kleine Feuerzunge breitete sich über das Öl aus und wuchs stetig an, bis der Boden vor ihr in Flammen stand. Für einen Moment beobachtete sie mit ungerührter Miene, wie das Feuer sich in die Kleidung des Mannes auf dem Boden fraßen. Der Mann zuckte nicht mal mit der Wimper, als die Hitze seine Haut verbrannte.
 

Sie wandte sich von dem Anblick ab, ging einige Schritte in den spärlich eingerichteten Wohnbereich, wo sie einen grauen Kapuzenumhang vom Kleiderständer nahm. Danach schnappte sie sich die kleine Umhängetasche, welche sie sich sogleich umhängte.
 

Bevor sie das Haus endgültig verließ, warf sie sich den Umhang über und zog die Kapuze tief ins Gesicht. Eine Strähne ihres roten Haares baumelte vor ihren Augen. Mit geschickten Handbewegungen steckte sie sie zurück, wo sie hingehörte. Das Letzte was sie wollte war aufzufallen und das tat sie mit ihren Haaren.
 

Ein letztes Mal schaute sie zurück. Mittlerweile nagte das Feuer an den Tischbeinen und den Stühlen. Der Mann war nun vollends mit Flammen bedeckt.

Sie kontrollierte abermals, ob die Kapuze ihr Antlitz verdeckte, ehe sie hinaus auf die wenig belebte Straße trat.
 


 


 

Heute war definitiv nicht sein Tag.
 

Abgesehen von dem Auftrag, der absolut in die Hose gegangen war und der Verletzung, die er sich dabei zugezogen hatte, meinte auch noch eine kleine simple Tasse ihn verarschen zu müssen.

Er hatte sich von seinem hart erspartem Geld ein elegantes Teeservice gegönnt. Schon beim ersten Gebrauch war der Henkel abgebrochen und die Tasse landete samt Inhalt auf seinem Schoss. Er spürte wieder diese unsagbare Wut in sich aufkeimen, jedoch holte ihn der Schmerz in seinem Bein auf den Erdboden zurück. Es kostete ihn alle Willenskraft, um normal zu gehen und nicht zu hinken.
 

"Du schmollst doch nicht etwa immer noch?", fragte sein wahrscheinlich einziger Freund belustigt.

Er knurrte, um die Aussage seines Freundes zu widerlegen, doch dieser verstand es völlig falsch und grinste wissend vor sich hin. Auch durch einen giftigen Seitenblick seinerseits verschwand das dämliche Grinsen nicht von den Lippen seines Begleiters.
 

"Denk doch was du willst", sagte er noch, ehe ein heftiger Zusammenstoß ihn von den Beinen riss.

Erneut stieg Wut in ihm auf. Welcher Wurm wagte es ihn nieder zu rennen?
 

Als er aufblickte sah er vor sich eine Kapuzengestalt, die er Aufprall anscheinend auch auf den Hintern befördert hatte, sitzen. Ihre stahlgrauen Augen hatten sich vor Schreck geweitet und ihr Mund stand offen.

"Verdammt, pass doch auf wo du hinrennst", keifte er die junge Frau an, was sie aus ihrer Schreckstarre zu holen schien.
 

Sie zupfte die Kapuze zurecht und senkte den Kopf, sodass ihr Antlitz nicht weiter erkennbar war. "Entschuldige", sagte sie mit leiser, dennoch klarer Stimme, während sie sich erhob und davoneilte.
 

"Alles in Ordnung, Levi?", wollte sein Freund wissen.

"Ja", bestätigte er, während er beobachtete, wie sie mit der Menschenmasse verschmolz und schließlich nicht mehr zu sehen war.
 


 


 

Was für ein Tag.
 

Heute wurde er zum Hauptmann ernannt und der Kommandant hatte ihm prognostiziert, dass er sehr gute Aussichten darauf hätte, seinen Posten in ferner Zukunft zu übernehmen. Eigentlich eine gute Nachricht, doch hielt sich seine Freude in Grenzen.

Die Frau, die er liebte und mit der er alt werden wollte, hatte ihn heute verlassen.
 

Er wusste nicht welche der zwei Tatsachen nun der eigentliche Grund war, weshalb er doch zugestimmt hatte, mit Kollegen eine Schenke zu besuchen. Wahrscheinlich war es die Lust auf ein kühles Bier. Er war schließlich auch nur ein Mann.
 

Allerdings war es nicht bei nur einem Bier geblieben.

Die Stimmung wurde zunehmend heiterer, die Gespräche niveauloser und das Bier wärmer. Der Zeitpunkt sich auszuklinken.
 

Nun stakste er durch den strömenden Regen. Erst als er den Eingang zum Untergrund nicht weit von sich erkannte, wurde ihm bewusst, dass er nicht auf direktem Weg nach Hause war, sondern ziellos umherstreifte.

Es graute ihm davor zurück in sein Haus zu gehen. Als er es das letzte Mal am frühen Nachmittag betreten hatte, war es verlassen gewesen.

Seine Freundin, die sonst in dem Schaukelstuhl saß und häkelte oder vor einem der großen Fenstern las, war verschwunden. Einzig und allein der Brief mit der bitteren Botschaft hatte auf ihn gewartet.
 

Er wollte umdrehen und die gegebenen Umstände nicht weiter ignorieren, da sah er eine Gestalt, die die Treppen vom Untergrund empor stieg. Er erkannte eine junge Frau, die hastig eine Stufe nach der anderen nahm. An der letzten blieb sie mit der Schuhspitze hängen, was sie der Länge nach hart auf den gepflasterten Boden aufschlagen ließ.
 

Für einen Moment, in dem er sich umblickte und feststellte, dass er bei dem Sauwetter der Einzige auf der Straße war, blieb sie regungslos liegen. Ihre roten Haare tränkten sich mit dem Regenwasser, wodurch die sich verdunkelten, sodass es auf dem steingrauen Boden beinahe aussah, als würde Blut ihn bedecken.

Vorsichtig näherte er sich ihr, unsicher, was er nun tun sollte. Vielleicht war es besser einfach weiter zu gehen?
 

In diesem Augenblick rührte sich die Person zu seinen Füßen. Mühsam richtete sie sich auf, bis sie im Vierfüßlerstand schwankend hustete und spuckte. Langsam setzte sie sich auf ihre Unterbeine und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Urplötzlich hielt sie in der Bewegung inne, da sie ihn nun bemerkte. Erschrocken starrte sie auf seine Schuhe, ehe sie den Blick hob und ihn direkt ansah.
 

Sofort entdeckte er die aufgeplatzte Lippe und die Schrammen an ihrer linken Wange. Ihre mitternachtsblaue Tunika war zerfetzt, so dass ihre knochige Schulter unbedeckt war. Der Stoff, der ihr Dekolleté verhüllen sollte, war bis zur Mitte ihres Bauches aufgerissen. Mit den Händen versuchte sie das Gewand an Ort und Stelle zu halten, damit sie ihre Blöße nicht zur Schau stellte. Peinlich berührt über ihr Auftreten senkte sie den Kopf.
 

Stimmen ertönten von der Treppe, bis zwei Männer zu erkennen waren. Sie blickten zu der Frau, dann zu ihm. Als sie anhand seiner Uniform feststellten, dass er zu einer militärischen Einheit gehörte, grummelten sie unverständliche Worte, ehe sie sich zurückzogen.
 

Er blickte zu ihr. Sie saß zitternd da und hatte sich nicht mal nach den Kerlen umgedreht.

Seufzend entledigte er sich seiner Jacke, die er ihr über die Schultern legte. Überrascht schaute sie wieder zu ihm auf.

„Kannst du aufstehen?“, fragte er, wobei er ihr eine Hand entgegen hielt.
 

Sie nickte und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen.
 


 

• Shiganshina, 836
 

Ankunft

Nervös spielte die mit den Spitzen ihres Haares, während sie gleichzeitig mit der rechten Ferse immer wieder auf den Boden auftippte. Es war einige Jahre her, dass sie nach Stohess gekommen war und hatte es seitdem nicht verlassen, nun war sie in einer Kutsche unterwegs, weg von diesem schrecklichen Ort mit all seinen Spießern, und würde ihn endlich wieder sehen. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als sie an ihn dachte.
 

Was hatte sie ihm alles zu verdanken. Ohne ihn, wäre sie wahrscheinlich innerhalb der ersten zwei Tage, nachdem sie aus dem Untergrund geflohen war, verhungert oder erschlagen worden. Er hatte ihr ein Zuhause gegeben, ihr geholfen sich in seiner Welt zurecht zu finden und ihr einen Weg gezeigt, ihren Traum zu verwirklichen.
 

Jetzt war die Zeit gekommen ihm zu zeigen, dass seine Mühe nicht vergebens war. Sie wollte ihn stolz machen, ihn glücklich sehen, ihm etwas zurückgeben.
 

Plötzlich stoppte die Kutsche. Verwirrt sah sie aus dem Fenster, ehe der Kutscher ihr die Tür öffnete. „Wir sind da, “, verkündete er übel launig. Anscheinend war er an diesem kalten Wintertag nicht so glücklich mit seiner Berufswahl.

Das Grinsen auf ihrem Gesicht wurde breiter, als sie sich erhob, um auszusteigen.
 


 

Ungeduldig blickte Levi in die Ferne. Erwin hatte ihm aufgetragen die neue Ärztin zu empfangen und zu ihm zu geleiten. Nur verspätete sich dieses verdammte Weib. Er bewegte seine kalten Zehen, die er mittlerweile kaum noch spürte und hauchte in die Hände, die er zu Fäusten vor seinem Mund geballt hatte. Sein Atem zeichnete sich in kleinen weißen Wolken ab. Es war arschkalt und jeder versuchte nicht vor die Haustür zu treten, sofern es sich nicht vermeiden ließ. Nur er stand sich hier die Beine in den Bauch.
 

Ein Wiehern ließ in aufblicken und er erkannte eine Kutsche in der Ferne.

„Komm schon“, grummelte er genervt, während er darauf wartete, dass diese sich ihm näherte.
 

Nach schier endloser Zeit hielt die Karosse vor ihm. Der Kutscher stieg von seinem Bock, nickte ihm zur Begrüßung zu und öffnete die Tür des Kutschkastens.

„Wir sind da“, informierte er seinen Fahrgast, während er die Tür offen hielt. Kurz darauf reckte eine junge Frau den Kopf nach draußen.
 

Feuerkopf
 

Das war der erste Gedanke, der ihm zu ihr einfiel. Ihre roten Haare fielen ihr in leichten Wellen über die Schultern, während ihre Augen erwartungsvoll funkelnd die Umgebung musterten. Als sie jedoch realisierte, das niemand außer ihm anwesend war, um sie zu empfangen, wurde ihr strahlendes Lächeln immer schmaler, bis sie die Mundwinkel nach unten zog.
 

„Wo ist Erwin?“, wollte sie von ihm wissen. Keine Begrüßung, keine Bekanntmachung, nichts.
 

Unhöfliche Göre, berichtige Levi sich gedanklich.
 

„Ich bringe dich zu ihm“, sagte er, obwohl er lieber genau das Gegenteil getan hätte. Am Liebsten hätte er sie bei dieser Kälte irgendwo in der Pampa ausgesetzt. Sollte sie doch bei Minustemperaturen draußen rumstehen und sich den Allerwertesten abfrieren. Allerdings hatte er Erwin sein Wort gegeben und somit war sein Plan gescheitert, ehe er ihn überhaupt ausführen konnte.
 

Der Kutscher holte ihr Gepäck aus dem Wagen, stellte es neben ihr ab und verschwand ohne ein Wort des Abschieds.

Für einen Augenblick überlegte er, ob er sie ihre Habseligkeiten allein schleppen lassen sollte, entschied sich jedoch dagegen und nahm ihr einen der beiden schweren Koffer ab. Eilig schritt er zu der Veste, die dem Aufklärungstrupp im Moment als Unterschlupf diente. Anstaltslos folgte sie ihm, bis sie durch die Gänge hindurch zu einem karg eingerichteten Zimmer gelangten.
 

Sie trat hinter ihm ein, stellte das Gepäck ab und sah sich argwöhnisch in dem Raum um. „Ich dachte, du wolltest mich zu Erwin bringen“, sprach sie aus, während sie mit den Fingerspitzen die Tagesdecke vom Bett anhob und angewidert das Gesicht verzog, als sie darunter schaute.
 

Levi verdrehte die Augen. War sie wirklich so blöd.

„Und ich dachte, du willst deine Habschaft erst mal wo abstellen“, gab er seine Gedanken preis, wobei kaum zu überhören war, was er von ihr hielt.
 

Schlagartig ließ sie die Decke los und drehte sich zu ihm um. „Gute Idee“, gab sie zu, wobei sie sich übers Kinn strich. „Dann können wir ja jetzt weiter.“
 

Er schnaubte, bevor er sich umdrehte und sie zu ihrem gewünschten Zielort führte.
 


 

Erwin rieb sich nachdenklich das Kinn, während er auf das Papier starrte, auf dem er die verbesserte Version seiner Fernaufklärungs-Formation skizziert hatte. Während der letzten Expedition hatte sich die Formation als brauchbar erwiesen, nun mussten hier und da noch ein paar Details ausgearbeitet werden.
 

Ohne jede Vorwarnung wurde die Tür aufgerissen, was nur Levi sein konnte. Das hieß, dass sie endlich eingetroffen war. Dennoch schaute er nicht zu der Person im Türrahmen auf, sondern nahm das Pergament in die Hand und studierte es genauer. Er wusste, dass er dabei einen dummen Spruch von einer ganz bestimmten Person provozierte und genau das war sein Plan. Er wollte wissen, ob sie noch immer die Selbe war, nach all den Jahren.
 

Schritte näherten sich seinem Schreibtisch, wovor sie verstummten, da ihr Verursacher stehen geblieben war. Amüsiert stellte er sich vor, wie sie mit in die Hüften gestemmten Fäuste dastand und verärgert eine Augenbraue in die Höhe gezogen hatte.

Nur noch ein kleines Weilchen wollte er sie reizen, ehe er sie begrüßen würde.
 

Prompt in diesem Moment kam die Anmache, auf die er gewartet hatte. „Muss ich dem Bananenkönig erst seine Papiere um die Ohren hauen, damit er mich beachtet?“
 

Das war sie! Seine Freya!
 

Leise lachte er auf und hob den Blick an. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute ihm grimmig entgegen. Jedoch bröckelte diese Fassade schnell, denn sie konnte sich ebenfalls kein Lächeln verkneifen.
 

Er musterte sie. Ihre Haare waren länger geworden und sie hatte etwas zugenommen, was sie nicht dick wirken ließ, sondern erwachsener und fraulicher. Sie sah nicht mehr so abgemagert aus und er kam nicht umhin festzustellen, dass ihr Oberteil um die Brust mehr spannte, als vor ihrer Abreise, wofür er sich gedanklich schon fast schämte. Hastig wandte er den Blick ab und sah ihr in die grauen Augen, die ebenso nach den Veränderungen an ihm suchten.
 

„Hattest du eine angenehme Reise?“, fragte er.

„Das sind jetzt nicht ernsthaft deine ersten Worte nach 5 Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben?“, hakte sie ungläubig nach.
 

„Hattest du dir meine Anrede vorher auch gut überlegt?“, wollte er von ihr wissen.

Sie schüttelte den Kopf. „Du denkst doch nicht etwa, dass das überlegt war.“

„Nein, du wirst wahrscheinlich wieder ausgesprochen haben, was dir in diesem Moment in den Sinn kam“, überlegte er.
 

Eine Sekunde des Schweigens, ehe sie beide lachten.

„Ich habe etwas für dich“, eröffnete Erwin, wandte sich ab, um etwas aus einer Schublade zu suchen. Er hielt ihr eine kleine Schatulle entgegen, die gerade einmal so groß war wie seine Handfläche. „Mach es später auf.“

Sie bedankte sich, als sie das Geschenk annahm. „Womit habe ich das verdient?“, fragte sie.

