Irgendwann bin ich bei dir von Rabenkralle ================================================================================ Kapitel 1: Irgendwann bin ich bei dir ------------------------------------- Irgendwann bin ich bei dir Shikamarus Blick fuhr über den mit Blumen übersäten Boden hoch zu dem schlichten Stein, der dort stand. Seine Augen ruhten auf der Inschrift und wie jedes Mal, wenn er an diesen Ort kam, ergriff ihn ein Gefühl, das er unmöglich in Worte fassen konnte. Manche hätten es vermutlich als Trauer bezeichnet, doch es auf diese eine, naheliegende Emotion zu beschränken, wäre nicht richtig gewesen. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. Er war in einem wunderschönen Blau getaucht und mit gelegentlichen Schleierwolken durchzogen, doch bei diesem Anblick, der ihm über Jahrzehnte hinweg so gefallen hatte, spürte er nichts mehr. Er hob seine rechte Hand und strich sich durch den Bart. Er war wie seine anderen Haare überwiegend grau und nur vereinzelt waren noch dünne, schwarze Strähnen zu sehen. Sein Gesicht war mit Falten durchzogen und seine Haut wirkte fahl wie Pergamentpapier. Körperliche Gebrechen hatte er trotz seiner siebenundsechzig Jahre kaum. Hier und da machte ihm sein Rücken zu schaffen und seine Gelenke knackten bei jeder Gelegenheit, aber seine lebenswichtigen Organe machten – mal mit mehr, mal mit etwas weniger Begeisterung – immer noch das, was sie sollten. Und obwohl er sich nicht groß beklagen konnte, fühlte er sich alt und müde. Shikamaru musterte erneut den Grabstein. Die Asche seiner Frau lag unter diesem Teppich aus Blumen und Gras. Die Frau, mit der er achtundvierzig Jahre seines Lebens verbracht hatte und von denen er vierundvierzig mit ihr verheiratet gewesen war. Drei Jahre waren vergangen, seit Temari gestorben war. An einer dummen Lungenentzündung, die zu spät erkannt worden war. Er gab niemanden die Schuld daran, dass es so gekommen war, außer sich selbst. Es verging kein Tag seit ihrem Tod, an dem er sich nicht verfluchte, dass er sie nicht eher ins Krankenhaus gebracht hatte. Sein Sohn beteuerte zwar immer wieder, dass er nicht das Geringste dafür konnte, sondern der übertriebene Stolz seiner Mutter, es als harmlosen Husten abzutun, der Grund für dieses Unglück war, aber das tröstete ihn nicht. Es tröstete ihn nicht, weil es nicht die ganze Wahrheit war. Er hatte dabei zugesehen, wie es Temari immer schlechter gegangen war und das sprach ihn schuldig. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden, doch er unterdrückte die Tränen. Er hatte ihr am Sterbebett versprechen müssen, dass er nicht jahrelang um sie weinen würde und dieses Versprechen, das er schon so oft gebrochen hatte, wollte er an ihrem Todestag an ihrem Grab nicht auch noch brechen. Ihr Todestag … Dieses Datum war immer aufs neue surreal für ihn. Shikamaru hatte niemals vorgehabt, ihn überhaupt zu erleben. Er war sich immer sicher gewesen, dass er vor ihr sterben würde, doch nun stand er zum dritten Mal in Folge an dieser Stelle und betrachtete den Stein mit ihrem Namen darauf, der ihn eines Besseren belehrte. Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen, als er daran dachte, wie er sich als Junge seine Zukunft vorgestellt hatte. Eine nette, durchschnittliche Frau hatte er für sich gewollt und zwei Kinder, zuerst ein Mädchen und dann einen Jungen. Temari hatte zwar durchaus ihre sanften Seiten gehabt, aber sie war definitiv nicht die Art Person, die andere als nett bezeichnet hätten. Und sie war viel zu intelligent und hübsch gewesen, um in irgendeiner Weise als durchschnittlich zu gelten. Mit den zwei Kindern hatte es geklappt, nur in der vertauschten Reihenfolge und mit einem viel zu großen Altersunterschied. Shikadai war fast zehn Jahre alt gewesen, als Temari mit sechsunddreißig doch noch unverhofft schwanger geworden war. Shikamaru erinnerte sich noch genau an die Bilder, als sie ihm völlig entgeistert den positiven Schwangerschaftstest gezeigt hatte. Sie war der Überzeugung gewesen, dass es ein Irrtum sein musste, weil sie nach ihrer Auffassung schon zu alt war, um noch ein Kind zu bekommen. Acht Monate später hatte doch ihre gemeinsame Tochter in ihren Armen gelegen. Die Nachzüglerin, die sie sich beide so sehr gewünscht hatten