Beyblade N. G. von KradNibeid (Aktuell: Kapitel 15 - Garys Galzzly) ================================================================================ Prolog: Die Macht des Dragoon ----------------------------- - 18. März, Tokyo – Zufrieden betrat Tyson den Wohnbereich des Dojos, die Post unter den Arm geklemmt. Es war ein angenehmer Tag gewesen – das Frühlingswetter war mild, und er hatte mit den Jugendlichen, die er aktuell im Zuge eines speziellen Rehabilitationsprogrammes im Beybladen unterrichtete, im Gelände trainieren können. Einige von ihnen hatten bereits große Fortschritte gemacht, sowohl in ihrer Technik, als auch in ihrem Sozialverhalten, und es erfüllte ihn mit Stolz, seine Schützlinge auf diesem Weg zu begleiten. Er summte gut gelaunt vor sich hin, als er seine Schuhe auszog und zur Küche ging; der Weg führte ihn an einem kleinen Schrein vorbei, auf dem ein Bild seines Großvaters stand. Im Vorbeigehen verneigte sich Tyson leicht zum Gruß. „Hallo, Opa. Schade, dass du nicht mehr da bist – du hättest die Jungs und mich heute sehen sollen! Aber ich bin mir sicher, du hast trotzdem deine Freude daran, mir zuzusehen und mich weiter anzufeuern, wo auch immer du gerade bist!“ Mit einem Lächeln im Gesicht betrat Tyson die Küche und legte die Post auf den Tisch, während er sich daran machte, etwas zu Kochen. Inzwischen waren fast elf Jahre vergangen, seit die BEGA zerschlagen worden war, und es hatte sich vieles geändert. Sie, die Blader, die damals noch halbe Kinder gewesen waren, hatten sich geändert; sie waren erwachsen geworden, hatten ihr eigenes Leben begonnen und sich auseinandergelebt. Was Tyson nicht daran hinderte, zu versuchen, den Kontakt aufrecht zu erhalten – zumindest teilweise auch mit Erfolg. Während der Reis garte und er das Gemüse für die Beilage in Würfel schnitt warf er einen Blick auf die Briefe, die ihn heute erwartet hatten. Neben zwei Rechnungen und einem Werbeflyer für ein großes Beyblade-Straßenfest, das demnächst von der BBA in Moskau ausgerichtet wurde und für das es Tickets zu gewinnen gab, waren auch eine Postkarte von Michael (mal wieder ein Foto von ihm auf einer exotischen Insel, auf dessen Rückseite ausgiebig beschrieben stand, wie großartig das Leben als Profi-Blader und Top-Model doch war), ein Brief von Johnny (auf den er nun schon seit zwei Monaten wartete – aber immerhin besser spät als nie) und ein Brief von Kenny (was ihn etwas verunsicherte, da Kenny ihm sonst nur E-Mails schrieb) dabei. Es versetzte ihm einen Stich, dass er keine Antwort von Max erhalten hatte, dem er bereits seit Jahren jeden Monat einen Brief schickte; früher waren sie beste Freunde gewesen, doch Max hatte jeden Kontakt abgebrochen, kurz nachdem er endgültig wieder nach Amerika gezogen war, und es machte Tyson traurig, dass er so wenig Interesse zeigte. Während er sich vornahm, später einen neuen Brief an Max zu schicken (und wenn er bis Ende April keine Antwort erhalten würde, hatte er immerhin schon einen Flug in die USA gebucht, um Max einmal persönlich zu besuchen), warf er das Gemüse in einen Topf mit Brühe, dann wischte er sich die Hände ab und öffnete neugierig Kennys Brief. In dem schlichten, weißen Umschlag befand sich eine ebenso schlichte, weiße Karte, auf die lediglich ein sauberes Einladung in Goldlettern gedruckt war. Als er die Karte öffnete, begann er, zu strahlen. Lieber Tyson, Es ist kaum zu glauben, aber es ist endlich passiert: Ich wurde für eine Candle nominiert! Die Preisverleihung findet in zwei Wochen statt, am 1. April (es ist aber kein Scherz!) um 18h im Seaside Dome. Ich bin so aufgeregt! Es würde mich freuen, wenn du auch kommen könntest (in Abendgarderobe!), denn ohne dich wäre ich niemals so weit gekommen. Ruf mich doch bitte an! Liebe Grüße, Kenny P.S.: Ein Pyjama qualifiziert nicht als Abendgarderobe „Gut gemacht, Chef!“ Stolz pinnte Tyson die Karte an ein Korkbrett an der Küchenwand, dann kümmerte er sich wieder um sein Essen. Kenny hatte schon lange darauf gehofft, für eine seiner Arbeiten eine Candle, einer der renommiertesten Nachwuchs-Förderpreise in der Beyblade- und Bitbeastforschung, zu erhalten, und es machte ihn froh, dass es nun endlich soweit war. Sicher, eine Nominierung bedeutete noch nicht, dass Kenny den Preis auch erhielt, doch immerhin zeigte es, dass er wahrgenommen wurde und seine Arbeiten Eindruck machten; und das war die Hauptsache. Sobald er gegessen hatte würde er Kenny anrufen, ihm gratulieren und ihm zusagen; so ein wichtiges Ereignis würde er sich niemals entgehen lassen! Schließlich war der Reis fertig, und Tyson zog sich mit einer Schüssel, Essstäbchen und Johnnys Brief an den Esstisch zurück. Er begann zu lesen, während er aß. Der Kontakt mit Johnny war eher zufällig entstanden; Tyson hatte es sich, nachdem sich die Teams aus den Augen verloren hatten, zur Gewohnheit werden lassen, allen anderen immer zu Weihnachten (auch wenn er kein Christ war schien es ihm ein schöner Anlass, an andere zu denken) und zu ihrem Geburtstag (diese Daten hatte er einmal heimlich aus dem BBA-Computer gezogen, als niemand hingesehen hatte) eine Karte zu schicken mit ein paar netten Worten. Die meisten schickten nie etwas zurück (oder nur eine knappe Mail mit einem „Danke“), und auch Johnny hatte lange Zeit seine Karten schweigend angenommen, bis eines Tages, wenige Wochen nach Johnnys vierundzwanzigstem Geburtstag, ein Brief bei ihm ankam, in dem sich der Schotte darüber echauffierte, was Tyson sich dabei dachte, ihm immer diese Karten zu schicken. Wiederum selbst empört hatte Tyson eine wütende Antwort geschrieben, in der er sich darüber beklagte, dass es ja sonst niemanden gab, der sich darum bemühte, die alte Crew beisammen zu halten, woraufhin Johnny sich wieder bei ihm beschwerte, und schließlich war aus diesem Streit ein Briefwechsel erwachsen, der zwar nicht sehr regelmäßig, aber doch sehr erbauend war. Er gab Tyson das Gefühl, dass da doch noch etwas war, das sie alle verband, und das trieb ihn jeden Tag aufs Neue wieder an. Nach kurzer Zeit war der Brief gelesen und die Mahlzeit beendet, und während er das Geschirr spülte, überlegte er, wie er Kenny am besten am Telefon gratulieren könnte. Sollte er ihm einen Streich spielen, um ihn ein bisschen aus der Reserve zu locken, oder wäre ein begeisterter Jubelruf angebrachter? Er entschied sich, spontan darauf zu reagieren, wie Kenny sich am Telefon melden würde, und räumte das Geschirr weg. Gerade wollte er sein Handy zur Hand nehmen, als er eine vertraute Stimme hörte. Tyson, komm zu mir. Ich muss mit dir reden. Sein Herz schlug schneller, als er diese Stimme hörte – eine mächtige Stimme, die bisher noch selten direkt zu ihm gesprochen hatte, doch jedes Mal, wenn sie es getan hatte, waren es entscheidende Momente in seinem Leben gewesen. Es war die Stimme des Dragoon. Tyson, beeile dich. Wir haben nicht viel Zeit! Ein blaues Leuchten drang aus dem Essbereich, wo sein Blade auf dem Tisch lag, in die Küche, und Tyson spürte, wie ihn die Energie seines Gefährten durchströmte, als er sich vor dem Kreisel auf den Boden kniete. „Dragoon...? Was- Was ist denn los? Außerhalb eines Kampfes hast du bisher noch nie zu mir gesprochen.“ Unsicherheit klang in Tysons Stimme mit, und Neugier. Bisher gab es keine Notwendigkeit dazu; doch die Dinge ändern sich. Die Welt ist im Wandel, und die Fäden des Schicksals verknüpfen sich zu einem Tuch, das die Zeit unter sich begräbt. Du bist der Schlüssel, Tyson, um dies noch zu verhindern. Jedes Wort des Bitbeasts klang durch den Raum wie eine Windbö, und erstaunt erkannte Tyson, dass sich die Stimme des Drachen gewandelt hatte. Vorsichtig nahm er den Blade in seine Hände. „Opa – bist du das?“ Der Bitchip leuchtete einen kurzen Moment heller als zuvor, und Wind umwirbelte Tysons Körper. Ich bin eins mit deiner Vergangenheit, mit deiner Gegenwart und deiner Zukunft, Tyson. Das Wesen deiner Familie ist eng mit mir verwoben. Ich bin ein Teil von dir, so wie du und alle deine Ahnen ein Teil von mir seid. Ein Lächeln stahl sich auf Tysons Gesicht. „Also bist du es, alter Mann. Ich wusste doch, du lässt mich nicht hängen“, bemerkte er freudig, bis der Ernst des Situation ihm bewusst wurde. „Dragoon... du sagst, dass etwas passieren wird? Doch was kann ich tun, um es zu verhindern? Meine Freunde sind überall verstreut, ich habe kein Team mehr – soll ich sie wieder zusammentrommeln?“ Dein Herz ist stark, Tyson, und dein Geist ungebrochen – doch diesen Feind kannst du nicht bezwingen, nicht mit allem Mut und nicht mit allen Freunden der Welt. Daher bleibt mir nur ein Weg – du wirst verstehen, wenn die Gefahr vorüber ist. Verwirrt setzte Tyson zu einer Entgegnung an, als er komplett von Dragoons Licht umhüllt wurde. Nach einem kurzen Moment gleißender Erleuchtung war alles vorbei – das Zimmer war leer. Tyson und Dragoon waren verschwunden. - 18. März, Moskau – Dranzer glühte förmlich in seiner Hand, als Kai mit ernster Miene den Bitchip betrachtete. Seine Augenbrauen zogen sich für einen kurzen Moment unwillig zusammen, dann steckte er seinen Blade ein, zog seinen Mantel an und trat hinaus in die Kälte. Es hatte begonnen, und es lag noch ein weiter Weg vor ihm. - 18. März, New York – „Na, gefällt dir das?“ Ein Stöhnen war die einzige Antwort, die Max dem Mann gab, der gerade dabei war, sich tief in ihm zu versenken; Tim oder Tom oder Bruce – Namen spielten keine Rolle, solange es sich richtig anfühlte. Von Drogen und Lust vernebelt stammelte er unzusammenhängende Worte, während er sich den rhythmischen Stößen seines Partners hingab. Unbemerkt von beiden drang ein schwaches Leuchten aus einer halb geöffneten Schublade, in der Draciel zwischen Kondomen und Kaugummipackungen lag. Schmerz durchzog Max, als Jim (oder Ken?) grob an seinen Haaren zog und ihn zwang, seinen Kopf in den Nacken zu legen, um ihm in den Hals zu beißen. Was spielte das Leben für eine Rolle. - 18. März, Hong Kong – Mit ernstem Blick überwachte Ray die Männer, die dabei waren, die Fracht zu verladen. Es war eine wichtige Lieferung in die USA, und er hoffte, dass diese Tölpel nicht wieder alles vermasselten. Nieselregen setzte ein, und stahlgraue Wolken drängten sich unheilschwanger über dem Hafen. In der Ferne konnte er das dumpfe Grollen eines herannahenden Gewitters hören, und der Wind frischte auf. Ein Blitz durchzog den Himmel. Ein dumpfes Pochen erfüllte seine Brust, und für einen kurzen Moment war es, als hallte in ihm etwas wider, eine Erinnerung, vielleicht ein Traum. Doch da war nichts. Kapitel 1: Wundersame Mächte ---------------------------- - 25. März, Tokyo - „Er hat immer noch nicht angerufen, Dizzi.“ Mit enttäuschter Miene blickte Kenny auf das Smartphone in seiner Hand, bevor er es seufzend auf die Matratze warf und sich wieder seinem Laptop zuwandte. Es war eine dieser Gewohnheiten, die man nicht so einfach ablegen konnte, die ihn dazu brachte, sich zum Arbeiten immer auf sein Bett zurück zu ziehen; in den Hotelzimmern und Reisebussen, die sie als Bladebreakers auf ihren Fahrten zu den großen Turnieren stets bewohnt hatten, hatte es für ihn keine Schreibtische oder gesonderten Raum für seine Recherchen gegeben, und so hatte er gelernt, dass ein Bett (oder ein Bussitzplatz, solange er nicht wahlweise neben Tyson oder Max oder Daichi oder gar zwischen den Dreien lag) der perfekte Arbeitsplatz sein konnte. „Du weißt doch, wie Tyson ist, Chef. Wahrscheinlich hat er schon wieder vergessen, dass du ihm überhaupt eine Karte geschickt hast“, stichelte das Bitbeast, und Kenny schüttelte den Kopf. „Ich meine das Ernst, Dizzi. Ich habe ihm inzwischen schon vier Mal auf die Mailbox gesprochen, um ihn daran zu erinnern, aber auch darauf hat er nicht reagiert!“ „Da hat wohl jemand Liebeskummer?“ Kaum hatte Dizzi die Worte ausgesprochen, stieg Kenny die Röte ins Gesicht, und er verfluchte sich innerlich – ebenso wie sein vorlautes Bitbeast. „Ich habe keinen Liebeskummer, Dizzi, denn ich bin nicht in Tyson verliebt!