Verloren und Gefunden von Winterwolke ================================================================================ Kapitel 11: Busreise -------------------- Die Busfahrt am nächsten Morgen führte sie zuerst in ein Center der BBA. Kai musste noch einmal untersucht werden und einige Test über sich ergehen lassen. Ein Arzt würde sie am späten Nachmittag in der Berghütte besuchen und mit ihm die Untersuchungsergebnisse durchgehen. Kai sah immer noch grauenhaft aus, allerdings nicht mehr ganz so schlimm wie noch am Tag zuvor. Ray sah ebenfalls müde, aber glücklich aus. Tyson und Max, die beide vortrefflich (und miteinander) geschlafen hatten, fragten sich, ob und was zwischen den beiden abgelaufen war; allerdings bedurfte Kenny jetzt wesentlich mehr ihrer Aufmerksamkeit. Wie zu erwarten hatte er sich in seinen Laptop vergraben und musste erst mehrfach angesprochen werden, bis er reagierte. "Hey, Chef, was genau machst du?" "Lernen." "Lernen?!" Tyson konnte sich nicht vorstellen, wieso jemand, der in den Urlaub fuhr, freiwillig lernte. "Ja. Da bis nächsten März keine Wettkämpfe angesetzt sind und ich noch einige wichtige Arbeiten schreiben werde, fange ich jetzt schon an, den Stoff zu wiederholen. Ich kann mir durchfallen nicht leisten. Man hat mir ein Stipendium für eine technische Universität angeboten, wenn ich ein sehr gutes Ergebnis erreiche." Der Ernst, mit dem Kenny das sagte, empörte Tyson noch mehr. "Wir haben U-R-L-A-U-B! Hier wird nicht gelernt! Entspann dich lieber. Schau mal, da draußen kann man bereits die Berge sehen." Tatsächlich waren sie immer höher gekommen. Es war bereits nach Zehn, doch der Novembernebel hielt sich hartnäckig an den Berghängen. Nur vereinzelt waren Häuser zu sehen. Der Himmel war eisgrau und versprach ungemütliches Wetter. Die alten, urtümlichen Gebäude vor der Bergkulisse erschufen eine unwirkliche, fast schon unheimliche Szenerie. Fast konnte man meinen, dass sie direkt in einen Horrorfilm hineinfuhren. Trotzdem waren alle froh, endlich ausspannen zu können. Zwei ganze Wochen ohne Telefon und Internet, ohne spontane Pressetermine oder langwierige Trainingseinheiten. Max und Tyson hatten bereits Pläne für die optimale Zweisamkeit gemacht, aber natürlich mussten sie das Team ebenfalls einbinden. Traditionell waren die beiden für das Unterhaltungsprogramm zuständig, so wie sich Ray um das Essen kümmerte, Kai das Team weckte und antrieb und Kenny der Allwissende und Organisierte war. Jetzt mussten sie aber Kenny erst mal von seinem Laptop abkoppeln, auch wenn Dizzy dann beleidigt sein würde. "Außerdem, Chef, brauchen wir deine Fachmeinung. Schau dir die beiden an. Was meinst du, sind die beiden endlich zusammen oder denkst du, sie haben immer noch nicht miteinander geredet?" Kenny hatte schon beim Einsteigen in den Bus die veränderte Atmosphäre zwischen Ray und Kai bemerkt. Sie warfen sich immer wieder heimlich Blicke zu - auch wenn die meisten von Ray ausgingen - und beide trugen dieses kleine Lächeln auf den Lippen. Es tat gut, seine Freunde so zu sehen. Er wusste, dass sie eine schwere Zeit hinter sich hatten. "Also?" "Ich weiß nicht. Meint ihr wirklich?" "Ach, schau doch, wie sie sich ansehen und angrinsen." "Ja, schon. Aber denkt an Kai. An gestern. Er macht nicht den Eindruck, dass alles wieder normal ist - obwohl er heute wirklich besser aussieht. Vielleicht hat Ray ja einen guten Einfluss auf ihn?" Ray nieste kurz und sah sich um. Mist, er war fast eingeschlafen. Das hatte er zwar dringend nötig, nach der durchwachten Nacht, aber eigentlich wollte er erst schlafen, wenn sie an ihrem Ziel waren. Hier im Bus hatte Ray die beste Möglichkeit gehabt, Kai zu beobachten. Der hatte wieder zu einem hochgeschlossenen Outfit, bestehend aus dunkler Hose, Pullover, Schal und Handschuhen gegriffen und untypischerweise auch seine Farbe nicht weggelassen. Dass er sie in Russland getragen hatte, konnte man noch irgendwie erklären, immerhin waren sie in der Öffentlichkeit unterwegs und er war aus Marketinggründen verpflichtet, das Blau zu tragen. Doch