Erwin erwiderte daraufhin nichts, sondern schenkte ihr eines seiner Lächeln, die sie in den letzten Jahren so sehr vermisst hatte.
 

Levi, der noch immer im Türrahmen stand, räusperte sich. Die Beiden hatten ihn total vergessen, wieso sagte er auch nicht vorher etwas.
 

„Levi wird dich noch in den Speisesaal bringen, damit du noch etwas zu essen bekommst“, erklärte Erwin ihr. „Wenn es nicht so spät wird, komme ich noch mal bei dir vorbei.“

Sie nickte und wandte sich Levi zu, der ein Gesicht machte, wie drei Tage Regenwetter.
 

„Freya?“, hielt ihr alter Freund sie zurück. Sie blieb stehen und drehte den Oberkörper so, dass sie ihn ansehen konnte. „Schön, dass du wieder da bist.“

Ein Grinsen bildete sich auf ihren Lippen. „Ich freu mich auch dich wiederzusehen!“
 


 

Ihm wurde schon schlecht bei dem ganzen Schäkern. So kannte er Erwin bis jetzt gar nicht.

Er fragte sich, was die beiden miteinander zu tun hatten. Anscheinend kannten sie sich. Waren sie Freunde oder vielleicht sogar ein Paar? Aber was ging ihn das an?
 

Levi schaute zu ihr hinüber. Freya hatte Erwin sie genannt.

Diese betrachtete die kleine Schatulle in ihrer Hand, wobei sie dümmlich grinste, während sie mit den Fingerspitzen über den Deckel strich. Wahrscheinlich überlegte sie, ob sie nun gleich nachsehen sollte, was sich in dem Kästchen befand oder doch lieber später, wenn sie allein und ungestört war.
 

„Hier ist der Speisesaal", gab er bekannt, als sie eben diesen betraten. Keine Menschenseele war mehr anwesend, denn das Abendbrot war schon längst vorbei.

Sie passierten die Räumlichkeit und gingen in die angrenzende Küche. Dort suchten sie Brot mit etwas Wurst und Käse zusammen, womit sie sich an einen Tisch setzten.
 

„Du musst nicht bei mir bleiben, wenn du nicht willst", sagte Freya plötzlich.

Levi sah sie einen Augenblick an. „Wegen dir habe ich das Abendessen verpasst", offenbarte er vorwurfsvoll und griff nach einer Scheibe Brot.

Für eine Sekunde sah sie ihn entsetzt an, die Augen aufgerissen und der Mund geöffnet, ehe sie den Kopf senkte. „Entschuldige."
 

Dieses eine Wort im Zusammenhang mit ihrer Mimik löste das Gefühl eines Déjà-vu bei ihm aus. Er betrachtete sie genauer. Konnte es sein, dass sie sich schon ein Mal begegnet waren? Angestrengt dachte er nach, während er sie nicht aus den Augen ließ.
 

„Kommst du aus dem Untergrund?", fragte er sie schließlich.

Sie stoppte in ihrer Kaubewegung und sah ihn überrascht an. „Nein", sagte sie mit vollem Mund.
 

Die Art, wie konzentriert sie auf ihrem Essen herumkaute, sagte ihm, dass er auf der richtigen Fährte war. Doch fiel ihm kein konkretes Ereignis ein, das er mit ihr verbinden könnte, weshalb er das Thema vorerst fallen ließ. Jedoch würde er ihr zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal genauer auf den Zahn fühlen.
 


 

  • Donnerburg, Mauer Maria, 845
 

Wiedersehen macht Freude

Freya Martin war alles andere als begeistert, als polternde Schritte auf dem Flur sie aus dem Schlaf rissen. Verärgert zog sie die Augenbrauen zusammen, während sie den Geräuschen lauschte, die sich eilig von ihrem Zimmer entfernten.

Erschöpft drehte sie sich auf den Rücken, schloss die Augen für einen Augenblick, nur um sie kurz darauf wieder zu öffnen. Sie war kein Morgenmensch. Besonders nicht, wenn sie die vorherige Nacht so schlecht geschlafen hatte.
 

Sie hatte bis spät in die Nacht auf Erwin gewartet, der nicht erschienen war. Doch etwas enttäuscht hatte sie sich irgendwann schlafen gelegt, allerdings hatte ihr Kopf keine Ruhe gegeben, sodass sie noch lange wach gelegen hatte.
 

Grummelnd richtete sie sich auf und fuhr sich mir beiden Händen durchs Gesicht. Wie jeden Morgen litt sie unter Kopfschmerzen, welche sich jedoch lösten, sobald sie anfing den Kopf erst auf die linke, dann auf die rechte Schulter zu legen. Ihre Halswirbel gaben dabei fürchterliche Geräusche von sich.
 

Ihr Blick glitt durch den Raum, wo er schließlich an Erwins Geschenk hängen blieb. Gestern hatte sie es kaum erwarten können es zu öffnen. Nach dem Essen hatte sie sich von Levi verabschiedet, worüber er nicht gerade traurig zu sein schien, und war auf ihr Zimmer geeilt, wo sie die Schatulle geöffnet hatte, sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war.
 

Mit der rechten Hand griff sie nach der Kette, die sie aus dem Kästen gezogen hatte und nun um ihren Hals lag. Als sie den silbernen Anhänger betrachtete, schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie fragte sich, ob Erwin diesen Anhänger unbedacht ausgewählt hatte oder ob es doch einen Hintergedanken gab.

Ein kleiner Vogel zierte die feingliedrige ebenso silberne Kette. Einst, nachdem Erwin sie aufgesammelt hatte, hatte er im Spaß erwähnt, sie sei ihm vor die Füße gefallen, wie ein kleiner Vogel aus dem Nest.
 

In Erinnerungen schwelgend strich sie abermals über den Anhänger, da erblickte sie das Buch auf ihrem Nachttisch. Es war nicht größer als ein Taschenbuch und auch nicht sonderlich dick oder mit Schmuck verziert, aber es war ihr größter Schatz. Sie nahm es an sich und strich zärtlich über den abgegriffenen Einband, bevor sie es aufschlug. Hier und dort waren einige Blätter lose und fielen beim Durchblättern heraus. Schon einige Male hatte sie überlegt einen Buchmaler damit zu beauftragen eine Kopie anzufertigen. Doch musste sie erst einmal einen finden, der für einige Silberstücke die Klappe halten würde, denn dieses Exemplar stand auf der Liste der verbotenen Bücher.

Mit Zeige- und Mittelfinger fuhr sie über die liebevoll illustrierte Seite, ehe sie das Buch zuklappte.
 

Sie schlug sie Bettdecke zur Seite, da klopfte es an ihrer Tür.
 


 

„Und, wie ist sie?"
 

„Was weiß ich."
 

„Du hast sie doch gestern empfangen", stellte Hanji korrekt fest.
 

Levi schenkte ihr einen giftigen Blick. Konnte sie ihn nicht einfach in Frieden frühstücken lassen?

Unaufgefordert hatte sie sich zu ihm an den Tisch gesetzt und fragte ihn über den Neuankömmling vom Vorabend aus. Über die Hälfte der Tische im Speisesaal waren noch unbesetzt, hätte sie sich nicht einfach an einen von ihnen setzten können?
 

Genervt schnalzte er mit der Zunge. „Wieso suchst du sie nicht und überzeugst dich selbst?"
 

„Ich weiß doch gar nicht wie sie aussieht", bemerkte Hanji, während sie sich einen großen Löffel Haferschleim in den Mund schob und ihn weiter erwartungsvoll ansah.

Er empfand die Art und Weise, wie sie ihm gegenüber saß und auf ihrem Essen herum kaute, als mehr als nur ekelhaft. „Du wirst sie schon erkennen, wenn du sie siehst."
 

„Wieso?", fragte sie.
 

„Weil sie wahrscheinlich an Erwins Arsch kleben wird." Er hoffte, dass das Thema damit beendet war und die Brillenschlange endlich verschwinden würde. Doch machte diese keinerlei Anstalten zugehen.

Seelenruhig stopfte sie die matschige Masse, die ihnen als nahrhaftes Frühstück aufgetischt wurde, in sich hinein. Als sie dann auch noch zu schmatzen begann, schüttelte es ihn beinahe vor Ekel.

„Kannst du nicht einfach für den Rest deines Lebens die Luft anhalten?", fragte er todernst.
 

Hanji dagegen lachte, als hätte er einen Witz gerissen. „Dann hätte ich aber nicht mehr lange zu leben", kicherte sie.
 

„Ach was du nicht sagst", grummelte er in seine Tasse, ehe er einen Schluck daraus nahm.
 

Für einen Moment glaubte er, sie würde nun endlich ruhe geben, da zerschnitt ihre nervige Stimme schon wieder die Stille. „Hey, ist sie das?", rief sie aus und deutete mit dem Kinn Richtung Tür.
 

Levi wandte sich um und erblickte Freyas Feuerkopf neben Erwins hünenhafter Gestalt. Sie reichte ihm gerade mal bis zur Schulter, was sie irgendwie zerbrechlich wirken ließ. Allein die Uniform, die hier jeder trug, verlieh ihrem Aussehen so etwas wie Härte.
 

Es dauerte nicht lange, da hatte Erwin Hanji und ihn entdeckt und sie gesellten sich zu ihnen.

Nachdem Erwin einen guten Morgen gewünscht und Freya mit Hanji bekannt gemacht hatte, aßen sie ihr Frühstück, wobei sie ihr Gespräch von vorher wieder aufnahmen.
 


 

Erwin lauschte Freyas munteren Erzählungen, da entdeckte er Mike Zacharias, welcher auf sie zu kam und einen Finger auf die Lippen gelegt hatte. Er verstand, setzte sein Pokerface auf und wandte sich wieder Freya zu, die über einen Medikus schimpfte. Durch einen Seitenblick prüfte er, ob Hanji etwas mitbekommen hatte, doch diese war zu sehr mit ihrem Essen beschäftigt. Levi, der neben Freya saß, sah aus dem Fenster und schien dem Geschehen am Tisch keinerlei Beachtung zu schenken.
 

Er blickte wieder zurück zu seiner alten Freundin. Ihre Augen leuchteten auf, als sie von ihrem Medizinstudium erzählte.

Wie aus dem Nichts tauchte Mikes Gesicht neben ihrem auf. Dieser hatte einen außergewöhnlich guten Geruchssinn, weshalb er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, an anderen Menschen zu schnuppern und sich damit ihren Geruch einzuprägen.
 

Freya entgleisen in dem Moment alle Gesichtszüge, in dem Mike seine Nase in ihrem Haar vergrub und tief einatmete. Schlagartig versuchte sie von ihm zu flüchten, indem sie von ihm weg rutschte und dabei beinahe auf Levis Schoß hüpfte. Levi schien über den plötzlichen engen Körperkontakt weniger erfreut, was er durch einen mordlustigen Blick zum Ausdruck brachte.

In der Sekunde erkannte Freya, wer sie von hinten überrascht hatte.

„Mike", quietschte sie auf, wobei sie seinen Namen in die Länge zog. Gleichzeitig schoss sie nach vorn und fiel ihm um den Hals.
 

Mike, der sich in einen vorgebeugten Position befand, richtete sich zu voller Größe wieder auf, dabei zog er Freya, die sich noch immer an ihn klammerte, von der Bank. Mit Leichtigkeit umfasste er ihre Taille und setzte sie auf ihren Füßen ab.
 

„Musstest du mich so erschrecken? Ich dachte schon, du wärst irgend so ein Perverser."
 

„Nein, ich konnte nicht widerstehen", grinste er. Freya setzte sich zurück neben Levi und nahm das Essen wieder auf, während Mike sich rittlings auf der Bank platzierte und Freyas Apfel, den sie neben ihren Teller abgelegt hatte, stibitzte, in den er genüsslich hinein biss.

Mittlerweile wurde es richtig voll in dem Raum. Die Tische wurden von teils verschlafenen, teils munteren Soldaten besetzt, die sich über verschiedenes unterhielten. Hier und dort glitt auch ein Blick zu ihrem Tisch und die junge Ärztin blieb nicht lange unentdeckt.

„Ich wollte mal nach unserer Frau Doktor sehen. Hab gehört, dass du wieder da bist."
 

„Schön, dass sich wenigstens Einer die Mühe macht und zu mir kommt, um mich zu begrüßen", sagte Freya und warf Erwin einen vorwurfsvollen Blick zu. Dieser verzog keine Miene und ging auf ihren Spott gar nicht erst ein.
 

„Bilde dir da mal nicht zu viel drauf ein. Das heißt nicht, dass ich dir bei der nächsten Expedition auch wieder den Arsch rette", neckte Mike.
 

„Ich hatte alles um Griff", verteidigte sie sich.
 

„Wohl eher hatte der Titan dich im Griff", zog er sie weiter auf.
 

Allen Dreien, Freya, Erwin und Mike, waren die Bilder von diesem Tag noch gestochen scharf im Kopf verankert.

Damals waren sie auf einer Expedition gewesen. Sie waren bei Regen in einer kleinen Gruppe durch einen Wald geritten. Die Sicht war bescheiden gewesen und so hatten sie den Titanen erst bemerkt, als sie ihm nicht mehr ausweichen konnten. Sie hatten versucht zu fliehen, dabei war Freyas Pferd beim Sprung über eine Baumwurzel hängen geblieben, was die Reiterin aus dem Sattel geschleudert hatte. Genau vor die Füße des Titanen.

Natürlich wolle sich dieser diese Chance nicht entgehen lassen und griff nach der Gestalt am Boden.

Das war einer der seltenen Augenblicke in Erwins Leben, in denen er Angst gehabt hatte.

Als sich damals die Finger des Monstrums um ihren zierlichen Körper schlossen, hatte er sich so hilflos gefühlt, so unfähig auf eine Person, die ihm am Herzen lag, aufzupassen. Zu groß war die Entfernung zwischen ihnen, sodass er nichts hätte ausrichten können. Es war pures Glück, dass Mike in ihrer Nähe gewesen war und sich schnell um den Titanen kümmern konnte, bevor schlimmeres passiert war.

Nachdem sie die Mauer Maria passiert und den Schrecken verdaut hatten, begannen Freya und Mike Witze über diese Situation zu reißen, was Erwin zu diesem Zeitpunkt gar nicht gefiel. Doch verstand er, dass es ihnen anscheinend half das Erlebte zu verarbeiten.
 

„Warte nur ab, bis du das erste Mal auf meinem Tisch liegst, dann wirst du um Gnade winseln", drohte Freya ihm. Allerdings entschärfte ein Lächeln ihre Worte.
 

„Erzähl mal, was für eklige Sachen hast du denn schon gemacht?", fragte Mike, wobei er einen Ellenbogen auf dem Tisch stemmte und sein Kinn auf der Handfläche ablegte.
 

Erneut funkelten ihre stahlgrauen Augen auf. „Das wollt ihr lieber nicht wissen", winkte sie mit einer Handbewegung ab.

Erwin durchschaute die sofort. Durch ihre abweisende Art, wollte sie ihre Neugier wecken.

„Na los, mach es nicht so spannend", tat er ihr den Gefallen und beobachtete, wie ein breites Grinsen sich auf ihre Lippen schlich. Es hatte etwas verschwörerisches an sich, da sie sich auf die Unterlippe biss und sie somit ihre graden Zähne entblößte.
 

„Ich habe einen Vergewaltiger kastriert", eröffnete sie mit einem Hauch von Stolz in der klaren Stimme.
 

Stilles Entsetzen folge auf ihr Aussage. Selbst Levi, der bis dato nur körperlich anwesend war, wandte ihr den Kopf zu. Hanji stand der Mund offen und vor lauter Ungläubigkeit ließ sie den Löffel in ihrer Hand los, welcher scheppernd auf den Teller fiel.
 