“ „Ach ja? Meine optischen Sensoren sagen da aber etwas ganz anderes, Chef; du wirst ja ganz rot – ich habe dich doch nicht in Verlegenheit gebracht?“ Bemüht ruhig atmete Kenny einige Male durch, bevor er antwortete. „Dizzi, du weißt, dass ich immer rot werde, wenn mir jemand eine Beziehung unterstellt, und dass ich dagegen nichts machen kann. Genauso weißt du, dass ich nicht in Tyson verliebt bin. Ich mache mir allerdings Sorgen, denn mein bester Freund ist seit einer guten Woche quasi spurlos verschwunden und nicht mehr zu erreichen.“ „Vielleicht spielt er ja auch einfach den Unnahbaren?“ Mit einem entnervten Seufzen schlug sich Kenny die Hände vor das Gesicht und ließ sich auf sein Kissen fallen. „Weißt du was? Manchmal hasse ich dich, Dizzi.“ „Ich weiß; genauso wie ich weiß, dass deine Worte nur eine Form des unbeholfenen Ausdrucks unendlicher Bewunderung für mich sind.“ Ein leichtes Grinsen legte sich auf Kennys Züge, und angenehmes Schweigen füllte den Raum. Bei all den Abenteuern, die sie als Bladebreakers erlebt hatten, war Dizzi für ihn eine wichtige Gefährtin geworden, die ihm immer mit Rat und Tat (nun gut, eher weniger konkreten Taten, was wohl ihrem Dasein als Gefangene seines Laptops zu verschulden war; dafür ergänzte sie gute Ratschläge stets mit einer gesunden Portion Sarkasmus) zur Seite gestanden hatte. Doch auch nach den Zeiten der Bladebreakers verließ er sich voll und ganz auf ihre Unterstützung, wenn er an seinen Forschungsprojekten arbeitete und recherchierte. Sie war seine beste Freundin, und immer für ihn da – genau wie Tyson. „Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn, Dizzi.“ „Ich weiß, Chef. Aber ich bin mir sicher, er wird da sein – wie immer zu spät, wie immer unpassend gekleidet, aber da.“ Mit einem schiefen Lächeln setzte sich Kenny wieder auf. „Vermutlich hast du Recht, und ich mache mir einfach wieder zu viele Gedanken.“ „Natürlich habe ich Recht! Und jetzt komm zurück zu deiner Arbeit, meine Tasten werden schon ganz kalt, wenn du nicht mit deinen starken Händen auf ihnen tippst.“ „Dizzi!“, empört schnappte Kenny nach Luft, und wieder begannen seine Wangen zu glühen. „Was denn? Auch eine Frau hat eben ihre Bedürfnisse. Nicht, dass mir dieser enge Aluminiumrahmen die Chance ließe, ihnen nachzukommen.“ Während sich Kenny (dessen Gesicht inzwischen tiefrot leuchtete) noch stotternd um eine Antwort bemühte, begann Dizzi bereits damit, einige Aufsätze und Zeitungsartikel aus diversen Online-Archiven zu laden. „Deine Forschungsarbeit schreibt sich nicht von alleine, junger Mann, und ich schreibe sie dir schon gar nicht. Es ist schon schlimm genug, dass ich dir dabei helfe.“ - 25. März, Moskau – Mühelos verschmolz er mit den Schatten der Gebäude, die die enge Straße säumten. Schnee knirschte unter seinen Schuhen, wo niemand sich die Mühe gemacht hatte, ihn beiseite zu schaffen, und setzte sich am Saum seines langen Mantels fest. Diese Gegend der Stadt war heruntergekommen und verlassen; die Menschen, die man hier in den dunklen Gassen beobachten konnte waren allesamt zwielichtige Gestalten, die ihren Unterhalt mit dubiosen Geschäften verdienten. Und genau das machte diesen Ort so perfekt für kritische Transaktionen: unter all den verdächtigen Deals fielen einige mehr oder weniger nicht weiter auf. Ein eisiger Windstoß fand seinen Weg durch die Häuser und griff nach seinem Schal, der sich unangenehm eng um seinen Hals legte. Mit einem unwilligen Schnauben zog Kai die Schlingen wieder etwas auf und beschleunigte dann seinen Schritt. Nur weil dieser Ort für seine Geschäfte geeignet war hieß das nicht, dass er länger hier bleiben wollte als unbedingt nötig. Sein Weg führte ihn noch ein ganzes Stück durch verwinkelte Gassen und verbaute Innenhöfe, bis er schließlich zu einem leer stehenden Haus kam, dessen Dach in diesem Winter unter der Schneelast teilweise eingestürzt war. Die Fenster waren vernagelt, die Wände mit unflätigen Graffitis beschmiert. Er bedachte den Schaden mit einem kritischen Blick, ehe er über die Überreste der Eingangstür trat, die morsch und zersplittert halb unter dem Schnee am Boden begraben lag; jemand hatte sie schon vor langer Zeit aus den Angeln gerissen, und es hatte wohl niemanden gegeben, der den Schaden reparieren wollte – oder konnte. „Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, dass man klopft, bevor man fremde Häuser betritt?“ In der Dunkelheit konnte Kai die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes erkennen, der gegen eine der noch intakten Wände im Inneren des Hauses gelehnt stand. Unbeeindruckt hob Kai eine Augenbraue, ging in die Hocke und klopfte auf das durchweichte Stück Holz, auf dem er gerade stand, dann richtete er sich wieder auf und ging zu dem Mann, der ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Respekt ansah. „Du hast eben immer die richtige Antwort auf alles, Hiwatari.“ Die Stimme seines Gegenübers troff geradezu vor Sarkasmus, doch Kai zeigte sich davon unbeeindruckt. „Genau aus diesem Grund bin ich heute da, wo ich stehe – und du nicht.“ Eine kalte Drohung blitze in Kais Augen auf, und der Mann hob abwehrend die Hände. „Schon verstanden. Du bist der Boss, ich bin unwürdig, ich kenne die Geschichte. Verzeih, dass ich dich mit meiner bloßen Existenz belästige.“ Kais Mundwinkel zuckten unmerklich nach oben, als er in Zustimmung knapp nickte. „Du hast es also tatsächlich verstanden – ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben. Dennoch hoffe ich, du hast deinen Job erledigt?“ „Wäre ich hier, wenn ich es nicht geschafft hätte?“ Mit düsterer Miene zog der Mann einen Umschlag aus einer Innentasche seines Mantels und reichte ihn an Kai weiter. „Das ist alles, was ich beschaffen konnte, aber ich finde die Sache ziemlich eindeutig. Ich könnte dir jetzt noch davon erzählen, durch welche Strapazen ich mich quälen musste, um dieses Zeug für dich zu sammeln, und wie oft ich mein Leben dabei auf’s Spiel gesetzt habe… Aber dann wiederum weiß ich, dass dich das nicht im Geringsten interessiert.“ „Damit hast du vollkommen Recht“, entgegnete Kai trocken, während er den Umschlag öffnete. Darin befanden sich einige Fotos, sowie sichtbar beschädigte Mikrochips. Konzentriert betrachtete er die Bilder, und mit jedem weiteren schien es ihm, als würde die ohnehin eisige Temperatur noch tiefer fallen. „Es ist also wahr…“ - 27. März, Tokyo – Missmutig blickte Kenny auf den Bildschirm vor sich. Alles, was er noch brauchte, um bei seiner aktuellen Forschungsarbeit über das Transferieren und Freisetzen von Bitbeasts den kritischen Punkt zu überschreiten, waren ein paar genaue Daten über einen speziellen Stein. Nichts großes, nur ein paar simple Messungen – Alter, Energielevel, Zusammensetzung, historische Funktion; wirklich nur ganz grundliegende Dinge. Alles Untersuchungen, die beim Fund eines Steines, in den eindeutig ein Bitbeast gebannt war, selbstverständlich sein sollten. Doch offensichtlich (und entgegen aller Maßstäbe gründlicher archäologischer Arbeit) waren sie das nicht – der Stein war ohne jegliche weitere Prüfung direkt an das Museum of Natural History in New York gegeben worden; es existierten also keinerlei Datensätze über ihn. An sich war das kein Beinbruch; als Angestellter der BBA und aufstrebender Nachwuchs-Wissenschaftler war es keine große Sache, eine Genehmigung einzuholen, die es gestatten würde, den Stein mit einem Forscherteam weiter zu untersuchen. Der einzige Haken bei der Sache: Der Stein war weg. Nein, weg war der falsche Ausdruck: Er war spurlos verschwunden. Keine Hinweise auf Einbrecher, auf Diebe oder korrupte Museumsangestellte – der Stein war einfach nur weg. Und damit auch seine Chance, seine Arbeit in absehbarer Zeit zufriedenstellend abzuschließen. Frustriert scrollte Kenny einige Male über den Zeitungsartikel, den er in seinem Browser geöffnet hatte, ohne ihn wirklich zu lesen; er wusste, was in dem Text stand, denn er hatte ihn in der letzten Stunde mehrmals Wort für Wort durchgearbeitet und recherchiert, in der Hoffnung, dass es sich um einen Fehlbericht handelte, doch mit jedem weiteren Klick, mit jeder weiteren Quelle hatte sich die grausame Wahrheit bestätigt: Die gesamte Forschung der letzten Monate lag ab sofort auf Eis. „Das war’s dann wohl, Dizzi. Bevor dieser Stein nicht wieder auftaucht hat es keinen Zweck, weiter zu machen.“ „Kopf hoch, Chef; ich bin mir sicher, der Stein taucht wieder auf – oder sie finden einen neuen. Inzwischen ist es ja wahrscheinlicher, auf ein Bitbeast zu treffen, als bei einem Preisausschreiben zu gewinnen.“ „Vielleicht auf ein freies Bitbeast, ja. Aber versiegelte Bitbeasts sind dafür umso seltener geworden!“ „Was deine Forschungsarbeit übrigens auch umso sinnloser macht.“ Missmutig blickte Kenny auf Dizzis Statusanzeige, dann begann er damit, die verschiedenen Browser-Fenster mit Aufsätzen und Zeitungsartikeln zu schließen; es war schon spät, und hatte ohnehin keinen Sinn mehr, noch weiter nach Details des Museumsraubes zu suchen. „Du weißt, dass ich diese Arbeit nicht schreibe, um damit groß heraus zu kommen. Mit diesem Stein hätte ich vielleicht endlich den Weg gefunden, dich zu befreien!“ „Ich fühle mich sehr geehrt, Chef, dass du mir eine ganze Forschungsarbeit widmest; aber ich bin nun schon lange genug hier drin, dass es auf ein paar Wochen mehr oder weniger nicht ankommt. Außerdem habe ich erst neu tapeziert – es wäre doch schade, wenn das alles umsonst gewesen wäre, wenn du mich all zu bald hier raus holen würdest.“ Ein schwaches Lächeln schlich sich auf Kennys Gesicht, während er auch das Programm mit seinen bisherigen Erkenntnissen beendete. „Immerhin lässt sich eine von uns beiden von diesem Rückschlag nicht unterkriegen. Ich wollte trotzdem, ich könnte dir schon jetzt helfen.“ Sanft strich Kenny über das Gehäuse seines Laptops, und Dizzi kicherte leise. „Bitte, Chef, du machst mich ja ganz verlegen. Außerdem lässt dir diese Forschungspause vielleicht ein wenig Zeit, um dich mit dem Störsignal zu befassen, von dem ich dir vor ein paar Wochen erzählt habe. Es ist furchtbar anstrengend, dir die richtigen Aufsätze heraus zu suchen, wenn man die ganze Zeit gegen den Strom arbeiten muss – meine Schaltkreise sind schon ganz überspannt!“ Theatralisch seufzte Dizzi auf, und Kenny schüttelte den Kopf. „Du weißt selbst, dass ich schon nach möglichen Ursachen für die Störung gesucht habe und nichts dabei heraus kam.“ „Nur weil du noch keinen Fehler gefunden hast heißt das nicht, dass da keiner ist. Aber natürlich ist dir das egal – du hast ja auch nicht mit diesen schrecklichen Kopfschmerzen zu kämpfen!“ „Kannst du überhaupt Kopfschmerzen bekommen? Immerhin hast du keinen Kopf“, bemerkte Kenny amüsiert und warf dann einen Blick auf die Uhr. „Aber wenn es dich so belastet, dann werde ich mich gleich morgen noch einmal damit befassen – heute ist es eindeutig zu spät dafür.“ „Ich werde dich daran erinnern, Chef. Bis dahin werde ich auch meine Subroutinen etwas schonen. Gute Nacht.“ Noch bevor Kenny antworten konnte, hatte Dizzi ihr Programm beendet, und mit einem gemurmelten „Gute Nacht“ schloss Kenny den Laptop, bevor er sich seiner Kleidung entledigte und in sein Bett stieg. Bitbeasts waren faszinierende Geschöpfe – so viel älter, so viel intelligenter als Menschen, und dennoch bereit, ihnen stets zu helfen, mit Fähigkeiten und Gaben, die das Begreifen und den Verstand eines einfachen Mannes bei Weitem zu übersteigen schienen (er wollte es nicht Magie nennen, doch wenn es um Bitbeasts ging, waren definitiv wundersame Mächte am Werk). Mit einem langgezogenen Gähnen schaltete Kenny das Licht aus und überprüfte ein letztes Mal die Weckzeit auf seinem Smartphone, bevor er sich schlafen legte. Tyson hatte immer noch nicht geantwortet. Kapitel 2: 13 Candles --------------------- - 01. April, Tokyo – Nervös zupfte Kenny an seinem Kragen und betrachtete sich missmutig im Spiegel. Sein Hemd saß schief, die Farbe der Krawatte passte nicht zum Sakko und seine Haare sahen aus, als hätte er sich in einem Orkan gekämmt. Das Schlimmste war allerdings, dass er nichts dagegen tun konnte – egal, wie sehr er sich darum bemühte. „Denkst du nicht auch, dass es langsam reicht? Du stehst immerhin schon seit einer halben Stunde hier, und ich muss sagen, ich fühle mich in der Herrentoilette alles andere als wohl.