normalerweise schminkte er sich nicht, wenn sie privat unterwegs waren. Warum jetzt plötzlich doch, das konnte sich Ray nicht erklären. Doch es war nicht Kai, der jetzt seine Aufmerksamkeit forderte, sondern Max, Tyson und Kenny im vorderen Teil des Busses. Die Drei hatten die Köpfe zusammengesteckt und er sah sogar eine Hand in seine Richtung gestikulieren. Redeten sie über ihn, Kai oder sie beide zusammen? Wenn er ganz ehrlich zu sich war, war es ihm völlig gleichgültig. Seit gestern Nacht durchströmte ihn ein Glücksgefühl, das nicht mal seine Müdigkeit oder Kais immer noch jämmerlicher Anblick verdrängen konnte: Als er ins Bett gegangen war, hatte Ray nicht erwartet, so wenig Schlaf zu bekommen. Aber jede schlaflose Sekunde hatte sich letztendlich doppelt bezahlt gemacht. Er war sogar als Erster wieder aufgewacht und hatte ein paar zusätzliche Momente genießen können. Obwohl es so zeitig am Morgen war, war es hell genug, dass er Kai eingehend mustern konnte. Die seltsam silbrigen Haare zogen seinen Blick automatisch an und wieder strich er mit der Hand durch den Wuschelkopf. Sie fühlten sich so angenehm an, trotzdem ganz anders als seine: Härter, dicker. Wie hatten sie nur diese Farbe bekommen? Hinten im Nacken waren sie nach wie vor blauschwarz. Kais Augen waren geschlossen und das blasse Gesicht stand in starkem Kontrast zu den dunklen Ringen darunter. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, ließ Ray seine Finger darüber gleiten. Die Haut unter seinem Finger war wulstig; eine Narbe zog sich in einer Linie zum Wangenknochen von der Nase bis zur Schläfe. Wenn Ray sie nicht gefühlt hätte, hätte er sie gar nicht gesehen. Überhaupt war ihm erst in diesem Moment aufgefallen, wie wenig er tatsächlich gesehen hatte, wenn er Kai heimlich beobachtet hatte. Da war der Umstand, dass die Nase seines Captains leicht schief war. Die Narbe unter dem rechten Auge sah alt aus, warum hatte er sie nie bemerkt? Die Musterung ging weiter und einmal mehr wunderte sich Ray über die blauen Dreiecke. Kai hatte sich gestern Abend nicht einmal abgeschminkt. Ein bisschen war er schon neugierig - was wollte er mit der Farbe verbergen? An einer Stelle war das Blau ein wenig verwischt und Ray war bereits drauf und dran, noch mehr von Kais Wange freizulegen… doch ein verhaltenes Seufzen unterbrach die Entdeckungstour und schnell ließ Ray die Hand sinken. Es würde seinem Mitbewohner nicht gefallen, in so einer intimen Situation auf der Couch aufzuwachen, das wusste Ray einfach, auch ohne es gehört zu haben. Vorsichtig war er aufgestanden und im Bad verschwunden. Während der Fahrt jetzt hatte er alle Zeit der Welt, um immer wieder einen Blick zu riskieren. Man konnte seine Zeit auch schlechter verbringen. Das Getuschel im vorderen Teil des Busses hatte auch Kai bemerkt, allerdings versuchte er, es auszublenden. Gedanklich war er bereits bei dem heutigen Nachmittag. Dr. Mikase würde vorbeikommen, die Untersuchungsergebnisse auswerten und entscheiden, ob seine Verletzungen soweit geheilt waren, dass er wieder wie ein normaler Mensch leben konnte. Momentan würde er seine Seele verkaufen, nur um sich den Schmutz, den Russland auf seinem Körper hinterlassen hatte, endlich runter waschen zu können. Bis dahin würde es noch einige Stunden dauern, aber er konnte warten. Derzeit quälten Kai nur diese verdammten Kopfschmerzen. Teilweise war daran sein unbedachter Versuch schuld, sich mit Alkohol zu betäuben. Deshalb hatte er gleich als Erstes die Flasche vom Balkon geholt und sie wieder in der hintersten Ecke seines Schranks verstaut. Er würde sie so schnell nicht noch einmal brauchen. Ein anderer Grund für die Kopfschmerzen war wahrscheinlich die körperliche Erschöpfung - obwohl er ausgesprochen gut geschlafen hatte, das musste er zugeben. Er war auf dem Sofa aufgewacht, als Ray das Frühstück vorbereitet hatte. Wie genau er dorthin gekommen war, wusste er nicht mehr, nur, dass er auf dem Balkon hingefallen war und sein Körper das gar nicht lustig fand. Eine kleine Schramme am Unterarm und das