Der letzte Tag von AtriaClara (... der Tag, der zählt) ================================================================================ Kapitel 1: Meine Rache. ----------------------- Es ist der dreiundzwanzigste Juli. Trotz der ungewöhnlichen Kühle zu dieser Jahreszeit fegt eine warme Brise durch die Straßen und lässt mich unter meiner dicken Jacke schwitzen. Ich stehe direkt neben dem Eingang der Eisdiele und warte, den Rücken an den angenehm kühlen Stein gelehnt. Sie ist zu spät, aber das macht nichts. Ich habe schon so viele Jahre auf meine Rache gewartet, da kommt es auf ein paar Minuten mehr oder weniger auch nicht an. Zum hundertsten Mal nun überprüfe ich die Pistole in meiner Jackentasche. Sie ist da, geladen und gesichert. Ich mache keine Fehler, nicht mehr. Trotzdem kontrolliere ich die Schusswaffe noch einmal, nur zur Sicherheit. Aber -wie könnte es auch anders sein- alles ist richtig. Ich entspanne mich wieder ein wenig und schiebe meinen Ärmel hoch, um auf die Uhr zu schauen. Fünf nach elf, sie ist schon fünf Minuten zu spät. Langsam werde ich doch etwas ungeduldig. Was, wenn sie kurzfristig ihren Arbeitsplatz gewechselt hat? Oder krank geworden ist? Quatsch, sage ich mir. Wenn sie ihren Arbeitsplatz gewechselt hätte, hätte ich das doch wohl mitbekommen müssen. Und wenn sie krank sein sollte, komme ich einfach später wieder und führe meinen Plan durch. Was spielt das denn schon für eine Rol- Meine Gedanken verstummen abrupt, als ich sie rechts von mir die Straße hinunterlaufen sehe, direkt auf die Eisdiele zu. Hastig entsichere ich meine Pistole. Ihr neonpinkes T-Shirt sticht aus der Menschenmenge heraus, tut fast schon in den Augen weh. Trägt sie diese grässlichen grellen Sachen etwa immer noch? Ich erinnere mich, Neonfarben früher einmal gemocht zu haben. Aber mit der Zeit habe ich gelernt, sie zu hassen. Der neonpinke Fleck huscht die Straße entlang und kommt schnell immer näher, während ich immer nervöser werde. Was ich jetzt vorhabe, ist all die Jahre mein sehnlichster Wunsch gewesen. Oft lag ich nächtelang wach und malte mir aus, wie es wohl wäre, wenn ich ihn mir endlich erfüllen würde. Aber danach wird es kein Zurück mehr geben. Bin ich wirklich bereit dafür? Mit fliegenden Haaren eilt sie die Straße hinunter, Passanten zur Seite drängend und hastige Entschuldigungen murmelnd. Sie ist fast schon auf meiner Höhe. Ich zögere. "Hey, Mädels! Schaut euch mal die Klamotten von der da an!" Die Erinnerung taucht ganz plötzlich auf, drängt sich gewaltsam zwischen all den anderen hervor und aus der Ecke, in die ich sie verbannt habe. Sie kommt so unerwartet, dass ich erschrocken zusammenzucke. "Wo hast du die denn her, aus der Mülltonne gefischt? Ach, nein, das macht ja deine Mami für dich." Hämisches Gelächter von allen Seiten. Heißer, lodernder Zorn steigt in mir auf, als ich an meine Schulzeit zurückdenke. An all die Demütigungen, all die Beleidigungen. Noch nicht einmal den Klassenraum konnte ich wechseln, ohne ausgelacht oder angespuckt zu werden. Alles nur wegen ihr. Hass vermischt sich mit dem Zorn. Damals war sie die Stärkere. Aber heute wird sich alles ändern. Entschlossen mache ich einen Satz nach vorne und packe sie am Handgelenk, als sie an mir vorbeirennen will. Sie fährt wütend herum. "Was fällt Ihnen ein? Lassen Sie mich sofort los, ich bin schon viel zu spät dran!" Der Klang ihrer Stimme weckt neue Erinnerungen, Erinnerungen an Schrammen und Blutergüsse. Aber ich schiebe sie beiseite, gehe gar nicht erst auf sie ein. "Erinnerst du dich noch an mich?", frage ich so sachlich wie möglich. Das ist eine ernst gemeinte Frage, schließlich ist es gut möglich, dass sie mich nach all der Zeit vergessen hat. Sie funkelt mich an. "Woher sollte ich Sie kennen?" Also nicht. Ich beschließe, ihr etwas auf die Sprünge zu helfen. "Kay, was für ein hässlicher Name!", äffe ich sie nach. "Aber zu dir passt er, du bist genauso hässlich!" Zufrieden sehe ich, wie der Ausdruck auf ihrem Gesicht von Verständnislosigkeit zu Erkennen wechselt. "K-Kay... ?", stammelt sie fassungslos. "D-du?" Ich nicke nur. Mehr braucht sie nicht zu wissen. Nur, dass ich es bin. In der Jackentasche schließt