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Sonorités de troi

'Carneval du Vagues'
von

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1. Danse

„Gut, nochmal ab Takt 39.“, rief das Mädchen ihrer Freundin am Klavier zu, woraufhin diese nickend zu spielen begann.

Der reichlich geschmückte Probenraum füllte sich rasch mit den sanften Klängen und die vielen Papierblumen an den Wänden wirkten wie Seerosen auf einem Teich, welche durch Regentropfen zum tanzen gebracht wurden. Ein entspannendes Bild.

Trotzdem war es eine stressige Woche gewesen und die kommenden Tage würden sicherlich nicht einfacher werden. Das Vortanzen für den „Carneval du Vagues“, den legendären Karneval der Wellen, sollte ein entscheidender und nicht zuletzt einschneidender Punkt im jungen Leben von Océan werden. Dort würden sie Menschen aller fünf Stämme tanzen sehen und singen hören. Es war eine große Ehre, dort auftreten zu dürfen und fast jeder Aquamane arbeitete das ganze Jahr fieberhaft auf diesen einen Abend hin. Ein Abend, an welchem man vergessen konnte, in welcher Lage sich die Welt oder das Land oder man selbst befand. Ein ganzer Abend zum träumen. Sie allein sollte auf der gigantischen Bühne aus Eis ihre flatterhaften Bewegungen darbieten, umgeben von Musik und Menschen und Lichtern. Genau so sollte es sein. Sofern sie denn das Vortanzen für sich entschied. Das war natürlich eine Grundvoraussetzung.

Aber sie wollte diesen Auftritt mehr als alles andere auf der Welt.

Ihre Chancen standen auch nicht allzu schlecht. Zumindest Ihre Lehrerinnen waren zuversichtlich, dass die 14 jährige in ihrer Alterskategorie zumindest in die engere Auswahl kommt, auch wenn Océan das bei weitem nicht reichte. Und sie würde alles in ihrer Macht stehende tun, um dieses Ziel endlich greifbar werden zu lassen.
 

Als würde sie auf dünnem Glas wandern, schlichen ihre nackten Füße über den dunkelbraunen Holzboden. Es folgte eine Drehung, weitere tippelnde Schritte, begleitet von einer eleganten Geste des ausgestreckten Armes. Sie musste darauf achten, die Körperspannung zu halten und dem Takt zu folgen. Ihre Bewegungen mussten Wellen gleichen, sie mussten ihr in Mark und vor allem Bein übergehen. Noch ein bedachter Schritt, dann stoppte die Musik auf einmal.

„Was ist los, Flaque? Warum hörst du auf?“

Océan befand sich noch mitten in der Figur und schaute über die Schulter zu ihrer Freundin. Doch diese stand nur schweigend an dem großen Flügel.

„Eigentlich ist es ja verboten barfuß in der kleinen Festhalle herumzuhüpfen. Der Boden ist kalt und splitterig und du willst dir doch so kurz vor dem wichtigen Termin nicht deine wichtigsten Werkzeuge ruinieren, oder?“

Die maskuline Stimme brachte Océan dazu, sich aus ihrer verdrehten Pose zu lösen und sich in Richtung der Tür zu wenden. Ein junger Mann stand in dem gravierten Steinbogen, welches den Eingang markierte und aussah, wie von einer antiken Zivilisation gemeißelt. Ein kesses Lächeln fand sich auf seinen schmalen Lippen wieder. Seine Hände hatte er an das mit Fell besetzte Tuch gelegt, welches sich um seine Hüfte schlang.

Océan schnaubte.

„Cas! Was willst du hier? Etwa die Konkurrenz ausspionieren? Ich hatte dir mehr sportlichen Ehrgeiz zugetraut.“, zischte sie durch den Raum und suchte sich ein Handtuch aus dem mitgebrachten Beutel am Klavier. Im gleichen Zug griff sie sich ihren Wasserbeutel und nahm einen kräftigen Schluck.

Wenn es jemanden gab, den sie in der Vorbereitung für das Vortanzen nicht gebrauchen konnte, dann war es Cascatelle Brouillard, kurz Cas genannt. Als Sohn eines Mitglieds des hohen Rates der nördlichen Aquamanen ruhten viele Erwartungen auf dem Jugendlichen, schließlich gab es einen Ruf zu verlieren. Dementsprechend war es nur natürlich, dass Cas das Vortanzen für sich entscheiden würde. Zumindest war das die Überzeugung einiger Stammesgenossen.

Océans schnippische Attacke ignorierte Cas gekonnt, als ihr bester Freund war er das zu genüge gewohnt, stattdessen schaute er sich ein wenig um und trat zu Flaque an den Flügel. Das Mädchen machte etwas irritiert Platz, sodass Cas sich setzen konnte.

Spielerisch lies er seine Finger für ein paar Töne über die Tasten gleiten.

Océan und Flaque beobachteten ihn.

„Will er uns beeindrucken?“, flüsterte Flaque ihrer Freundin zu und Océan nickte nur bejahend. Cascatelle versuchte immer die Aufmerksamkeit der Mädchen zu gewinnen und mit seinem Klavierspiel oder seinem Gesang schaffte er das in der Regel auch.
 

„Hör zu, Cas. Du weißt, wie wichtig dieser Auftritt für mich ist.“, sagte Océan, nachdem die Töne verklungen waren. „Kannst du jetzt bitte gehen, wir müssen noch proben.“

Natürlich tat es weh, ihren besten Freund so harsch wegzuschicken, aber im Moment wollte sie ihn weder sehen noch hören. Dazu war in den letzten Wochen schon zu viel passiert.

Der Junge schnaubte kurz amüsiert.

„Wie du meinst. Wir sehen uns.“ Mit diesen Worten schlich er aus der Halle, bewusst langsam. Océan konnte spüren, wie verletzt er war und es traf sie wie ein Splitter ins Herz.

„Denkst du nicht, du übertreibst es etwas?“, meinte Flaque und kratze sich unsicher am Hinterkopf während sie ihr Kleid richtete und wieder am Klavier Platz nahm. Das tat sie öfters, wenn ihr etwas unangenehm war. „Sportliche Fairness in allen Ehren, aber ihr kennt euch schon so lange...“

„Ruhe! Ich will nichts mehr hören! Lass uns weitermachen, die Zeit wird knapp!“
 

~
 

Den ganzen Morgen schon tänzelte Océan nervös in ihrem Zimmer herum. Ihre Schritte übte sie nicht mehr. Sie wusste, dass sie das nur noch aufgeregter machen würde. Zwischenzeitlich kam ihr großer Bruder herein, ärgerte sie ein wenig und wurde mit Zeter und Mordio zum nächsten Teufel gewünscht. Aber dafür war sie ihm dankbar, denn es lenkte sie von ihrer Rastlosigkeit ab.

Bis auf ihren Vater, der für einen wichtigen Auftrag auf unbestimmte Zeit verreist war, würde die ganze Familie sie zu ihrem Vortanzen begleiten, was sie ebenfalls etwas beruhigte.

Flaque würde sie wieder am Klavier begleiten und Océan war froh, sich auf ihre beste Freundin verlassen zu können. Selbstverständlich war das nicht, denn auch Flaque musste bei der Vorbereitung für den bevorstehenden Karneval mithelfen und dementsprechend eng war der Zeitplan des kleingewachsenen Mädchens. Océan war stolz, dass ihre Freundin in einem der Orchester mitspielen konnte. Verdient hatte sie es, denn Océan kannte niemanden der besser Piano spielen konnte, als die ruhige, schüchterne Flaque. Außer vielleicht Cas.

Und genau das war der Grund warum, Océan ihren Kindheitsfreund nicht bei sich haben wollte. Mehr als einmal hatten die Beiden besprochen, wie es ablaufen sollte, wenn sie alt genug waren, um bei dem Fest teilzunehmen. Immer und immer wieder. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie singen oder tanzen würde, während er sie mit seinen wunderbaren Klängen am Klavier unterstützte. Sie beide. Als Team.

Aber Pustekuchen. Cas hatte sich in der gleichen Kategorie angemeldet wie Océan und das bedeutete sie waren nun Rivalen. Um die gleiche große Chance den Solopart beim „Carneval du Vagues“ zu bekommen. Nie hatte sich die junge Aquamanin schrecklicher gefühlt. Verraten und enttäuscht war sie. Natürlich hatte sie nach dieser Botschaft gefragt, warum Cas getan hatte, was er getan hatte. Ihr Lohn war eine schwammige Bemerkung und ein unwiderstehliches Grinsen gewesen und eine kochende Wut im Bauch. Seit dem ging sie Cascatelle aus dem Weg. Das schmerzte zwar, aber nach dem Karneval würden sie alle Zeit der Welt haben, ihr Problem zu klären. Zumindest hoffte Océan das.
 

„Chérie? Kommst du, wir müssen los?“

Die hohe Stimme ihrer Mutter hallte von der Wendeltreppe nach oben und brachte fast schon das Glockenspiel im Flur zum klingeln. Mit einer schnellen Bewegung griff sich Océan die Tasche neben ihrem weichen Fellbett und stürzte die Stufen hinunter.