Freya bemerkte die Fassungslosigkeit, was sie ein wenig verunsicherte. „Oh", begann sie und sah in die schockierten Gesichter vor ihr. „Ich hab auch schon einen Fuß und mehrere Finger amputiert."
 

Erwin zog die Augenbrauen zusammen. Bilder tauchten in seinem Kopf auf, die er zu verdrängen versuchte.
 

„Ich hab ebenfalls Geburtshilfe geleistet", war ihr letzter Versuch sich zu retten. Doch auch darauf sprang keiner an.

Es kam ihr vor, als wären die Gespräche an den anderen Tischen unglaublich laut. Die Stille zwischen ihnen war unangenehm, sowie die bestürzten Blicke. Jahrelang hatte sie für das gekämpft, was sie nun erreicht hatte, und jetzt starrte man sie an, als wäre sie eine Verrückte.
 

Vom Nachbartisch vernahm sie stetiges Husten. Als sie ihre Aufmerksamkeit dorthin lenkte, sah sie einen jungen Mann, der hustete und sich auf die Brust klopfte.

Es war, als würde plötzlich der gesamte Saal verstummen und zu dem sich räuspernden Mann sehen. Sein Gesicht nahm langsam eine bläuliche Farbe an.
 

Sofort sprang Freya auf und eilte zu ihm. „Hast du dich verschluckt?", fragte sie, sobald sie ihn erreicht hatte. Er nickte.

Sie stellte sich hinter ihn, ballte die rechte Hand zur Faust und legte sie auf seinen Oberbauch unterhalb der Rippen. Mit der Linken umschloss sie ihre Faust und begann in rhythmischen Bewegungen gegen seinen Bauch zu pressen. Erwin erinnerte sich etwas über den Heimlich Handgriff, den Freya in diesem Moment anwandte, gelesen zu haben.

Kurz darauf hörte der Soldat auf zu bellen und übergab sich stattdessen auf den Tisch vor ihm. Gierig füllte er seine schmerzenden Lungen mit Sauerstoff.
 

Sie gab ihm etwas Zeit sich zu beruhigen, ehe sie nach seinem Befinden fragte. Auf ihre Frage, ob er in Ordnung sei, nickte er.

„Danke", sagte der junge Soldat noch ein wenig außer Atem.
 

„Keine Ursache", lächelte sie ihm entgegen. „Du wirst wahrscheinlich die nächste Zeit Schmerzen beim Schlucken haben, falls es bis heute Abend nicht besser ist, such mich nochmal auf."
 

Erwin und Mike beobachten, wie so viele andere in dem Raum, das Geschehen am Nachbartisch.

„Ich denke, du wirst es nicht bereuen ihr diese Chance gegeben zu haben", gab Mike seine Gedanken preis.
 

Erwin gab einen Laut der Zustimmung von sich und blickte in die leuchtend grauen Seelenspiegel, die ihm entgegen strahlten.

Sturer Esel

Summend machte Freya sich einige Notizen zu ihrem letzten Patient. Erwin hatte sie beauftragt Kartei über die Behandlungen und das Material, das sie dafür brauchte, zu führen, damit sie den Überblick über die Kosten nicht verloren. Gleichzeitig vermerkte sie auf einem weiteren Blatt Papier, was sie in nächster Zeit für ihre Praxis besorgen musste.
 

Der Kommandant, Keith Shadis, hatte ihr Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, in denen sie sich um das Wohl der Soldaten des Aufklärungstrupps kümmern konnte. Seit einigen Wochen war sie nun hier und bis jetzt verging kein Tag, an dem sie nicht voll ausgebucht war.

Meist waren es nur Kleinigkeiten, die sie behandelte - hier eine kleine Wunde, dort eine Muskelzerrung oder Verstauchung - doch hatte sie auch schon ein gebrochenes Bein schienen müssen. Was bei diesem Glatteis, das bis vor Kurzem noch herrschte, seltsamerweise das Einzige war. Derweil hatte die Sonne die grauen Wolken abgelöst und sorgte täglich für mildere Temperaturen. Die Vögel saßen auf den noch nackten Zweigen und erzählten von den Geschichten außerhalb der Mauern, während dich die braune Landschaft langsam grün färbte.

Allmählich erwachte für Natur aus ihrem Winterschlaf.
 

Aus dem Nebenzimmer, das ihr als Behandlungszimmer diente, vernahm Freya das Geräusch einer zufallenden Tür. Kurz darauf tauchte ein brünetter Haarschopf im Türrahmen zu ihrem Büro auf. „Doktor Martin?", fragte dieser.
 

Es dauerte eine Sekunde, ehe Freya ihn erkannte. „Thomas?"
 

„Freya!" Lachend trat er ein. „Lange nicht gesehen. Wie geht es dir?"
 

„Gut und dir?", wollte sie von ihm wissen.
 

Thomas Fischer war einer der jungen Menschen, die mit ihr die Ausbildung beim Militär absolviert hatten. Zusammen mit einer Hand voll anderer aus ihrem Jahrgang waren sie dem Aufklärungstrupp beigetreten.
 

„Ich kann mich nicht beklagen. Hab mich schon gefragt, wo du abgeblieben bist", antwortete er auf ihre Frage.
 

„Was ist mit den anderen aus unserer Einheit? Wir müssen uns unbedingt mal zusammen setzen", schlug sie vor.

Thomas Gesichtsausdruck veränderte sich. All die Heiterkeit wich aus ihm, bis nur noch Wehmut darin zu lesen war. „Ich schätze, wir sind die Einzigen, die noch übrig sind."
 

Die Nachricht traf sie hart, denn sie war unvorbereitet gewesen. Kurz wusste sie nicht was sie sagen sollte, entschied sich dann für ein professionelles Auftreten. „Weswegen bist du hier?", fragte sie. Jegliche Emotion war aus ihrem Gesicht, sowie ihrer Stimme gewichen.
 

„Der Kommandant hat mir etwas für dich gegeben. Ich habe die Kiste auf den Tisch gestellt." Dabei deutete er mit dem Daumen auf den Raum hinter sich.
 

Freya bedankte sich und sie verabschiedeten sich, mit dem Versprechen ein anderes Mal zu reden, voneinander. Thomas verließ ihre Räumlichkeiten und sie wandte sich erneut ihren Papieren zu.

Als sie den Papierkram endlich abgeschlossen hatte, begab sie sich in den Nebenraum, wo sie die Kiste ausfindig machte, die Thomas vorher erwähnt hatte.
 

Der Deckel ließ sich mühelos öffnen. In der hölzernen Kiste befand sich die Bestellung, die sie letzte Woche schon aufgegeben hatte.

„Meine Güte, ich dachte schon der Scheiß kommt nie an", murrte sie.
 

Natürlich verstand sie, dass immer jemand in die nächstgelegene größere Ortschaft reisen musste, um ihre Materialien zu besorgen, bestimmte Besorgungen konnte man sogar nur im inneren Ring machen, dennoch dauerte es ihr manchmal etwas zu lange. Es war klar, dass der Kommandant niemanden sofort losschickte, sobald sie irgendwelche Wünsche hatte, doch angesichts des Verbrauches des Materialien - oder vielleicht der momentanen Verletzungsfreudigkeit seiner Untergebenen - könnte er sich etwas mehr Mühe geben.
 

Erwartungsvoll kramte sie durch den Inhalt, nur um festzustellen, dass wieder die Hälfte fehlte. Ein Knurren verließ ihre Kehle. Wie sollte die ihre Aufgabe anständig erledigen, wenn ihr die Mittel dazu fehlten?
 

Abermals hörte sie die Tür ins Schloss fallen und als sie sich umdrehte, stand Levi vor ihr.

„Was kann ich für dich tun?", fragte sie, während sie einige Baumwolltücher, die für die Verbände gedacht waren, aus der Kiste hervor brachte.
 

„Erwin schickt mich, er möchte etwas mit uns besprechen", informierte er sie. Er wirkte übel launiger als sonst und sie beobachtete, wie er den Kopf auf die rechte Schulter legte.
 

Knack
 


 

„Moment, ich räum das hier nur noch aus", sagte sie.
 

„Hat das nicht Zeit bis nachher?", wollte er genervt wissen. Dabei zog er die Schultern nach hinten.
 

Knack
 


 

„Tut dir was weh?", fragte Freya daraufhin.
 

Als Antwort bekam sie einen bösartigen Blick geschenkt, der dadurch untermalt wurde, indem er die Arme vor der Brust verschränkte.

Tatsächlich war Levi an diesem Morgen mit äußerst unangenehmen Rückenschmerzen erwacht. Ein dumpfer Schmerz saß zwischen Nacken und Schultern. Trotz all dem Strecken, Drücken und Bewegen, wollte er einfach nicht verschwinden. Mal strahlte er in den unteren Rücken aus, mal in den Kopf.
 

Abwehrend hob Freya die Hände. „Ich beeil mich ja schon."

Sie entnahm einige Fläschchen der Kiste, welche sie in eines der Regale einsortierte. Danach brachte sie ein Buch zum Vorschein, welches sie nach nebenan brachte.
 

Für den Moment ihrer Abwesenheit schloss er die Augen. Dabei legte er den Kopf auf die linke Schulter.
 

Knack
 


 

„Lass mich mal nach deinem Nacken schauen", ertönte plötzlich Freyas Stimme. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sie zurückgekommen war.
 

„Nein, das ist nicht nötig", schlug er ihre Hilfe aus.
 

Als hätte sie seine Worte nicht gehört, trat sie näher an ihn heran. Ihre Hand streckte sie in seine Richtung, doch schlug er sie weg.

„Hörst du schlecht?", fragte er angesäuert.
 

„Nein", war ihre simple Antwort, auf die ein weiterer Versuch folgte, ihn zu berühren. Wieder schlug er ihre Hand weg. Beleidigt schob sie die Unterlippe vor, ehe sie einen dritten Anlauf startete, diesmal mit beiden Händen.
 

Zwischen ihnen brach ein Handgemenge aus. Freya versuchte an ihn ran zu kommen, während Levi sie fortwährend abzuwehren versuchte.

Als Levi sich eines Sieges fast sicher war, trat sie einen weiteren Schritt vorwärts, sodass ihre Körper nur noch eine Hand breit voneinander trennte. Nun konnte er den Duft ihrer Haare riechen und spürte die Wärme, die ihr Körper ausstrahlte. Auch ihre grauen Seelenspiegel schwebten direkt vor ihm. Ein entschlossener Ausdruck hatte sich darin festgesetzt, welcher ihn für den Bruchteil einer Sekunde ablenkte.
 

Aus dem Nichts spürte er zwei ihrer Finger im Nacken, die einen angenehmen Druck ausübten. Ein Kribbeln zog seiner Wirbelsäule entlang, hinauf in seinen Kopf, wo der Schmerz sich sofort auflöste. Verwundert sah er sie an.

„Wie machst du das?", wollte er von ihr wissen. Er empfand es als gespenstig, dass sie mit so wenig Aufwand solch einen Einfluss auf seinen Körper haben konnte.
 

Sie löste die Finger von ihm. „Magische Finger", flötete sie und präsentierte die Finger ihrer beiden Hände. „Was meinst du, wie Erwin überhaupt auf die Idee für mein Studium gekommen ist?"
 

Ein Bild erschien in seinem Kopf. Irritiert zog er die Augenbrauen zusammen.

Auch Freya dachte nochmals über ihre Worte nach, was man ihr deutlich am Gesicht ablesen konnte. „Das klang jetzt komisch“, bemerkte sie zögernd.
 

„Naja ist ja auch egal. Setzt dich", forderte sie ihn auf, wobei sie einen Hocker unter dem Tisch hervor zog. Skeptisch blickte er auf den Stuhl, dann zu ihr.
 

„Du bist stur wie ein Esel, oder?", fragte sie, wobei es mehr wie eine Feststellung klang.
 

„Sagt genau die Richtige", erwiderte er bloß.
 

„Ein Esel ist ein Scheißdreck gehen mich", stellte sie klar, was Levi irgendwie amüsierte, doch würde er es niemals zugeben, geschweige denn ihr zeigen. Er rollte mit den Augen und verlagerte sein Gewicht vom einen auf den anderen Fuß.

Jedoch schien sie aufzugeben, da sie den Hocker mit dem Fuß wieder unter den Tisch schob, wo sie ihn hergeholt hatte.
 

„Gut, dann lass uns zu Erwin gehen“, schlug sie seufzend vor, wobei sie jedoch dachte, dass die Sache zwischen beiden noch nicht ausgestanden war. Irgendwann würde sie ihn in einem unachtsamen Moment erwischen und dann würde er seine Behandlung bekommen – ob er wollte oder nicht.
 

Zusammen machten sie sich auf den Weg zu ihrem Vorgesetzten. Der Gang dorthin verlief schweigend und reibungslos. So kam es, dass sie nach kurzer Zeit vor der massiven Holztür zu Erwins Büro standen, die Levi ohne anzuklopfen aufriss und eintrat.
 

Erwin schreib gerade etwas nieder, blickte jedoch auf, als sie den Raum betraten. „Sehr gut, da seid ihr ja“, begrüßte er sie und legte den Stift beiseite.

Ohne große Umschweife kam er direkt zu dem Grund, warum er nach ihnen gerufen hatte.
 

„Wir planen bereits die nächste Expedition. Noch ist nichts offiziell, daher bitte ich um eure Verschwiegenheit, doch der Antrag ist so gut wie durch und wir warten nur noch auf die Bestätigung. Sobald das Wetter besser ist und wir die Formalitäten hinter uns haben, geht es los“, berichtete er, wobei er abwechselnd Freya und Levi ansah, die ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz genommen hatten. Freyas Gesicht hellte sich augenblicklich auf, während Levis Miene ungerührt blieb.
 

„Ich möchte, dass ihr beiden ein Team bildet“, gab er nun seinen Wunsch preis.
 

Freya und Levi schenkten sich gegenseitig einen Blick, wobei Levi nicht sehr begeistert wirkte.
 

„Ich soll also auf den Terrorist aufpassen?“, hakte er nach, während er die Arme vor der Brust verschränkte. Wenn Erwin dachte, er würde den Babysitter für den Karottenkopf zu spielen, hatte dieser sich gewaltig geschnitten.
 

„Terrorist?“, wiederholte Freya ungläubig.
 

Bevor die Situation eskalierte, funkte Erwin dazwischen. „Ja, du sollst sie schützen. Allerdings möchte ich dich daran erinnern, dass sie Ärztin ist und kein Terrorist“, mahnte er.

Levi hielt sich zurück und Erwin war dankbar, dass auch Freya die Klappe hielt.
 

„Während der Expedition wird Luca Chapman euer Team leiten. Ebenfalls werden euch noch ein paar der Neuen zugeteilt, die nächste Woche ankommen werden. Bis zur Ausführung dieser Expedition möchte ich, dass ihr euch besser kennen lernt, die Stärken und Schwächen des jeweilig anderen herausfindet und an eurer Zusammenarbeit feilt. Ihr müsst da draußen funktionieren und ich will keinen von euch beiden in Einzelteilen aufsammeln müssen.

Freya, du wirst dich um die medizinische Versorgung kümmern und Soldaten unterwegs behandeln, sofern notwendig. Dabei wirst du, Levi, ihr bestmöglichen Schutz bieten, die Situation überwachen und handeln, falls angebracht.

Habt ihr mich verstanden?"
 

„Ja", murrten beide gleichzeitig, wenig erfreut über ihre Standpauke.
 

„Du wirst Vormittags deine üblichen Sprechstunden halten, danach trainiert ihr zusammen", sagte der Hauptmann an Freya gewandt. „Ab nächste Woche wirst du mit den Frischlingen den Theorieunterricht besuchen, denn du musst das System unserer neuen Formation lernen. Hab ich mich deutlich ausgedrückt?"
 

„Ja", bestätigte Freya erneut.
 