dumpfe Pochen in seiner Hand waren Beweis genug. Trotzdem ging es ihm jetzt wesentlich besser als gestern. Er war dankbar, die Nacht ohne Albträume verbracht zu haben. Aber es war ja auch die erste Nacht außerhalb Russlands gewesen und vielleicht lag es einfach daran. Der Gedanke, jetzt öfter richtig schlafen zu können, war wirklich großartig. Jetzt freute Kai sich sogar auf den kurzfristig angesetzten Urlaub. Außerdem waren sie fast schon an ihrem Ziel angelangt. Die Wälder wurden dichter und auch die letzten Häuser verschwanden allmählich. Die Berge kamen näher und in der Ferne konnte man Regen ausmachen. Eigentlich hatte er nichts lieber tun wollen, als sich in seiner Wohnung zu verkriechen und damit zu beginnen, die Vorfälle irgendwie zu verarbeiten. Die Pläne von Mr. Dickenson hatten ihm jedoch einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Allerdings versprachen die Berge und der dichte Wald ringsherum eine Abgeschiedenheit, die er sich gar nicht besser wünschen konnte. Entweder würde er allein im Haus sein oder er konnte sich im Notfall irgendwo zwischen den Bäumen verstecken. Möglichkeiten gab es da sicher viele. Solange er dem Team aus dem Weg gehen konnte, machte es ihm nichts aus, wo sie genau waren. Er wollte nur allein sein und seine seelischen Wunden lecken. Kurze Zeit später hielt der Bus bereits vor einer riesigen Hütte. Aufgeregt sprangen die fünf Bladebreakers aus dem Bus und sahen sich um. Kenny sprach noch kurz mit dem Busfahrer, dann waren sie auch schon alleine. Weit und breit war keine Straße zu sehen; sie waren über mehrere Schleichwege zum Haus gelangt. Licht fiel schwach durch die dichten Baumkronen und verlieh der Umgebung einen grünlichen Glanz. In der Ferne sangen die letzten Vögel. Sie hatten Glück, dass es nur leicht nieselte; Mitte November konnte es in dieser Gegend bereits schneien und nicht selten kam es vor, dass Dörfer von der Außenwelt abgeschnitten wurden. Davor hatten die fünf jungen Männer allerdings wenig Angst. Solange sie zwei Wochen ihre Ruhe hatten, würden sie sich nicht beschweren. Angenehm war auch das Innere der Hütte. An einen winzigen Flur schloss sich ein riesiges, zweistöckiges Wohnzimmer an. Eine große Glasfront mit angebauter Terrasse gab den Blick auf die Berge im Norden frei. Die rechte Seite nahm eine große Multimediaanlage mitsamt riesigem Flachbildfernseher ein, davor war eine Sitzgruppe mit 3 großen Sofas platziert. Rechts der Glasfront befand sich ein Kamin, links davon die Treppe ins Obergeschoss. Die Treppe ging in eine große Galerie über, von der aus man die einzelnen Zimmer erreichen konnte. Allerdings waren es nur vier Zimmer und sie waren zu fünft. Halbherzig versuchte Max, die Zimmerverteilung anzusprechen: "Tja, da müssen wir wohl auslosen, wer sich ein Zimmer teilen darf." "Ach hör schon auf. Natürlich nehmen du und Tyson ein Zimmer." Mit rollenden Augen und endgültigem Tonfall hatte Kenny die Sache abgetan. Keiner wäre auf die Idee gekommen, die beiden trennen zu wollen. Max läppischer Versuch, es so aussehen zu lassen, als wäre es ihm vollkommen egal, wenn er und Tyson Einzelzimmer bekamen, war einfach lächerlich. Ray hatte sich derweil in der Küche umgesehen und entschieden, dass sich mit den vorhandenen Messern, Töpfen und Gerätschaften sicher vorzüglich kochen lassen würde. Ein kurzer Blick und es war klar, dass sie genügend Vorräte für mindestens eine Woche hatten: Der Kühlschrank war prall gefüllt und die kleine, separate Speisekammer konnte sich sehen lassen. Nachdem jeder seine Entdeckungstour beendet hatte, trafen sie sich wieder im Wohnzimmer. Lediglich Kai hatte sich auf eins der Sofas fallen lassen und sein Bein nach oben gelegt. Wahrscheinlich war eine lange Fahrt in so einem engen Bus nicht sehr angenehm. "In jedem Zimmer sind zwei Betten, also ist es egal, wer welches nimmt. Jedes hat ein separates kleines Badezimmer und am Ende der Galerie ist nochmal ein großes mit einem Whirlpool. Stell dir das mal vor." Kenny hatte mehr mit Dizzy gesprochen, aber alle anderen hatten natürlich