„Langsam, stell dir vor du rutscht aus.“

„Tu ich doch nie, Maman!“, entgegnete das Mädchen auf den Rat ihrer Mutter und schlüpfte hastig in die dicken Pelzstiefel.

Von den Nachbarn und Freunden wurde Ecume Mireille häufig nur 'Madame' genannt. Sie und demnach auch ihr Mann und ihre Kinder gehörten keineswegs zur oberen Schicht, doch ihre erhabene und elegante Art, ließ es für alle so erscheinen. In ihrem Gesicht schien alle Güte dieser Welt zu ruhen und Océan und ihr Bruder waren wohl die Einzigen, die das Gegenteil behaupten konnten. Nicht, dass ihre Mutter sie in irgendeiner Weise brutal behandelt hätte, aber wenn in geschwisterlicher Streiterei mal etwas zu Bruch gegangen war, wurde die Engelsstimme ganz schnell zum Gesang der Furien. Océan liebte ihre Mutter über alles, auch wenn sie sich immer öfter missverstanden fühlte. Das würde aber an der Pubertät liegen, pflegte 'Madame' dann stets zu sagen und jedes Mal erntete sie dafür ein entnervtes Augenrollen.

„Natürlich, mein Kind. Ich habe genügend Beweisfotos, die dir das Gegenteil zeigen.“

Ecume kicherte und tätschelte ihrer Tochter liebevoll den Kopf.

„Nun hopp hopp, wir müssen deinen Bruder noch abholen, bevor wir zur Festhalle aufbrechen.“

„Mer kann auch alleine laufen, der ist alt genug und macht mich sowieso nur kirre.“, schnaubte Océan missmutig, während sie nochmals ihre Tasche überprüfte. Etwas Gutes hatte es, in einem Dorf unweit der Hauptstadt des östlichen Kontinentes zu wohnen. Man war fix bei diversen Einkaufsmöglichkeiten und man musste nicht weit weggehen um Karriere zu machen oder seinen Beruf auszuüben. Und da Océans älterer Bruder Mer seine Ausbildung in der Hauptstadt absolvierte, würden sie ihn einsammeln und dann direkt weiter zur großen Festhalle wandern. Océan wohnte aber deutlich lieber in Batist, als in der riesigen Hauptstadt. An den vielen Farben und riesigen Gebäuden hatte sie sich schon nach ihrem ersten Besuch sattgesehen.

Dank den Aeromanen und ihren technischen Entwicklungen musste man mittlerweile sogar nicht mal mehr zu Fuß gehen, wenn man von A nach B wollte. Die Menschen wurden Océan viel zu bequem, obwohl sie dem Mechanikerstamm ab und an ganz dankbar für ihren Schnickschnack war.

Vor allem ihre Mutter freute sich darüber, dass die verschiedenen Stämme ihre Talente untereinander nutzen. Sie war einfach viel zu lieb für diese Welt.

Unbemerkt von ihrem Kind, welches sie gerade mit einem Küsschen ablenkte, schob Ecume ein kleines, eingepacktes Stück Schokolade in den wichtigen Beutel.

„Du machst das schon, Chérie. Wir feuern dich an.“
 

„Und? Bist du gut vorbereitet?“

Cas trat neben Océan, als diese gerade in der Umkleide saß und in Gedanken ihre Choreographie durchging. Der winzige Raum war zum Wartezimmer umfunktioniert worden, in welchem die Teilnehmer ihrem großen Moment entgegenfiebern mussten. Überall lagen Beutel, Kostümteile und diverse andere Sachen herum, welche von ihren aufgeregten Besitzern in ihrer Hektik vergessen worden waren.

„Selbstverständlich.“, war ihre knappe Antwort. Sie wollte sich jetzt nicht mit Cas unterhalten, das würde sie sicherlich nur verunsichern und ihren Kopf mit unnötigen Zweifeln und Gedanken füllen. Ihr Geist musste ruhig und im Einklang mit ihrem Körper sein, wenn sie diesen Wettkampf für sich entscheiden wollte.

„Hm...“

Einen Moment lang trat Stille zwischen die beiden Freunde. Was für eine seltsames Stimmung.

Normalerweise war alles voller Lachen, wenn die Beiden zusammen waren und Océan vermisste dieses warme, behütete Gefühl in ihrem Herzen. Sie hoffte so inständig, dass sich nach dem Vorentscheid alles klären würde, sicherlich würde sie andernfalls in tausend Teile zerbrechen.

„Ich finde...“, setzte Cas nach ein paar Augenblicken dann an. „...du solltest nicht an diesem Vortanzen teilnehmen.“

Mit einem Mal war die Spannung in der Umkleide unerträglich scharf geworden, wie ein Jagdmesser, direkt an der Kehle ihres Opfers. Die Luft, die Océan einsog, schnitt ihr in den Hals, war kalt und erbittert darauf, ihr die Stimme entzwei zu schlitzen.

Warum sollte Cas das von ihr verlangen? Er wusste doch, wie viel ihr dieser Auftritt bedeutete. Und hatten sie nicht gemeinsam von dieser Chance geträumt? Waren sie denn kein Team gewesen?

Während Océan immer noch wie ein angeschossenes Tier auf den Boden starrte, hatte sich ihr Freund direkt vor sie positioniert und bedachte sie mit einem undeutbaren Blick.

„Nimm nicht teil. Tritt nicht auf. Glaub mir, das wäre besser für uns beide.“, sprach er und in seiner Stimme lag ein seltsames Gefühl. Jedes seiner Worte stach weiter auf Océan ein.

Ihr Kopf schien so leer und weiß, wie die endlose Salzwüste im Süden des Landes, wie die Schneefelder auf denen Cas und sie als Kinder so gerne gespielt hatten.

Sie merkte kaum, dass sie wieder alleine im Raum war. Die Tür hatte sich unmerklich für Cas geöffnet und wieder geschlossen.

Sie wollte weinen, aber sie war viel zu schockiert um Tränen zu vergießen. Als hätte ein Verrat ihres besten Freundes nicht gereicht, riss dieser Teufel erneut an ihrem Herzen.

Es war vorbei.

Zögernd stand sie auf und beugte sich schweigend über ihren Beutel, wollte sich Wasser herausholen, um etwas gegen ihren schmerzenden Hals zu tun. Stattdessen purzelte ihr das Stück Schokolade entgegen. Wie war es dorthin gekommen? Wer hatte es dort hinein getan?

Natürlich kam ihr sofort das mild lächelnde Gesicht ihrer Mutter in den Kopf. Ihre liebe Mutter, die so an sie glaubte. So wie sie an sich selbst glauben sollte.

Niemand, nicht einmal Cas würde sie aufhalten könnte. Sie würde es alles beweisen. Ganz besonders ihrem so genannten Freund.

In Océan brodelte es, wie in einem Geysir, kurz vor einem Ausbruch. Oh, wie sie sich auf sein Gesicht freute, wenn er sah, dass sie es schaffen würde und er nicht.

Er würde es nicht schaffen...und wenn sie selbst dafür sorgen müsste.
 

~
 

„Was soll das heißen, jemand ist schwer verletzt?“

Der Aufschrei einer Teilnehmerin hallte durch den Aufenthaltsraum und sorgte augenblicklich für herumfahrende Köpfe und geweitete Augen.

Auch Océan und ihre Familie blickten verwirrt zu dem jungen Mädchen und der großgewachsenen Jurorin. Diese zupfte nervös an ihrer perfekt geschminkten Unterlippe.

„Nun, wie es scheint hat es einen Unfall während eines Auftrittes gegeben. Der arme Kerl brach auf einmal zusammen und hielt sich den Fuß. Alles war voller Blut und...“

„Wer? Wem ist das passiert?“

„Was, wenn die Bühne unsicher ist?“

„Oh nein, ich bin doch gleich dran!“

Mit einem Mal wurden unzählige aufgeregte Stimmen laut und vermischen sich zu einer unangenehmen Melodie, dessen Zentrum sich bei der nun überforderten Jurorin befand. Nur Océan blieb still sitzen und beobachtete besorgt das Gemenge an Körpern.

„So ein Unglück...“, murmelte ihre Mutter, hielt sich eine Hand vor den Mund und schüttelte leicht den Kopf. „Das jemandem das auch noch genau während eines so wichtigen Moments passiert.“

„Hoffentlich kümmern sich die Bühnenarbeiter schnell darum, dass die Fläche wieder fit wird. Auch um herauszufinden, wie sowas passieren konnte.“, ergänzte Mer, während sein Blick unruhig zwischen seiner Schwester und der schnatternden Menschentraube wechselte. Als angehender Sicherheitswachmann war es nur naheliegend, dass er sich eher um das Warum und Wieso kümmerte.

Océan hingegen ignorierte die Mutmaßungen, welche ihr Bruder jetzt aufzählte und konzentrierte sich weiter auf die Tür, vor der sich die Teilnehmer drängelten.