„Gut", lobte Erwin und sah zufrieden aus. „Levi, du kannst gehen. Freya, mit dir will ich noch etwas besprechen."
 

Erwin wartete bis Levi das Büro verlassen hatte, ehe er weiter sprach. „Was hältst du von einem Ausflug ins Haus?", wollte er von ihr wissen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Dabei beobachtete er ihre Mimik genau.

Zu Erst machte sie ein Gesicht, als ob sie die Frage nicht richtig verstanden hätte. Es dauerte einen Moment, indem sie nachdachte, dann dämmerte ihr, worauf er hinaus wollte.
 

„Du meinst wir gehen nach Shiganshina? In unser Haus?“ Unverzüglich begann sie zu strahlen und pure Freude stand ihr ins Gesicht geschrieben.
 

Erwin nickte und lächelte. „Wir gehen nach Hause.“

Kleiner Wirbelwind

Schon am nächsten Tag brachen sie auf. Freya genoss es endlich wieder in einem Sattel zu sitzen und das gleichmäßigen Schaukeln durch die Schritte des Pferdes zu spüren. Trittsicher bahnte sich der Rappe seinen Weg über die weiten Felder. In der Ferne fraß sich die Mauer Maria durch die ebene Landschaft. Sie schloss ihre Augen und erfreute sich an den Sonnenstrahlen, die warm ihr Gesicht kitzelten. Eine tiefe innere Ruhe breitete sich in ihr aus und sie empfand Zufriedenheit.
 

Erwin, der neben ihr ritt, betrachtete sie. Eine leichte Prise kam auf, zupfte an ihren Haaren und spielte mir ihren Locken. Er konnte nicht verhindern, dass sich die Ruhe, die sie verspürte, sich bei ihrem Anblick auf ihn übertrug. Er wollte es sich gar nicht anders. Das war nämlich der Grund, weshalb er sie so gerne in seiner Nähe wusste. Das war einer seiner liebsten Momente, wenn der Wirbelsturm zur Ruhe kam und einem das Gefühl gab, mit sich und seiner Umwelt im Reinen zu sein.
 

Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen öffnete sie die Lider und sah ihn direkt an. „Wie lange können wir bleiben?", wollte sie von ihm wissen.
 

„Drei Tage", antwortete er.
 

„Nur?"
 

„Bis zur Ankunft der neuen Soldaten müssen wir wieder zurück sein. Der Kommandant braucht jeden Mann, um sie auf die nächste Expedition vorzubereiten", erklärte Erwin.
 

Nachdenklich kaute sie auf der Unterlippe. „Weißt du, was ich in dieser Zeit machen werde?", Frage die ihn nach kurzem Schweigen.
 

„Schieß los", forderte er die daraufhin auf. Sie würde sowieso keine Ruhe geben, ehe sie es erzählt hätte.
 

„Ich werde zu Britta gehen und mir eines ihrer leckeren Brote kaufen. Frisch aus dem Ofen natürlich! Dann werde ich auf den Wochenmarkt gehen. Ich muss unbedingt ein Stück von Susis Käse essen, der war immer so schön cremig", schwärmte sie, wobei ihr Blick anwesend wirkte, als wäre sie gedanklich schon dort.

„Und Marvins Stand werde ich besuchen. Dort kaufe ich mir einen schönen fetten Lachs, den ich am offenen Feuer zubereiten werde." Ihr lief regelrecht das Wasser im Mund zusammen.
 

„Du wirst dich also kugelrund essen", stellte Erwin fest.
 

„Kugelrund ist gar kein Ausdruck", lachte sie. Es war ja nicht so, dass sie die letzten Jahre nichts zu essen bekommen hatte - die Speisen in Stohess waren auch köstlich gewesen. Doch zu Hause schmeckte es immer noch am Besten. Ganze 5 Jahre hatte sie auf all die heimischen Leckereien verzichten müssen.
 

„Da hast du dir einiges vorgenommen für diese kurze Zeit."
 

„Ja, wieso trödeln wir dann noch hier rum?" Freya drückte ihrem Pferd Fersen in die Flanken, welches daraufhin los galoppierte.
 

So wie es aussah, hatte Erwin wohl den Wirbelwind wieder erweckt. Er seufzte, ehe er ihr hinterher setzte.
 

Den restlichen Weg zu den Toren von Shiganshina ritten sie in wildem Galopp, wobei sie sich ein Wettrennen lieferten, was mit einem unentschieden endete. Sie bahnten sich ihren Weg durch die vollen Gassen, bis sie vor einem mittelgroßen Fachwerkhaus hielten.
 

Freya erkannte es sofort, obwohl es sich seit ihrem letzten Besuch vor ihrem Studium verändert hatte. Die Farbe der Holzbalken war ausgeblichen, die Fassade leicht bröckelnd, die Blumenkästen an den Fenstern leer.

Es stimmte sie traurig ihr Heim in solch einem vernachlässigten Zustand zu sehen, denn in ihrer Erinnerung hatte es irgendwie strahlender ausgesehen. Nun nagte leichte Enttäuschung an ihr. Aber was hatte sie auch anders erwartet? Erwin hatte verständlicherweise keine Zeit ihr Heim in Schuss zu halten.

„Wann warst du das letzte Mal hier gewesen?“; fragte sie, als sie aus dem Sattel stieg.
 

Erwin überlegte. „Ist bestimmt schon über ein Jahr her.“
 

Sie brachten die Pferde zum Nachbar, wie jedes Mal, wenn sie nach Hause kamen. Ihr Grundstück besaß keine eigene Stallung, doch hatte ihr Nachbar genügend Platz für ihre Tiere und versorgte diese gewissenhaft. Freudig wurden sie begrüßt, ihre Pferde in den Stall gebracht, wo sie von einem Knecht versorgt wurden. Erwin drückte dem alten, buckeligen Mann einige Silbermünzen in die Hand, als Dank für seine Bemühungen.
 

Endlich betraten sie ihr Nest. Jedoch blieb Freya im Eingang stehen und blickte sich um, wobei ihr der Mund offen stand. Erwin schob sich hinter ihr ins Haus und verharrte neben ihr.

Staub eines ganzen Jahres hatte sich auf der Einrichtung abgelegt. Sie würden Stunden brauchen, um sich einzurichten.
 

„Wir hätten den Putzteufel mitnehmen sollen“, murmelte Freya fassungslos.
 

„Putzteufel?“, fragte Erwin irritiert, ehe er verstand und lachte. „Du meinst Levi?“
 

„Mike hat mich vor seinem Fetisch gewarnt.“
 

Erwin ging zum Fenster, wobei seine Schritte Staub aufwirbelten und dunkle Abdrücke hinterließen, welches er umgehend öffnete. „So schlimm wird es schon nicht werden.“
 

Schneller als gedacht hatten sie ihr Haus auf Vordermann gebracht. Daher gönnten sie sich ein deftiges Essen in der Schenke, in der sie früher oft gespeist hatten. Allerdings dämmerte es bereits, als sie diese wieder verließen. In Erinnerungen schwelgend spazierten sie durch die dunkler werdenden Gassen, die durch das Licht der Häuser, das durch die Fenster fiel, beleuchtet wurden.
 

Wieder zu Hause ließ Freya sich in dem Schaukelstuhl vor dem Kamin, in dem ein Feuer brannte, nieder und las in einem Buch. Die Flammen tauchten den Raum in ein romantisches Licht. Zusammen mit ihnen vertrieben einige Kerzen die Dunkelheit, die sich durch die Fenster ins Haus drückte.

Währenddessen saß Erwin am Küchentisch und studierte in seinen Papieren, die er mitgebracht hatte. Er ließ ein nachdenkliches Brummen vernehmen, während er mit dem Daumen über sein Kinn strich.
 

Neugierig hob Freya den Blick und sah zu ihm. „Arbeitest du?", fragte sie grantig, wobei sie das Buch zuklappte.
 

Wieder brummte Erwin nur, wendete seine Aufmerksamkeit allerdings nicht von seinen Papieren.

„Sollte das hier nicht eine Auszeit werden?", erinnerte sie ihn an seine Worte vom Vortag fragend.
 

Sie schlug die dünne Wolldecke, die sie sich um die Beine gewickelt hatte, beiseite und stand auf. Barfuß tapste sie zu ihm, wo sie sich hinter ihn stellte und über seine Schulter auf die Pergamente spähte. Ihre Unterarme legte sie auf seinen Schultern ab und positionierte ihren Kopf neben seinem. Sie erkannte, dass er sich der Teamaufteilung gewidmet hatte. Jedoch standen noch nicht viele Teams fest, abgesehen von ihrem und dem des Kommandanten.
 

„Es ist grade ein schlechter Zeitpunkt für eine Auszeit", murmelte er gedankenverloren.
 

„Wieso bist du dann mit mir hierher gekommen?", wollte sie von ihm wissen. Schließlich hätte sie allein hierher kommen können, wenn er so viel zu tun hatte.
 

„Wer weiß, wann wir das nächste Mal Gelegenheit dazuhaben werden." Auch, wenn er wann gesagt hatte, hörte sie das Ob deutlich heraus. Bei jedem Verlassen der Mauern konnte einem von ihnen, oder sogar beiden, etwas zustoßen, was eine Rückkehr an diesen Ort unmöglich machte. Jedoch hofften sie, dass es dazu nicht kommen würde.
 

„Wieso machst du die Aufteilung und nicht der Kommandant?"
 

Ein kaum wahrnehmbares Seufzen entwich seiner Kehle. „Kann ich dir etwas anvertrauen, das du nicht weitergibst?"
 

„Was ist das denn für eine Frage?", stieß sie empört aus, während sie sich wieder aufrichtete.
 

Erwin neigte den Kopf, sodass ihre Blicke sich trafen. „Nach dieser Expedition wird der Kommandant zurücktreten", gab er preis.
 

Freya überlegte, was das heißen sollte. „Wird ja auch langsam mal Zeit. Er ist ganz schön alt geworden."
 

„Danach werde ich der Kommandant des Aufklärungstrupps sein." Den Blick wendete er wieder auf die Schriftstücke vor ihm.

Ihre Arme legten sich um seinen Oberkörper und er spürte ihre Wärme in seinem Rücken.
 

„Das freut mich für dich! War es nicht das, was du wolltest?"
 

Er antwortete nicht, sondern tippte mit dem unangespitzten Ende des Bleistiftes in seiner Hand auf die Tischplatte. Natürlich war es das was er wollte, doch nahm er mit dieser Tätigkeit einen großen Haufen Verantwortung auf sich. Er würde über Menschenleben entscheiden und der Obrigkeit zufriedenstellende Resultate vorzeigen müssen.
 

„Zweifelt etwa jemand an dir? Wem soll ich den Arsch aufreißen?", fragte sie, woraufhin er lachen musste.
 

„Du hast so hart daraufhin gearbeitet und ich kenne keinen, der so fähig ist wie du. Im Gegenteil zu vielen anderen siehst du nicht nur dich und deine Angelegenheiten, sondern das große Ganze und denkst an die, die nicht für sich selbst sprechen können.“ Verwundert über ihre Worte sah er auf.

„Niemand hat es so sehr verdient wie du“, flüsterte sie in sein Ohr.
 

Dieser eine Satz, hatte eine immense Wirkung auf ihn. Sein Herz schlug höher und ein Kribbeln breitete sich über seine Haut aus, sodass ihm die feinen Härchen der Unterarme zu Berge standen. Allerdings ließ er sich nichts davon anmerken, wendete den Kopf nur so, dass er ihn ihre grauen Augen blicken konnte.

Ein Lächeln hatte sich auf ihre Lippen gelegt, welches bis in ihre Augen ausstrahlte. Erwin realisierte, dass nicht seine Freya von damals zurückgekehrt war. Auch wenn sie noch alle Charaktereigenschaften von früher aufwies, hatte sie sich verändert. Sie hatte sich zu einer starken, attraktiven Frau entwickelt. Eine Frau, die nicht mehr nur eine Freundin für ihn war. Eine Frau, die er begehrte. Sie verharrten in ihrer Position und der Moment verstrich.
 

Unerwartet richtete sie sich auf und sofort vermisste er die Wärme ihres Körpers auf dem seinem.

„Ich bin müde“, verkündete sie und schritt zurück zum Schaukelstuhl, wo sie sich die Decke um die Schultern legte und das Buch zur Hand nahm. Noch einmal drehte sie sich zu ihm um, wünschte ihm eine gute Nacht, ehe sie die hölzerne Treppe zu ihrem Schlafgemach empor stieg.
 


 

• Shiganshina, 845
 

Tanz der Sorglosen

Am nächsten Tag war Freya früh auf den Beinen. Mal wieder dröhnte ihr Kopf, was nicht unüblich für sie war, doch hatte sich an diesem Morgen noch Übelkeit dazugesellt. Wahrscheinlich der Stress der letzten Wochen, redete sie sich zumindest ein, während sie sich anzog.

Oder eher die Gedanken der letzten Nacht.

Lange hatte sie noch wach gelegen und über den gestrigen Abend nachgedacht. Über Erwin, über ihre Nähe zueinander. Es hatte sie irgendwie nervös gemacht und aufgeregt, doch hatte sie nicht aufhören können, an ihn zu denken.
 

Im Stillen schallt sie sich für ihre Gedanken, gleichzeitig schlüpfte sie in ein paar Schuhe. Auf dem Weg nach draußen huschte sie an Erwins Zimmer vorbei, dessen Türe einen Spalt breit geöffnet war. Sie konnte einfach nicht vorbei gehen, ohne einen Blick hinein zu werfen.

Den tiefen Atemgeräuschen nach zu urteilen, die aus dem Raum zu vernehmen waren, schlief er noch, während die ersten Sonnenstrahlen des Tages durch das Fenster drangen. Sein blonder Haarschopf war zwischen all den Kissen und Decken kaum auszumachen, was ihr als leidenschaftlicher Morgenmuffel ein Grinsen ins Gesicht zauberte. Gewiss würde er demnächst erwachen und sein Vorhaben für den Tag aufnehmen.
 

Leise stieg sie die Treppe hinab, wobei einzelne Stufen knarzten und sie befürchtete, sie würde Erwin wecken. Unten angekommen legte sie sich ihren Umhang um, schnappte sich einen geflochtenen Holzkorb und trat hinaus in die kühle Morgenluft, die ihre Geister allmählich aufleben ließ. Die Kopfschmerzen verflüchtigen sich und von der Übelkeit war nichts mehr vorhanden.
 

Auf dem Weg zum Wochenmarkt begegneten ihr einige bekannte Gesichter, sowie fremde Händler, die ihre Waren zum Verkauf auf den Marktplatz brachten. Aufmerksam betrachtete sie die Häuser und die Menschen, suchte nach Veränderungen, fand jedoch nicht viele, was eine beruhigende Wirkung auf sie hatte. Es war schön zu wissen, dass einiges so geblieben war, wie es vor ihrer Zeit abseits der Heimat gewesen war.

Obwohl sie große Ziele hatte und die Welt außerhalb der Mauern kennen lernen wollte, war es immer wieder angenehm nach Hause zu kommen und diese Vertrautheit zu spüren.
 

Die ersten Stände kamen in Sicht und die Rufe der Verkäufer, die ihre Waren anpriesen, schallten durch die Gassen. Zielsicher bahnte Freya sich ihren Weg durch die Menschenmassen, die mittlerweile unterwegs waren. Die Sonne kämpfte sich durch die Wolken und erwärmte die Luft und die Gemüter der Menschen. Der Duft von Blumen und Gewürzen erfüllte die Luft, während ein leichter Wind die Stoffe der Tuchhändler zum Tanz aufforderte.
 

Sie ergatterte all die Waren, auf die sie sich so sehr gefreut hatte, unterhielt sich mit alten Bekannten und genoss das altvertraute Umfeld.
 