“ Empörung schwang in Dizzis Stimme mit, die neben ihm auf der Ablage stand, und verzweifelt warf Kenny die Hände in die Luft. „Denkst du denn, mir macht das hier Spaß?! Aber egal, was ich tue, es wird einfach nicht besser! Ich sehe furchtbar aus.“ Mit klagendem Blick wandte er sich zum Laptop, und Dizzi gluckste amüsiert. „Oh nein, Chef. Furchtbar sahst du vor einer halben Stunde aus. Jetzt ist dein Äußeres einfach nur noch grauenerregend.“ „Na vielen Dank auch“, murrte Kenny und zog eine Schnute. Dizzi hatte Recht, je länger er hier stand und an sich herum werkelte, desto schlimmer wurde seine Erscheinung – doch er konnte sich so doch nicht bei der Verleihung blicken lassen! Was, wenn er wirklich eine Candle erhalten würde? Wenn er so auf die Bühne treten würde, um den Preis entgegen zu nehmen, dann würde der ganze Saal über ihn lachen – und an diesem Abend waren die klügsten Köpfe der gesamten Bitbeastforschung im Seaside Dome versammelt. Ihm wurde schlecht bei der Vorstellung, und Verzweiflung machte sich in ihm breit. Er war ein Forscher und Techniker, aber kein Mensch, dem es Freude bereitete, sich vor hunderten Menschen auf eine Bühne zu stellen; zu Zeiten der Bladebreakers hatte er es einige Male als Beyblader versucht, vor einem Publikum zu agieren, doch immer war da dieses unangenehme Gefühl des Beobachtet-Werdens geblieben, und so hatte er das aktive Turnierbladen letztlich wieder aufgegeben und war zu seinem Platz hinter dem Vorhang zurückgekehrt. Ein letztes Mal strich sich Kenny durch die Haare, dann seufzte er frustriert auf und klemmte sich Dizzi unter den Arm, als er die Toilette verließ. Es hatte wirklich keinen Zweck mehr. „Endlich hast du Erbarmen mit mir! Meine Schaltkreise hätten diesen furchtbaren Ort keinen Moment länger ertragen“, jubelte Dizzi, als sie auf den Flur traten, und ein paar Gäste, die auf dem Gang standen und sich unterhielten, drehten sich kurz zu ihnen um. Einen kurzen Augenblick war Kenny versucht, etwas zu erwidern, ließ es dann jedoch bleiben. Gegen Dizzi war in einer Unterhaltung wie dieser kein Kraut gewachsen, das hatte er schon vor langer Zeit lernen müssen. Gleichzeitig schaffte sie es durch ihre unvergleichliche Art aber auch, jede noch so verzwickte Situation aufzulockern, und dafür war er ihr unendlich dankbar. Gesetzt den Fall, dass er einer der dreizehn Preisträger war, hatte er ohnehin vor, sich einen neuen Laptop zu kaufen – vielleicht würde sie sich über neue Hardware und höhere Prozessorleistungen ja freuen; im Zweifelsfall würde zumindest das Störsignal verschwinden, mit dem sie aktuell zu kämpfen hatte (immerhin hoffte er das, nachdem er bisher trotz intensiver Bemühungen keinen Weg gefunden hatte, das Signal zu analysieren, geschweige denn, es auszuschalten). Mit einem unsicheren Lächeln grüßte er die Männer und Frauen, die ihm auf dem Weg zur Haupthalle entgegen kamen. Es kam ihm vor, als würde er wie ein getriebenes Schaf zur eigenen Schlachtbank laufen, ohne Chance auf Entkommen. „Wenn nur Tyson hier wäre“, murmelte er zu sich selbst, doch Dizzi schnappte den Satz (natürlich) auf. „Mach dir keine Sorgen, Chef – es ist noch eine halbe Stunde, bis die Verleihung anfängt, und Tyson hat noch nie durch Pünktlichkeit geglänzt. Oder ein generelles Verständnis von Höflichkeit, wenn ich das anmerken darf.“ „Aber er hat sich die ganze Woche nicht gemeldet – was, wenn ihm etwas passiert ist?“ „Darüber hättest du dir die ganze Woche über Gedanken machen können, aber heute Abend ist nun wirklich nicht die passende Zeit dafür.“ „Die ganze Woche über hast du mir gesagt, dass ich mir keine Gedanken machen soll!“ „Tust du alles, was man dir sagt?“ „Dizzi!“ Vorwurfsvoll blickte Kenny auf den Laptop, und für einen Moment war er versucht, das Gerät einfach auszuschalten – wenn er dann nicht ganz alleine inmitten der Menge zurückbleiben würde (was ihm wieder schmerzlich bewusst werden ließ, dass, abgesehen von Tyson, der ausgerechnet an diesem Abend nicht aufzufinden war, sein einziger verlässlicher Freund ein Bitbeast war, das er in seinem Laptop eingeschlossen hatte und das demnach keine andere Wahl hatte, als Zeit mit ihm zu verbringen; irgendwie fühlte er sich dadurch kurzzeitig ziemlich erbärmlich). „Ich wollte es nur angemerkt haben, du musst dich nicht gleich so aufregen. Du kannst ihn ja morgen besuchen, um dich bei ihm zu beschweren – aber ich sage immer noch, dass er lautstark mitten in den Saal platzen wird, gerade, wenn du auf der Bühne stehst.“ „Dein Wort in Gottes Ohr, Dizzi – oder wer auch immer da oben sitzt“, kommentierte Kenny trübselig, während er durch die Tür der großen Halle trat. „Ich könnte ihn hier nämlich wirklich gut gebrauchen. Tyson kam schon immer mit diesen Menschenmengen wesentlich besser zurecht…“ „Ach, man gewöhnt sich daran“, mischte sich plötzlich jemand in die Unterhaltung ein, und überrascht blickte Kenny hoch, bevor sich ein Lächeln auf sein Gesicht stahl. Vor ihm stand eine junge Frau in einem eleganten, eng geschnittenen Abendkleid aus grünem Satin, das im Licht der Scheinwerfer matt glänzte. Ihr Haar trug sie hochgesteckt, und ihre gesamte Erscheinung strahlte Zufriedenheit, Selbstbewusstsein und einen Hauch Arroganz aus. Sie fügte sich perfekt in das Bild der festlich geschmückten Halle und der teuer gekleideten geladenen Gäste ein, und freudig ergriff Kenny die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. „Aber wenn es dich tröstet: Bei meiner ersten Candle bin ich auch fast gestorben vor Aufregung. Übrigens hallo, Kenny, und entschuldige, dass ich mich einfach in euer Gespräch eingemischt habe.“ „Guten Abend, Emily!“ Das Lächeln auf Kennys Gesicht wurde breiter, und er entspannte sich sichtlich, während Dizzi pikiert leise etwas vor sich hin nuschelte („Mich begrüßt du nie mit so einem Lächeln“, oder etwas in der Art). Doch er war in diesem Moment einfach nur erleichtert, ein bekanntes Gesicht in dem Meer aus Fremden zu sehen. „Es macht nichts, dass du dich einmischst – Dizzi und ich hatten das Thema ohnehin gerade abgehakt.“ Geflissentlich ignorierte er die Stimme des Bitbeasts („Ach, hatten wir das?“) und klappte den Laptop zu („Hey!“), was von Emily mit einem amüsierten Kichern kommentiert wurde. „Wie ich sehe seid ihr beiden immer noch ein Herz und eine Seele. Aber sag mal, fehlt bei dir nicht jemand? Wenn ich mich recht entsinne bist du doch sonst nur mit Tyson zusammen anzutreffen, wenn es um diese offiziellen Anlässe geht.“ Während sie das sagte, hielt sie einen der Kellner an, die zwischen den Anwesenden umher liefen und diverse Getränke und Köstlichkeiten anboten, und ließ sich und Kenny je einen Sekt reichen. Dankbar nahm Kenny das Glas an (immerhin hatte er so etwas, um seine Hände zu beschäftigen, jetzt, wo er Dizzi ausgeschalten hatte) und blickte sich kurz im Raum um, bevor er antwortete. „Ich habe ihn eingeladen, aber er hat sich seither nicht gemeldet oder mir sonstwie eine Rückmeldung gegeben. Per Telefon erreiche ich ihn nicht, und auch seine Mails scheint er zu ignorieren – als wäre verschwunden.“ „Vielleicht ist er in den Urlaub gefahren?“, schlug Emily mit einem Schulterzucken vor und nippte an ihrem Glas. „Auch wenn es, zugegeben, schon komisch ist.“ Schwer seufzend schüttelte Kenny den Kopf. „Genau das dachte ich mir auch; ich meine, was ist, wenn ihm etwas passiert ist? Immerhin arbeitet er mit Kriminellen zusammen! Was, wenn er einen von ihnen verärgert hat?“, fragte Kenny panisch, und unwillkürlich musste Emily lachen. „Oh Kenny, du bist wirklich süß. Ehrlich, mach dir keinen Kopf – Tyson kann auf sich aufpassen, da bin ich sicher. Heute Abend sollte sich lieber um dich drehen; immerhin bekommst du heute deine erste Candle!“ Mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: „Und meine Informationen sind verlässlich, immerhin bin ich heute die Star-Laudatorin für die glücklichen Gewinner.“ Verblüfft schnappte Kenny nach Luft, als der Saalgong signalisierte, dass die Verleihung in wenigen Minuten beginnen würde. „Oh, das ist mein Stichwort, ich muss los – die Bühne wartet auf mich. Wir reden später weiter, ja?“ Noch bevor Kenny überhaupt reagieren konnte, hauchte Emily ihm zwei Küsschen auf die Wangen und kam nicht umhin, nochmals amüsiert zu kichern, als ihm die Röte ins Gesicht stieg. „Also dann – nur noch eine Sache:“ Mit einer geschickten Handbewegung löste sie Kennys Krawatte und drückte sie ihm in die Hand, „So sieht es wesentlich besser aus.“ Mit einem angedeuteten Winken verschwand sie in der Menge der Gäste, die sich auf den Weg zu ihren Platz begaben, und Kenny stieß langsam die Luft aus, die er angehalten hatte. Emily war wirklich zu einer beeindruckenden Frau geworden, und auch, wenn er sich einstmals auf einer Stufe mit ihr gesehen hatte, wurde ihm in Momenten wie diesen bewusst, in welche unerreichbare Ferne sie gerückt war. Nachdenklich ließ er sich den Weg zu seinem Platz weisen, und als er sich auf dem mit rotem Samt bezogenen Stuhl niedergelassen hatte, öffnete er wieder seinen Laptop. Mit Emily hatte er sich gerne in Ruhe unterhalten wollen, doch den Rest des Abends sollte Dizzi bei ihm sein; ohne sie hätte er es niemals so weit geschafft. „Na, ausgeturtelt?“, begrüßte sie ihn gekränkt. „Ich dachte schon, du hättest vergessen, dass ich existiere, so, wie du Miss Superschlau angeschmachtet hast.“ „Komm schon, Dizzi, sei nicht eifersüchtig. Du weißt, dass du für mich immer etwas Besonderes bleiben wirst“, bot Kenny Dizzi versöhnlich an, und sie antwortete mit einem ergebenen Seufzen. „Ach, Chef, wie könnte ich dir jemals böse sein?“ Ein weiterer Gong ertönte, und das Licht im Saal wurde gedimmt. Schnell schaltete Kenny den Monitor des Laptops aus, um die anderen Anwesenden nicht mit der Lichtquelle zu belästigen, und legte dann Dizzi auf dem Platz neben sich ab, der noch immer frei war. „Wo bist du nur, Tyson?“, murmelte er, als das Komitee der Candle-Stiftung die Bühne betrat. Das Publikum applaudierte, und er schluckte schwer, als ihm bewusst wurde, wie viele Menschen sich im Saal befanden. Und vor all diesen Menschen würde er auf die Bühne treten müssen, um seinen Preis entgegenzunehmen – und keiner war hier, um ihn zu unterstützen. - 02. April, Tokyo – „Na also, du hast die Sache doch gut hinter dich gebracht. Als hättest du schon fast so viele Preise entgegengenommen wie ich.“ Freundschaftlich legte Emily ihre Hand auf Kennys Schulter und lächelte ihn verschmitzt an. Ein verklemmtes Lachen war die Antwort. „Du hast ja keine Ahnung! Ich bin da oben tausend Tode gestorben“, klagte er und besah sich die Glasskulptur, die vor ihnen auf dem Tisch stand. Sie hatte die Form einer brennenden Kerze (die Flamme war vergoldet), in deren Mitte ein Beyblade eingraviert war. „Es wird besser im Lauf der Zeit, das kannst du mir glauben“, kommentierte Emily mit einem Lachen, und bevor Kenny etwas sagen konnte setzte sie hinzu: „Und diese Candle wird nicht deine einzige bleiben – auch das kannst du mir glauben.“ Müde lächelte Kenny sie an und lehnte sich dann auf dem Sofa zurück. „Danke sehr, Emily. Ehrlicherweise bedeutet mir das sehr viel, wenn es von dir kommt.