Ihre Gedanken rotierten.

„Océan! Océan! Wo ist Océan Mireille?“

Die zarte, wenn auch durch die Lautstärke verzerrte Stimme, hätte das Mädchen unter Tausenden erkannt. Sofort erhob sie sich und eilte zu ihrer Freundin, die sich gerade mit Müh und Not an den anderen Damen vorbei zu schieben versuchte.

„Flaque?! Ich bin hier. Was ist los?“, fragte Océan und hielt Flaque an den Schultern. Plötzlich waren sie zum Zentrum der Aufmerksamkeit geworden. Alle hielten den Atem an, um bloß nichts von dem zu verpassen, was jeden Augenblick enthüllt werden würde.

Flaque holte hingegen einmal tief Luft.

„Cas...Cascatelle ist...“

2. Triomphe

Die nächsten Tage waren grau und leise.

Ein Blick aus dem Fenster endete wenige Meter vor dem nächsten Gebäude, der Nebel war dick wie Großmutters Schneegestöbersuppe. Zumindest hatte es nicht wieder geschneit, obwohl Océan weiße Flocken deutlich lieber waren, als trübsinniges Nebelwetter. Dann konnte sie an eine schönere Zeit denken, in welcher sie draußen versucht hatte mit dem bisschen Magie, was sie beherrschte, die Eiskristalle im Flug in Wasser zu verwandeln.

Zusammen mit ihm.

Während der Zeit des Vortanzens waren die Teilnehmer vom regulären Schulunterricht befreit, um sich ganz dem Wettkampf widmen zu können. Und diese Zeit war auch mehr als nötig. Zwar waren die Schulfächer im Einklang mit dem, was beim „Carneval du Vagues“ dargeboten wurde, doch die Anwärter auf die Soloparts bekamen schon seit jeher eine Sonderbehandlung. Meist waren genau diese Auftritte nämlich das, von allen anderen Stämmen erwartete, Highlight und zu so etwas wie dem Aushängeschild der Aquamanen geworden. Es galt Erwartungen zu erfüllen.

Genau wie Cascatelle sie eigentlich zu erfüllen hatte.

Beschämt verdeckte Océan ihre Augen mit ihrem Arm, krallte sich mit der freien Hand in ihr Bettlaken, als hätte sie Angst herunterzufallen. So hatte sie sich diesen wichtigen Tag nicht vorgestellt.

Man hatte ihnen, nachdem sich der ganze Trubel ein wenig aufgelöst hatte, erklärt, Cas sei an einem Splitter am Bühnenboden hängen geblieben und hätte sich den Fuß aufgerissen. Die Wunde war tief und schmerzhaft und vermutlich lag der Junge nach wie vor im Krankenhaus. Océan wusste es nicht. Sie hatte sich nicht getraut, Cas zu sehen, auch wenn sowohl Flaque als auch ihre Familie oft genug darauf bestanden hatten. Ihr Gewissen erlaubte es ihr nicht.

Dabei wollte sie doch nicht, dass es so endet. Ein fairer Wettkampf sollte es sein und nicht...das.

Ein zartes Klopfen lies sie aufschrecken, sich schnell die Haare richten und sich aufsetzen.

„Herein?“

Ihr Bruder streckte den Kopf durch den Türspalt. Seltsam sah er aus. Die sonst so wilden, meerfarbenen Haare, die eine Art Familienerbe darstellten, waren sauber aus dem Gesicht gekämmt, der kleine Bart abrasiert und er trug eine edle Felljacke. Scheinbar war in seiner Schule heute irgendeine Festivität, Océan hatte aber keine Idee, welche. Er erinnerte sie an eine Art Zirkusbär und sie hoffte, er würde diese Kluft bald wieder ausziehen.

„Hey, Kleine.“, sagte ihr Bruder sanft und seine tiefe Stimme füllte das mädchenhafte Zimmer. „Wie geht’s dir?“

So oft sie stritten, so nahe waren sich Mer und Océan. Die Geschwister verband ein starkes Band aus Verständnis und Vertrauen, welches wohl niemand so schnell zerschneiden könnte. Sie gingen zusammen durch dick und dünn, dennoch blieben Streitereien nicht aus. Ihre Mutter hatte den Beiden einmal gesagt, dass Bruder und Schwester, die ab und zu mal zankten eine ganz besondere Art der Verbundenheit teilten. Leider nahmen Océan und ihr Bruder das oft genug als Rechtfertigung für die unterschiedlichsten Keilereien.

„Mein Kopf spielt Kreisel, aber sonst...“, antwortete Océan und zwang sich zu einem kleinen Lächeln. Sie hoffte, die geröteten Augen verrieten nicht, dass sie geweint hatte. Mer setzte sich währenddessen auf den kleinen, mit Fell besetzten Hocker gegenüber vom Bett und faltete ruhig die Hände im Schoß.

„Cascatelle kommt schon wieder auf die Beine, der ist eine zähe Haut.“, sprach Mer, eine angenehme Wärme in der Tonlage. „Aber du solltest ihn wirklich mal besuchen gehen, Freunde sind die beste Medizin.“

„Hm...“

Unfähig eine Antwort zu formulieren, die sie selbst zufriedenstellte, beobachtete Océan den Holzboden zu ihren, in bequeme Socken gehüllten, Füßen. Sie konnte und wollte mit niemandem über ihre Gedanken sprechen, sogar mit Mer nicht und das hatte einiges zu bedeuten. Selbstverständlich bemerkte der junge Mann, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Noch weniger, als er vermutet hatte, sobald er die heiligen Räumlichkeiten seiner kleinen Schwester betrat. Sicherlich hatte sie ihre Gründe, nicht reden zu wollen, aber wenn es etwas war, dass die sonst so lautstarke und fröhliche Océan zum Schweigen brachte, musste eine ernste Sache dahinterstecken.

„Machst du dir solche Sorgen um den Wettbewerb, dass dir dein Sandkastenfreund egal geworden ist?“, hakte er nach, doch seine Schwester schüttelte augenblicklich vehement den Kopf.

„Nein! So ein Blödsinn, seit wann bin ich denn in deinen Augen so gefühlskalt? Ich...“, sie stockte kurz. „Ich weiß noch nicht, wie ich über das reden kann, was gerade mit mir los ist.“

Fragend legte Mer eine Hand an sein Kinn und lehnte sich etwas auf dem Hocker zurück, dabei überschlug er die Beine. Sein Blick wechselte zwischen den nervösen Fingern Océans und der Zimmerdecke hin und her.

„Hattest du mir nicht mal irgendwann erzählt, dass du Cas total süß findest? Stehst du auf ihn?“

Was für eine Ansage. Sie riss die unsichere Océan mit einem unerwarteten Schwung auf den Boden der Tatsachen zurück und ihre wirren Gedanken waren mit einem Mal nüchtern. Errötend sprang sie auf.

„Da war ich neun, Mer! NEUN! Das ist ewig her.“ Sie seufzte. „Es ist was anderes...“

Eine drückende Stille bildete sich nun um die Beiden, in welcher jeder wohl erwartete, etwas Wichtiges würde gesagt werden. Doch ihre Lippen blieben wie mit Wachs versiegelt.

Nachdem Mer eine Augenbraue gehoben und kurz den Kopf geschüttelt hatte, stand er auf und tätschelte liebevoll das gesenkte Haupt seiner kleinen Schwester. Seiner kleinen, jetzt so stillen Schwester.

„Du weißt schon, was für dich das Beste ist. Wenn was ist, kommst du zu mir, in Ordnung?“, sagte er.

Océan nickte kurz, als Mer sich beim Verlassen des Zimmers noch einmal umdrehte, als sei ihm etwas eingefallen.

„Maman hat bald das Essen fertig. Es gibt dein Lieblingsgericht, also komm gleich runter.“

Er war unheimlich froh, als sich nach dieser Aussage Océans Gesichtszüge wieder erhellten, wie eine kleine Sonne, die aufgegangen war.

Ein Lächeln passte einfach viel besser zu ihr.
 

~
 

Am späten Abend hatte sich der Nebel etwas gelichtet und schwebte nun bedrohlich, wie ein Geist über dem kalten Boden. Die Menschen in Batist hatten sich größtenteils in ihre warmen Behausungen zurückgezogen und als Schutz gegen die nordische Kälte und die Dunkelheit einen Holzscheit mehr auf den treuen Ofen gelegt. Auf den feinen Sandstraßen, die mehr Trampelpfaden glichen und in der Schneelandschaft wie gelblich braune Adern wirkten, war es so still wie in einer Götterstätte und Océan fühlte sich beinahe beobachtet, als sie sich geräuschlos aus der Haustür schlich.