Gegen Mittag machte sie sich gemächlich auf den Heimweg. Unterwegs kam sie an einem weitern Dorfplatz vorbei, dessen Zentrum ein Brunnen bildete. Er war verwaist, da die meisten Bewohner zu dieser Zeit auf dem Markt oder zu Tisch waren. Nur eine junge Frau, die ein Kind an der Hand hielt, kam über den Platz auf sie zu.
 

Freya blieb stehen, legte den Kopf auf eine Seite und lachte überrascht auf, als sie die Person erkannte.

„Valerie, ich hab dich fast gar nicht erkannt“, begrüßte sie ihre Freundin.
 

„Schön dich mal wieder zu sehen, Freya“, lächelte ihr die Blonde entgegen und umarmte sie herzlich, wobei Freya sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen musste, denn ihre Freundin war ihrer Meinung nach riesig.

Die beiden Frauen hatten sich kurz nach Freyas Einzug bei Erwin kennen gelernt und sich auf Anhieb gut verstanden. Leider war der Kontakt nach Beginn ihres Studiums abgebrochen, was Freya bedauerte.
 

Sie sah zu dem kleinen Jungen, der sich hinter ihrer Freundin versteckte. Als er vorsichtig hinter ihren Beinen hervorlugte, erkannte sie, dass er Valerie wie aus dem Gesicht geschnitten war. „Ist das deiner?“, fragte sie überrascht.

„Ja.“ Valeries Wangen wurden rot. „Ich habe Daniel geheiratet, den Schmiedsjungen.“
 

„Wow, ich war viel zu lange weg“, stellte Freya fest. „Erzähl mir davon!“
 

So erzählte Valerie von der Hochzeit mit ihrem Mann, der nun selbst Schmied war, und der Geburt ihres ersten Sohnes, sowie von der neuerlichen Erkenntnis einer weiteren Schwangerschaft. Gespannt lauschte sie ihren Erzählungen, berichtete über ihre Zeit in Stohess und den kurzen Ausflug mit Erwin.
 

„Wie läuft es denn mit euch?“, fragte Valerie.
 

„Was soll denn da laufen?“, stellte Freya daraufhin die Gegenfrage.
 

Valerie lachte auf. „Wollen Erwin und du es nicht langsam mal offiziell machen?“
 

Die junge Ärztin versuchte die Hitze, die in ihr aufstieg, niederzukämpfen. „Du spinnst doch“, schimpfte sie, doch verriet sie ihr rotes Gesicht. Das Valerie auch unbedingt auf dieses Thema zu sprechen kommen musste. .

Ihre Freundin lachte herzhaft und kniff ihr in den Oberarm. „Schade, dass du so bald schon wieder abreist.“
 

„Das finde ich auch“, sagte Freya und es war die reine Wahrheit. Sie bedauerte so wenig Zeit an diesem Ort mit ihren Freunden verbringen zu können.
 

Langatmig verabschiedeten sie sich voneinander und setzten ihre Wege fort. Freya dachte dabei an Valeries Worte und umfasste mit der freien Hand den Anhänger der Kette, die Erwin ihr geschenkt hatte.
 

Als sie zu Hause ankam, saß Erwin wie am Vorabend am Küchentisch und brühtete über seinen Schriften und Aufzeichnungen. Er blickte auf, als sie die Küche betrat und den Einkaufskorb abstellte.

„Wie ich sehe, warst du fleißig“, stellte er fest, wobei ein Lächeln auf seinen Lippen lag, da er den vollen Korb musterte.
 

„Und wie ich sehe, warst du zu fleißig.“ Sie deutete auf seinen Papierkram. „Du solltest dir auch mal eine Pause gönnen, das schadet dem Körper nicht.“
 

„Gut“, sagte er, nahm jedoch den Stift wieder zur Hand und notierte etwas. Irritiert sah sie ihn an, zog die Augenbrauen zusammen und die Mundwinkel nach unten. Dieser Gesichtsausdruck amüsierte ihn.

„Dann lass uns heute Abend auf den Marktplatz gehen“, setzte er fort.
 

An jedem Tag, an dem der Wochenmarkt abgehalten wurde, wurde abends Musik gespielt. Die Leute tanzen und Kaufmänner erfreuten sich über ihren Gewinn und neue Handelsabkommen.
 

Freyas Augen leuchteten auf, während sich ihre Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen. „Wehe du hältst dein Versprechen nicht“, drohte sie ihm mit dem Zeigefinger, bevor sie anfing die Einkäufe zu verräumen.

Erwin widmete sich erneut seiner Arbeit, inzwischen kochte Freya all die Köstlichkeiten, auf die sie so lange hatte verzichten müssen.
 

Später schob sie Erwin einen Teller mit Lachs und Brot vor die Nase, setzte sich zu ihm und sie speisten zusammen. Allerdings konnte er selbst dann nicht von seiner Arbeit ablassen.

Erneut dachte sie an ihre Freundin und konnte nicht verhindern sich ein Leben mit Erwin vorzustellen. Auf dem Bild vor ihrem inneren Auge saßen noch zwei Kinder mit ihnen am Tisch sitzen. Ein Junge mit dem blonden Haar seines Vaters und ein Mädchen, das ihre roten Locken geerbt hatte. Erwin als Kommandant des Aufklärungstrupps und sie als Mutter und ländliche Ärztin mit eigener kleinen Praxis.
 

Freya stoppte in ihrer Kaubewegung und ließ das Bild auf sich wirken. Erwin bemerkte dies und wandte sich ihr zu. „Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte er, wodurch sich das Bild in ihrem Kopf auflöste.
 

„Ich hatte gerade nur Schwachsinn im Kopf“, winkte sie ab. Sie war Ärztin und Soldatin, kein Hausfrauchen. Und doch hatte ihr diese Vorstellung ein klein wenig gefallen.
 

Gemächlich versank die Sonne hinter den Mauern, als Erwin und Freya zum Marktplatz schlenderten. Dort hatte man unzählige Laternen angezündet, die für ein romantisches Licht sorgten, und Musiker spielten ihre Lieder. Eine ausgelassene und freudige Atmosphäre hing in der Luft.
 

Sie holten sich jeder einen Becher Wein und ließen sich auf hölzerne Kisten nieder, die am Rande des Platzes standen. Amüsiert beobachteten sie die Menschen und sich herum, wie sie lachten, tanzten und feierten. Plötzlich trat Valerie aus der Menschenmenge hervor, schnappte sich Freya und zog sie ins Getümmel. Von da an erhaschte Erwin nur noch gelegentlich einen Blick auf die zwei Frauen, die gackerten wie die Hühner. Als ein neues Lied angestimmt wurde, zog Freya ihre Freundin auf die Tanzfläche und sie tanzten so frei von jeglichen Sorgen und Ängsten, als hätten sie in der Welt nichts zu befürchten. Der Saum ihres Kleides flog auf, wenn sie sich drehte und ihre roten Locken hüpften bei jedem ihrer Schritte.
 

Er erkannte Valeries leicht gewölbten Bauch, Freya hatte ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt. Bei diesem Anblick konnte er nicht umhin dich vorzustellen, wie Freya aussehen würde, wenn sie ein Kind in sich tragen würde. Ohne es beeinflussen zu können schlug sein Herz höher.

Doch statt in Träumereien zu verfallen, rief er sich seine bevorstehende Beförderung in den Sinn. Es war absolut nicht an der Zeit eine Familie zu gründen, schon gar nicht mit einer Frau, die ihm unterstellt war und somit unter seinem Schutz stand. Beziehungen unter den Soldaten wurden nicht gerne gesehen, besonders nicht beim Aufklärungstrupp, da sie das Denken und das Handeln beeinträchtigten. Es war einfacher, den Partner zu Hause zu wissen und nicht während einem Massaker neben ihm zu stehen, wo man vor lauter Sorge um den anderen leicht Fehler machte.

Ein Seufzen entwich seiner Kehle. Egal wie es mit ihnen weitergehen würde, war eins jedoch sicher: Er würde sich immer um sie sorgen, ganz gleich wo sie war und was sie tat.
 

Ein korpulenter Körper schob sich in sein Blickfeld, was ihn aufsehen ließ. Vor sich erkannte er Johan Larsson von der Mauergarnison, der mit ihm die Ausbildung beim Militär durchgestanden hat.

„Das du dich auch mal wieder blicken lässt", sagte sein ehemaliger Mitstreiter.
 

Johan zählte nicht unbedingt zu Erwins Freunden, er war eher ein Nachbar, mit dem er sich gut verstand, jedoch hatten sie eine gemeinsame Vergangenheit, die sie miteinander verband.
 

Sie unterhielten sich. Johan erzählte von alten Zeiten und Erwin von der Schönheit außerhalb der Mauen. Erstaunlich wie unterschiedlich sie doch waren.
 

Irgendwann fiel Erwin auf, dass er Freya des längeren nicht mehr gesehen hatte. Er verabschiedete sich von Johan und schritt zu Valerie, die sich mit einem jungen Mann unterhielt, und fragte nach Freya.
 

„Sie ist nach Hause gegangen, sie fühlte sich nicht gut", informierte sie ihn. Er bedankte sich und trat ebenfalls den Heimweg an.
 

Dort angekommen stieg er die Treppen zu ihren Schlafgemächern empor. Ohne anzuklopfen schob er die Tür zu ihrem Zimmer auf. Er machte sie vor dem Fenster aus. Sie war ihn ein Nachthemd gekleidet und hatte eine dünne Decke um die Schultern gewickelt, während sie hinaus auf die Straße sah. Nach wenigen großen Schritten stand er hinter ihr und blickte ebenfalls in die dunkle Nacht. In der Ferne konnte man die Lichter des Festes über die Dächer leuchten sehen.
 

Ein Moment des Schweigens, ehe er die Stille brach. „Valerie sagte, du fühlst dich nicht wohl."
 

„Alles halb so schlimm. Ich glaube, ich habe einfach zu wild getanzt", sagte sie.
 

Erwin sah ihr Spiegelbild auf der Fensterscheibe und anhand des Ausdrucks in ihren Augen lag es ganz sicher nicht an dem Tanz.
 

„Du bist aufgeregt", stellte er fest. „und fürchtest dich."
 

Langsam bewegte sie den Kopf, sodass sie über die Schulter zu ihm aufsehen konnte. „Das zeugt von gesundem Menschenverstand, oder?"
 

„Du brauchst dich nicht zu sorgen. Levi ist ein guter Soldat, er wird seine Aufgabe ernst nehmen und dir guten Schutz bieten."
 

„Die Angst vor dem Tod ist nicht meine größte Furcht. Ich fürchte mich davor zu sterben, bevor ich etwas erreicht habe", vertraute sie ihm an, wobei sie sich ihm nun ganz zuwendete.
 

„Das braucht du nicht", sagte er und sah ihr in die Augen. Freya wich seinem Blick jedoch aus. So umfasste er ihr Gesicht mit beiden Händen und hob es an, damit sie gezwungen war ihn anzusehen. „Du hast bereits viel erreicht."
 

Ihre Augen musterten sein Gesicht, suchten nach einem Hinweis, der seine Worte widerlegte, doch wurde sie nicht fündig. Stattdessen las sie so viel in dem Blau seiner Augen. Sie drohte darin zu versinken und sich komplett zu vergessen.

Es war, als würde eine unsichtbare Hand sie nach oben ziehen, so dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste. Noch nie war ihr sein männlicher Duft so bewusst gewesen und noch nie hat sie Wärme, die er ausstrahlte, sie so sehr erhitzt.

Automatisch wanderte ihre Aufmerksamkeit auf seine Lippen. In diesem Moment bemerkte sie, wie nah sie sich waren. Im selben Augenblick spürte sie auch, wie etwas nasses durch ihre Nase lief, bis es ihre Oberlippe erreichte.
 

Hastig legte sie den Handrücken vor das Nasenloch und drehte den Kopf weg. „Wir sollten zu Bett gehen, wir haben morgen einen langen Ritt vor uns", sprach sie, während sie zum Nachttisch ging und ein Taschentuch hervor holte.
 

„Bist du in Ordnung?", fragte Erwin verunsichert. Sofort war er an ihrer Seite und legte eine Hand auf ihren Rücken.
 

„Ja. Ich denke, ich habe mich ein wenig verkühlt", erklärte sie und hielt das Tuch an die Nase.
 

Nun war es an ihm, sie zu kritisch mustern. „Ich bin ok", versicherte sie ihm.
 

„Ruf mich, wenn etwas ist", verlangte er von ihr und sah sie streng an. Auf ihr nicken hin, zog er sich aus ihrem Zimmer zurück.
 

Freya wartete bis sie die Tür ins Schloss fallen hörte und nahm dann das Tuch von der Nase. Dunkle, rote Flecken hatten sich auf dem strahlendem Weiß ausgebreitet.

Sie warf einen prüfenden Blick Richtung Tür, sah dann wieder auf das Blut an Hand und Tuch.

Rangeleien

Am nächsten Morgen stieg Freya die Treppen mit Herzklopfen hinab. Sie musste an den Vorabend denken und daran, zu was sie sich beinahe hatte hinreißen lassen. Hoffentlich würde Erwin sie nicht darauf ansprechen, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
 

Als sie unten ankam, entdeckte sie die gepackten Taschen. Überrascht hielt sie nach Erwin Ausschau, der in der Küche etwas Proviant für den Tag zusammen packte. „Du brichst schon auf?", fragte sie erstaunt.
 

„Ja, denn wir haben noch etwas wichtiges zu erledigen", ertönte plötzlich eine männliche Stimme hinter ihr, die nicht zu Erwin gehörte. Erschrocken drehte sie sich um und sah Mike vor ihr stehen.
 

„Eine ganz scheußliche Angewohnheit, die du da hast", knurrte sie ihn an. Es war nicht das erste Mal, das er die von hinten überraschte und anscheinend gefiel es ihm.
 

„Nur Menschen, die etwas böses im Sinn haben, lassen sich erschrecken", flötete er und schob sich an ihr vorbei.
 

„Die Pferde sind soweit, wir können los", sagte er an Erwin gewandt.
 

Dieser nickte. „Ich komme sofort." Daraufhin verschwand Mike wieder nach draußen.
 

Nun galt seine Aufmerksamkeit Freya. „Der Kommandant hat nach mir geschickt, allerdings weiß ich auch nicht mehr, als dass es wichtig ist", erklärte er. „Du solltest auch bald aufbrechen, es sieht nach Regen aus."
 

„Das werde ich", antwortete sie noch immer überrumpelt.
 

„Außerdem solltest du das Training mit Levi schnellstmöglich aufnehmen, damit ihr bestens vorbereitet seid", wies er sie an.
 

Freya wusste gar nicht wie ihr geschieht. „Was?"
 

„Wir sehen uns dann dort." Sie bekam noch einen kurzen Blick zugeworfen und schon war er aus der Tür verschwunden.
 

Die Tür fiel ins Schloss und sie war allein. Für einen Moment überlegte sie, ob sie ihm nachgehen sollte, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Stattdessen eilte sie ans Fenster und als sie hinaus lugte, sah sie, wie Erwin sich auf sein Pferd schwang und ohne einen Blick zurück davon ritt.
 

Was habe ich falsch gemacht?, war die Frage, die Freya sich immer wieder stellte.
 

Auch später, als sie auf ihrem Pferd saß, wusste sie keine Antwort auf diese. Hatte sie ihn gekränkt am Vorabend? Oder verhielt er einfach wie der zukünftige Kommandant des Aufklärungstrupps und sie interpretierte zu viel in sein professionelles Verhalten? Sie beschloss bei passender Gelegenheit ihn darauf anzusprechen.

Aber vorher solltest du dir deiner Gefühle klar werden, sagte ihr eine innere Stimme.
 

Missgestimmt zog sie die Mundwinkel gen Boden. Gott, war das alles kompliziert.

Zu allem Überfluss öffnete in diesem Moment der Himmel seine Schleusen und es begann wie aus Eimern zu schütten.