sich meine Hand so fest um die Pistole, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten. Es ist Zeit, alles zu beenden. Nur eine schnelle Handbewegung und die Schusswaffe ist direkt auf ihre Brust gerichtet. Sie braucht ein paar Sekunden, um wirklich zu realisieren, in was für einer Gefahr sie schwebt. Aber dann weiten sich ihre Augen schockiert. Bevor sie auch nur anfangen kann, um ihr Leben zu betteln, drücke ich ab. Bis auf den lauten Knall ist es erschreckend unspektakulär, wie sich die Kugel durch ihren Brustkorb gräbt und ein Loch hinterlässt. Aber kein Reichtum der Welt wäre die Genugtuung wert, die ich empfinde, als ich ihr ins Gesicht sehe. Schock wird zu Todesangst und schließlich zu Verzweiflung, während sie Blut hustend um ihr Leben kämpft. Nur, um endlich einsehen zu müssen, dass dies das Ende ist, dass sie verloren hat. Ein blutroter Fleck breitet sich auf dem hässlichen Neonpink aus. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass sich die Passanten erschrocken zu uns umgedreht haben, aber nichts könnte mir im Moment gleichgültiger sein. Ich kann damit leben, dass mich alle anstarren, das musste ich schon immer. So unglaublich lange habe ich darauf gewartet, diese Gefühle in ihrem Gesicht zu sehen. Sie leiden zu sehen, sie einen winzig kleinen Teil der Schmerzen spüren zu lassen, die ich damals gespürt habe. Natürlich hätte ich mich schon früher an ihr rächen können, schließlich bin ich all die Jahre in ihrer Nähe geblieben, um sie zu beobachten. Aber ich habe gewartet. Gewartet, bis sie sich einen Freund angelacht und eine Wohnung sowie einen Job bekommen hatte. Bis sie alles vorbereitet hatte für den Start in das Leben, das sie jetzt nicht mehr führen können würde. Ich habe gewartet, bis sie sich ihre lächerliche kleine Welt aufgebaut hatte, um sie ihr dann zu zerstören. Und all das geduldige Warten hat sich endlich gelohnt. Ein großartiges Glücksgefühl durchströmt mich, als ich sie leiden sehe. Ich genieße den Ausdruck von Schmerzen auf ihrem Gesicht, als sie versucht, etwas zu sagen. Ihre letzten Worte. "Es t-tut... es t-tut mir l-leid-", sie bricht ab und hustet. Es klingt erbärmlich. "Ich weiß", antworte ich ungerührt. Dann lasse ich sie fallen. Noch bevor ihr Körper auf dem Boden aufschlägt, verschwindet das Leben aus ihren Augen. Zufrieden atme ich auf und werfe meine Pistole der Leiche hinterher. Es ist, als wäre eine große Last von meinen Schultern gefallen, die mich jahrelang erdrückt hat. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich... frei. Ich wende mich an einen der umstehenden Passanten, der wie versteinert dasteht, die Hände vor den Mund geschlagen. "Würden Sie wohl für mich die Polizei rufen?", frage ich freundlich. Doch der Mann wimmert nur und presst seine Hände noch fester auf seinen Mund. Die Frau neben ihm dagegen tippt mit zitternden Fingern auf ihrem Handy herum, bevor sie es sich ans Ohr presst. "H-hallo, spreche ich mit der Polizei? Sie müssen sofort in die Sonnenblickstraße kommen, h-hier ist jemand e-erschossen worden..." Dankbar nicke ich ihr zu, doch sie erbleicht nur und tritt einen Schritt zurück. Niemand versucht, mich aufzuhalten, als ich über den leblosen Körper steige und aus dem Schatten der Eisdiele heraustrete. Im Gegenteil, alle weichen vor mir zurück, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Aber das macht mir nichts mehr aus, daran bin ich gewöhnt. Ich lasse mich seufzend auf eine Bank in der Nähe fallen. Ein paar letzte ruhige Minuten werde ich vermutlich noch haben, bevor sie mir Handschellen anlegen und mich zur nächsten Polizeistation verfrachten. Ich werde nicht fliehen, es nicht einmal versuchen. Wozu auch? Meine Rache habe ich bekommen und alles andere ist mir egal. Ich lehne mich zurück und ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, als ich die Wärme der Sonne auf meiner Haut spüre. Die letzten Minuten meines Lebens in Freiheit werde ich noch genießen. Ich denke an die letzten Minuten ihres Lebens. Ihr Leid. Ihren Schmerz. Mein Lächeln wird zu einem Grinsen. In weiter Ferne höre ich Sirenen anspringen. Rache ist süß. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)