Mit Kapuze und einem kleinen Zettel bewaffnet huschte sie durch den gepflegten Vorgarten voller Schneeblumen und schwang sich beherzt über den Zaun. Der Weg war nicht sonderlich lang, aber um diese Zeit noch draußen zu sein, konnte gefährlich sein. Immer wieder durchstreiften Banditen oder sonstiges Gesindel die kleine Händlerstadt auf dem Weg zur Hauptstadt und gerade für ein junges, unachtsames Mädchen war das tückisch. Sie bekamen Reichtum, Berühmtheit oder dergleichen versprochen, doch letztlich landeten sie dann in einem der Bordelle in einer der Hauptstädte der fünf Kontinente. Gerade bei den, sonst so prüden, Pyromanen waren die exotischen Aquamanen-Mädchen vom anderen Ende der Welt eine willkommene Abwechslung vom Bücherschreiben.

Océan schüttelte sich bei diesem Gedanken und zog sich die schützende Kapuze gleich noch ein Stück tiefer ins Gesicht. Sie durfte auch nicht zu lange fort bleiben. Nachts wurde es oft unmenschlich kalt und ohne passende Schutzkleidung präsentierte man sich dem frostigen Tod quasi auf dem Silbertablett. Deswegen beschleunigte sie ihren Schritt und bald war das große Gebäude mit dem roten Kreuz und Ziel dieser Aktion in Sichtweite.

Mit einem erleichterten Seufzer betrat sie die Eingangshalle des Krankenhauses, befreite kurz ihre Stiefel von Schnee- und Sandresten und stellte sich an das Pult, hinter welchem eine brummige, mollige Schwester ihre Nachtschicht angetreten hatte.

Océan mochte keine Krankenhäuser. In ihnen roch es immer so steril und ordentlich und vor allem ungemütlich. Genauso emotionslos wirkte das Foyer mit den hellblauen Vorhängen, der Sitzgelegenheit mit den weißen Möbeln und dem nichtssagenden Gemälde an der weißen Wand. Schrecklich.

„Ehm...ich suche Cascatelle Brouillard, er wurde hier vor zwei Tagen mit einer Fußverletzung eingeliefert und ich würde ihn gerne besuchen.“, erkundigte sich Océan mit einem raschen Blick auf ihren Zettel. Dort hatte sie zur Vorsicht alles aufgeschrieben, was sie vielleicht an Informationen angeben musste, um Zugang zu Cas' Zimmer zu bekommen.

Ihre Antwort war ein müdes Schnauben und ein Blick, der einen zum Einschlafen verleiten konnte.

„Um die Uhrzeit? Bist du eine Familienangehörige, Kindchen?“

„Nein, ich bin...eine Freundin.“ Erschreckend, wie schwer ihr dieses Wort über die Lippen kam. „Mein Name ist Océan Mireille.“

Die Schwester hob ihre wulstigen Augenbrauen, bückte sich und holte nach einigen Augenblicken eine dünne Akte aus einem der Schränke. Mit einer unnötig raschen Geste schlug sie den Ordner auf und fuhr mit dem Finger über die blauen Tintenbuchstaben, bis sie gefunden hatte, was gesucht wurde.

„Hier stehst du...Der Junge hatte den Ärzten gesagt, dass man dich durchlassen sollte. Also mach, dass du in Zimmer 408 kommst. Ich hab hier noch zu tun!“ Woraufhin sie sich lautstark räusperte und sich ihrem Groschenroman widmete, welcher neben ihr bei den Unterlagen wartete.

Océan bedankte sich knapp und schüttelte auf dem Weg zum Treppenhaus dezent den Kopf. Eigentlich dachte sie, Krankenschwester sei eine Profession der man aus Nächstenliebe nachging. Die Dame am Empfang überzeugte sie nun vom Gegenteil.

Auf den Gängen war es ruhig, ab und zu kam ihr ein Arzt oder eine Schwester entgegen, von Patienten fehlte aber jede Spur. Scheinbar war bereits die Nachtruhe angebrochen, kein Wunder bei dieser Uhrzeit.

Es dauerte nicht lange, bis sie vor der dunkelgrauen, kahlen Tür zum Zimmer 408 stand. Sie zögerte. In ihr tobte ein verzweifelter Konflikt. Die Tür öffnen und sich dem Menschen stellen, vor dessen Reaktion sie am meisten Angst hatte? Oder wieder gehen? Ihre Füße zuckten bei dem Gedanken sich wieder zurück in ihr wohl behütetes Heim zu schleichen, doch sie wusste, dass das nicht der richtige Weg war. Nach tiefem Luftholen klopfte sie erst zart und drückte dann die Klinke herunter.

„Cas?“, flüsterte sie vorsichtig, während sie mit pochendem Herzen weiter in den Raum trat. Keine Antwort, dann sah sie ihn. Blass lag er schlafend in dem sauberen Bett, den dick verbundenen Fuß auf einem speziellen Kissen platziert und einen friedlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Auf Zehenspitzen schlich sie bis an die hölzernen Bettpfosten, an welchen eine Tafel mit medizinischen Daten hing und setzte sich auf den kleinen Hocker am Kopfende. Bedacht darauf, Cas nicht zu wecken, beugte sich Océan etwas vor.

„Wenigstens scheinst du in Ruhe schlafen zu können, du Doofkopf...“

Ihre Stimme war fein, wie die Seide einer Raupe, aber trotzdem klar und hell, wie frisch gefallener Schnee. Sie schluckte kurz.

„So sollte das nicht laufen, Cas...das weißt du auch. Ich wollte das nicht, du dummer Kerl. So wollte ich das nicht.“

Viel zu schnell wanderte ihr Blick zu den zitternden Fingern in ihrem Schoß und sie merkte, wie sie mit den Tränen zu kämpfen hatte. Wie schwach sie doch in seiner Gegenwart sein konnte. Dann ergriff sie behutsam Cascatelles Hand.

„Warum musstest du auch sowas Dummes sagen? Und sowas Dummes tun? Es ist alles deine Schuld...“, schluchzte Océan leise und wische sich einmal über die rote Nase. „Ich wollte das doch nicht tun. Ich wollte dir doch nicht weh tun. Nicht so.“

Und damit war es ausgesprochen.
 

~
 

Es vergingen einige Tage, in denen sich die Sonne endlich wieder öfter zeigte. Zwar lies der Sommer noch auf sich warten, aber die ersten warmen Tage kündigten sich bereits durch laue Winde aus dem Westen an. Schmelzen würde der Schnee nicht, aber milde Luft tat der Seele und dem Gemüt gut.

Die Verkündung der Solotänzer und Sänger sollte heute stattfinden, also hatte sich Familie Mireille einmal mehr herausgeputzt und war zur Festhalle der Hauptstadt gepilgert.

Auf der steinernen Bühne mit dem kunstvoll verzierten Podium standen die vier Juroren und beratschlagten, wie das weitere Vorgehen ablaufen sollte. Vor ihnen breitete sich eine beeindruckende Masse an Aquamanen aus, hauptsächlich bestehend aus Verwandten, Freunden und Familie der Teilnehmer, alle wild durcheinander plappernd. Lediglich Océan blieb schweigen zwischen ihrer Mutter und ihrem Bruder stehen und behielt den Blick lieber nach unten gerichtet.

Nie hätte sie gedacht, dass sie gerade an diesem Tag so empfinden würde, sie hatte ihm doch so entgegengefiebert. Nicht mal Flaque und deren Familie konnten sie aufheitern und das schafften sie sonst mit Leichtigkeit. Cas hatte sie noch nicht entdeckt, aber sie wollte in der Menge auch nicht nach ihm suchen.

Endlich dämmte sich das Licht und einer der Juroren, ein bärtiger, alter Mann mit schweren Linien im Gesicht, trat an das Podium, hob die Hände, woraufhin sich die Menschen langsam beruhigten.

„Liebe Aquamanen, wir haben uns hier heute, nach reiflichen und anstrengenden Überlegungen, versammelt, um die Solotänzer des herrlichen 'Carneval du Vagues' preiszugeben. Wie in jedem Jahr ist es uns sehr schwer gefallen, die Auserwählten zu bestimmen, welche uns bei dieser wichtigen Festivität vertreten sollen, denn ausnahmslos alle Teilnehmer haben beeindruckende Leistungen erbracht.“

Ein kurzer Applaus ging durch die Reihen.

„Ohne lange Verzögerung fangen wir jetzt mit der ersten Altersgruppe an. Die Zehn- bis Zwölfjährigen der Tänzer.“

Es folgten zwei Namen, die Océan irgendwo schon einmal gehört hatte, aber nicht einsortieren konnte. Vielleicht würde sie später ihre Mutter nach den beiden Mädchen fragen, welche nun auf die Bühne huschten und etwas verschüchtert ihre Urkunden entgegennahmen. In dieser Altersgruppe war es üblich, zwei Tänzer auszuwählen, da den Kleinen durch einen Partner ein Teil der Aufregung genommen wurde.

„Kommen wir zur nächsten Gruppe: den Dreizehn- bis Sechzehnjährigen.“

Océan hielt den Atem an. Jetzt war er da, der Moment. Der wichtige Moment. Ihre Augen schweiften vor Nervosität nach recht und links, sie wollte nicht mehr hier sein. Nein, sie gehörte nicht mehr hierher.

