Spiegelbilder
Hastig flüchtete Rufus sich in die relative Sicherheit eines Haltestellenhäuschens. Dort stopfte er seine klammen Hände in die Taschen seines schwarzen Kapuzenpullis, den er ausnahmsweise mal trug. Noch schlimmer konnte der Tag nicht werden.
Warum hatte er sich eigentlich zu dieser bescheuerten Aktion breitschlagen lassen?
Ihn interessierte solcher Kram doch gar nicht!
Aber er hatte ja mal wieder den Mund nicht aufgekriegt bis es zum Protestieren zu spät gewesen war. Als Feigling dazustehen hatte er auch nicht gewollt, also war er trotz seiner Abneigung mitgekommen. Und was hatte es ihm eingebracht?
Er stand mitten in der Nacht alleine an einer Haltestelle, wartete auf den Bus und wurde nass!
Weder sein dicker Pulli noch das Haltestellenhäuschen schützen ihn ausreichend vor dem Regen, den ein eisiger Wind vor sich hertrieb. Zu allem Überfluss wehte dieser die dicken Tropfen auch noch in den Unterstand.
Dem Nachtfahrplan konnte Rufus entnehmen, dass er schätzungsweise noch eine halbe Stunde ausharren musste. Eine Armbanduhr besaß er nicht und der Akku seines Handys war leer, so dass er die Zeit nur ahnen konnte. Nein, ein schöner Abend sah definitiv anders aus!
Langsam trat er von einem Fuß auf den anderen in der Hoffnung, dass ihm dadurch möglicherweise etwas wärmer würde. Weil er nichts anderes zu tun hatte, betrachtete er sein undeutliches Spiegelbild auf der Scheibe vor der Reklame. Es zeigte einen schlaksigen jungen Mann mit der typischen hellen Haut eines Rothaarigen in schwarzem Pulli und schwarzer Jeans, der ihm miesepetrig entgegenblickte. Schwarz stand ihm nicht, stellte Rufus zum wiederholten Male fest.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er einen Schemen direkt hinter seinem Abbild. Er hatte die Ankunft einer weiteren Person gar nicht mitbekommen. Vielleicht könnte ihm derjenige die Uhrzeit mitteilen. Rufus drehte sich um und entdeckte niemanden. Er war alleine im Unterstand. Er schüttelte den Kopf, da hatte er sich wohl getäuscht. Eigentlich wäre es ganz nett gewesen sich nicht allein beim Warten auf den Bus die Beine in den Bauch zu stehen.
Er war selbst Schuld an seiner Situation, schließlich hatte er unbedingt nach Hause gewollt, statt bei den Anderen weiter diesen Unsinn durchzuführen.
Als der Bus gefühlte Stunden später endlich kam, waren Rufus Klamotten fast ganz durchweicht. Er sah nur zu, so schnell wie möglich den Regengüssen zu entgehen.
Im Bus ließ er sich auf einen freien Platz fallen, schob die Kapuze zurück und starrte ins Dunkle hinaus. Die kleine Gruppe schon angeheiterter jugendlicher Discogänger im hinteren Teil des ansonsten fast leeren Busses versuchte er, so gut es eben ging, zu ignorieren.
Er dachte an die Aktivität des Abends und wie sinnlos das Ganze gewesen war. Es war doch von vornherein klar gewesen, dass dabei nichts herauskommen konnte. So etwas war einfach nicht möglich, dass wusste doch jeder!
Draußen huschten die Häuser der Straße, durch die der Bus fuhr, vorbei. Leicht zu erkennen war das allerdings nicht, spiegelte sich doch das beleuchtete Innere des Busses in der Scheibe.
Ohne genauer hinzusehen, blickte Rufus hinaus, bis jemand zurückstarrte.
Er wurde aus braunen Augen gemustert, die ihm aus einem bleichen von wirrem schwarzen Haar umrahmten Gesicht entgegenblickten. Das Gesicht musste einem etwa Gleichaltrigen gehören, schloss Rufus. Er runzelte die Stirn, blinzelte und das Gesicht war verschwunden.
Um sicher zu gehen, drehte er den Kopf, um festzustellen, ob jemand sich in der Zwischenzeit zu ihm gesetzt hatte. Doch der Sitz ihm gegenüber, der sich in der Scheibe spiegelte, war leer.
Rufus musterte den Platz noch eine Weile. Vielleicht hatte derjenige, den er als Spiegelbild gesehen hatte, nur kurz auf dem Platz gesessen, bevor er ausgestiegen war.
Seine Überlegungen wurden mit einem Ruck abgebrochen. Bremsen quietschten als Rufus nach vorne gegen den leeren Sitz geschleudert wurde. Das Hupen des Busses dröhnte in seinen Ohren. Rufus hörte wie andere kreischten oder gegen die Sitze polterten. Die Blicke der Jugendliche trafen auf seinen.