"Auch das noch", grummelte Freya und zog sich die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf. Anscheinend taugte Erwin auch als Wetterfrosch.
 

Stunden später kam sie nass bis auf die Knochen an der Donnerburg an, die als momentanes Hauptquartier des Aufklärungstrupps diente. Sie führte ihr Pferd in den Stall, wo sie eine angenehme Wärme empfing. Es roch nach frischem Heu und nach den warmen Körpern der Tiere.

Freya führte den Rappen in seine Box, wo sie den Sattelgurt löste.
 

„Wird auch mal Zeit, dass du ankommst", ertönte eine Stimme hinter ihr.
 

Ruckartig wandte sie sich um und machte Levi im Eingang zur Box ausfindig. Warum auch immer, aber ihre Laune erreichte den Tiefpunkt. Das Levi sie aufsuchte konnte nur Arbeit bedeuten. Arbeit, für die sie gerade keinen Nerv hatte.

„Hast du mich vermisst oder was?", knurrte sie ihn an, während sie den Sattel vom Pferd hob.
 

„Erwin möchte, dass wir mit dem Training beginnen."
 

Für den Zeitraum eines Herzschlags starrte sie ihn fassungslos an.

„Darf ich bitte erstmal richtig ankommen? Wie du siehst, hatte ich keine angenehme Reise." Sie deutete auf ihre Kleidung, die vor Matsch nur so triefte.
 

Das Wetter während ihrer Rückreise war zwischendurch so schlecht geworden, dass sie von Pferd absteigen und es führen musste. An einem schmalen Bachlauf mutierte ihr Hengst zum Esel und sträubte sich über den Wassergraben zu gehen. Freya, die bereits auf der anderen Seite stand, zerrte an den Zügeln und redete auf ihn ein, doch es half alles nichts.

„Bist du nicht willig, so wende ich Gewalt an", hatte sie ihm gedroht. Anscheinend hatte er sie verstanden, denn sobald sie zurück auf seine Seite gehüpft war, hatte das Tier einen Satz nach vorne gemacht. Freya, deren Hände die Zügel fest umklammert hielten, wurde mitgerissen und landete der Länge nach mit dem Gesicht voran im Dreck.
 

Levi musterte sie abschätzig und verzog beim Anblick ihrer versauten Kleidung den Mund. „Das kommt davon, weil du dein Pferd nicht unter Kontrolle hast."
 

„Ich habe mein Pferd sehr wohl unter Kontrolle", stellte sie klar, wobei sie die Arme vor der Brust verschränkte.

Natürlich musste der Gaul das genaue Gegenteil beweisen. Er stupste Freya mit dem Kopf gegen ihren Rücken, sodass diese das Gleichgewicht verlor und nach vorne fiel. Der erwartete Aufprall blieb aus, stattdessen legten sich zwei starke Arme um ihren Oberkörper.

Vorsichtig öffnete sie die Augen und begegnete Levis Blick, der sie regelrecht verspottete. Doch meinte sie noch etwas anderes darin auszumachen. Durch die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, bemerkte sie, wie durchgefroren sie war.
 

„So viel zu deiner Kontrolle", murrte er mit tiefer Stimme. Freya glaubte, die Vibrationen seiner Stimmbänder auf seiner Brust spüren zu können, was ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken jagte. Sie bekam weiche Knie.
 

Gott Freya, reiß dich zusammen! Der Kerl ist doch völlig bescheuert!, schrie ihr Unterbewusstsein sie an.
 

Langsam schob Levi sie zurück, was sie aus ihrer Trance erwachen ließ. „Pah, als hättest du 'ne Ahnung“, bellte sie ihn an. Hastig drehte sie sich um und begann die Riemen der Trense zu lösen.
 

„Du hast eine Stunde“, äußerte er, „dann fangen wir an.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und stiefelte hinaus in den kalten Regen.
 

„Vergiss es“, zischte sie ihm noch hinterher.
 


 

Nachdem ihr Pferd versorgt war, nahm Freya ein warmes Bad, das sie bitter nötig hatte. Die Kälte war ihr bis in die Knochen gekrochen. Das warme Wasser war eine Wohltat für ihren durchgefrorenen Körper.

Danach kuschelte sie sich ins Bett und nahm ihr Buch zur Hand. Sie schlug eine beliebige Seite auf, betrachtete die wunderschöne Illustration und las sorgsam den dazugehörigen Text, auch wenn sie ihn schon in- und auswendig kannte.
 

Es dauerte nicht lange, da flog die Tür zu ihrem Zimmer auf. Ein mehr als nur mies gelaunter Levi stand im Türrahmen und sah ihr feindselig entgegen.

„Ja bitte?“, fragte sie mit lieblicher Stimme.
 

„Du hast anscheinend vergessen, dass wir verabredet waren“, knurrte er gefährlich, während er einem Raubtier gleich in ihr Zimmer trat.
 

„Ich erinnere mich dir abgesagt zu haben“, sagte sie zuckersüß. Trotz seiner undurchdringlichen Miene merkte sie, wie sie ihn zur Weißglut trieb. Freya genoss es und grinste amüsiert.
 

Levi ließ sich ganz cool auf einen Stuhl nahe des Fensters sinken, schlug die Beine übereinander und musterte sie skeptisch. Ihm war bewusst, dass sie ihn aus der Fassung bringen wollte, dafür sprach allein schon ihre Bluse, bei der man vielleicht einen Knopf mehr hätte schließen sollen, denn ihr Ausschnitt ließ den Ansatz ihrer Brüste erkennen, wodurch so manche Fantasie geweckt wurde.

„Meinst du, ich habe Lust den Aufpasser für dich zu spielen?“
 

Sie antwortete nicht. Stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust, was ihren Busen noch mehr betonte, und zog eine feine Augenbraue in die Höhe.
 

Dieses Miststück, fluchte er gedanklich und verengte die Augen.

„Wenn ich schon mal da bin, können wir uns auch hier besser kennen lernen“, wiederholte er Erwins Worte, anstatt seine Gedanken auszusprechen.
 

„Du fragst jetzt aber nicht nach meiner Lieblingsfarbe?“
 

„Nimmst du diese ganze Sache überhaupt ernst?“, stellte er die Gegenfrage.
 

„Ab Morgen, heute habe ich schließlich noch frei“, informierte sie ihn und wandte sich demonstrativ ihrem Buch wieder zu.
 

Erneut musterte er sie. „Du bist störrisch“, stellte er fest.
 

„Ja, ist einer meiner Stärken“, sagte sie ganz nebenbei, ohne den Blick von den Seiten zu heben.
 

„Was sind deine weiteren Stärken?“
 

Mit zu Schlitzen verengten Augen sah sie ihn an. „Du bist genauso dickköpfig“, maulte sie ihn an.
 

„Antworte!“
 

Freya legte das Buch in den Schoß und nahm eine aufrechte Position ein. Wenn sie ihn schon nicht vertreiben konnte, dann wollte sie ihn wenigstens noch etwas ärgern.

„Ich kenne meinen Körper gut und weiß ihn einzusetzen“, teilte sie mit, wobei sie seine Reaktion genau beobachtete.

Wie immer war seine Miene undurchdringlich, doch war ihr nicht entgangen, wie seine Augen für den Bruchteil einer Sekunde zu ihrem Ausschnitt gehuscht war. Er war eben auch nur ein Mann.

Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Auch auf diese Weise“, flüsterte sie verführerisch.
 

Miststück, hallte es abermals in seinem Kopf wieder. Er durchschaute sie, wusste, dass sie ihr Spielchen mit ihm treiben wollte, und das Ärgerliche daran war, dass sie damit Erfolg hatte. Genau in diesem Moment musste er sich eingestehen, wie sexy er sie fand. Die aufgeknöpfte Bluse, das nasse Haar hochgesteckt, sodass einzelne Locken ihr Gesicht umrahmten, ihre grauen Augen, die flüssigem Silber ähnelten, und dazu das laszive Lächeln auf den vollen Lippen.

„Aha“, gab er ungerührt von sich, innerlich tobte er. Am Liebsten würde er ihr dafür den Hals umdrehen.
 

Mit der Zunge schnalzend erhob er sich von dem Stuhl und ging lässig auf sie zu. Mal sehen, ob sie noch so ein großes Maul hatte, wenn er direkt vor ihr stand. Er kam neben ihrem Bett zum Stehen, von wo aus er einen noch verlockenderen Ausblick auf ihr Dekolleté hatte. Dabei fiel ihm das Buch auf, das in ihrem Schoß lag.
 

„Was liest du da?“, fragte er und deutete darauf.
 

Sofort schlug sie die Seiten zu und zog es aus seiner Reichweite. „Das geht dich nichts an“, fauchte sie.
 

Sieh an, hatte er da etwa einen Schwachpunkt entdeckt. Na dann wollen wir den Spieß mal umdrehen.

Mit einem Knie stützte er sich auf dem Bett ab, beugte sich vor und griff nach dem Buch. Freya versuchte mit aller Macht ihn davon abzuhalten. Mal wieder brach ein Handgemenge zwischen ihnen aus, in dem keiner der Beiden nachgeben wollte.
 

Zu Levis Überraschung ließ sie urplötzlich das Buch fallen, umfasste mit beiden Händen seinen Nacken und drückte dort den Punkt, wie schon Tage zuvor. Ein Kribbeln fuhr seiner Wirbelsäule entlang, das sich rasant in seinem Körper ausbreitete. Diesen Augenblick nutzte sie, um seine Arme zu packen, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und unter sich festzunageln. Triumphierend thronte sie auf seinem Bauch und hatte mit ihren nackten Beinen seine Arme eingeklemmt, sodass er sie nicht bewegen konnte.
 

„Habe ich nicht gesagt, dass ich meinen Körper einzusetzen weiß?“, fragte sie, als wäre sie die Unschuld vom Lande. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schenkte ihm ein fieses Lächeln.
 

Leider war sie nicht besonders vorausschauend. Levi rammte ihr eines seiner Knie in den Rücken, weshalb sie nach vorn stürzte und ihren Klammergriff lockerte. Nun war er es, der sie unter sich festhielt. Mit seinem Körpergewicht drückte er sie tief in die Laken, während er ihre Arme mit den Händen oberhalb ihres Kopfes fixierte.
 

Erstaunt sah sie ihn aus großen Augen an. Mit einem Überfall seinerseits hatte sie absolut nicht gerechnet.
 

„Wenn das mit uns funktionieren soll, solltest du mal eine bescheuerten Späßchen sein lassen“, wies er sie zurecht.
 

Wie zuvor im Stall rief der Klang seiner Stimme ihrem Ohr so nahe eine Gänsehaut bei ihr hervor, was durch seinen warmen Atem auf ihrer Haut nur verstärkt wurde. Der Druck seines Leibes auf ihrem, war keineswegs unangenehm. Im Gegenteil. Sie empfand es als aufregend und verlockend, was sie ein wenig erschreckte. Hatte sie ihn nicht kürzlich erst für bescheuert erklärt? Wieso fühlte sie dann dieses berauschende Knistern zwischen ihnen? Sie sah ihm in die dunklen, geheimnisvollen Augen und suchte darin nach einer Antwort.
 

Unerwartet klopfte es an der Tür, weshalb sie sich schlagartig voneinander trennten. Freya hatte ihren vorherigen Platz wieder eingenommen und Levi sich am Fenster aufgestellt, ehe die Tür sich öffnete und Erwin eintrat.

Sofort bemerkte dieser die Spannung zwischen beiden, weswegen er sie kritisch musterte. „Bei euch alles in Ordnung?“, fragte er misstrauisch.
 

„Ja, wir sind hier fertig“, antwortete Levi gefasst, wie immer. Ohne ein Wort des Abschieds, schob er sich an Erwin vorbei aus dem Zimmer.
 

Erwin sah ihm nach, wandte sich zu Freya und schloss die Tür. „Alles klar?“
 

„Ja“, bestätigte sie.
 

„Was habt ihr gemacht?“ Er ließ sich auf der Bettkante neben ihr nieder.
 

„Ich glaube“, begann sie stockend, „wir haben gerade die Rangordnung unter uns ausgemacht.“
 


 

• Donnerburg, 845
 

Training

Der nächste Tag sollte einer der schlimmsten in Freyas Leben werden. Nicht nur, dass Erwin sich ihr gegenüber verhielt wie eh und je, was sie total verunsicherte, anscheinend hatte sie es mit ihrem Spielchen ein wenig zu weit getrieben, denn Levi zeigte beim gemeinsamen Training keine Gnade.
 

„Dann zeig mir mal, wie gut du deinen Körper einsetzen kannst", waren seine Worte gewesen, mit denen der Alptraum begann.
 

„Hätte ich doch bloß nichts gesagt", murmelte sie, während sie die ersten Runden lief.
 

Nach dem Aufwärmen stand Krafttraining auf dem Programm. Levi ließ sie wirklich leiden – Crunshes, Liegestütz, Kniebeugen, Stretching – jeder einzelne Muskel in ihrem Körper wurde beansprucht und das nicht zu knapp. Mittlerweile war sie an einem Punkt angekommen, wo sie über eine Pause sehr dankbar wäre.
 

Du hast die letzten 5 Jahre lieber Kuchen gegessen, als deinen Körper fit zu halten, tadelte sie ihr Unterbewusstsein, selber schuld.

Sie verharrte in der Liegestütz mit ausgestreckten Armen und versuchte zu Atem zu kommen. Ihre Muskeln zitterten vor Anstrengung, während Schweiß von ihrer Nasenspitze tropfte.
 

„Weiter", forderte Levi schroff.
 

Freya zögerte, da sie befürchtete, sie würde die Kraft für eine weitere Liegestütz nicht finden, was direkt von ihm bestraft wurde. Ein Fuß drückte sich zwischen ihre Schulterblätter in ihren Rücken und schon lag sie mit dem Gesicht im Dreck.

Arschloch, schrie alles in ihr. Er wollte sich für gestern revanchieren, ok, aber das ging zu weit.

Wut breitete sich in ihrem Körper aus, wie am Vortag die Gänsehaut. Deutlich konnte sie die Hitze wahrnehmen, die ihrem Nacken emporstieg. Energisch biss sie die Zähne zusammen. Sie schöpfte Kraft aus dieser Wut und stemmte sich gegen sein Gewicht wieder nach oben. „Nimm deinen Scheißfuß von mir", stieß sie zwischen den Zähnen hervor.
 

Erneut landete sie auf dem Boden. „Ich versteh dich nicht, wenn du Dreck frisst. Wie war das?"
 

Das war der Moment, in dem sie bittere Rache schwor. All das Bauchkribbeln und Knistern vom Vortag waren vergessen. Sie würde ihm weh tun, irgendwann ganz bestimmt. Vielleicht würde sie bei der anstehenden Expedition ihm eine Spritze mit einer Überdosis Anästhetikum in den Hals rammen.

Nun würde sie definitiv keine Schwäche ihm gegenüber zeigen, das war klar. Erneut stemmte sie sich nach oben und abermals presste sein Fuß sie auf den Boden zurück.
 

Nach einiger Zeit schien ihm allerdings dieses Spiel langweilig zu werden. „Steh auf und fange an zu laufen", wies er Levi sie an.
 

„Wie viele Runden diesmal?", fragte sie, statt Widerwort zu geben.
 

„Zehn, falls du die noch laufen kannst."
 

Ohne zu murren begann sie mit der ersten Runde. Sie würde ihm zeigen, dass sie die zehn Runden noch laufen konnte. Was sich jedoch als schwierig erweisen sollte.
 