Dann trafen sich ihre Blicke. Müde sah er aus. Stützte sich schwach auf die Krücken unter seinen Achseln und schenkte ihr ein wunderschönes Lächeln, nickte ihr aufmunternd zu. Wie hübsch er aussah, auch mit seiner, von ihr zugefügten, Verletzung. Am liebsten hätte Océan zu weinen begonnen, doch ihr Bruder gab ihr einen Klaps auf den Rücken.

„Hey! Nun geh schon!“, sagte er laut und euphorisch.

„Was..?“, stammelte Océan als Antwort.

„Du hast es geschafft, du Dummerchen! Du hast den Solopart!“

Taub starrte Océan Richtung Bühne, dann auf ihren Bruder und ihre Mutter, dann auf die jubelnden Menschen um sie herum.

Nie hatte sie sich inniger gewünscht, jemand anders zu sein.

3. Vertu

„Was soll das heißen, du spielst nicht? Ich dachte...“

Die Proben für den Karneval liefen seit der Bekanntgabe der Auserwählten auf Hochtouren. Teilnehmer um Teilnehmer bekam spezielle Tutoren und Trainingseinheiten zugeteilt und die Übungen gingen häufig bis in die späte Nacht. Eine Behilfsbühne wurde zur Verfügung gestellt, da sich der eigentliche Ort des Spektakels noch im Aufbau befand.

Océan und die Anderen schliefen jetzt in einem schicken, kleinen Hotel nahe der Festhalle, damit sie stets abrufbereit waren. Nicht, dass sie das stören würde, aber ihr schlechtes Gewissen holte sie immer wieder ein. So auch zwei Wochen vor dem großen Tag, als Flaque ihre beste Freundin im Stich lies.

„Es geht einfach nicht, Océan...Es tut mir schrecklich Leid, aber...“

„Nichts 'aber'! Was soll ich denn jetzt machen? Nur du kennst doch unsere Noten, unseren Ablauf...“, ihre Stimme zitterte vor Wut und Trauer und Unverständnis. Sie wusste nicht, was sie denken oder tun sollte und schließlich war sie wie ein erschrockenes Tier davongerannt. Es war entschieden, einfach so und ohne weitere Erklärung. Flaque würde nicht den Klavierpart für ihren Auftritt spielen und Océan stand nun ohne Rückendeckung da. Nach dem erschütternden Gespräch war sie zu ihrer Trainerin gelaufen und hatte nach Ersatz gefragt, woraufhin diese sofort sämtliche Hebel in Bewegung setzte. Glücklicherweise hatte das Mädchen mit ihrer Vertrauten eine echte Spezialistin an die Hand bekommen, sodass sie sich keinerlei Gedanken um ihren Auftritt machen musste.

Selbstverständlich rotierte ihr Kopf voller Irrungen und Dingen, die sie einfach nicht verstehen wollte. Zuerst Cas und nun sogar Flaque. Die zwei wichtigsten Personen in ihrem Leben hatten sie bei der Erfüllung ihres Traums im Stich gelassen. Sie fühlte sich allein, ohne Schutz in dem riesigsten Schneesturm, den sie je erlebt hatte.Und wenn Océan vor etwas Angst hatte, dann vor dem Alleinsein. Ihre Familie, welche Océan so oft es die Zeit erlaubte besuchte, gab ihr gewiss Halt, doch ohne ihre besten Freunde fehlte etwas Entscheidenes.

Von Cas hörte sie nur Geflüster. Sein Vater setzte sich wie ein Berserker dafür ein, dass sein Sohn eine namenhafte Rolle im Karneval bekam. Ob diese Unternehmungen allerdings Früchte getragen hatten, wusste Océan nicht, dazu war das Getuschel der anderen Mädchen zu leise gewesen.

Sie wollte ihn sehen und mit ihm reden. Ihn fragen, wie es ihm ging und dann einen witzigen Spruch über sein Bein klopfen, obwohl ihr das eigentlich nicht zustand. Der Gedanke brachte sie zum lächeln, während sie in ihrem Hotelzimmer an der Kommode hockte. Vielleicht würde sie ihn während des Karnevals treffen und sich dann noch einmal bei ihm entschuldigen. Für ihre Dummheit und ihren Neid. Ihr Blick glitt aus dem Fenster.

Die weiß-grauen Straßen der Hauptstadt waren überschüttet mit Girlanden, Bannern, Glanz und Gloria. Alles glitzerte vor Farben und Frohsinn, sodass man unweigerlich zum Schmunzeln gebracht wurde, verlor man sich auch nur einen Wimpernschlag in dem bunten Gewimmel.

Menschen aus den verschiedensten Regionen der Welt tummelten sich vor den künstlerischen Gebäuden, bestaunten die eigenwillige Architektur, die krummen Fenster und die, oft mit Eis verkleideten, Fassaden. Océan entdecke dunkelgrüne, strenge Uniformen der Terramanen, einige der roten, reichlich bestickten Festroben der Pyromanen und auch mit Federn geschmückte, charmante Kleider der Aeromanen. Sogar eine kleine Gruppe unsicherer Lumiomanen stach mit ihren grellen, gelben Gewändern aus der Menge heraus, obwohl sie das vermutlich gar nicht wollten. Ihr Anblick stimmte die junge Aquamanin wieder etwas fröhlicher. Einige Jahre vor Océans Geburt, wurde das friedliche Volk der Lumiomanen durch einen katastrophalen Vorfall mit ihrem Bruderstamm, den Noctomanen, beinahe ausgelöscht und seitdem trauten sie sich kaum mehr aus ihrer Heimat, dem zentralen Kontinent, heraus. Was nur verständlich war, viele Städte waren zerstört oder beschädigt und auch mit Hilfe der anderen Stämme gingen die Arbeiten nur langsam voran. Seitdem hatten sich die Lumiomanen so weit wie möglich abgeschottet, aus Angst und wohl auch aus dem Bedürfnis nach Ruhe. Auf dem letzten 'Carneval du Vagues' waren ebenfalls einige Lumiomanen anwesend, doch damals hatte Océan sie nicht zu Gesicht bekommen. Einen Noctomanen zu sehen kam ihr nur ganz kurz in den Kopf. Wenn einer von ihnen hier war, dann ganz sicher in Verkleidung und illegal.

Doch all das waren nur Ablenkungen, die von ihrem Verstand verzweifelt abgerufen wurden, um ihre Aufmerksamkeit vom Unausweichlichen zu entfernen. Natürlich vergeblich, denn hinter ihr lauerte das Gewand ihres Sieges.

Die Näherinnen, welche dieses Jahr für die Kostüme der Solotänzer verantwortlich waren, hatten sich einmal mehr selbst übertroffen. Ein weicher, dünner Seidenstoff, der mit einer besonderen Muschelart in ein zartes Hellblau gefärbt worden war, schmiegte sich an den Oberkörper der Aufstellpuppe im hinteren Teil des Zimmers. Allein dieses Kleidungsstück war sicherlich mehr wert, als alles was Océan bisher gesehen oder besessen hatte. Ganz zu schweigen von dem Schmuck, welcher als Zierde an vielen Ecken und Enden angenäht war. Auch die dazugehörigen blauen und schwarzen Röcke mit den feinen silbernen Verzierungen waren sicherlich aus Seide angefertigt worden, der leichte Schimmer verriet die hohe Qualität des exotischen Produktes. Seide wurde von Funkenraupen gewonnen, welche ausschließlich auf dem westlichen Kontinent der Pyromanen zu finden waren und die Zucht war kein sonderlich leichtes Unterfangen. Zu Stoff versponnen wurde das wertvolle Material in den Maschinen der Aeromanen auf dem nördlichen Kontinent und gefärbt schließlich bei den Aquamanen im Osten der Welt. So hatte dieses Tanzerinnenkleid schon deutlich mehr von der Welt gesehen als Océan. Bis vor ein paar Wochen hätte sich das Mädchen sicherlich kaum bändigen können, bei dem Gedanken, in diesem wundervollen Kostüm endlich dort zu stehen, wo sie Menschen aus aller Welt sehen konnten. Und sie hätte sie mit ihrem Tanz berühren und verzaubern können, sodass sie gesagt hätten, sie würden dieses Schauspiel bis zu ihrem Tode nicht vergessen.

Stattdessen hockte Océan hier, mit unendlich schwerem Herzen und weinte still über ihre Einsamkeit.
 

Der große 'Carneval du Vagues', das Spektakel, welches die Stämme vereinte, begann mit einem schüchternem Sonnenaufgang und reichlich Nebel auf den Straßen.

Einige Nachteulen, welche sich in den Bars und Lokalitäten amüsiert hatten, trotteten torkelnd zu ihren Übernachtungsmöglichkeiten und würden vom eigentlichen Fest sicherlich nicht das mitbekommen, was sie sich gewünscht hatten.

Die Straßen füllten sich rasch mit den verschiedensten Arten von Menschen und die anfängliche Gruppenbildung nach Stämmen war längst herzlichem Miteinander gewichen.