„Was war das denn?“, ließ sich eine aufgebrachte Stimme vernehmen. Wie andere auch zuckte Rufus nur mit den Schultern. Woher sollte er wissen, weswegen der Bus eine Vollbremsung eingelegt hatte. Der Bus fuhr wieder an. Anscheinend war nichts passiert, sonst hätten sie die Fahrt nicht fortgesetzt.
Rufus machte sich schon keine Gedanken mehr über die Vollbremsung, als er bei der nächsten Haltestelle ausstieg. Schnellen Schrittes strebte er auf sein Wohnhaus zu. Nur endlich raus aus dem Regen!
Beim Blick in das Schaufenster einer Bäckerei stutze er. Direkt hinter seinem Spiegelbild hielt eine schmale Gestalt in weitem grauen Mantel im Glas inne. Rufus kam nicht mehr dazu sich umzudrehen, weil ihn jemand zu Boden riss. Er stürzte und zuckte zusammen als mit einem Knall die Straßenbeleuchtung erlosch. Funken sprühten. Ein Stromkabel peitschte über ihn hinweg. Er wurde gerade noch rechtzeitig hochgerissen und fortgezerrt, bevor die Lampe genau auf die Stelle krachte, wo er eben noch gelegen hatte. Glassplitter flogen umher, doch keiner traf Rufus. Dies alles geschah viel zu schnell, als das Rufus Zeit gehabt hätte zu realisieren, was genau geschah. Er konnte nur auf das schaukelnde Kabel starren, an dem vor nicht einmal einer Minute noch eine Lampe über der Straße gehangen hatte.
Das konnte doch alles nicht wahr sein!
Nur mühsam gelang es ihm sich von dem Anblick zu lösen und sich nach seinem Retter umzuschauen. Die Lichter in den umliegenden Wohnhäusern waren angegangen. Einige Leute gafften aus den geöffneten Fenstern, nur auf der Straße war niemand, außer ihm selbst.
Rufus fuhr sich mit der Hand durch sein nasses Haar. Diese Nacht war seltsam, wenn nicht zu sagen unheimlich.
Hinter ihm klappte eine Tür. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen“, erkundigte sich eine Frau atemlos, anscheinend hatte sie sich beeilt zu ihm herauszukommen.
Rufus nickte automatisch. Es war alles in Ordnung, oder? Er strich sich Glassplitter vom Pulli.
„Sind Sie sicher?“
„J-ja.“ Seine Stimme klang beängstigend dünn und unsicher.
„Wirklich? Sie sind ganz bleich. Möchten Sie nicht eben hereinkommen und einen Tee trinken. Ich rufe dann die Polizei, falls das noch nicht geschehen ist.“
Rufus schüttelte den Kopf. Es war nett, dass sie ihm anbot zu ihr rein zu kommen. Hatte sie keine Bedenken deswegen? „Nicht nötig. Ich wohne gleich da drüben“, lehnte er ihr Angebot ab.
„Wie Sie meinen. Soll ich die Beamten dann zu Ihnen schicken?“
„Hmh. Machen Sie das. Ich heiße Rufus Binder“, antwortete er ihr leicht wirr. Sie nickte nur und ließ ihn gehen. Erst als sie ihm aus dem Weg trat, fiel ihm auf, dass sie nur einen offenstehenden Bademantel über einem Nachthemd zu Pantoffeln trug. Er lächelte sie noch einmal beruhigend an, bevor er auf wackligen Beinen zu seinem Wohnhaus stakste.
Er wusste selbst nicht so recht, warum er es vermied auf das Fensterglas der Eingangstür zu blicken. Vielleicht fürchtete er dort schon wieder dieses bleiche Gesicht zu sehen. Er drehte den Schlüssel im Schloss und trat in den Flur. Die Flurlampe brauchte wie üblich einige Sekunden bis sie das Treppenhaus erleuchtete. Langsam stapfte Rufus die Treppe bis ins oberste Stockwerk hinauf. Er fühlte sich nicht in der Lage sich dem Fahrstuhl zu stellen, nicht nachdem, was gerade geschehen war.
Kaum hatte er die Wohnungstür hinter sich geschlossen, schlüpfte er aus den Schuhen und betrat das Bad. Als erstes griff er sich ein Handtuch, um sich die Haare zu trocknen. Er rubbelte sich die Haare, hob den Kopf, sah auf den Badezimmerspiegel und erstarrte.
„Findest du ,Buh’ zu sagen auch so abgedroschen?“
Die freundliche Frage ließ Rufus zusammenzucken. Das Handtuch entglitt seinen Fingern. Eine bleiche Hand versuchte es aufzufangen, doch der Stoff glitt durch die Hand als wäre sie nicht existent.