Mehr als die Hälfte hatte sie bereits geschafft, doch wollten ihre Beine sie einfach nicht mehr tragen. Levi beobachtete, wie sie schwankte und immer weiter in die Knie ging. Er rechnete damit, dass es nicht mehr lange dauerte und sie würde aufhören oder sogar umkippen. Kurz bevor er sie zurückrufen wollte, umfasste sie die Kette an ihrem Hals und er bemerkte eine Veränderung an ihr. Entschlossen hob sie den Blick, der vorher auf den Boden gerichtet war. Ihre Körperhaltung wurde gerader, die Länge ihrer Schritte nahm zu, so wie ihr Tempo sich steigerte. Eins musste er ihr zugestehen – entschlossen war sie allemal.

Doch erkannte er auch, dass die letzten Meter die Hölle für sie waren.
 

Nach Abschluss der zehnten Runde, sank sie auf die Knie und rang nach Luft. Erschöpft ließ sie sich auf ihr Hinterteil nieder, streckte die Beine gerade aus und umfasste mit den Händen ihre Füße, um sich zu dehnen.

Mit vor der Brust verschränkten Armen stellte er sich neben sie. „Ich hätte nicht gedacht, dass du es schaffst“, sagte er, wobei er keinerlei Anerkennung in seiner Stimmer mitschwingen ließ.
 

Freya hob den Blick. Ihre Wangen waren gerötet und die Stirn nass vom Schweiß. Noch immer atmete sie schwer, jedoch gleichmäßig. „Tja, so schnell kriegst du mich nicht klein“, stieß sie zwischen den Atemzügen hervor und verzog den Mund zu einem frechen Grinsen.
 

„Lass uns etwas essen gehen“, lenkte er vom Thema ab. Mittlerweile war die Sonne hinter den Mauern verschwunden und allmählich schwand das Tageslicht.
 

„Ich brauch noch einen Moment“, gab sie zu und hielt sich die Seite, da heftiges Seitenstechen sie quälte. „Geh ruhig schon.“
 

Zu Freyas Erleichterung zog ihr überaus liebreizender Trainingspartner von dannen. Sie legte sich mit dem Rücken in den Staub, versuchte ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen und ihre Atmung in den Griff zu bekommen. Dabei schloss sie die Augen.
 

Langsam kam sie zur Ruhe und ihr Kreislauf stabilisierte sich wieder. Plötzlich klatschte etwas neben ihrem Kopf auf den Boden. Erschrocken fuhr sie hoch und sah sich nach der Quelle des Geräusches um. Neben ihr lag ein gefüllter Trinkschlauch.

Da bemerkte sie Levi, der hinter ihr stand. „Willst du mich nach deinem fit-für-den-Sommer-Programm nun vergiften?"
 

„Ich denke, du weißt deinen Körper einzusetzen, da sollte das doch ein Klacks für dich gewesen sein." Er zog belustigt eine Augenbraue nach oben.
 

„Du bist ein Arschloch, weißt du das?", fragte Freya kühl.
 

„Das Kompliment gebe ich gerne zurück."
 

„Na dann sind wir uns ja einig", lachte sie auf. „Auf gute Zusammenarbeit."

Freya hob den Trinkschlauch an und prostete ihm zu, ehe sie einen großzügigen Schluck nahm.
 

Auch wenn beide es anfangs nicht wahrhaben wollten, so verstanden sie sich mit fortschreitender Zeit immer besser und fanden gefallen daran, sich gegenseitig zu necken.
 

„Du kommst also auch aus dem Untergrund", sagte Levi ungerührt, während er neben ihr her joggte. Es war ein Ritual für sie geworden vor dem Abendessen zusammen noch eine Runde durch den anliegenden Wald zu laufen.
 

„Was heißt hier auch?", fragte sie und sah ihn aus dem Augenwinkel an.
 

Levi rollte genervt mit den Augen. „Hast du die Gerüchte denn noch nicht gehört?"
 

„Was? Von dir und deiner Untergrund-Gang?" Sie lachte und winkte mit einer Hand ab. „Die Leute erzählen viel, wenn der Tag lang ist. Laut ihnen habe ich meine Stellung auch nur dadurch erlangt, weil ich mit Erwin das Bett teile."
 

Freya wandte Levi den Kopf zu und stellte fest, dass dieser eine seiner feinen Augenbrauen skeptisch hochgezogen hatte. „Glaubst du das etwa auch?"

Empört boxte sie ihm auf die Schulter.
 

Levi schlug zurück. „Selbst wenn, es ist mir egal", murrte er.
 

Sie rieb sich die schmerzende Stelle am Oberarm. „Naja, vielleicht stimmt es ja auch", schmunzelte sie verschwörerisch.
 

Wieder verdrehte er die Augen. „Du lenkst von der Frage ab", ermahnte er sie.
 

„Welcher? Ob ich mit Erwin schlafe?", neckte sie ihn gespielt unwissend.
 

Sie war ein fürchterliches Weib, empfand Levi. Frech, ungehorsam, laut. Als Antwort trat er nach ihren Beinen, jedoch machte sie rechtzeitig einen Satz zur Seite. „Hey!", beschwerte sie sich.
 

„Wieso willst du das so unbedingt wissen?" Sie hatte keinen blassen Schimmer, wieso er sich so sehr dafür interessierte.
 

„Das geht dich nichts an", knurrte er in ihre Richtung.
 

„Dann geht dich meine Herkunft auch nichts an", bellte sie zurück.
 

Schweigen.

Außer den Geräuschen des Waldes, vernahm man nur ihre Schritte auf dem sandigen Feldweg.
 

„Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir uns schon mal begegnet sind", durchbrach er irgendwann die Stille.
 

„Da hast du aber keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen", witzelte sie.

Als Freya seinen Blick auffing, wunderte es sie, weshalb sie nicht auf der Stelle tot umfiel. Er war wirklich der Meister der giftigen Blicke.
 

Konnte sie ihm von ihrer Herkunft erzählen? Er glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben, aber sicher war er sich da nicht. Allerdings würde er keine Ruhe geben, bis er es erfahren würde.

Zwar könnte sie ihn anlügen, doch müsste er nur Erwin fragen und ihr Schwindel würde auffliegen.
 

„Ok, wenn es dir so wichtig ist: Ja, ich habe im Untergrund gelebt." Sie wartete auf eine Reaktion seinerseits, die jedoch ausblieb. Mit ungerührter Miene lief er weiter neben ihr her. „Aber sag es bitte keinem", fügte sie leise hinzu.
 

„Wieso? Hast du etwas angestellt?", wollte er von ihr wissen. Er wusste gar nicht, wie sehr er damit ins Schwarze traf. War vielleicht auch besser so.
 

„Nein, aber du solltest aus eigener Erfahrung wissen, dass man es nicht unbedingt leichter hat. Im Gegenteil sogar, man ist Mensch dritter Klasse", sagte sie.
 

Brummend stimmte er ihr zu, ehe sie sich wieder in Schweigen hüllten.
 

Freyas Hand umfasste den Anhänger ihrer Kette. Sie musste aufpassen, was sie sagte. Levi war nicht dumm und er könnte ihr kleines Geheimnis vielleicht schneller lüften, als ihr lieb war.

Der Weg in die Freiheit

Die Tage vergingen wie im Flug. Freya praktizierte am Vormittag, besuchte den Theorieunterricht mit den Neulingen, trainierte danach mit Levi und fiel abends todmüde ins Bett. Daher war es nicht verwunderlich, dass der Tag ihrer Expedition plötzlich vor der Tür stand.
 

Am Morgen bekam Freya keinen Bissen von ihrem Frühstück runter und seit dem Erwachen fühlte sie diese innere Anspannung.

„Du solltest essen. Wer weiß, wann wir das nächste Mal etwas bekommen", riet Levi, der bei ihr saß.
 

Sie sah auf die Spiegeleier und das Brot auf ihrem Teller. Alles sträubte sich in ihr etwas essbares aufzunehmen, doch nahm sie die Gabel zur Hand und schaufelte ihr Frühstück regelrecht in sich hinein.
 

„Oh Gott, ich kotze gleich", sagte sie kauend und schob ihren leeren Teller von sich weg.
 

Levi, der ihr gegenüber saß, hatte die Beine überschlagen und nippte scheinbar seelenruhig an seinem Tee. Schon lange wunderte sie sich nicht mehr über die seltsame Art, wie er seine Tasse hielt, doch genau daran konnte Freya an diesem Tag ablesen, dass er nicht so entspannt war, wie er vorgab zu sein.

Sie beobachtete, wie sein Zeigefinger gelegentlich ungeduldig auf den Tassenrand tippte, bis er sich seiner Anspannung bewusst wurde und stoppte.
 

Eigentlich eine wunderbare Gelegenheit ihn zu verspotten, doch war sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
 

Erschrocken fuhr sie zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Erwin stand plötzlich hinter ihr. „Es wird bald Zeit die Pferde zu satteln", informierte er.
 

Levi nickte und erhob sich, während Freya einen Moment zögerte, ehe auch sie von ihrem Stuhl aufstand. Sie wandte sich zu Erwin um und sah ihn an.

So viele Worte schwirrten durch ihren Kopf, so viel, das sie ihm sagen wollte, doch konnte sie keinen zusammenhängenden Satz bilden, weswegen sie einfach die Arme ausbreitete und um seinen Körper schlang.
 

Erwin erwiderte ihre Umarmung und drückte sie fest an seine Brust.
 

„Wenn wir wieder zu Hause sind, müssen wir unbedingt die Blumenkästen neu bepflanzen", ließ Freya verlauten.
 

Von all dem, was sie hätte sagen können, entschied sie sich für solch banales.
 

Erwin lachte. „Sicher doch", versprach er.
 

Sie lösten sich voneinander. Erwin nickte Levi noch einmal zu und verschwand nach draußen. Während Freya in ihre Jacke schlüpfte, erklang das Signal, um sich für den Aufbruch bereit zu machen.
 

Freya und Levi begaben sich in den Stall, wo sie ihre Pferde sattelten, um sich danach mit ihrer Gruppe zusammen zu finden.
 

Der Aufklärungstrupp ritt nach Shiganshina, wo er sich vor dem Tor der Mauer Maria aufstellte und auf den Befehl des Kommandanten wartete.
 

„Freya", ertönte plötzlich ein Ruf. Die Angesprochene ließ ihren Blick suchend über die Menge Zivilisten, die sich auf den Straßen versammelt hatte, schweifen, bis sie ein ihr bekanntes Gesicht erkannte.

Valerie stand auf einer Holzkiste und winkte ihr freudig zu. Lächelnd grüßte Freya zurück, wobei Levi ihr einen irritierten Blick zuwarf, weil er erst dachte, sie würde ihm zuwinken.
 

Sie zeichnete mit den Händen einen Halbkreis von unterhalb ihrer Brust bis zu ihren Hüpften. Damit ahmte sie Valeries dicken Bauch nach, der durch ihre Schwangerschaft fast zu explodieren drohte. Dann bemerkte sie, dass er sie beobachtete und zeigte ihm frech die Zunge.
 

Da erklangen die Glocken und das Tor würde hochgezogen. Der Kommandant brüllte den Befehl und schon preschte der Trupp los.
 

Wie jedes Mal, wenn sie die Mauern verließ, atmete Freya, sobald sie diese verlassen hatte, tief durch. Es war, als könnte sie außerhalb dieses Käfigs befreiter Luft holen.
 

Chapman gab ihnen das Zeichen, sich in ihre Position der Formation zu begeben. So ritt Chapman als ihr Teamführer an der Spitze ihrer kleinen Truppe, gefolgt von drei Neulingen. Freya und Levi bildeten die Nachhut.
 

Ihr Ritt lief problemlos und sie konnten für einige Zeit die atemberaubende Weite außerhalb der Mauern genießen. Gelegentlich wechselten sie die Richtung, galoppierten durch Wälder und offene Felder. Schließlich tauchte der erste Titan auf. Eine 8 Meter-Klasse näherte sich gemächlich zu ihrer Rechten.

„Martin, zeig den Frischlingen, wie man das macht“, befahl Chapman. „Levi, gib das Signal, dort hinten kommen noch mehr von den Bastarden.“
 

„Ja, Sir“, rief diese aus und wendete ihr Pferd. Levi hingegen schnalzte mit der Zunge, ehe er das rote Signalfeuer in die Luft schoss. Augenblicklich folgten andere Soldaten seinem Beispiel und rote Geschosse durchzogen den Himmel vor ihnen.
 

In der Zwischenzeit galoppierte Freya auf den Titan zu. Die Anker versenkte sie im Fleisch seiner Brust und ließ sich durch den Antrieb aus dem Sattel ziehen. Sie sauste auf die 8 Meter-Klasse zu, zwischen seinen Beinen hindurch und schleuderte sich in die Luft, während sie gleichzeitig die Anker löste. Noch ehe der Titan den Kopf heben und nach ihre sehen konnte, hatte sie ihm ein Stück aus dem Nacken geschnitten. Dampfend sackte er auf die Knie und fiel schließlich der Länge nach hin.
 

Zufrieden stemmte Freya die Hände in die Hüften und betrachtete ihr Werk, bis ihr Pferd neben ihr zum Stehen kam. Schwungvoll stieg sie zurück in den Sattel und ritt zurück zu ihrer Gruppe.

„Eins zu Null für mich“, zwinkerte sie Levi zu, der genervt die Augen verdrehte.
 

Am späten Nachmittag erreichte der Großteil von ihnen eine alte Burg. Unterwegs waren sie noch einigen Titanen begegnet, wobei manche Kämpfe unausweichlich gewesen waren und sie einige Männer verloren hatten.

Nun befehligte Kommandant Shadis seine Soldaten, die Burg bestmöglich vor Titanen zu schützen, denn Ziel dieser Expedition war es, das erste Außenlager für Menschen zu erreichten.
 

Freya schritt mit Levi den breiten Gang auf der Burgmauer entlang zu Erwin, der gerade Befehle an Männer weitergab. Sie passierten einige Rekruten, die hinunter auf die Titanen schauten, die sich vor der Mauer versammelt hatten.

Fast hatten sie Erwin erreicht, da ertönte plötzlich ein Knall und die Mauer bebte unter ihren Füßen, sodass sie Mühe hatten, das Gleichgewicht zu halten. Ein Abnormaler war über den Burggraben gesprungen und von der Mauer abgeprallt. Ruckartig wandte Freya sich zu den Neulingen um und sah, wie einer der Jungs von der Mauer stürzte.
 

Sie sah zurück zu Erwin, der ihren Blick auffing, dann sprintete sie los. „Freya, lass das“, hörte sie Erwin noch rufen, da sprang sie dem jungen Soldat hinterher.
 

Schockiert schnappten die wenigen Leute, die diesen Vorfall beobachteten, nach Luft, denn Freya trug keinerlei 3D-Manöver-Ausrüstung am Leib. Sofort hastete Erwin ihr hinterher, warf die Anker aus, die sich in der steinernen Mauer vergruben und stürzte sich ebenfalls in die Tiefe.
 

Levi preschte zum Rand der Mauer und sah zu den Dreien. Der Rekrut landete mit einem lauten Klatschen im Burggraben, während Erwin Freyas Sprunggelenk zu fassen bekam, ehe auch sie ins Wasser eintauchten.
 

Alles war still und für den Bruchteil einer Sekunde schien die Welt still zu stehen. Dann tauchte Erwins Gestalt aus dem Wasser auf, In der einen Hand hielt er Freyas Bein, auf dem ihr restlicher Körper folgte. Diese hatte den Oberkörper des abgestürzten Soldaten fest umklammert.

Mittels des Antriebs zog Erwin sie nach oben, wo andere Soldaten bereits herbei geeilt waren, um ihnen zu helfen.
 

Freya stand noch nicht richtig auf ihren Füßen, da riss sie sich von ihren Helfern los und stürzte zu dem jungen Mann, der gerade regungslos auf dem Boden abgelegt wurde. Sofort fühlte sie nach seinem Puls, öffnete seine Lider, um nach seinen Pupillen sehen zu können und legte den Kopf auf seine Brust und horchte nach seinem Herzschlag.