Für Océan fing der Tag ebenfalls mit den ersten Sonnenstrahlen an, auch wenn sie vor lauter Nervosität kaum hatte schlafen können. Immer noch hatte man ihr nicht gesagt, wer ihre Klavierbegleitung an Flaques Statt übernehmen sollte und diese Unsicherheit raubte ihr sämtliche Nerven. Bei der Generalprobe hatte ihre Trainerin diesen Part gespielt, allerdings auf Nachfrage nur unverständliches Dies und Das geantwortet. Letzten Endes war Océan mit einem „Keine Sorge“ unter die Dusche geschickt worden. Perfekt.

Eine gefühlte Ewigkeit hantierten nun fleißige Helfer an der jungen Aquamanin herum, energisch darauf fixiert, aus ihr das Highlight des Tages zu machen. Hier wurde eine Puderquaste geschwungen, dort ein Pinsel angelegt, ihr Kleid bis auf das kleinste Detail aufpoliert und penibel drapiert. Als sie sich dann im Spiegel ansah, kam Océan sich vor wie ein seltenes Tier, welches gleich in einem Zirkus auftreten sollte. Die ganze Nacht hatte sie sich positive Gedanken einzureden versucht. Dass das hier doch ihr Traum sei, für den sie so lange und so hart gearbeitet hatte. Dass sie es genießen sollte, wo es nur geht. Doch immer und immer wieder blieb sie an Flaque, aber noch viel mehr an Cascatelle hängen. Sie vermisste ihn so sehr. Als Team wollten sie auf der Bühne stehen und die Massen zum Staunen bringen und nun?

„Hallo, Prinzessin! Wie ist die Stimmung, meine kleine Schneeflocke?“

Es gab nur einen Menschen, der Océan so nannte: Ihr Vater Goutte. Und genau dieser kam gerade mit einem breiten Grinsen durch die Tür der Garderobe gepoltert.

„Papa! Papa, du bist hier!“, rief Océan aufgeregt, befreite sich von den Helfern und flog dem großgewachsenem, bärtigem Mann in die Arme. „Ich hatte mir so gewünscht, dass du es schaffst herzukommen!“

Ihr Vater lachte herzlich und strich seiner Tochter liebevoll durch das Haar, was die Frisurhelfer unweigerlich in Panik versetzte.

„Na hör mal! Als ob ich mir den großen Auftritt meiner süßen Lieblingswelle entgehen lassen würde. Die alten Knacker im Rathaus kommen auch mal ohne mich zurecht, vermutlich sind sie gerade selbst ein Gläschen am heben, haha.“, witzelte Goutte über seine Kollegen. Océans Vater war recht selten zu Hause, aber als Mitglied des Diplomatenstabs der Aquamanen war es nunmal wichtig zwischen den Stämmen hin und her zu reisen und da hatte das brave Töchterchen Verständnis für. Außerdem konnte sie ja immer noch mit Cas oder Mer herumbalgen, wenn sie das Bedürfnis nach maskuliner Spaßmacherei hatte. Eigentlich beneidete Océan ihren Vater ein bisschen dafür, dass er so viel herumkam, doch glücklicherweise hatte er ihr schon vor Langem versprochen, sie mitzunehmen. Natürlich erst, wenn sie alt dafür genug war.

„Wie geht es dir, mein Mädchen?“

Sie hatte ihren Vater wirklich vermisst. Jetzt, wo er sie besuchte, wurde ihr das noch klarer. Das grimmige, faltige, runde Gesicht, welches es trotzdem schaffte, eine wohlige, wenn auch respektvolle Wärme auszulösen. Und welches vor allem um keinen Spaß verlegen war.

„Ganz gut, eigentlich. Aufgeregt, Kribbeln im Bauch.“, log Océan in der Hoffnung, ihr Vater würde es nicht bemerken. Natürlich tat er das.

„Deine Maman hat mir von Cascatelle erzählt. Du machst dir bestimmt Sorgen um den Burschen, hm?“, sprach Goutte und fläzte sich auf einen Stuhl in der Umkleide, behielt dabei aber Océans Hand in seiner eigenen. „Ihr seid schon ein schräges Paar, ihr Zwei.“

Océan errötete leicht, was durch das helle Puder aber kaum zu sehen war. Sie waren ja nicht mal mehr Freunde, geschweige denn ein Team.

„Ich habe das Gefühl, es sei alles meine Schuld. Die ganze Sache mit Cascatelles Fuß und so...Ich glaube, da hat sich was verändert. Zwischen uns, meine ich.“, entgegnete Océan zaghaft, ihr Herz zersprang beinahe. Es war nicht nur ein Gefühl. Sie wusste, dass sie Schuld hatte.

„Vermutlich erinnerst du dich nicht daran, aber als du und Cas noch klein wart, habt ihr immer auf den Hügeln hinter unserem alten Haus gespielt.“

Océan schüttelte sich kurz und unterbrach dann: „Oah, Papa. Bitte, keine Vergangenheitsfloskeln oder väterlichen Ratschläge mit Bezug auf meine Kindheit, ja? Ich bin mir sicher, das mach es nicht besser.“ Woraufhin Goutte ihr kurzerhand den Mund zuhielt. Die Helfer, die für die Schminke zuständig waren, zuckten sofort schmerzerfüllt zusammen, aus Angst, ihre mühevolle Arbeit würde ruiniert.

„Du hast Cas doch gerne, oder?“, fragte Goutte ruhig und mit einer unendlichen Gutherzigkeit in der Stimme, welche den Raum flutete, wie warmes Wasser einen Badetrog.

Natürlich hatte sie Cascatelle gerne. Viel mehr, als sie es selbst eigentlich wahr haben wollte, doch ihr Vater hatte, genau wie ihr Bruder zuvor, den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie überlegte, warum dieses 'Mögen' sie nicht davon abgehalten hatte, Cas zu sabotieren. Ihm auf so unfaire Art und Weise wehzutun und dann nicht mal den Schneid zu besitzen, direkt mit ihm darüber zu sprechen.

Aber es war so. Sie mochte Cas. Mehr als alle anderen.

Ihr Vater streichelte sie einmal mehr über den Kopf und lächelte breit hinter seinem dichten, weißen Bart.

„Na hör mal. Seit wann ist mein Kind denn so still und betrübt, wie das Meer am morgen? Kopf hoch. Ich wette alle fünf Kontinente, dass ihr Beide euch wieder fangen könnt. Sowas wie euch sieht man nur selten. Hier ist die große Chance, Cas zu beweisen, was du drauf hast. Mädchen, du tanzt den Solopart beim Carneval du Vagues! Wo ist dein Stolz hin?“

Je länger Goutte sprach, umso lauter wurde seine Stimme und irgendwann schien er fasst vor Enthusiasmus zu brüllen. Die vier Helferinnen wurden merklich kleiner und versuchten sich mit emsigen Aufräumen zu beruhigen, wohingegen Océan ihren Vater nur mit riesigen Augen anstarrte.

In ihrem Inneren begann es zu prickeln.

Sie brannte mit einer Flamme, um welche sie jeder Pyromane beneidet hätte. Wie dumm sie doch gewesen war. Welch bessere Möglichkeit Cas zu erreichen gab es denn, als auf einer riesigen Bühne vor tausenden von Menschen? Für alle sichtbar würde sie tanzen, wie sie noch nie in ihrem Leben getanzt hatte. Und sie würde diesen Tanz nur ihm widmen. Alle Emotionen, die sie durch Worte nicht ausdrücken könnte, sollte ihr Körper nun für sie wiedergeben.

Diese Botschaft würde Cascatelle verstehen, da war sie mehr als sicher.

„Hinaus mit dir, du alter, schreiender Seebär! Ich muss mich vorbereiten!“, verkündete Océan, während sie aufsprang und ihren lachenden Vater Richtung Tür schob.

Er wusste, wie dankbar seine Tochter ihm war.
 

~
 

Die Minuten krochen langsam wie die Flut an Océan vorbei, während sie hinter der Bühne saß und nervös an einem der detailliert verzierten, silbernen Gürtel herumfingerte. Das Feuer brannte nach wie vor in ihr, aber auch ein Profi wie sie bekam vor so einem Auftritt ein wenig Lampenfieber.

Die Geräusche ihrer Umgebung nahm sie kaum war, genauso wie das Jubeln des Publikums oder den Gesang der jungen Aquamanin, welche gerade auf der Bühne ihr Bestes gab.

Ihre bernsteinfarbenen Augen waren geschlossen, ihre Gedanken konzentriert und vor allem fixiert.

Dann spürte sie, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte.

Sie fuhr herum und hinter ihr stand Flaque.

Hübsch sah sie aus. Ihr feines, hellblaues Haar war zu kunstvollen Schnecken geflochten worden, gespickt mit vielen kleinen Eiskristallen und ihre schmale Gestalt wurde von einem beeindruckenden, langen Kleid mit unzähligen Stickereien umrahmt. Das Gesicht war allerdings kaum bearbeitet, lediglich ein dezentes Muster war ihr auf die Schläfen gemalt worden und betonten die rosigen Wangen ihrer besten Freundin, welche sich nun während eines Lächelns leicht verformten.