“ Für eine Weile saßen die beiden schweigend nebeneinander und hingen ihren eigenen Gedanken nach; es war eine angenehme Stille, die nur gelegentlich unterbrochen wurde, wenn eine Gruppe von Gästen an ihnen vorbei kam. Nach dem offiziellen Teil der Verleihung, der bis kurz nach Mitternacht gedauert hatte, war Kenny von Glückwünschen und lobenden Worten von den verschiedensten Größen der Beyblade- und Bitbeastforschung überschüttet worden (während dieser Zeit hatte er dann auch Dizzi abgeschaltet, um zu verhindern, dass sie ihn vor seinen Vorbildern in Verlegenheit bringen würde). Er hatte die Candle für die Kategorie „Technische Innovation“ erhalten – in den letzten zwei Jahren hatte er mit einem Team von Assistenten in den Laboren der BBA den Prototypen eines neuen Beyblades entwickelt, das in seiner Beschaffenheit sogar die Leistungen der Metal-Core-Kreisel toppen konnte, und mit diesem Prototypen hatte er offensichtlich umfassend überzeugen können. Auch einige der Wirtschaftsabgesandten, die geladen gewesen waren, hatten ihn gebeten, ihnen ein Portfolio zukommen zu lassen – wenn zumindest einer von ihnen weiteres Interesse zeigen würde, dann könnte bald sein erstes Beyblade in Serienproduktion gehen (bei diesem Gedanken machte sich ein Kribbeln in seinem Bauch breit, und er konnte nicht umhin, breit zu Lächeln). Emily hatte während der Festivitäten eine beeindruckende Rede gehalten (in den vergangenen Jahren hatte sie vier Candles in verschiedenen Kategorien erhalten und war damit die am höchsten ausgezeichnete Candle-Preisträgerin, die es je gegeben hatte, daher war sie als Laudatorin für die diesjährigen Preisträger eingeladen worden) und war im Anschluss an den Programmteil für eine Weile von Gast zu Gast getingelt und hatte ihnen ihre Aufwartung gemacht. Mit fortschreitender Zeit hatten sich die Räumlichkeiten des Seaside Domes zusehends geleert, und schließlich hatten sich Emily und Kenny im Foyer zufällig wieder getroffen und sich zum Reden zu einer der Sitzgruppen zurückgezogen (sein Laptop lag geschlossen neben dem Preis auf dem Tisch). „Wie kommt es eigentlich, dass niemand dich begleitet hat? Ich meine, abgesehen von Tyson, der nicht gekommen ist. Du hattest doch mal ein ganzes Team?“ Erschrocken zuckte Kenny zusammen, als Emily ihn so unvermittelt ansprach, dann rieb er sich verlegen den Hinterkopf. „Naja, ich schätze, es gibt einfach nicht mehr so viele Menschen, die sich tatsächlich für das interessieren, was ich aktuell tue. Meine Eltern finden nach wie vor, dass meine Forschung Unsinn ist und sind der Meinung, ich sollte lieber eine Ausbildung machen und bei ihnen im Geschäft helfen. Dizzi ist sowieso immer bei mir, wenn es um meine Arbeit geht. Und sonst… ist da nur noch Tyson, mit dem ich regelmäßig zu tun habe und der auch wertschätzt, was ich leiste. Mit den anderen habe ich größtenteils schon seit Jahren nicht mehr gesprochen.“ „Wow; ich meine – das ist irgendwie unglaublich… traurig.“ Voll Mitleid blickte Emily ihn an, und Kenny hob abwehrend die Hände. „Ach was, das ist nicht schlimm, wirklich! Ich meine, meine Eltern sind tolle Menschen, wenn es nicht gerade um meine Arbeit geht, und ansonsten – es ist ja nicht so, als hätte ich gar keine Freunde. Das meiste hat sich eben nur ein bisschen verlaufen, und aktuell habe ich so viel Arbeit, dass ich mich gar nicht wirklich um sie kümmern könnte. Aber das heißt ja nicht, dass ich auf ewig alleine bin!“ Bemüht zuversichtlich lächelte er sie an, doch in seinem Inneren musste er ihr vollkommen Recht geben – und auch wenn es unsinnig war konnte er nicht umhin, sich etwas dafür zu schämen, dass er niemanden hatte. Emily dagegen schüttelte seufzend den Kopf. „Ehrlich, ich kann das kaum glauben. Damals als Bladebreakers wart ihr quasi unzertrennlich, und ihr habt uns allen im Grunde erst zeigen müssen, was Freundschaft eigentlich bedeutet. Dass sich das so verlaufen hat ist eigentlich schon fast tragisch.“ „Menschen ändern sich eben. Man findet sich zusammen, man lebt sich auseinander, man findet neue Freunde. So funktioniert das Leben. Aber genug von mir; immerhin hattest du heute auch keine Begleitung, wenn ich das richtig gesehen habe“, bemühte sich Kenny, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken; mit Erfolg, denn Emily lehnte sich zurück und zuckte mit den Schultern. „Nun ja, der Weg aus den Staaten hierher ist weit, und in der PPB sind wir alle aktuell recht beschäftigt, daher hatte einfach kein anderer Zeit; zumal es in meiner Position ohnehin geschickter ist, alleine zu solchen Veranstaltungen zu kommen, denke ich“, amüsiert zwinkerte sie Kenny zu, „stell dir nur vor, was die Klatschpresse daraus machen würde, wenn ich Michael oder Rick als Begleitung mitnehmen würde! Immerhin bin ich die Direktorin der PPB; mit einem Mitglied des Teams, das ich betreue, auf solche Veranstaltungen zu gehen, wäre da vollkommen unangebracht.“ Theatralisch warf sie sich in Pose, bevor sie vergnügt den Kopf schüttelte. „Aber abgesehen davon ist der Job wirklich toll, auch wenn es manchmal komisch ist, dass ich jetzt der Coach das Teams bin, zu dem ich früher selbst gehört habe. Aber Judy hätte für sich keinen besseren Nachfolger in der PPB finden können, als sie den Präsidentenposten in der BBA in New York angenommen hat.“ Selbstsicher grinste Emily zu Kenny, der schnell zustimmend nickte. Er bewunderte Emily für ihr Selbstbewusstsein – und für die Art, wie sie es geschafft hatte, ihre Karriere voran zu treiben: Mit ihrem Schulabschluss übernahm sie die Direktorenstelle in der PPB, nachdem Judy zur Präsidentin der amerikanischen PPB aufgestiegen war; gleichzeitig begann sie mit dem Studieren und den Arbeiten an ihren Forschungsprojekten, deren Patente sie geschickt verkaufte, was Emily nicht nur zur jüngsten Forschungsleiterin machte, die die BBA jemals hatte, sondern auch zu einer der erfolgreichsten. Sie hatte alles erreicht, was er sich je erträumt hätte. „Und wo wir gerade ohnehin beim Thema PPB sind fällt mir ein, dass ich heute schon wieder zurück fliegen muss, und vor dem Flug gerne noch ein, zwei Stunden Schlaf im Hotel finden würde, weshalb ich mich so langsam von dir verabschiede.“ Mit einer fließenden Bewegung erhob sich Emily vom Sofa und reichte Kenny die Hand, der sie lächelnd annahm. „Es war wirklich schön, sich mal wieder mit dir zu unterhalten; ich erwarte, dass sich das bei Veranstaltungen wie diesen wiederholen wird!“ „Ich würde mich zumindest sehr darüber freuen“, entgegnete Kenny schüchtern, als er ihre Hand schüttelte, „Auf Wiedersehen, Emily, und danke für alles.“ „Keine Ursache. Mach’s gut!“ Mit einem letzten Winken verließ Emily die Sitzgruppe in Richtung Garderobe, und nachdenklich blickte Kenny ihr hinterher; sie war wirklich eine beeindruckende Person. Mit einem Gähnen stand er auf, nahm seinen Laptop und die Auszeichnung vom Tisch und machte sich selbst auf den Weg nach Hause. Schlaf klang nach einer guten Idee, und sobald er sich ausgeruht hatte, würde er zu Tyson fahren. Es gab da ein, zwei Sätze, die er seinem Freund gerne sagen wollte.   Kapitel 3: Ein Hoch auf das Team! --------------------------------- - 02. April, Tokyo – Das Dojo sah verlassen aus. Mit skeptischem Blick verschränkte Kenny die Arme und sah sich im Hof um. Keine Menschenseele war zu sehen, und auch ein Blick durch die Fenster der beiden Gebäude trug nicht dazu bei, diesen Eindruck zu zerstreuen. Einige Blätter lagen auf dem Pflaster – zu Zeiten, in denen der alte Ryu noch gelebt hatte, wäre das undenkbar gewesen, und üblicherweise hielt Tyson das noch immer in Ehren. Er war ein Chaot, dennoch hatte er sich in den letzten Jahren bemüht, die hohen Standards, die sein Großvater an ihn und das Dojo gestellt hatte, zu erfüllen. Dass er damit auf einmal aufgehört haben sollte kam Kenny sehr verdächtig vor. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er nicht mehr all zu lange Zeit hatte, um hier zu verbleiben, und zielstrebig ging er zur Haustür und klingelte. Das schrille Läuten war auch vor der Tür deutlich zu hören – eine Reaktion blieb aber aus. Ungeduldig drückte er noch zweimal auf den Klingelknopf, dann ging er ein paar Schritte am Haus entlang. „Tyson! Tyson, bist du da? Mach auf!“, rief er mit halblauter Stimme, während er aufmerksam darauf achtete, ob sich hinter den Fenstern etwas tat. Nach einigen Minuten des Wartens kehrte er zur Tür zurück und klingelte erneut, doch wieder erfolglos. „Wo steckst du nur?“ Nachdenklich raufte sich Kenny die Haare, wandte sich dann allerdings mit einem Seufzen zum Gehen. Seine Zeit war begrenzt; sein Vorgesetzter hatte ihn am Morgen angerufen (und ihn um sieben Uhr aus dem Bett geholt – nach gerade drei Stunden Schlaf) und aufgeregt davon erzählt, dass sich bereits einige Interessenten bei ihm gemeldet hätten wegen der Preisverleihung, und das er unbedingt kommen musste, um an der Projektpräsentation zu arbeiten. Zugegeben, vielleicht war es so früh morgens auch keine gute Uhrzeit, um bei Tyson zu klingeln (immerhin hatte er ja auch eine Arbeit, die morgens sehr zeitig begann), doch immerhin hatte er es versuchen wollen. Vielleicht hatte er ja nach der Arbeit mehr Glück. Nachdenklich ging er zurück zur Straße, wo sein Motorroller stand, setzte seinen Helm auf und ließ den Motor an. Er würde Tyson schon zur Rede stellen, egal, wo er steckte. - 03. April, Tokyo – Es hatte sich nichts geändert – das war das Erste, das Kenny auffiel, als er den Hof des Dojos betrat. Das Laub lag noch immer da, die Vorhänge hatten noch immer die gleiche Position wie am Vortag, und der Rechen lehnte unbewegt an der Hauswand. „Etwas stimmt hier doch nicht“, murmelte er und ging an den Gebäuden vorbei in den hinteren Teil des Gartens, wo er aus einer verdeckten Kuhle zwischen zwei Ziersteinen am kleinen Gartenteich eine Schachtel holte. Vorsichtig öffnete er sie und nahm einen Schlüssel heraus. Für Notfälle, hatte Tyson betont, als er Kenny das Versteck gezeigt hatte; falls etwas Schlimmes passiert wäre oder falls Kenny ein Dach über dem Kopf bräuchte, wenn Tyson gerade nicht da war. Zugegeben, nachdem Tyson aktuell so absolut unerreichbar war, hatte Kenny fast befürchtet, dass auch der Schlüssel verschwunden sein könnte; er war dankbar, dass dem nicht so war. Schnell ging er zur Haustür und schloss auf, und das Geräusch von Papier, das über den Boden geschoben wurde, ließ ihn aufhorchen. Vorsichtig betrat er den Eingangsbereich, und ein dumpfes Gefühl breitete sich in ihm aus, als er den Haufen Post bemerkte, der auf dem Boden lag, und den er durch das Öffnen der Tür zerstreut hatte. Nach der Menge der Briefe, Karten und Werbeprospekte zu urteilen hatte Tyson schon seit mindestens einer Woche seine Post nicht mehr gelesen. Schwer schluckte er, als er die Haustür hinter sich ins Schloss fallen ließ und in den verlassenen Hausflur blickte. Alles schien ordentlich, und er entdeckte Tysons Schuhe, die auf einer Matte lagen. Der Anblick ließ sein Blut gefrieren, und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Wenn Tysons Schuhe hier waren, musste Tyson auch hier sein. Doch niemand hatte die Post geholt. Keiner reagierte, wenn er anrief oder an der Tür klingelte. Ihm fiel für diese Situation nur eine Antwort ein – und es schnürte ihm die Kehle zu. Vorsichtig roch er die Luft im Flur, und mit Grauen bemerkte er das faulig-süße Aroma, das ihm zuvor entgangen war. Zitternd zog er seine Schuhe aus und ging dann langsam in den Wohnbereich. Das Blut rauschte in seinen Ohren, als er sich zögernd in jede Richtung umblickte, darauf gefasst, an jeder Ecke den leblosen Körper seines Freundes zu finden, und mit jedem Schritt schrie sein Inneres mehr danach, einfach das Haus zu verlassen und zu fliehen. Stück für Stück zwang sich Kenny dazu, dem Geruch zu folgen, und sein Weg führte ihn durch das Wohnzimmer in die Küche, wo der Gestank kaum auszuhalten war – doch zu seiner Erleichterung war der Raum leer, bis auf eine Schale mit fauligem Obst, die auf dem Tisch stand, und die für die widerlichen Ausdünstungen verantwortlich war. Ihm fiel eine Last