und mit der nach den vielen vergeblichen Versuchen niemand mehr gerechnet hatte. Shikamarus Lächeln erstarb, als er an den dritten und letzten Aspekt dachte. Er wollte im hohen Alter vor seiner Frau sterben, doch sie war vor ihm von dieser Welt gegangen. Das verpasste ihm jedes Mal, wenn ihm das bewusst wurde, einen Stich ins Herz. Einen Stich, der ihm in letzter Zeit immer öfter auf den Gedanken brachte, dass es besser wäre, wenn er ihr folgen würde. In diesen Momenten hatte er genug vom Leben und er wünschte sich einfach nur, wieder mit ihr vereint zu sein. Selbst wenn er nicht an die Existenz eines Jenseits glaubte, so wollte er doch zu dem Ort, an dem sie war. Leider dachte sein Körper noch lange nicht daran aufzugeben und da er es seiner Familie nicht antun konnte, sein Ableben selbst in die Hand zu nehmen, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis der Sensenmann endlich ein Einsehen mit ihm hatte … »Opa!« Eine hohe Stimme holte ihn zurück ins Jetzt. Er wandte seinen Blick vom Grab ab und wandte sich um. Seine Enkeltochter kam mit großen Sprüngen auf ihn zugelaufen. Sie war mit viereinhalb Jahren die Jüngste seiner vier Enkel und das einzige Mädchen. Sie hieß Aki – wie der Herbst, in dem sie geboren war und der Temaris liebste Jahreszeit gewesen war. »Bist du etwa ganz alleine hergekommen?«, fragte Shikamaru skeptisch. Das Mädchen schenkte ihm ein breites Lächeln. Ihre großen, dunkelgrünen Augen leuchteten und als sie den Kopf schüttelte, flogen ihre störrischen, blonden Haare wild hin und her. Sie war die einzige seiner sechs Nachkommen, die nicht die clantypischen schwarzen Haare geerbt hatte. »Mama und Onkel Shikadai trödeln noch da hinten herum«, antwortete sie dann. »Sie haben mich schon mal vorgeschickt, weil sie denken, dass du wieder in Selbstmitleid versinkst. Was auch immer das sein soll.« Aki zuckte die Achseln und lachte und das sorgte dafür, dass er sich ein wenig besser fühlte. Sie lief an ihm vorbei, ging in die Hocke und musterte unbedarft die Blumen, die vor dem Stein wuchsen. »Erzählst du mir etwas von Oma?«, fragte sie. »Ich erinnere mich ja nicht mehr an sie.« »Sicher«, sagte Shikamaru. »Was möchtest du wissen?« Seine Enkelin wippte den Kopf hin und her und schien angestrengt nachzudenken. »War sie nett?« »Es kommt drauf an, wie du dieses Wort definierst.« »Defi… Was ist das?«, entgegnete sie irritiert. Er musste ehrlich lachen. »Das musst du noch nicht wissen.« Sie richtete sich wieder auf und warf ihrem Großvater einen unzufriedenen Blick zu. »Du behandelst mich immer wie ein Kleinkind«, meckerte sie. »Du bist auch noch eins«, erwiderte er, erntete mit diesem Argument allerdings nur eine missbilligende Miene. Es war eine Miene, die er schon unzählige Male und lange vor ihrer Geburt gesehen hatte. »Du siehst ihr gerade übrigens sehr ähnlich«, bemerkte er mit einem Lächeln. »Ich weiß«, flötete das Mädchen. »Das erzählst du mir jedes Mal, wenn ich dich was über sie frage.« »Wenn es dich nervt, sag ich es nicht mehr.« »Nein« – sie schüttelte abermals den Kopf – »schon okay.« »Meinst du wirklich?« »Ja.« Diesmal nickte sie überschwänglich. »Das heißt doch nur, dass ich später mal so hübsch werde wie sie früher war, oder?« Shikamaru schmunzelte und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Du wirst ganz sicher mal so ein hübscher und großartiger Mensch wie sie.“ Aki warf ihm eins ihrer wunderbaren Lächeln zu und all das Negative, das er bis hierhin gedacht hatte, verschwand weit in den Hintergrund. Er erwiderte es und zum ersten Mal seit Langem verspürte er wieder eine Art Zufriedenheit, als er in den blauen Himmel schaute, den er mal so sehr gemocht hatte. Sein Blick streifte wieder zum Grabstein, doch anstatt bei seinem Anblick Trauer und Leid zu verspüren, fühlte er Hoffnung und Freude. Vielleicht hatte es einen Grund, dass seine Zeit noch nicht gekommen war. Er wusste nicht, ob es schon nächste Woche, nächstes Jahr oder erst in zwei Jahrzehnten so weit war, doch bis dahin versuchte er einfach, das Beste aus seiner Situation zu machen. Denn eines wusste er: Egal, wie lange es noch dauern würde, aber irgendwann … Irgendwann bin ich wieder bei dir, dachte Shikamaru und lächelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)