Rufus fixierte die bleiche Hand mit seinen Augen, dann verdrängte er gekonnt das eben Gesehene.
„Habe ich dich erschreckt? Das tut mir Leid“, erklang von Neuem die Stimme eines jungen Mannes hinter ihm.
Nun wirbelte Rufus herum. „Sag mal spinnst du! Was hast du in meiner Wohnung zu suchen?“, herrschte er den bleichen jungen Mann an, der lässig am Türrahmen des Badezimmers lehnte.
Der junge Mann legte den Kopf schräg, wobei ihm Strähnen seines schwarzen Haares in die braunen Augen rutschten. „Das ist einfach. Ich bin hier, weil du hier bist“, beantwortete er Rufus Frage.
„Hör mal gut zu. Ich habe einen Scheißtag und einen echt miserablen Abend hinter mir, da habe ich auf Spielchen von irgendeinem Spinner wie dir keinerlei Lust! Verzieh dich bevor ich die Polizei rufe!“ Bei diesen Worten packte Rufus das schwarze T-Shirt seines Besuchers und schob diesen aus dem Bad, um ihn gegen die Flurwand zu drücken.
Sein Besucher ließ das mit sich machen. Der junge Mann war um einiges kleiner und schmaler als Rufus. Erst im Flur rief er hektisch: „Stopp! Hör...“
Die Worte des Eindringlings wurden davon abgeschnitten, dass sein Körper durch die Wand glitt. Rufus Hände trafen hart auf der tapezierten Fläche auf, obwohl er immer noch den T-Shirtstoff zwischen seinen Fingern fühlen konnte. Rufus schrie und ließ los. Daraufhin streckte der junge Mann seinen Kopf zurück in den Flur, genau als Rufus Knie nachgaben. Das konnte einfach nicht sein! Er musste träumen. Es war einfach nicht möglich, dass jemand halb in einer Wand verschwand! Das gab es doch nur in Filmen! Rufus verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Einige Minuten verstrichen in denen er nur seinen rasenden Herzschlag hören konnte. Er schüttelte den Kopf. Es war nicht möglich, also würde er auch niemanden mehr sehen, wenn er den Kopf hob, beruhigte er sich.
Es klingelt.
„Shit!“ Rufus sprang auf und hastete zur Tür. So alt wie das Haus war besaß es zwar Türöffner, aber keine Gegensprechanlage. Er betätigte den Summer, öffnete die Wohnungstür und spähte die Treppe hinunter.
„Das dürfte die Feuerwehr oder Polizei sein“, meldete sich jemand neben ihm zu Wort.
„DU...“ Rufus Kopf ruckte zur Seite. Neben ihm stand der bleiche junge Mann. Er strich sich gerade das schwarze T-Shirt mit einem aufgedruckten Skelettraben zurecht. Rufus konnte ihn nur anstarren. „Du existierst nicht“, flüsterte er, während auf der Treppe Schritte zu hören waren.
„Lass uns das klären, nachdem die Beamten wieder weg sind“, schlug der junge Mann vor. „Sie könnten dich für nicht zurechnungsfähig halten, wenn sie mitkriegen, dass du mit der leeren Luft redest. Weißt du, sie können mich nicht sehen“, fügte er hinzu, gerade als ein Polizist den letzten Treppenabsatz betrat.
„Guten Abend, Herr Binder. Mein Name ist Schmidts. Frau Beier teilte uns mit, Sie hätten den Unfall direkt mitbekommen“, grüßte der Beamte Rufus.
„Abend. Ähm... so... könnte man das schon sagen... die Lampe hat mich fast erwischt“, stotterte Rufus.
„Ach ja, dafür, dass ich dich gerettet habe, könntest du dich eigentlich auch mal bedanken!“
Rufus funkelte seine Halluzination an und merkte dann, dass er sich damit ziemlich merkwürdig verhielt.
„Alles in Ordnung mit Ihnen“, wurde er auch prompt gefragt.
Er spürte wie Hitze in seinen Wangen aufstieg. „Ich... nein, nicht wirklich, schließlich wird man nicht jeden Tag fast von einer Lampe erschlagen“, stieß Rufus hervor. Es stimmte, er war fast von der Lampe erschlagen worden. Erst als sich eine warme Hand auf seine Schulter legte, richtete sich sein Blick wieder auf den Beamten.
„Kommen Sie, Setzen Sie sich erstmal, es ist ja alles gut ausgegangen“, sprach Herr Schmidts auf ihn ein und führte Rufus in seine Wohnung zurück, wo er ihn auf einen Küchenstuhl bugsierte. „Wo haben Sie denn eine Decke“, wurde er gefragt.