vom Herzen, als er zum Fenster trat und es öffnete, um besser atmen zu können. Dann blickte er sich im Raum um. In der Obstschale befanden sich die verschimmelten Überreste einer halben Wassermelone (die auch für den furchtbaren Geruch sorgte), ein paar faulige Pfirsiche und Früchte, die unter der dicken Schicht aus grünem und weißem Flaum nicht mehr zu erkennen waren. Auf dem Tisch lag außerdem Tysons Handy (er spürte einen Stich in der Brust, als er es dort entdeckte), sonst war der Raum ordentlich und aufgeräumt. Ein Blick in den Kühlschrank offenbarte eine Flasche Milch, deren klumpiger Inhalt von außen deutlich erkennbar war, und dem Geruch nach zu urteilen versteckte sich in mindestens einer der gekühlten Tüten Fisch, der schon eine Weile lang ungenießbar war. Seufzend schloss Kenny den Schrank und ging dann zurück in Richtung Wohnzimmer. Ihm war zwar der Anblick von Tysons toten Körper erspart geblieben, doch je mehr Zeit er hier verbrachte, um so deutlicher wurde es, dass das Haus schon einige Tage komplett leer stand – und anhand der verdorbenen Lebensmittel zu urteilen war es kein geplanter Abschied gewesen. Oder er könnte tot im Obergeschoss liegen, drängte sich ihm ein unangenehmer Gedanke auf, den Kenny jedoch so gut es ging ignorierte. Erst, als er systematisch und erfolglos das untere Stockwerk nach Tyson abgesucht hatte, führten seine Schritte widerwillig und langsam die Treppe hinauf. Angstschweiß stand ihm auf der Stirn, und sein Hemd klebte an seinem Körper, während er die Stufen erklomm. All die Gefahren, die er mit den Bladebreakers durchgestanden hatte, all der Stress, den er in seinem Labor hatte – das alles war nichts gegen die Grauen, die er in diesen Momenten durchstand. Hinter jeder Ecke, hinter jeder Tür könnte sein bester Freund liegen, tot, einsam gestorben, unbemerkt von ihm und der Welt; es fühlte sich scheußlich an. Das Schicksal jedoch schien es gut mit ihm zu meinen (oder eben so gut, wie es in dieser Situation sein konnte), denn auch im oberen Stockwerk des Hauses war Tyson nicht auffindbar. Eine Mischung aus Erleichterung und Unsicherheit erfüllte ihn, als er einen abschließenden Kontrollgang durch das Haus machte. Keine Kampfspuren. Keine Einbruchspuren. Nichts wurde gestohlen, soweit er das sehen konnte, und alles schien an Ort und Stelle. Nur Tyson fehlte. „Wo bist du nur?“, fragte er leise und blickte hinaus in den Garten, der wie immer Ruhe und Frieden ausstrahlte. Dann schüttelte Kenny energisch den Kopf und kehrte zurück in die Küche, um das Fenster dort wieder zu schließen. Für diese Situation musste es eine logische Erklärung geben; und da Tyson offensichtlich nicht plötzlich in seinem eigenen Haus verstorben war, musste etwas anderes passiert sein. Aber was? Eine Entführung, vielleicht? Tyson war immerhin noch immer eine Berühmtheit; doch warum hatte es dann keine Lösegeldforderung gegeben? Nachdenklich ließ Kenny seinen Blick ein letztes Mal durch die Küche streifen. Nachdem er nun sicher war, dass Tyson verschwunden war, musste er etwas unternehmen – nur womit sollte er anfangen? Er wusste, dass Tysons Vater gemeinsam mit Hiro schon seit einiger Zeit auf einer Ausgrabungsstätte in Ägypten arbeiteten; es war unwahrscheinlich, dass sie etwas bemerkt hatten, doch sie mussten informiert werden. Und in jedem Fall musste er die Polizei rufen. Das war das Wichtigste (und er hoffte innig, dass er bei seinem Rundgang nicht zu viele Spuren verwischt oder hinterlassen hatte). Mit schwach zitternden Händen zückte er sein Mobiltelefon, als ihm etwas an der Pinnwand auffiel, die an der Wand hing. Es war die Einladungskarte, die er Tyson geschickt hatte, deutlich sichtbar angebracht, und kalt griff die Erkenntnis nach seinem Herzen. Wenn die Karte dort hing, er sich aber nie gerührt hatte, bedeutete das, dass Tyson verschwunden sein musste, kurz nachdem er sie ihm geschickt hatte. Im Falle einer Entführung sind die ersten Stunden die entscheidendsten, hörte er in seinem Geiste den Sprecher aus einer Fernsehdokumentation, die er vor einiger Zeit angesehen hatte, und es kam ihm vor, als wäre es die Anklage, die ein göttliches Gericht gegen ihn erhoben hatte. Kenny zwang sich, mehrmals langsam ein und aus zu atmen, bevor er die Nummer der Polizei wählte. - 04. April, Tokyo – Stumm wartete Kenny darauf, dass jemand den Hörer abnahm, während er dem gleichmäßigen Tuten der Telefonleitung lauschte. Er hatte den gesamten gestrigen Tag (nachdem er Tysons Haus besucht hatte) damit verbracht, der Polizei Fragen zu beantworten und zu beschreiben, was er zuletzt von Tyson gehört und gesehen hatte. Die Beamten hatten ihm keine direkten Vorwürfe gemacht, doch er hatte an ihren Blicken gespürt, dass sie das gleiche dachten wie er selbst auch: Er war viel zu spät. Dennoch hatte er sich bemüht, ihnen so genaue Informationen wie möglich zu geben, und man hatte ihm versichert, dass er benachrichtigt würde, sobald die erste Tatortuntersuchung abgeschlossen und die Situation erfasst war. Mit diesem Versprechen hatten sie ihn am Abend zurück zu seiner Wohnung gebracht, und seitdem hatte er nichts mehr von der Polizei gehört. Um sich selbst zu beruhigen (und um sein schlechtes Gewissen zu erleichtern) hatte er daher an diesem Morgen Initiative ergriffen und versucht, Tysons Vater oder Hiro telefonisch zu erreichen, doch die beiden waren in einem abgelegenen Gebiet der Ausgrabungen unterwegs und würden erst in einigen Stunden wieder die Möglichkeit haben, einen Anruf entgegen zu nehmen. Da die Vorstellung, tatenlos herumzusitzen, ihn allerdings fast in den Wahnsinn trieb (immerhin hatte er genau das die letzten zwei Wochen getan, während Tyson womöglich seine Hilfe gebraucht hätte), hatte er, nachdem man ihm eine Zeit genannt hatte, zu der Tysons Familie wieder erreichbar sein sollte, damit begonnen, die ehemaligen Bladebreakers anzurufen und sie auszufragen – Kenny wusste, dass Tyson sich nach wie vor bemühte, zu allen Kontakt zu halten, und vielleicht gab es ja tatsächlich jemanden, der über die momentane Situation Bescheid wusste. Nachdem Kai allerdings seinen Anruf mehrmals weggedrückt und Max ihm versichert hatte, dass er mit seinem ehemaligen besten Freund nichts mehr zu tun hatte (und es ihn auch nicht im Geringsten interessierte, wie es ihm erging), war seine Befragungsliste drastisch eingebrochen, denn weder von Daichi, noch von Ray besaß er eine gültige Telefonnummer. Also hatte er die letzte Nummer gewählt, die er besaß, und wartete nun darauf, dass jemand das Gespräch annahm. Hilary… Ihre Wege hatten sich schon vor über drei Jahren getrennt, und es war kein angenehmer Abschied gewesen. Seitdem waren sie beide älter geworden, reifer – vielleicht war tatsächlich genug Zeit vergangen, um sie die Wunden der Vergangenheit vergessen zu lassen. Wenigstens für eine kurze Zeit, um Tyson zu finden. Tyson, der sie vor so vielen Jahren zusammengebracht hatte. Der sie zu einer Familie hatte werden lassen, der ihnen geholfen hatte, ihre Schwächen zu sehen, sie zu akzeptieren und sie gemeinsam zu überwinden. Der auch nach all den Jahren nicht bereit war, seine Freunde aufzugeben, auch wenn sie selbst ihn längst hatten fallen lassen. Dem nun niemand beistehen wollte, nicht einmal sein eigenes Team. Ein leises Klicken ertönte, als Hilary den Hörer abnahm. „Ja?“ Kapitel 4: Adios, Bladebreakers! -------------------------------- - 08. April, Tokyo – Unruhig trommelte Kenny mit seinen Fingern auf den Tisch des Coffeeshops, in dem er sich mit Hilary verabredet hatte. Er war zwanzig Minuten zu früh gekommen, und jede weitere Sekunde Wartezeit kam ihm vor wie Stunden. Das Telefonat, das er mit ihr geführt hatte, war kurz gewesen – offensichtlich war Hilary für zwei Wochen quer durch Europa unterwegs gewesen (wie hatte sie sich das leisten können?) und sehr beschäftigt – doch sie hatte zugestimmt, sich einmal zu treffen, sobald sie wieder in Japan wäre. Zum Reden und Wiedersehen. Vielleicht auch zum neu anfangen… Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es noch immer zehn Minuten bis zu ihrer eigentlich verabredeten Zeit waren, und er verfluchte sich innerlich, dass er nicht einfach pünktlich gekommen war (denn es hätte seinen Nerven eindeutig besser getan). Warten war keine seiner Stärken, und ohne Dizzi fühlte er sich allein, fast schon schutzlos; doch in der Öffentlichkeit erregte ein sprechender Laptop zu viel Aufmerksamkeit, und er wollte zunächst alleine mit Hilary reden (so sehr er Dizzis offene Art schätzte, im Umgang mit Hilary würde sie ihn wohl eher behindern als hilfreich sein). In Gedanken versunken bemerkte er nicht die junge Frau, die auf seinen Tisch zukam, und mit einem amüsierten Grinsen räusperte sie sich. „Entschuldigung – ist hier noch frei?“ Erschrocken zuckte Kenny zusammen und blickte dann auf – nur um vor Schreck zu erstarren. Vor ihm stand Hilary, doch er konnte sie kaum wiedererkennen. Sicher, sie hatte sich schon immer körperbewusst angezogen, doch ihre figurbetonten Tops und Röcke von damals waren nichts gegen das, was sie in diesem Moment zur Schau trug: eine knappe Bluse in Aquamarin mit Rüschen, darüber eine hellblaue Unterbrustcorsage. Das Ensemble wurde komplettiert von pinken Hotpants und farblich zur Bluse passenden Overknees. Einige der anwesenden Gäste im Shop hatten sich zu ihr umgewandt – denn Hilary sah verdammt heiß aus (und Kenny fragte sich, ob sie bei den aktuell herrschenden Temperaturen nicht fror mit so wenig Bekleidung), und ihre ganze Ausstrahlung ließ sie besinnlich und betörend wirken. Kenny musste schlucken. Mit so einem Wandel hatte er nicht gerechnet – und plötzlich kam er sich mit seinem Hemd und der Krawatte unglaublich banal vor. „Na-Natürlich. Setz‘ dich doch“, nuschelte er verlegen und deutete auf den zweiten Stuhl, der am Tisch stand. Hilary schüttelte lächelnd den Kopf und setzte sich. „Auf eine gewisse Art und Weise ist es beruhigend zu sehen, dass du dich noch immer nicht geändert hast, Kenz. Auch nach drei Jahren bist du immernoch das gleiche unbeholfene Mauerblümchen wie damals“, kommentierte sie amüsiert, doch Kenny konnte den schalen Unterton ihrer Bemerkung hören, und es versetzte ihm einen Stich. „Wenn ich so ein Mauerblümchen bin, warum warst du dann überhaupt mit mir zusammen? Du hättest auch andere haben können“, meinte er bitter, und trotzig blickte er in ihr Gesicht. „Aber das hattest du ja auch.“ Eisern hielt er den Augenkontakt zu Hilary, die keine Miene verzog. Die Bombe war geplatzt. Bleiernes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, und er konnte es in der Luft knistern hören. Er hatte dieses Gespräch nicht in diese Richtung führen wollen; doch es war wohl unumgänglich gewesen. Vor drei Jahren hatte er es nicht gewagt, den Mund aufzumachen, und nun hatte er endlich den Mut gefunden, sie mit der Wahrheit zu konfrontieren, die die ganze Zeit in ihm gebrodelt hatte. Minutenlang saßen sie einfach nur da und starrten sich an; schließlich fasste sich Kenny ein Herz und seufzte laut. „Tut mir Leid, dass ich das jetzt hoch bringe; ich weiß, dass das nicht angebracht war. Eigentlich wollte ich über etwas ganz anderes reden – aber es kam einfach wieder hoch. Du hast mich damals zutiefst verletzt, Hilary, und ich verstehe bis heute nicht, warum. Wenn ich dir nicht genug war, dann hättest du etwas sagen können. Wenn du die Trennung gewollt hättest, dann hätte ein Wort genügt, und wir hätten eine Lösung gefunden. Aber mich nach zweieinhalb Jahren derart zu hintergehen… und dann auch noch mit dem Bruder meines besten Freundes. Deines Exfreundes.“ Mit den letzten Worten wurde Kennys Stimme brüchig, und er räusperte sich. Nachdem Hilary immer noch beständig schwieg setzte er seine Ausführungen fort. „Ich meine, das wirklich Schlimme war nicht, dass du von mir weg wolltest; das tat weh, und ich habe dir lange nachgeweint, doch ich hätte es überwunden. Das Schlimme war, dass du mich angelogen hast, und das über Wochen, wenn nicht sogar Monate. Das ist es, was mich wirklich verletzt hat.