„Hallo, Océan.“, wisperte Flaque hervor, doch anstatt zu antworten umarmte Angesprochene das überraschte andere Mädchen einfach. Wie unendlich gut das tat.

„Hallo, meine Flaque...“

„Und? Bist du soweit? Du wirst gleich anmoderiert, nicht wahr?“

Océan nickte bejahend und sagte dann mit selbstsicherer Stimme: „Aber ich bin bereit. Ich fühle mich, als könne ich den Ozean teilen!“

Flaque kicherte kurz.

„Ich bin sicher, das wirst du auch.“

„Hör zu, Flaque...Es tu-“

Doch da kam ein Bühnenhelfer auf sie zu und wies Océan an, jetzt Stellung zu beziehen, es würde jeden Moment losgehen. Ein schnelles, aber vielsagendes Drücken der Hände sprach fast alles aus, was hätte gesagt werden müssen, dennoch rief Flaque ihrer Freundin ein 'Viel Spaß' hinterher.
 

„Und nun, sehr geehrte Damen und Herren, präsentieren wir Ihnen eine ganz besondere junge Dame. In Ihrem zarten Alter von gerade mal 14 Jahren trägt sie bereits eine Kraft in sich, die sie nun mit Ihnen teilen möchte. Begleitet von dem besten Pianisten ihrer Generation, werden diese beiden Menschen versuchen, Sie in ihre ganz eigene Welt zu entführen. Hier sind für Sie Océan Mireille und...“

Der Augenblick war da. Die Konzentration perfekt. Die Gedanken vollständig bei der zärtlich einsetzenden Musik.

„...Cascatelle Brouillard!“

Die Zeit blieb stehen. Alles war in einen Zustand des kompletten Stillstandes gewechselt, fast wie ein See, dessen Wogen von keinerlei Wind berührt wurden. Hatte sie richtig gehört?

Sie konnte sich nicht umdrehen um nachzusehen, ihre Kür begann mit dem Rücken zum Publikum.

Nein, sie musste sich fangen. Dieser Augenblick war zu wichtig, um ihn verstreichen zu lassen und ganz langsam flossen die Sekunden wieder dahin. Stetig und beruhigend, wie das Wasser.

Ihre Hand bewegte sich und ihr Blick folgte, dann machte sie den ersten Schritt. Dann noch einen und noch einen, bedacht darauf im Rhythmus der Musik mitzuschwingen.

Nach den nächsten zwei Schritten war sie in ihren Bewegungen verloren, dachte nicht mehr darüber nach wohin ihre Füße sie trugen, wie sich ihre Arme, ihre Hüfte, ihre Beine bewegten.

Jeder ihrer Impulse beherbergte ein Gefühl, so klein und doch so klar sichtbar. Ihre Trauer und Reue darüber, liebe Menschen verletzt zu haben. Ihren Stolz, jetzt hier zu tanzen, trotz ihres hinterhältigen Unterfangen. Aber vor allem ihre unbändige Freude, als sie Cas am Klavier sitzen sah. Mit Hingabe spielte er die ruhigen Töne, in einem Takt, der Océan mit Leichtigkeit beflügelte und ihre Bewegungen unterstützte, wie eine Hand, die geschmeidig einen Pinsel führt.

Auf dieser Welle der Noten und Emotionen glitt sie dahin, behütet und warm.

Endlos hätte sie weitertanzen können, doch mit einer letzten, eleganten Bewegung verklang die Musik und es wurde still.

Zwei Sekunden.

Drei Sekunden.

Dann gab es kein Halten mehr. Das Publikum jauchzte vor Entzückung, Blumen wurden auf die Bühne geworfen, Pfeifen und Applaus folgten, die Begeisterung schien keine Grenzen zu kennen. Océan verharrte noch immer schwer atmend in der letzten Pose, erst ganz langsam fand sie zurück in die Realität. Ihre Augen wanderten ohne Umweg sofort auf die rechte Seite der Bühne, dorthin, wo das große, weiße Klavier stand und hinter welchem ein erschöpfter junger Mann hervortrat.

Er lächelte. Er lächelte sie an. In seinem Gesicht konnte sie Dinge wie 'Gut gemacht' und 'Ich bin stolz auf dich' lesen. Das lies sie alle Blockaden brechen und sie fiel ihm weinend um den Hals, woraufhin das Jubeln der Masse noch größer wurde.

„Du bist da...du bist wirklich da...und du hast gespielt...“, schluchzte sie, vergrub ihr Gesicht in seinem Nacken und klammerte sich an ihm fest, als wäre er der letzte Mensch der Welt. Cas war erst etwas überrascht, schloss sie dann aber ebenfalls in die Arme und strich ihr sanft über Hinterkopf.

„Natürlich bin ich da. Als ob ich dir den ganzen Ruhm allein gönnen würde.“, sagte er schelmisch. „Als ob ich dich lange allein lassen könnte...“

Langsam löste sie sich von ihm und schaute in seine schönen braunen Augen. Dabei hatte sie ihn doch alleine gelassen. All die Monate, war sie ihm aus dem Weg gegangen und nie hatte er sich beschwert. Wie dumm sie gewesen war.

„Cas...“

„Komm! Wir Zeit, dass wir uns feiern lassen! Ewig werden die nicht mehr applaudieren und der Moderator schaut uns schon ganz böse an.“, meinte Cascatelle, nahm sie bei der Hand und führte sie bis an den Rand der Bühne.

Rasch wischte sich Océan die Tränen von den Wangen und genoss den Sturm an Euphorie, der ihr und ihrem Freund entgegengeschleudert wurde.
 

Nachdem etliche Stunden später die Feierlichkeiten abgeschlossen waren, fand das traditionelle Festessen aller Beteiligten und deren Familien statt. Die riesige Halle in der Nähe des Rathauses war dafür mit einem beträchtlichen Buffet ausgestattet worden, welches ohne Probleme ganz Batist satt bekommen hätte. Das war jedenfalls der Eindruck, den Océan von diesem Haufen an leckerem Essen bekam. So stand sie, immer noch in ihrem Kleid, da sie noch keine Zeit hatte sich umzuziehen, an einem der Tische und naschte von den Süßigkeiten, die dort aufgestellt waren.

Von dort hatte sie auch einen recht guten Überblick über das Geschehen um sie herum und konnte in aller Ruhe Leute beobachten.

Ihre Mutter und ihr Vater unterhielten sich gerade mit einem befreundeten Paar, dessen Gesichter Océan aber nicht wirklich bekannt vorkamen, während Mer mit einem seiner Freunden aus der Hauptstadt tratschte. Vermutlich hatten die Beiden gerade etwas sehr Lustiges ausgetauscht, denn sowohl Mer als auch sein Begleiter lachten herzlich und schlugen sich freundschaftlich auf die Schulter. Allerdings konnte Océan Flaque nirgendwo entdecken. Ihre erste Vermutung, dass ihre beste Freundin wohl schon zu Bett gegangen war, zerschlug sich schnell. Eigentlich war Flaque niemand, der sich solch eine Schlemmerei entgehen lassen würde. Und Océan hatte das Gefühl, dass es noch einiges an Gesprächsbedarf zwischen ihnen gab, warum würde Flaque also nicht erscheinen? Sicherlich hatte sie noch etwas zu erledigen und würde später zu ihr stoßen, oder Océan sah sie in dem Gewusel an fröhlichen Menschen schlichtweg nicht.

„Du wirst es nicht glauben, aber Flaque hält gerade ein Schwätzchen mit einer unserer Stammesführerinnen.“

Cas war neben sie getreten und lehnte sich vorsichtig an den Tisch. Sie hatte ihn gar nicht kommen sehen oder hören, sodass sie jetzt hastig den Bissen Kuchen herunterschluckte und sich kurz räusperte.

„Wirklich? Warum wohl?“, entgegnete Océan und suchte erneut nach ihrer Freundin.

Cas kicherte kurz.

„Frag morgen mal nach, das würde ich auch gerne wissen. Es schien aber nichts Negatives zu sein, Flaque strahlte über das ganze Gesicht.“, sagte er. „Und das ist wohl ein gutes Zeichen.“

„Ich hoffe es doch. Verdient hätte sie ein bisschen mehr Aufmerksamkeit allemal.“

Cas summte eine knappe Bestätigung bevor er sie vorsichtig am Handgelenk fasste.

„Kommst du eben mit?“

Und ohne eine Antwort abzuwarten zog er Océan sanft in Richtung Ausgang. Er führte sie durch zwei Treppenhäuser in eine Gartenanlage innerhalb des Gebäudes, wo von Zeit zu Zeit kleinere Konzerte gegeben wurden. Nun war er allerdings menschenleer und von Schneeblumen und anderen schönen Pflanzen bevölkert, welche auf dem westlichen Kontinent wuchsen. In der Mitte des Gartens sprudelte eine kleine, kunstvolle Wasserfontäne, der es wohl noch nicht kalt genug war um zuzufrieren. Dazu gesellten sich einige Schneeflocken, die zu fallen begonnen hatten. Nichts ungewöhnliches, aber es machte die Welt noch ein bisschen stiller, als sie um diese Uhrzeit ohnehin schon war.