Angespannt hielten sie umstehenden Personen die Luft an, als sie die Hände auf seine Brust legte und in regelmäßigen Abständen Druck auf diese ausübte. Gelegentlich unterbrach sie die Herzrhythmusmassage, nur, um Luft in seine Lungen zu pusten.
 

Eile ganze Weile schon versuchte sie ihn wieder ins Leben zu rufen. Levi entging nicht, wie sie immer langsamer wurde und sich feine Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. Erwin hockte sich vor Freya und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Sie hielt inne und strich sich den Schweiß von der Stirn, dabei zogen sich ihre Mundwinkel nach unten und Levi befürchtete, dass sie gleich weinen würde. Doch stieß sie die Luft zwischen den Zähnen hervor uns fasste sich wieder. Langsam hob sie den Blick und sah in Erwins blaue Augen. Enttäuschung lag darin und sofort spürte sie einen heftigen Stich in der Herzgegend. Das Letzte, was sie wollte, war Erwin zu enttäuschen.
 

Also setzte sie erneut die Hände auf der Brust des Rekruten an und nahm ihre vorherige Tätigkeit mit neuem Entschlossenheit wieder auf.
 

Erwin beobachtete sie dabei, bis ihm ein kleiner roter Tropfen auffiel, der auf ihrer Hand landete, gefolgt von einem Zweiten, einem Dritten und einem Vierten. Konfus sah er in Freyas Gesicht und erkannte, dass Blut aus ihrer Nase lief.

„Freya“, setzte er an, da erklang ein fürchterliches Knacken. Freya hatte dem Soldaten eine Rippe gebrochen.

„Ist schon gut, du kannst aufhören“, versuchte er nochmals mit sanfter Stimme zu ihr durchzudringen.
 

Das Blut tropfte unaufhörlich aus ihrer Nase und eine weitere Rippe brach hörbar. „Freya, es reicht“, sagte Erwin nun mit Nachdruck, doch hörte sie nicht auf.

Er erhob sich, um sie von dem Mann wegzuziehen, als dieser plötzlich einen Schwall Wasser ausspuckte und hustend nach Luft rang. Erstaunte Ausrufe erklangen aus der Menge um sie, die Erleichterung war deutlich spürbar.
 

„Bringt ihm eine Decke und schafft ihn rein ans Feuer“, verordnete Freya. Sofort wurde der Soldat von anderen hochgehoben und ins innere der Burg getragen.
 

Als die Menschen um sie herum verschwanden, atmete auch Freya entlastet auf. Sie hatte es geschafft, sie hatte Erwin nicht enttäuscht.

Mut, der Flügel verleiht

„Wir steigen auf das 3DM-Set um!" Chapman zügelte sein Pferd und stieg ab. Der Trupp bestehend aus 7 Personen tat es ihm gleich.
 

Am frühen Morgen waren sie ausgesandt worden, um den östlichen Wald auszukundschaften. Der abnorme Titan hatte am Vorabend die Fassade der Ringmauer zum Bröckeln gebracht und Shadis befürchtete, es könnte einen größeren Schaden geben, wenn sie die Schwachstelle nicht ausbesserten.

So waren einige Teams ausgesandt worden, um Material für den Bau zu beschaffen, während andere - wie die Gruppe unter Chapmans Führung - die Gegend erkundeten und sich herannahende Titanen entledigten.
 

Freya tätschelte den Hals ihres Hengstes, während der Nebel sich um ihre Beine schlängelte. Sie blickte durch das Blätterdach des Waldes in den wolkenverhangenen Himmel, der Regen versprach, ehe sie sich ihrer Gruppe hinterher in die Bäume schwang. Dabei achtete sie einen gewissen Abstand zu Levi zu halten.
 

Nach der Reanimation am vergangenen Tag hatte sie eine ordentliche Standpauke von Erwin bekommen, über ihr leichtsinniges Handeln, als sie dem Soldaten nach gestürzt war.

Auf dem Weg zu dem Patienten hatte Levi sie abgefangen, an die Wand gedrückt und sie mit seinen Körper festgenagelt, die Hände über ihrem Kopf fest in seinem Griff. Augenblicklich waren Bilder vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht, die neun Jahre zurück lagen und die sie seitdem zu verdrängen versuchte.
 

„Was soll der Scheiß?", hatte sie ihn angefaucht, um ihre Unsicherheit zu überspielen.
 

„Das wollte ich dich fragen."
 

„Lass mich los!" Sie hatte versucht sich aus seinem Griff zu befreien, vergebens.
 

„Was hast du dir dabei gedacht?"
 

„Das kann dir doch egal sein." Ihre Stimme hatte gebebt, was Levi nicht entgangen war. Skeptisch hatte er in ihre grauen Augen geblickt.
 

„Es wäre mir auch egal, wenn wir nicht hier wären. Von mir aus kannst du dich von der Mauer stürzen, sobald wir wieder zurück sind. Aber solange dein Leben unter meiner Verantwortung steht, wirst du deine Suizidgedanken nicht ausleben."
 

Freya hatte jedoch nicht zugehört. Sie hatte das Zittern ihres Körpers nicht länger unterdrücken können, da die Bilder immer deutlicher wurden. Mittlerweile hatte sie den Rauch in der Luft riechen und das Blut in ihrem Mund schmecken können, so wie damals.

„Levi, lass mich los!" Es war mehr ein Flehen gewesen, als eine Forderung.
 

Er hatte es in ihren Augen erkannt, wie ernst sie es meinte. Doch war er sich nicht ganz sicher gewesen, ob sie gleich weinen, losschreien oder um sich hauen würde. Wahrscheinlich alles zugleich.
 

Mit einem Mal hatte er den Griff gelockert und war einen Schritt von ihr weggetreten. Fluchtartig war sie davon gestürzt.
 

Nun beobachtete er sie, denn er konnte sich ihre Reaktion nicht erklären. Freya bemerkte, dass er sie überwachte, schenkte ihm einen feindseligen Blick und zeigte ihm die Zunge.

Da geschah plötzlich etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. Ein Titan tauchte aus den Nebelschwaden unter ihnen auf und schnappte nach ihrem Teamführer. Er erwischte Chapman und riss ihn mit sich in die Tiefe.
 

Die Gruppe stoppte und verteilte sich auf die umliegenden Bäume, geschockt von dem unvorhergesehenen Angriff. Es erklang ein Schrei, dem ein entsetzliches Knirschen folgte. Danach war es totenstill.
 

Mit angehaltenem Atem beobachteten sie ihre Umgebung. Freya kniff sie Augen zusammen und konzentrierte sich auf einen Punkt im Nebel, an dem die glaubte eine Bewegung wahrgenommen zu haben.

Ein weiteres Mal tauchte die Gestalt des Titanen auf. Er stürzte sich auf einen Ast, an den Petra Ral, eine der neuen Rekruten, stand und sich, gelähmt vor Angst, keinen Millimeter bewegte.
 

Gleichzeitig stießen sich Freya und Levi von ihren Standplätzen ab, während sich die Finger des Monstrums um Petras erstarrten Körper schlossen. Levi zielte direkt auf die Schwachstelle im Nacken, in der selben Sekunde trennte Freya die Hand des Titanen von dessen Arm.
 

In diesem Moment öffnete der Himmel seine Schleusen und es begann zu regnen.
 

Freya landete mit Petra auf einem breitem Ast. „Alles in Ordnung?", fragte sie, was Petra aus ihrer Schreckstarre erwachen ließ.

Zögernd nickte sie. „Ja, danke."
 

Mit prüfendem Blick musterte sie die anderen. Levi hatte den Titan erledigt und machte einen unversehrten Eindruck. Auch die restlichen Gruppenmitglieder schienen bis auf den Schrecken nichts abbekommen zu haben. Nur Maggy Stone saß da, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, zitterte am ganzen Leib und atmete heftig ein und aus, indessen tränkte der Regen ihre Kleidung. Freya vermutete, dass sie sich in eine Panikattacke rein steigerte.
 

„Oh mein Gott", wimmerte sie, während sie ihre zittrige Hand vor die bebenden Lippen legte, „oh mein Gott, der Teamführer ist tot."

Tränen kullerten ihren Wangen hinab, wobei sie den Blick nicht von dem dampfenden Titan abwenden konnte. „Oh mein Gott“, wiederholte sie, diesmal schriller.
 

Freya schwang sich zu ihr rüber. „Hey Maggy, alles wird gut“, versuchte sie die junge Frau zu beruhigen.
 

„Chapman ist tot!“ Ihre Stimme überschlug sich.
 

„Sieh mich an Maggy“, forderte Freya, fasste sie an den Schultern und drehte ihren Oberkörper, sodass sie sie ansehen musste. Die Ärztin vermutete, dass sie kurz vor einem Zusammenbruch stand. Sie musste sie beruhigen, bevor sie komplett ausrastete.
 

„Oh mein Gott“, kreischte Maggy nun los. „Er hat Chapman gefressen! Was sollen wir nun tun? Wir werden auch alle sterben!“
 

Klatschend traf Freya Maggys Wange, sodass deren Kopf zur Seite schnellte. Das Geräusch ihrer flachen Hand auf Maggys Haut schallte durch den Wald, danach herrschte Stille. Levi, der seine Klinge putzte, schnalzte mit der Zunge.
 

„Niemand wird sterben“, sagte Freya entschlossen. Sie erhob sich und blickte die anderen Teammitglieder an. In manchen Gesichtern konnte sie die Angst ablesen, in anderen Hilflosigkeit.

Es waren wahrlich nicht die besten Bedingungen. Ihr Teamführer war ausgelöscht worden, ihre Pferde Kilometer weit entfernt, wenn sie denn noch dort standen, wo sie sie zurückgelassen hatten, und das Wetter spielte auch nicht mit. Dennoch war es nicht unmöglich wieder zurück zum Stützpunkt zu gelangen
 

„Warum seid ihr hier, wenn ihr sofort aufgebt?“, fragte sie in die Runde. Regen schlug ihr erbarmungslos ins Gesicht und sie musste gegen die Tropfen blinzeln.

Die Neuen schauten sich ratlos einander an, manche senkten den Blick, da sie keine Antwort fanden.
 

Levi beobachtete ebenfalls die Frischlinge, wie sie auf ihre Stiefel starrten oder nervös mit den Finger spielten. Dabei erinnerte er sich an seine erste Expedition zurück.

Sie hatten es zu dieser Zeit ebenso nicht einfach, dennoch war diese Situation jetzt im Gegensatz zu dem Drama damals um einiges besser zu handeln. Sie mussten sich sammeln und einen Weg zurück finden, möglichst ohne weitere Verluste, um Bericht zu erstatten.
 

„Ich kenne eine Geschichte“, setzte Freya an und die Aufmerksamkeit aller wandte sich ihr zu. „Eine Geschichte von Menschen, deren Herzen sich nach der Frische der Luft außerhalb der Mauern, den dichten Wäldern und weiten Felder, sowie Flüsse und Seen sehnten.“
 

Sie sah ihre Kollegen einzeln nacheinander an. „Sie wollten den anderen Menschen, deren Herzen grau und verkümmert waren, durch die Beschränktheit der Wälle, die Schönheit der Wildnis erblicken lassen und ihnen ein Leben ohne einengende Wände ermöglichen. Ihr Mut verlieh ihren Herzen Flügel, die sie weit über die Mauern davon trugen.“

Ein Lächeln bildete sich auf Freyas Lippen, ihr Blick war verträumt und warm, aber trotzdem lag etwas ernstes darin. Levi war sich sicher, dass sie jedes Wort glaubte, das sie aussprach und diese Geschichte ihre Motivation war, alles zu geben, ganz gleich, was es kostete. So, wie sie am Vortag dem Soldaten nach gesprungen war.
 

„Getrieben von dem Wunsch die Herzen der Schwachen in den Farben der Außenwelt erstrahlen zu lassen, riskieren sie ihr Leben, stellen sich Gefahren, um dafür zu kämpfen, wofür andere sich nicht in der Lage fühlen.

Man nannte sie die Kinder der Freiheit !“
 

Eine kurze Pause entstand, in der Freya die anderen über ihre Worte nachdenken ließ. Es war deutlich sichtbar, dass eine Veränderung in den Leuten stattfand. Ihre vorher gebeugte, ängstliche Haltung wurde aufrechter, ihre Mimik fest und entschlossen.
 

„Also seid ihr auch eines dieser Kinder oder sind eure Herzen ebenfalls grau?“ Bei dieser Frage zückte Freya ein Schwert und hielt es über ihrem Kopf empor.
 

Die Neulinge taten es ihr gleich und ein Kampfessschrei erklang. Erfolgreich hatte die junge Ärztin all die Zweifel vertrieben und die Gruppe neu beflügelt.

Ihre grauen Augen funkelten Levi entgegen, als warteten sie auf ein Lob, doch verdrehte er nur die Augen und schüttelte leicht mit dem Kopf, wobei er sich den Ansatz eines Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
 

„Nun, was sind Ihre Befehle, Teamführer Levi?“, fragte sie an ihn gewandt und feixte frech.
 

Für einen Moment glaubte er, sie wollte sich über ihn lustig machen, doch dann begriff er, dass sie es todernst meinte. Von seiner Überraschung ließ er sich nichts anmerken, räusperte sich dann.

„Wir ziehen uns weiter in die Baumkronen zurück und begeben uns in die Richtung unserer Pferde“, wies er an.
 

Mit neuem Mut machten sie sich auf den Rückweg. Zu ihrem Glück waren die Pferde noch genau dort, wo sie sie abgestellt hatten. Auch während dem Ritt passierten keine weiteren Zwischenfälle. Doch als sie aus dem Wald auf die offene Fläche vor der Burg ritten, waren selbst Levi und Freya für den Bruchteil einer Sekunde sprachlos.
 

Ein ganzer Haufen Titanen hatte sich um die Ringmauer versammelt und nahm diese auseinander. Mitglieder des Aufklärungstrupps versuchten sie niederzustrecken, jedoch waren es zu viele und war die Mauer an einigen Stellen schon stark beschädigt. Sie sahen, wie die hölzerne Ziehbrücke herabgelassen wurde und Soldaten auf Perden und Wagen die Burg verließen.
 

Freya erkannte Erwin auf seiner weißen Stute. „Ich frage Erwin, was hier los ist“, schlug sie Levi vor, obwohl sie es schon fest beschlossen hatte. Dieser wandte sich zu dem Team um. „Wir werden uns der restlichen Gruppe anschließen.“
 

So schnell ihr Pferd sie tragen konnte, galoppierte sie auf Erwin zu. „Erwin“, rief sie nach ihm, als sie ihn fast erreicht hatte.

Augenblicklich schnellte sein Kopf zu ihr herum. „Freya, Gott sei Dank“, murmelte er und es sah aus, als würde ihm ein Stein vom Herzen fallen.
 

„Was ist hier los?“
 

„Ein weiterer abnormaler ist aufgetaucht und mehrfach gegen die Mauer gesprungen. Damit hat er Löcher in die Fassade gehauen. Als wir ihn erledigt hatten sind mehr aufgetaucht und haben uns überrannt. Shadis hat den Rückzug angeordnet“, erklärte er.
 

„Scheiße“, fluchte Freya und blickte zurück zur Burg. Es sollte das erste Außenlager der Menschen werden. Leider hatten die Titanen ihnen mal wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Darktoxic
2016-03-17T13:20:02+00:00 17.03.2016 14:20
Hmm warum wurde noch kein Review geschrieben?? :o

Die Fanfic ist wirklich klasse :3 Ich hoffe, du schreibst bald mal weiter. Finde es echt schade, dass sie pausiert ist.
Antwort von:  Raija
20.03.2016 15:50
Endlich! Die erste Review! xD Dankeschön dafür!
Es freut mich zu lesen, dass dir die Geschichte gefällt. Weiterführen möchte ich sie, aber momentan komme ich einfach nicht dazu das nächste Kapitel zu schreiben...


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