„Äh... eine Decke, auf dem Sofa liegt eine Wolldecke, aber was...“, stammelte Rufus.
„Einen Moment“, antwortete der Beamte nur.
Verwirrt verfolgte Rufus, wie der Polizist die Küche wieder verließ, nur um ihm kurz darauf seine eigene Wolldecke um die Schultern zu legen. Rufus schüttelte den Kopf, was zum Geier sollte das denn?
„Sie sind immer noch ziemlich nass. Sie hatten wohl keinen Schirm dabei“, wurde festgestellt.
„Äh, ja stimmt.“ Rufus strich sich durch sein feuchtes Haar. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es wie aus Kübeln gießen würde.“
„Ja, das war bei dem schönen Wetter tagsüber, ja auch nicht abzusehen. Ist Ihnen noch kalt?“
Rufus nickte. Ja, ihm war noch kalt, aber er glaubte nicht, dass es am Regen lag. Hinter dem Beamten konnte er den jungen Mann sehen, welcher auf das Regal mit den Teedosen deutete. „Du solltest etwas Heißes trinken, dass hilft“, merkte einer der Gründe für seinen Zustand gelassen an.
„Ha... haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir einen Tee koche“, wandelte Rufus den Satz, welchen er eigentlich sagen wollte, gerade noch rechtzeitig um.
„Nein, keineswegs“, antwortete Herr Schmidts.
„Oh, ähm, setzen Sie sich doch,“ bot Rufus reichlich spät an.
„Danke.“ Der Beamte setzte sich, während Rufus sich erhob, wobei er die Decke auf dem Stuhl zurückließ. Das Teekochen erwies sich als schwieriger als erwartet. Rufus kleckerte ziemlich beim Übergießen des Teebeutels mit heißem Wasser. Er blickte auf den Beutel hinab. „Was für ein Scheiß“, flüsterte er, nahm die Tasse und kehrte zum Küchentisch zurück. „Was genau wollen Sie denn von mir wissen? So richtig viel hab ich nämlich gar nicht mitbekommen“, erkundigte er sich dann bei dem Beamten.
„Erzählen Sie mir doch einfach, was sie mit bekommen haben“, schlug dieser vor.
„Wirklich nicht viel. Es ging alles so schnell. Ich war gerade aus dem Bus gestiegen und ein paar Meter gegangen, da knallte irgendetwas. Das hat wohl dazu geführt das ich stolperte, so dass ich dem runterzuckenden Kabel entging. Dann muss ich wohl aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben, dass die Lampe runterkommt, jedenfalls hab ich mich aufgerappelt und bin zur Seite gestürzt. Erst als die Lampe schon am Boden lag, ist mir aufgefallen wie nah ich noch daneben stand,“ schloss Rufus mit einem Schulterzucken. Während er gesprochen hatte, hatte er mit dem Teebeutel in der Tasse gespielt, obwohl er bei seinem Bericht dem Beamten ins Gesicht gesehen hatte.
„Tja, da haben Sie heute einen guten Schutzengel gehabt. Kommen Sie alleine zurecht?“
Rufus nickte. „Ja, mir ist ja nichts passiert.“
„Hm, wenn Sie mir noch eben ihre Kontaktdaten geben, wir geben Ihnen dann Bescheid, wann Sie für einen Bericht aufs Revier kommen sollen.“
Rufus gab Herrn Schmidts die gewünschten Informationen. „Vielen Dank und noch eine gute Nacht“, verabschiedete dieser sich mit einem letzten kritischen Blick auf Rufus Gesicht.
„Hm, Ihnen auch.“ Rufus beobachtete, wie der Polizeibeamte seine Wohnung verließ. Er schlang die Finger um die heiße Tasse und trank den Tee in kleinen Schlucken. Es war angenehm ruhig in der Wohnung. Wahrscheinlich hatte er sich den jungen Mann nur eingebildet, wegen dieser blödsinnigen Aktion von Stina. In der Küche war er nun jedenfalls alleine. Rufus trank den Tee aus und beschloss schlafen zu gehen. Obwohl er davon ausging, dass er nur halluziniert hatte, immerhin hatte er auch etwas getrunken, spähte er in jeden Raum, bevor er ihn betrat. Doch von dem jungen schwarzhaarigen Mann entdeckte er nichts mehr. Rasch steckte er noch sein Handy ans Ladegerät und machte sich bettfertig. Völlig erledigt, kippte er schließlich ins Bett und musste zu seinem Bedauern feststellen, dass ihn die Ereignisse des Abends nicht so schnell einschlafen ließen, wie er es sich gewünscht hätte.
Als er endlich schlief, war es ein unruhiger von wilden Träumen geplagter Schlaf.