„Wow...“, sagte Océan leise, aber bewundernd und trat einige Schritte in die unberührte Friedlichkeit, schauderte dann aber und schlang schützend ihre Arme um den Körper. Sie hatte vergessen, dass sie noch ihr Kleid trug und das bot leider nicht sonderlich viel Deckung vor der bitterlichen Kälte. Cas beobachtete sie einen Augenblick, zog dann seinen weißen Frack aus und legte ihn dem frierenden Mädchen um die Schultern.

„Danke.“, brachte Océan heraus und schmiegte sich in den weichen Fellkragen, der an ihren Wangen lag. Was für einen prächtigen Anzug man Cascatelle dort geschneidert hatte. Reinweiß, mit silbernen Knöpfen und feinen, blauen Stickereien an den Schwalbenschwänzen und am linken Fußsaum. Die dazugehörige Weste war mit einem wunderschönen, hellblauen Muster versehen, das in perfektem Einklang mit Cas' Charakter und seiner Art zu Klavier zu spielen lag.

„Wär doch schade, wenn du dich jetzt noch erkälten würdest, oder?“, sagte Cascatelle lächelnd und riss Océan aus ihren Beobachtungen, brachte sie dadurch aber zum Erröten. „Auch, wenn es etwas schade ist, diesen Anblick bis auf Weiteres zu verdecken.“

„W-welchen Anblick?“

Océan rechnete fest mit einem anzüglichen Kommentar. Irgendetwas über eine spärliche Oberweite oder einen pummeligen Bauch oder einen dicken Hintern.

„Dich, du...Doofkopf“

Sie schaute ihn etwas entgeistert an. Was hatte er gesagt?

„Dich in diesem Kleid. Es ist wunderbar.“

Es war nicht das Kompliment, das sie so in Schrecken versetzte, sondern dieses eine Wort. Doofkopf. So hatte sie ihn nur ein einziges Mal genannt und zwar als sie bei ihm im Krankenhaus gewesen war. War das ein Zufall?

„Womit habe ich das denn verdient? Du bist doch sonst nicht so nett zu mir.“, stammelte Océan unsicher, wich Cascatelles Blick aus und vergrub sich ein Stück tiefer in den Frack.

„Nein, tu das bitte nicht. Du weißt genau, worüber ich mit dir reden möchte, Océan, und ich will, dass du mich dabei anschaust.“, erwiderte Cas, jetzt mit einem ernsten Ausdruck im Gesicht. „So habe ich weniger Angst, angelogen zu werden.“

„Du...hast es also mitbekommen? Dass ich da war, meine ich.“, flüsterte sie leise, traute sich aber immer noch nicht ihn wieder anzusehen.

Cas nickte.

„Die ganze Zeit. Jedes Wort. Alles. Und ich verstehe so wenig davon.“

In seiner sonst so angenehmen Stimme lag ein eigenartiger Unterton, den selbst Océan bis jetzt nur sehr selten gehört hatte und dessen Klang sie verachtete. Aber dieser Ton war es auch, der die Aquamanin dazu bewegte, sich Cas wieder zuzuwenden. Worte kamen ihr allerdings nicht über die Lippen, stattdessen füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie wollte so viel auf einmal sagen. So viel lag ihr in diesem Moment auf der Seele, doch alles steckte in ihrem Hals fest, wie ein großer Knäuel an Gefühlen, der sich einfach nicht lösen wollte. Dabei hatte sie diese Unterhaltung doch gewollt.

„Warum?“

Wie konnte ein kleines Wort so viel auslösen? Océan begann zu zittern, obwohl ihr kaum noch kalt war. Dann holte sie tief Luft, erinnerte sich an die Leichtigkeit des Tanzes und öffnete ihren Mund in der Hoffnung, er und ihr Herz würden das Richtige tun.

„Ich weiß es nicht. Ich würde dir so gerne eine zufriedenstellende Antwort geben, aber ich weiß selbst nicht, warum. Warum ich dir so weh getan habe, warum ich deine Ausrüstung manipuliert habe und warum ich so feige war, nicht mal Konsequenz für alles zu tragen. Stattdessen hab ich einfach weitergemacht, als sei nichts passiert. Ich hab gehofft, wenn ich dir im Krankenhaus sage, dass ich es war, würde die Last auf meinen Schultern leichter. Doch geholfen hat's gar nichts. Und ich muss jetzt damit leben, dass du mich hasst. Aber bitte glaub mir, ich wollte nie, dass du dich so schwer verletzt. Ich dachte, wenn du siehst, dass deine Ausrüstung kaputt ist, trittst du nicht an. Ich dachte, du kontrollierst alles nochmal bevor du antrittst...ich dachte...“ Dann überschlug sich ihre Stimme und sie konnte nichts mehr sagen.

Auch Cas wusste nicht so recht, was er sagen sollte.

„Oceán?“

„Ich...war so wütend auf dich. Warum hast du gesagt, ich solle nicht mitmachen? Warum sind wir nicht zusammen angetreten, so wie wir es all die Jahre wollten? Warum hast du mich so im Stich gelassen?“, schluchzte sie, zog die Nase hoch und krallte sich in das warme Fell, doch Cas ergriff wieder ihre Hand.

„Weil...ich nicht mit dir zusammen auftreten wollte. Ich hatte Angst vor der Zusammenarbeit mit dir. Ich hatte Angst, dass sich etwas ändern könnte. Zwischen uns, meine ich.“

„Was? Aber genau das hat doch alles geändert! Dass du dich alleine angemeldet hast!“, meinte Océan etwas lauter, als sie eigentlich beabsichtigt hatte.

Zögerlich legte Cas ihr eine Hand auf die gerötete, von den Tränen nasse Wange und lächelte sie zärtlich an.

„Ich glaube, du verstehst das nicht so ganz. Aber es war klar, dass du mal wieder so langsam im Köpfchen bist.“

Dann trat er einen Schritt näher, beugte sich herunter und platzierte seine Stirn vorsichtig auf der ihren, sodass ihre Augen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.

„Weißt du, es ist nicht leicht, Erwartungen zu erfüllen, wenn man das Mädchen, das man mag, die ganze Zeit um einen herum hat. Das lenkt ab.“

Eine Pause folgte. Ein Augenblick, ähnlich dem, den Océan ein paar Stunden zuvor auf der Bühne erlebt hatte. Die Welt schien den Atem anzuhalten. Doch diesmal durchschnitt Cascatelles unsichere Stimme diesen Moment.

„Nach dem...Malheur war ich einige Zeit wirklich deprimiert und wütend auf dich. Ich hätte nie erwartet, dass du so weit gehen würdest. In meiner Naivität habe ich dir gesagt, du sollst nicht antreten, obwohl ich doch besser als jeder andere wusste, wie viel dir daran lag. Das tut mir aufrichtig Leid. Ich hatte gehofft, wenn wir nicht zusammen auftreten, legt sich dieses neue Gefühl wieder und es könnte nach dem Wettbewerb und einigen klärenden Worten wieder so weitergehen, wie bisher. Aber das war der größte Irrtum von allen. Denn so einfach besiegt man so ein starkes Gefühl nicht. Nicht durch Verletzungen und nicht durch allen Abstand der Welt. Also habe ich Flaque gebeten, mir den Klavierpart zu überlassen. Das besänftigte nicht nur meine Eltern, sondern ich konnte so vielleicht auch ein bisschen was gut machen, oder was meinst du?“

Nachdem Cas das gesagt hatte, richtete er sich wieder auf und kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf. Océan blieb still, schaute ihn nur mit großen Augen an. Ihren Cas. Ihren dummen, schrecklichen, egoistischen, wunderbaren Cas.

„Jetzt sag schon was, das war gerade wirklich peinlich. Ich bin doch sonst nicht der Typ da-“

Anstatt ihn zu Ende sprechen zu lassen, fiel Océan ihrem Freund um den Hals und sie landeten im Schnee. Doch diesmal war es anders, als auf der Bühne. Océan fühlte sich so befreit und so glücklich, wie schon seit Monaten nicht mehr. Nichts beschwerte mehr ihr Herz und nichts riss mehr an ihrer Seele, sodass sie gar nicht anders konnte, als lauthals zu lachen.

„Du Doofkopf!“, gluckste sie und bohrte ihr Kinn in Cascatelles Schulter. „Du doofer Doofkopf!“

„Wenn hier einer ein Doofkopf ist, dann du, du Schwerverbrecherin!“, stimmte Cas in ihr Lachen ein. So lagen sie dort und kicherten, bis beiden der Bauch wehtat. Alles war genau so, wie es sein sollte.

„Wenn wir das nächste Mal teilnehmen, geht das Ganze aber fair ab, verstanden?“

„Versprochen!“



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