zugehört. "Losen wir aus, wer welches Zimmer bekommt?" "Von mir aus." Schnell waren die Zimmer verteilt und sie machten sich daran, die Taschen nach oben zu bringen. Ray sah, wie Kai aufstand und bot an, seine Tasche zu tragen. Der schenkte ihm einen unsicheren Blick, nickte dann aber leicht und humpelte die Treppe hinauf. Kai hatte gleich das erste Zimmer neben der Treppe gezogen, Ray das daneben. Ihm gefiel der Gedanke, dass sein Captain nur eine Tür weiter zu finden war. Er hoffte, dass Kai sich während der zwei Wochen wieder fangen würde und ein bisschen auftaute, obwohl ihn eine kleine, unscheinbare Stimme tief in seinem Innern warnte, dass er da zu viel erwarten würde. Doch er ignorierte sie gekonnt. Zwei Wochen waren eine lange Zeit und es konnte viel passieren. Mit einem kleinen Lächeln stellte er die Tasche neben Kai ab und wollte weiter zu seinem Zimmer gehen, als er zurückgerufen wurde. "Ray, warte, bitte." Die zaghafte, raue Stimme war nach dieser langen Zeit immer noch ungewohnt in seinen Ohren, doch alleine schon seinen Namen aus Kais Mund zu hören, zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. "Ja?" "Ich wollte mich noch bedanken für gestern Abend. Ohne dich hätte ich den Verband nicht wechseln können. Entschuldige, dass ich dich angefahren habe... und auch das andere..." Ray war zu verblüfft um zu antworten. Kai hatte sich eben bei ihm bedankt UND sich entschuldigt. Sprachlos nickte er und sein Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Es war selbstverständlich gewesen, seinem Mitbewohner zu helfen und die harschen Worte... nun ja, er hatte Kai wirklich angestarrt und wenn er selbst so ausgesehen hätte, wäre er darüber wohl auch nicht froh gewesen. Außerdem hatte die kleine Wodkaeskapade zu einer sehr interessanten und angenehmen Nacht geführt. Für eine Wiederholung würde Ray auch den einen oder anderen bissigen Kommentar gerne in Kauf nehmen. "RAHAY!" Kaum hatte sich der Schwarzhaarige abgewandt, um sein Zimmer zu beziehen, da kam auch schon Tyson auf ihn zugestürmt. "Wir haben Hunger, machst du uns dann was zu essen?" Hatte er eine Wahl? Wenn er nichts auf den Tisch brachte, würde ihn Tyson wahrscheinlich als Ersatz verspeisen. Er hatte schon wieder dieses gierige Glänzen in den Augen, das er immer bekam, wenn die Mittagszeit nahte. "Ja, klar, ich pack nur schnell aus." Er wandte sich noch kurz Kai zu, der die kleine Szene schweigend beobachtet hatte: "Am besten kommst du auch bald nach, bevor er die ganze Speisekammer leergegessen hat." Der Russe nickte und betrat dann sein vorübergehendes Domizil. Wie das Wohnzimmer war auch hier ein geschmackvoller Innenarchitekt am Werk gewesen. Alles war in warmen Farben gehalten und vermittelte ein Gefühl von Geborgenheit. Vom Fenster aus konnte man in der Ferne einen kleinen See ausmachen. Durch den Regen war die Sichtweite eingeschränkt, also konnte das Gewässer nicht weit entfernt sein. Wenn er wieder richtig laufen konnte, würde er sich das ansehen. Seine Sachen waren schnell ausgepackt: Sein ledergebundenes "Tagebuch", seine beiden Lieblingsbücher, Dranzer, sowie seine blaue Farbe. Das Team hatte merkwürdig geschaut, als sie ihn mit den Dreiecken gesehen hatten, doch was sollte er anderes tun? Das Blau verdeckte unangenehme Spuren, also würde er es tragen. Kai versuchte, sich nur auf die Ruhe der Umgebung zu konzentrieren und die bohrenden Kopfschmerzen zurückzudrängen, als lautes Gepolter durch die Hütte schallte. Anscheinend hatte Tyson genug ausgepackt und konnte jetzt wieder die Gegend unsicher machen. Der Krach konnte nur von ihm stammen. Sie waren jetzt alle 18 Jahre alt, aber er benahm sich immer noch wie ein kleines Kind. Wahrscheinlich würde er nie erwachsen werden. Seufzend packte Kai noch seine Kleidung in den Schrank und setzte sich dann auf das Bett. Es war wirklich bequem und versprach erholsamen Schlaf. Müde schloss er kurz die Augen, doch es schienen keine zwei Minuten vergangen zu sein, da rief Ray das Team zum Essen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)