“ Erwartungsvoll blickte er sein Gegenüber an, und frustriert stöhnte er auf, als Hilary noch immer keine Anstalten machte, ihm zu antworten. „Was soll das, Hilary? Hast du denn gar nichts dazu zu sagen? Nicht einmal jetzt, nach drei Jahren?!“ „Was erwartest du von mir?!“, fauchte sie ihn auf einmal giftig an, und überrascht schreckte er zurück. „Dass ich mich jetzt hier vor dir auf den Boden werfe und mich winselnd mit einer Dogeza entschuldige? Vergiss es, Kenz. Vergiss es einfach“, so heftig ihr Ausbruch begonnen hatte, so schwach wurde ihre Stimme am Ende, und wieder spürte Kenny den altbekannten Schmerz in der Brust. Mit traurigen Augen sah er sie an. „Ich will keine Entschuldigung, Hilary. Das wollte ich nie. Was passiert ist, ist passiert, und darüber, dass es passiert ist, bin ich hinweg. Ich möchte nur eines von dir wissen: Wieso?“ Beschämt wandte Hilary ihren Blick ab und ballte ihre Hände in ihrem Schoß zu Fäusten. Für eine Weile herrschte wieder Schweigen, und Kenny erwartete schon keine Antwort mehr, als Hilary seufzte. „Ich… ich dachte, du hättest eine andere“, murmelte sie schließlich leise. „Und… ich dachte, wenn du das kannst, dann kann ich das auch.“ Entsetzt starrte Kenny sie an. „Du dachtest… aber… warum? Ich habe nie etwas anderes getan als dich und dich allein zu lieben!“ „Du warst den ganzen Tag auf der Arbeit, Kenz, und wenn du nach Hause gekommen bist, dann hast du mich kaum angesehen! Und als es mit der Zeit immer später wurde, und du immer abweisender, da dachte ich, dass du deine Arbeit vielleicht als Ausrede benutzt, um dich mit einer anderen zu treffen.“ Bedrückt verschränkte sie die Arme vor ihrem Bauch und meinte dann kleinlaut: „Ich habe dann erst bei deiner Beförderung gesehen, dass ich falsch lag, und warum du so viel gearbeitet hast. Aber da war es schon zu spät.“ Stumm blickte Kenny sie an, und mit einem Mal ergab alles Sinn. Mit einem Mal fügte sich alles zusammen, und durch das Verstehen konnte er endlich verzeihen. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er spürte, wie diese Last, die die letzten drei Jahre auf seinen Schultern gelegen hatte, von ihm abfiel. Er wollte gerade dazu ansetzen, seinen Standpunkt zu erklären, als sie ihn unterbrach. „Bitte, Kenz… lass es. Es ist vorbei. Ich werde mich nicht entschuldigen, denn was ich getan habe, habe ich mit voller Absicht getan, und auch wenn ich mich rückblickend anders entschieden hätte – ich bereue es nicht. Daher, bitte, lass das Thema ruhen. Für uns beide.“ Kurze Zeit blickte er sie an, dann nickte er knapp. „In Ordnung, Hilary. Und trotzdem… danke.“ Still saßen sie beieinander (schon wieder) und hingen ihren Gedanken nach. Schließlich war es Hilary, die das Schweigen mit einem leisen Lachen brach. „Wer hätte gedacht, dass diese Sache nach drei Jahren so einfach aus der Welt zu schaffen ist?“, scherzte sie, und Stück für Stück kehrte ihre selbstsichere Ausstrahlung zurück. Sie war wieder zu der jungen, begehrenswerten Frau geworden, die die Blicke der Männer auf sich zog. Verlegen kratzte sich Kenny am Kopf, und es überraschte ihn selbst, wie schnell er mit der Situation ins Reine hatte kommen können – ein Zeichen dafür, dass dieses Gespräch schon längst überfällig gewesen war (oder dafür, dass er später noch einen Zusammenbruch erleiden würde, sobald der Schock ihn verlassen hatte). Seine Miene verfinsterte sich jedoch, als ihm der eigentliche Grund für das Treffen wieder in den Sinn kam, und nun, da sie ihre persönliche Leidensgeschichte überwunden hatten, war es an der Zeit, sich damit zu befassen. „Nachdem wir jetzt also darüber hinweg sind, was in der Vergangenheit passiert ist, komme ich endlich zu dem Grund, aus dem ich dich angerufen habe: Tyson ist verschwunden.“ Bedeutungsschwer hingen die Worte im Raum, und Hilary zog die Augenbrauen zusammen. „Was meinst du mit verschwunden?“ „Er ist weg, seit fast drei Wochen, ohne jede Spur. In seinem Haus ist nichts zu finden außer verdorbenen Lebensmitteln, und bisher hat sich die Polizei noch nicht wieder bei mir gemeldet, was heißt, dass sie auch noch keine wirklichen Hinweise haben“, klärte Kenny sie über die Situation auf, und nachdenklich legte sie den Kopf schief. „Das klingt in der Tat sehr merkwürdig – aber was habe ich damit zu tun?“ „Nun ja, nachdem Tyson ja mit den meisten noch Kontakt hat und ihr ja auch einige Zeit ein Paar wart dachte ich, ihr würdet euch vielleicht noch austauschen und du wüsstest vielleicht was – dass er dir gegenüber etwas erwähnt haben könnte.“ Hoffnungsvoll blickte Kenny sie an, doch Hilary zuckte nur entschuldigend mit den Schultern. „Ich enttäusche dich nicht gerne, Kenz, aber ich weiß leider von nichts. Tyson hat mir zwar in den letzten Jahren regelmäßig Karten geschickt, aber- ich habe ihn weitgehend ignoriert. Es war mir einfach so peinlich, verstehst du? Ich meine, meine Trennung von ihm war friedlich, aber nachdem ich seinen besten Freund mit seinem älteren Bruder betrogen hatte, habe ich einfach etwas Abstand gebraucht“, sie seufzte schwer, „daher tut es mir wirklich Leid, aber ich kann dir nicht weiterhelfen. Wenn ich etwas höre, dann rühre ich mich gerne bei dir, aber eigentlich habe ich mit keinem aus der alten Truppe noch sonderlich viel zu tun, deshalb ist es eher unwahrscheinlich.“ „Oh.“ Ernüchterung lag in Kennys Tonfall, und er sackte etwas zusammen. Hilary war – abgesehen von der Polizei und Tysons Familie, die er noch immer nicht erreicht hatte – seine beste Hoffnung gewesen, etwas zu erfahren. Dass auch sie alle Bande gekappt hatte und ihm nicht helfen konnte war ein herber Rückschlag. „Tut mir wirklich Leid“, wiederholte sie, und eine Weile saßen sie wieder schweigend beieinander. Schließlich seufzte Kenny ergeben auf. „Es macht nichts, es hat ja keinen Zweck. Aber immerhin danke, dass du dich mit mir getroffen hast – trotz unserer Vorgeschichte“, er bedachte sie mit einem schiefen Lächeln, als ihm etwas einfiel. „Aber sag, was mich wundert: Du hast am Telefon erwähnt, dass du zwei Wochen in Europa geschäftlich unterwegs warst. Was hast du denn aktuell für eine Stellung, die dir solche Chancen bietet? Vielleicht kann man sich da ja das ein oder andere von dir abschauen.“ Mit einem gezierten Hüsteln brachte sich Hilary in Pose und kicherte leise. „Wo du schon das Wort Stellung verwendest…“ - 09. April, Tokyo – Er war wütend – und enttäuscht, und frustriert, und noch mit vielen anderen unangenehmen Gefühlen beladen, die schwer auf seiner Seele lasteten. Nach Tagen vergeblicher Liebesmüh hatte er endlich Hiro und Tatsuya in Luxor erreichen können, doch das Telefonat war alles andere als hilfreich gewesen; denn die beiden hatten ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er aufhören sollte, nach Tyson zu suchen (was sie auch der Polizei mitgeteilt hatten, was diese ihm mitgeteilt hatte, woraufhin die Suche eingestellt und alle gesicherten Beweismittel zurück in das Haus gebracht worden waren). Der Grund war ein Brief, den sie von Tyson erhalten hatten, und in dem er ihnen erzählt hatte, dass er sich auf eine Reise machen wollte, um sich selbst zu finden – ausgerechnet Tyson! Tyson, der ihm schon so oft erzählt hatte, dass er glücklich mit seinem Leben war, und dass sein Weg ihm direkt vor Augen lag; Tyson, der alle anderen durch seine Offenheit und Ehrlichkeit inspirierte und ihnen vorlebte, wie man ein erfülltes Leben führen konnte; Tyson, der mit beiden Beinen festen Stand hatte und dessen Arme in den Himmel reichten – und ausgerechnet er sollte sich selbst finden wollen? Und seine Familie kaufte das auch noch ab! Nein, Kenny war sich sicher, dass der Brief eine Fälschung war; doch weder Tatsuya noch die Polizei hatten auf ihn hören wollen. Auch das Argument, dass, wenn Tyson eine Reise geplant gehabt hätte, er nicht so viele verderbliche Lebensmittel in seiner Wohnung zurückgelassen hätte, wurde von ihnen nicht angenommen. Hiro schob es darauf, dass Tyson ein spontaner Mensch sei, und hatte sogar den Nerv gehabt, ihn darum zu bitten, die Küche des Hauses zu reinigen und die Gegenstände, die die Polizei zurück gebracht hatte, wieder aufzuräumen. Und nun stand er hier. Schwungvoll kippte er die Inhalte der Obstschale in den Müllsack, der vor ihm auf dem Boden stand, und verzog angewidert das Gesicht, als die Früchte (oder das, was von ihnen übrig war) mit einem klatschenden Geräusch am Boden des Beutels ankamen. „Pass auf, wo du das Zeug hinschleuderst – Schimmel ist ganz schlecht für meine Schaltkreise“, jammerte Dizzi, die neben ihm auf dem Küchentisch stand, um ihm Gesellschaft zu leisten; außerdem lag sie ihm schon seit Tagen in den Ohren, dass er sie aktuell nur noch so selten mit aus dem Haus nahm, dass er ihr den Gefallen tun wollte (auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt nicht all zu begeistert von seiner Idee schien). Seufzend legte er die leere Schüssel auf den Stapel mit beschmutztem Geschirr, den er aus den sterbenden Untiefen Tysons Kühlschrankes geborgen hatte, und blickte sich dann seufzend in der Küche um. „Keine Sorge, Dizzi, ich pass schon auf dich auf – ich will nicht noch einen Freund verlieren“, murmelte er geknickt und lehnte sich an die Anrichte. „Chef, du hast niemanden verloren! Tyson hat immerhin den Brief an seine Familie geschrieben, und als du auf seiner Arbeit angerufen hast haben sie bestätigt, dass er sich kurzfristig hat beurlauben lassen; du machst dir also vollkommen unnötig Sorgen“, schalt ihn Dizzi, doch Kenny schüttelte unzufrieden den Kopf. „Ich glaube dem Frieden trotzdem nicht. Wenn er auf eine Reise gegangen ist, warum hat er mir nichts davon erzählt? Oder zumindest Andeutungen gemacht? Und warum hinterlässt er in seiner Küche eine Schimmelzuchtanlage? Tyson ist ein Chaot, aber er ist nicht dumm und er weiß, dass dieser Zustand ganz massiv mit den Ansichten des alten Ryu kollidiert wäre; das hätte er niemals zugelassen.“ „Oder es war wirklich eine spontane Entscheidung – die er eben nur mit wenigen teilen wollte“, bemerkte Dizzi vorsichtig, und Kenny spürte ein unangenehmes Ziehen in seiner Brust. „Aber dann hätte er es mir gesagt! Mir noch eher als Hiro und Tatsuya – die beiden sind nie da! Ich bin es, der ihn regelmäßig besucht, ich bin es, der mit ihm zusammen feiert, ich bin es, der ihm zuhört, wenn ihn etwas belastet. Dass er mir nichts erzählt haben soll, das- das kann ich mir einfach nicht vorstellen.“ Betrübt rieb er an einem Schimmelfleck, der auf die Hose des Schutzanzuges gekommen war, den er sich übergezogen hatte, und seufzte dann auf, als er sich daran machte, das Geschirr zu spülen. Für eine Weile füllte Schweigen den Raum, und Kenny war dankbar, dass sich Dizzi zu dem Thema zurück hielt. Wie auch schon die Polizei und Tysons Familie war sie davon überzeugt, dass er sich irrte, und dass Tyson einfach aufgebrochen war; und so war er wieder allein in der Sorge um seinen besten Freund. Schließlich brach Dizzi das Schweigen (denn es gab nichts, das sie mehr hasste – außer vielleicht Frauen, die ihr vor Kenny Konkurrenz machten). „Wo wir gerade beim Thema nichts erzählen sind… Wie war dein Treffen mit Hilary gestern? Du hast noch gar kein Wort darüber verloren. Und dabei dachte ich, wir hätten keine Geheimnisse voreinander“, meinte sie pikiert, und Kenny hielt in seiner Bewegung inne. Für einen Moment überlegte er, ihre Frage einfach zu übergehen, entschied dann aber, ehrlich zu sein. Langsam spülte er weiter, während er zu sprechen begann. „Ich habe bisher noch nichts erzählt, weil ich es am liebsten verdrängen wollte.“ „Oh je – das klingt nach reichlich Liebeskummer, mein Lieber.“ „Nein, das- das ist es nicht. Am Anfang war das Gespräch sogar ganz angenehm; ich meine, wir haben es endlich geschafft, über die Sache zu reden und einen Abschluss zu finden. Und es war unglaublich erleichternd, sich diese Last endlich von der Seele zu reden.“ „Aber…?“ „…Aber… dann habe ich einen Fehler gemacht.“ „Hast du sie geküsst? Chef, du Casanova!“, kicherte Dizzi, und Kenny wurde rot. „Dizzi, nein! Kannst du nicht einmal ernst bleiben?“ Betrübt seufzte er auf. „Ich habe sie nicht geküsst. Aber ich habe sie gefragt, was sie in ihrem Leben erreicht hat, wo sie aktuell steht, und wie es denn beruflich mit ihr aussieht.“ Kenny stockte an dieser Stelle, und missmutig stöhnte Dizzi auf. „Wenn du willst, dass ich dir ernsthaft zuhöre, Chef, dann lass dir bitte auch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“ Zögernd blickte Kenny zu Dizzi hinüber, dann zuckte er traurig mit den Schultern. „Sagt dir der Name Kawaii Escort etwas?“ „Mein Freund Google sagt, dass das eine Escort-Firma mit dem Angebot Begleitung Plus für sehr betuchte Leute ist. Aber was- oh.“ Erkenntnis klang in Dizzis Stimme mit, und trocken lachte Kenny auf (es konnte auch ein Schluchzen gewesen sein, so genau war das nicht zu sagen). „Genau das, Dizzi, genau das. Sie hat studiert, hat einen Master – und anstatt etwas aus sich zu machen arbeitet sie als besseres Callgirl.“ Bitterkeit klang in seiner Stimme mit, und Schweigen füllte wieder den Raum. Nach einiger Zeit der Stille war Kenny schließlich mit dem Spülen und Aufräumen fertig und besah sich sein Werk, während er sich aus seinem Schutzanzug schälte. Die Küche des Wohnhauses war nun endlich keine biologische Gefahrenzone mehr, und bis auf wenige Gegenstände (von denen er nicht wusste, wo sie hingehörten) war alles, was die Polizei bei der Spurensicherung mitgenommen hatte, wieder an seinem rechten Platz. Nachdenklich besah er sich die Dinge, die er auf dem Küchentisch platziert hatte. Ein Abreiß-Kalender, der als Datum den 18. März zeigte; ein Fächer mit einem blauen Drachen darauf (warum hatte die Polizei den mitgenommen?) und ein Flugticket in die USA, das als Abflugdatum den dritten Mai eingetragen hatte – Kenny vermutete, dass Tyson geplant hatte, Max zu überraschen. Nach seinem Telefonat jedoch bezweifelte er, dass dieser den Besuch positiv aufgenommen hätte. „Also hatte er doch eine Reise geplant, von der er dir nichts erzählt hat“, bemerkte Dizzi mit einem gewissen Triumph in der Stimme, und traurig schüttelte Kenny den Kopf. Das hier war etwas anderes, aber Dizzi konnte (oder wollte?) es nicht sehen. Wo waren nur alle seine Freunde hin gegangen, auf die er sich früher verlassen hatte? Wie hatten sie sich so auseinanderleben können, dass außer ihm niemand mehr da war, der sich kümmerte? Doch egal wie sehr er sich das Hirn zermarterte – er konnte einfach nicht verstehen, wo sie vom Weg abgekommen waren. - 10. April, Tokyo – Gut gelaunt betrat Kenny seine Wohnung. Die letzten Tage hatten ihm viel abverlangt; doch er hatte sich vorgenommen, sich davon nicht vollkommen unterkriegen zu lassen und einfach Schritt für Schritt weiter vor zu gehen; und zumindest für eines seiner Probleme (oder eher: Dizzis Problem) hatte er inzwischen eine Lösung parat. Schnell zog er seine Schuhe aus und ging dann mit dem Paket unter dem Arm und der Tasche mit Dizzi auf dem Rücken in sein Zimmer, wo er sich das nötige Werkzeug zurecht suchte und schnell damit begann, seinen alten Laptop auseinander zu bauen. Dizzi würde sich wundern, wenn er sie in wenigen Momenten wieder einschaltete – doch dann mit neuem Gehäuse, neuer Festplatte und neuen Prozessoren! Und dann würde hoffentlich auch endlich dieses Störsignal verschwunden sein, dass sie die letzten Wochen so belastet hatte. Mit geübten Griffen nahm er die Platine aus seinem alten Gerät, auf der Dizzi gespeichert war, und baute sie mit einem zufriedenen Summen in den neuen Laptop ein. Schließlich nickte er zufrieden, schloss das Netzkabel an und schaltete Dizzis neue Wohnung ein. In Windeseile war das System gestartet, und in ungekannter Klangqualität (er hatte sich ein paar unnötige Spielereien an dem neuen Gerät gegönnt) ertönte die vertraute Stimme seines Bitbeasts. „Huch, bin ich gestorben? Ich fühle mich auf einmal wie im Himmel“, kicherte sie, und Kenny tätschelte liebevoll die Tastatur. „Es freut mich, dass es dir gefällt, Dizzi; ich habe mir deine neue Heimat auch ein ganzes Stück kosten lassen – und jetzt hast du hoffentlich auch endlich Ruhe vor diesem merkwürdigen Störsignal.“ „Ich fühle mich von deinem finanziellen Aufgebot geehrt, Chef, aber leider muss ich dich enttäuschen“, seufzte sie theatralisch, und setzte dann hinzu: „Das Signal ist immer noch da.“ Kapitel 5: Hier kommt Max! -------------------------- - 14. April, Tokyo – Aufmerksam studierte Kenny die Anzeige auf Dizzis Bildschirm und trommelte nachdenklich mit den Fingern auf die Tischplatte. Nachdem das mysteriöse Störsignal noch immer nicht verschwunden war (selbst nachdem er sich einen sündhaft teuren, neuen Laptop angeschafft hatte), hatte er nochmals bei Null angefangen und mit Hilfe der Laborausstattung, auf die er in der Entwicklungsabteilung der BBA Zugriff hatte, systematisch nach dem Signal und seinem Ursprung gesucht. Und diesmal hatte er Erfolg gehabt (sei es nun wegen des neuen Laptops oder wegen der besseren Soft- und Hardware, die ihm im Labor zur Verfügung standen) – nach vier scheinbar endlosen Tagen des Suchens und Filter-Programmierens war er endlich fündig geworden. Das Signal hatte sich sehr unauffällig in einer anderen Trägerwelle versteckt, die global ausgesendet wurde und über mehrere Satelliten geleitet wurde. Oder, um es konkreter auszudrücken, es hatte eine andere Trägerwelle imitiert und war mit über die gleichen Satelliten geschleust worden; und Kenny war sich relativ sicher, dass die Verantwortlichen des eigentlichen Senders keine Kenntnis über das Störsignal hatten (zumindest war das seine Theorie). Es war einfach zu gut zwischen den Original-Datenströmen versteckt. Zunächst hatte er es selbst nicht glauben wollen, doch seine Ergebnisse waren eindeutig: Die Trägerwelle für das Störsignal war der Satellitenfunk der PPB aus den USA, und abgesehen von marginalen Abweichungen – die aber (laut Dizzi) umso mächtigere Auswirkungen hatten – war das eingeschleuste Signal nicht von den normalen Sendungen zu unterscheiden. Das war auch der Grund gewesen, warum er sich mit dem Aufspüren des Signals so schwer getan hatte; er war ständig mit dem Netz der PPB verbunden, und unter all den Sendungen und Dateiströmen war das Störsignal perfekt untergetaucht. Zu ähnlich war die Struktur der Sendung, und bei all dem Unsinn, der tagtäglich mit den Signalen hin und her geschickt wurde, fiel eine Sendung mehr oder weniger kaum auf. Wenn nicht Dizzi persönlich festgestellt hätte, dass ihr das Signal Kopfschmerzen (wie?!) bereitete, dann hätte er an der Funktionsweise seines Laptops nicht erkannt, dass es überhaupt existierte; das System war nicht verlangsamt, es schien sich nicht um einen Trojaner zu handeln, kein Virenscanner erkannte ein Risiko, alle Programme liefen weiterhin fehlerfrei, schnell und effizient. Ohne seine langwierige, gezielte Suche mit allen technischen Mitteln, die ein modernes Computerlabor zu bieten hatte, hätte er es nicht einmal gefunden. Was auch der Grund dafür war, dass sich Kenny trotz seiner angeblichen Leidenschaft für Verschwörungstheorien, die im beständig von Dizzi unterstellt wurde, unsicher war; nur, weil Dizzi sich von dem Signal gestört fühlte, bedeutete das nicht, dass es ein gezielt gesendetes Störsignal war – vielleicht war bei einem der Updates der PPB-Server auch einfach ein Bug mit in die Programmierung geraten, der nur von in Laptops eingeschlossenen Bitbeasts erkannt werden konnte. Vielleicht war seine Theorie, dass das Signal nur eingeschleust und von einem anderen Sender in den USA kam, fehlerhaft. In jedem Fall war das Signal da, und es gab einen einfachen Weg herauszufinden, ob es von der PPB kam oder nicht. Schnell öffnete er sein Mailprogramm und suchte Emilys Adresse aus den Empfängern heraus. - 17. April, Tokyo – Kenny schluckte schwer und blickte sich in dem Büro um, in das er zitiert worden war. Er hatte sich bisher noch nicht oft mit dem Leiter der BBA-Stelle getroffen, in der er arbeitete, doch bisher hatte er Herrn Murakami als sehr strengen, aufbrausenden Menschen kennengelernt, dem es vor allem um Effizienz und Rentabilität ging. In sein Büro gerufen zu werden galt in der ganzen Abteilung als schlechtes Zeichen – die meisten, die diesen Raum betraten, wurden danach nicht mehr im BBA-Sitz gesehen (weil sie gefeuert wurden, versteht sich; Herr Murakami brachte seine ungeliebten Mitarbeiter nicht einfach um… hoffte er zumindest). Bisher hatte Kenny gute Arbeit geleistet; die Candle, die ihm verliehen worden war, sprach für sich. Doch dafür hatte Herr Murakami ihm schon schriftlich seine Anerkennung zukommen lassen – welchen Grund sollte er also sonst haben, ihn hierher zu bestellen? Die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken, und nervös zuckte Kenny zusammen. Herr Murakami – ein Schrank von einem Mann mit strengem, stahlgrauen Haar und einem teuren, dunklen Anzug – betrat den Raum in Begleitung seiner Sekretärin und des Personalleiters und musterte Kenny abschätzig, der unter den durchdringenden Blicken seines Vorgesetzten noch weiter in sich zusammensank, ein flaues Gefühl in seinem Magen. Warum auch immer er hier war, es konnte nichts Gutes sein. - 20. April, New York – Schwer beladen kämpfte sich Kenny durch die Menschenmengen am JFK-Airport in New York und hielt nach einem Schild mit seinem Namen Ausschau. Das Gespräch vor wenigen Tagen in Herrn Murakamis Büro war für ihn erstaunlich positiv verlaufen – er war nicht etwa gefeuert worden, nein; stattdessen hatte Herr Murakami ihn informiert, dass ein großer US-amerikanischer Konzern mit dem Namen BeyWheelz sich für seinen neuen Beyblade-Typus interessierte und ihn daher für drei Wochen in die USA eingeladen hatte, damit er seinen Prototypen sowie seine bisher erhobenen Daten vorstellen konnte. Der Vertrag sei so gut wie sicher (wenn auch geringere Änderungen am Prototypen vorbehalten waren), und nun sollte Kenny selbst die Präsentation halten – das würde einen guten Eindruck machen, hatte man ihm gesagt. Also war er kurzerhand in die Staaten geschickt worden, und nun stand er hier und hoffte darauf, die BBA-Mitarbeiter, die ihn abholen und zum Hotel bringen sollten, in den Massen von Menschen zu finden, die durch die Halle strömten. Schließlich entdeckte er eine junge Frau, die etwa sein eigenes Alter hatte, mit kurzen blonden Haaren und einem großen Schild, auf dem sein Name in bunten Buchstaben geschrieben stand. Mühevoll kämpfte er sich mit seinem Gepäck in ihre Richtung, und als sie ihn sah, kam sie ihm entgegen und nahm ihm seine Reisetasche ab. „Willkommen in New York, Herr Saien“, begrüßte sie ihn in akzentreichem Japanisch (eine Geste, die er dankbar zur Kenntnis nahm), „mein Name ist Patricia Warren, aber Trish reicht vollkommen – alle nennen mich so.“ Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, und Kenny entdeckte einige Sommersprossen auf ihrer blassen Haut. Etwas nervös nahm er die ihm angebotene Hand. „Danke für die Begrüßung, Patricia, aber Kenny ist vollkommen in Ordnung – ich bin noch nicht so alt“, setzte er verlegen hinzu. Patricia – Trish – lachte kurz und schüttelte Kennys Hand. „Nun, dann eben willkommen in New York, Kenny“, sie setzte sich in Bewegung, und Kenny folgte ihr in Richtung Ausgang, „ich hoffe, du hattest einen angenehmen Flug. Während deines Aufenthalts in New York bin ich deine Ansprechpartnerin für alles, was du brauchst. Ich fahre dich durch die Gegend, ich habe von der PPB und BeyWheelz alle Unterlagen für dich erhalten, und wenn etwas ist, dann gib mir einfach Bescheid, und ich kläre alle Probleme für dich.“ Sie erreichten einen Van mit dem Logo der BBA, der vor dem Flughafen in einem Sonderbereich geparkt war, und Trish verstaute Kennys Gepäck im Kofferraum. „Für heute ist noch kein Programm angesetzt – damit du in Ruhe Zeit hast, dich hier einzuleben, den Jetlag hinter dich zu bringen und nochmal deine Notizen durch zu gehen. Die erste Präsentation ist für übermorgen festgelegt, aber das weißt du ja schon“, sprudelte Trish munter drauf los, während beide in das Auto stiegen und los fuhren. Ihre Stimme war melodisch und beruhigend, und Kenny musste sich bemühen, um ihr zuzuhören, anstatt sich einfach von Schlaf übermannen zu lassen. „Demnach bringe ich dich jetzt erst einmal ins Hotel, das Zimmer ist schon für dich hergerichtet. Alle wichtigen Unterlagen, dein Stundenplan und ein paar Willkommens-Geschenke liegen an der Rezeption bereit, und solltest du sonst noch etwas brauchen, zögere nicht, danach zu fragen; BeyWheelz zahlt deinen kompletten Aufenthalt hier und hat bestätigt, dass sie möchten, dass er für dich so angenehm wie möglich sein soll. Sie scheinen sich von dir eine Menge zu versprechen!“ Langsam fielen Kennys Augen zu, und während Trish weiter vor sich hin redete, versank er sanft im Reich der Träume. - 22. April, New York – Mit zittrigen Knien steuerte Kenny auf den Sessel in seinem Hotelzimmer zu, in den er sich fallen ließ. „Hey, pass auf, Chef! Ich bin zerbrechlich!“, beschwerte sich Dizzi, die er in den Händen hielt, mit einem verspielten Unterton. „Entschuldige, Dizzi; ich glaube nur, das waren eben die anstrengendsten acht Stunden meines Lebens“, murmelte Kenny erschöpft und nahm seine Krawatte ab, bevor er sie achtlos auf den Boden neben sich fallen ließ. Acht Stunden. Und er hatte an diesem Tag gerade einmal die erste Präsentation hinter sich gebracht, mit anschließender Diskussions- und Fragenrunde. Sicher, sein Gefühl sagte ihm, dass er sich gut geschlagen hatte, und der Vorstand von BeyWheelz schien sehr angetan von seiner Arbeit – dennoch hatte er nicht damit gerechnet, dass der Termin sich so in die Länge ziehen würde. Bei dem Gedanken, dass das erst der Auftakt für die Verhandlungen der nächsten Wochen war, verkrampfte sich sein Magen. Natürlich war er nicht ganz alleine – die BBA hatte ihm einige Vertreter der Wirtschaftsabteilung mitgeschickt, und auch Herr Murakami war für die Verhandlungen angereist; dennoch fühlte er sich allgemein überfordert. „Zieh nicht so ein Gesicht, Chef. Du hast dich heute gut geschlagen – auch wenn du es ohne meine Hilfe bei der Präsentation natürlich nie so weit geschafft hättest“, stichelte Dizzi, und Kenny lachte leise. „Natürlich nicht, wie könnte ich mir je anmaßen, so zu denken“, konterte er schwach und öffnete dann die oberen Knöpfe seines Hemdes; das Jackett hatte er bereits im Fahrstuhl ausgezogen und auf den Boden des Hotelzimmers fallen lassen, sobald er es betreten hatte (wo es einen guten Platz hatte, wie er fand). „Nicht aufhören – ich will mehr sehen, du starker, junger Mann“, schnurrte Dizzi, als Kenny seine Hand wieder sinken ließ. Augenblicklich schoss ihm die Röte ins Gesicht. „Dizzi!“ „Was denn – darf ein Mädchen nicht seine Fantasien haben?“ Empört schnappte Kenny nach Luft, doch Dizzi fuhr unverwandt fort. „Außerdem bin ich kaum allein mit meinen Gedanken; diese Trish scheint ja auch ein Auge auf dich geworfen zu haben, nicht war, Kenz?“ Kenny hatte das Gefühl, sein Gesicht würde verglühen, als Dizzi ihn aufzog, doch er musste gestehen, dass sie Recht hatte. Trish hing an ihm wie eine Klette, sobald er das Hotelzimmer verließ, und himmelte ihn unverhohlen an (wobei sie zumeist ununterbrochen redete und ihm davon erzählte, wie faszinierend seine Arbeit doch war und wie sehr sie ihn bewunderte); bereits am zweiten Abend hatte sie damit begonnen, ihm den Spitznamen Kenz zu geben. Es versetzte ihm jedes Mal einen Stich, diesen Namen zu hören – so hatte ihn bisher nur Hilary genannt, und der Gedanke an sie schmerzte ihn, vor allem, wenn er bedachte, welchen Weg sie in ihrem Leben gewählt hatte. „Übrigens hast du mal wieder eine neue E-Mail von Emily“, unterbrach Dizzi seine Gedanken, und sie klang dabei fast ein wenig eifersüchtig, „Du hast aktuell ziemlich viel Kontakt mit ihr. Da ist doch nicht etwas im Busch, und du verschweigst es mir?“ Genervt seufzte Kenny auf und öffnete sein Postfach. „Dizzi, du kannst dir sicher sein, wenn ich ein Mädchen im Auge hätte, dann wärest du die erste, die davon erfährt. Meine Unterhaltung mit Emily ist rein geschäftlicher Natur, wegen des Störsignals – und eigentlich solltest du das wissen“, setzte er murmelnd hinzu und las dann die Mail. Emily hatte sich relativ schnell bei ihm gemeldet, nachdem er ihr über das unbekannt Signal im PPB-Netzwerk berichtet hatte, hatte bisher aber noch nichts Konkretes herausfinden können. Dennoch glaubte sie, auf einer Spur zu sein, und versprach, sich in den nächsten Tagen mit ihm zu treffen. Zügig tippte er eine Antwort ein, um den Termin zu bestätigen, dann loggte er sich wieder aus seinem Mailaccount aus. Mit einem langgezogenen Seufzen ließ er sich tiefer in den Sessel sinken und schloss die Augen. Er war so müde… „Wage es ja nicht, hier einzuschlafen – sonst lässt du mich noch fallen!“, riss ihn Dizzis Stimme aus seinem Halbschlaf, und murrend setzte er sich wieder auf. „Außerdem wolltest du dich doch noch um dieses Geheimprojekt kümmern, von dem ich nichts wissen durfte, bis wir hier sind – davon hast du auch noch nichts weiter erzählt. Aber ich gehe fast davon aus, dass es mit deinem mysteriösen Treffen mit Präsidentin Tate zusammenhängt – schon wieder eine gutaussehende Frau in deiner Nähe. Ich spüre so viel Konkurrenz.“ Theatralisch seufzte Dizzi und Kenny schüttelte (mal wieder mit geröteten Wangen) den Kopf. „Das Treffen hat nichts damit zu tun, Dizzi, und es war auch nicht mysteriös; ich habe Judy lediglich darum gebeten, die Ausstattung der PPB nutzen zu dürfen, während ich hier bin, für den Fall, dass ich an meinem Prototypen arbeiten muss oder falls sich etwas Neues bezüglich des Störsignals ergibt. Außerdem hat sie mir noch ein paar Tipps für die Präsentation gegeben.“ „Und was hat es dann mit dieser Geheimmission auf sich?“, fragte Dizzi ungeduldig. Nervös kaute Kenny auf seiner Unterlippe, dann seufzte er. „Das ist… wegen Tyson.“ Seit Kenny mit Tysons Familie telefoniert und dessen Haus aufgeräumt hatte, hatte er mit Dizzi kaum über dieses Thema gesprochen. Sie wollte ihm nicht glauben, dass an Tysons Verschwinden etwas faul war, was jede Unterhaltung darüber für ihn sehr schmerzhaft machte. Dennoch hatte er seine Hoffnung nicht aufgegeben, dem Ganzen auf den Grund zu gehen, und er hoffte, hier in New York fündig zu werden. „Hängst du diesem Typen etwa immer noch nach?“, fragte sie seufzend, „Akzeptier doch einfach die Wahrheit, Chef: Tyson hat Zeit für sich gebraucht, um sein Leben in den Griff zu kriegen; und dabei wollte er alleine sein. Auch wenn es dir weh tut, aber so ist er nun mal – so war er schon immer. Unzuverlässig und egoistisch.“ „Und genau das glaube ich nicht!“ Aufgebracht fuhr sich Kenny durch die Haare (und stellte dabei fest, dass sie noch immer nass und verschwitzt waren). „Irgendetwas stimmt an der Sache nicht, und ich werde herausfinden, was. Tyson wollte hierher fliegen – wahrscheinlich um Max zu sehen. Wer weiß, mit ein bisschen Glück kann er mir ein paar Antworten auf meine Fragen geben.“ „Ich hatte das Gefühl, dass Max schon am Telefon recht deutlich gemacht hat, was er von dem alten Team hält, Chef.“ „Das war am Telefon, Dizzi – wenn wir uns persönlich treffen, dann wird alles anders, davon bin ich überzeugt. Er weiß irgendetwas, da bin ich mir sicher, auch wenn es ihm selbst vielleicht gar nicht auffällt.“ Oder er verschweigt es absichtlich, kommentierte eine Stimme in seinem Kopf, doch Kenny versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Auch, wenn sich Max von ihnen entfernt hatte – sie waren früher einmal beste Freunde gewesen. Irgendetwas davon musste doch noch da sein. Irgendetwas. - 23. April, New York – Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, Max zu dem Treffen zu überreden. Als er gestern eine Stunde damit verbracht hatte, seinen ehemaligen Freund zu überzeugen, war er sich sicher gewesen, das Richtige getan zu haben. Doch nun war er sich da nicht mehr so sicher. Sie hatten sich in Max‘ Appartement getroffen, und immerhin hatte dieser den Anstand besessen, Kenny ein Getränk und Knabbereien anzubieten; Alles in Allem war Kenny jedoch entsetzt. Max hatte sich nicht die Mühe gemacht, groß aufzuräumen: Benutzte Kleidung, leere Pizzakartons und Plastikflaschen lagen im Wohnzimmer verteilt, das fast vollkommen von einer Couchgarnitur mit Tisch eingenommen wurde, die in einem fleckigen Rostton bezogen war; Kenny wollte sich lieber keine Gedanken darüber machen, ob alle Verfärbungen im Stoff wirklich aus der Feder des Designers stammten. Komplettiert wurde das Ensemble durch einen großen Flachbildfernseher an der Wand, unter dem eine Konsole stand, neben die jemand achtlos ein paar Spiele geworfen hatte. Was ihn jedoch vor allem beunruhigte war die Schachtel Kondome, die neben dem Sofa auf dem Boden lag, und eine selbstgedrehte Zigarette, die unter ein paar anrüchigen Zeitschriften begraben war und verdächtig wie ein Joint aussah (oder zumindest so, wie sich Kenny immer einen Joint vorstellte). Ihr Gespräch dauerte nun schon fast eineinhalb Stunden, doch die meiste Zeit saßen sie sich nur schweigend gegenüber – Kenny, wie immer mit Hemd und Krawatte, peinlich berührt und zu betreten, um etwas zu sagen; Max, in einem bedruckten T-Shirt mit karierten Shorts, offensichtlich genervt von dem unfreiwilligen Treffen. „Weißt du, wenn du mir nichts zu sagen hast, dann kannst du auch wieder gehen. Ich habe heute noch ein Date mit einem Typen, der wesentlich heißer ist als du.“ Feindseligkeit klang in jedem von Max‘ Worten mit, und Kenny zuckte zusammen. „Tut mir Leid, ich- ich will deine Zeit nicht verschwenden. Um ehrlich zu sein – ich weiß nicht, was ich sagen soll. Du bist so… anders.“ Unsicher blickte Kenny seinen alten Freund an, der bitter lachte. „Ach, ich bin also anders, ja? Und was hat dich zu dieser glorreichen Erkenntnis gebracht?“, fauchte er ungehalten, und Kenny hob abwehrend die Hände. „Das meinte ich nicht so, Max. Ich wollte dich nicht kränken; es tut mir Leid.“ Ein Schnauben war die einzige Antwort, doch Kenny spürte, dass Max immer ungeduldiger wurde, also entschloss er sich, endlich zum Punkt zu kommen. Smalltalk hatte hier ohnehin keinen Zweck mehr. „Ich wollte dich nach Tyson fragen. Wie ich dir schon vor ein paar Wochen am Telefon gesagt habe, ist er verschwunden.“ „Und was geht mich das an?“, blaffte Max. „Tyson ist mir scheißegal.“ Kennys Schultern sackten enttäuscht zusammen bei diesen Worten, doch so schnell wollte er nicht aufgeben. „Trotzdem warst du Tyson nicht egal – er hatte sich vor seinem Verschwinden ein Flugzeugticket gekauft, um dich zu besuchen. Und immerhin wart ihr früher mal beste Freunde“, merkte er vorsichtig an, und Max verschränkte die Arme vor der Brust. „Vielleicht waren wir das mal. Jetzt aber nicht mehr. Ist mir aber auch egal. Dann ist er eben verschwunden – mir soll’s Recht sein“, presste er gezwungen hervor, und nun war es an Kenny, wütend zu werden. „Es ist dir Recht? Es ist dir Recht?! Denkst du eigentlich noch über das nach, was du da von dir gibst?“, fuhr er Max an, und es war, als hätte sich in ihm ein Schalter umgelegt. All die Wut, die Verzweiflung, der Frust der letzten Wochen strömten ineinander und vermischten sich zu blindem Zorn, wie ihn Kenny noch nie gefühlt hatte. „Was ist dein Problem? Was hat dir Tyson je getan, was haben wir dir jemals getan, dass du uns behandelst wie Dreck, seit du wieder hier bist?! Wir waren mal Freunde, haben uns den Arsch für dich aufgerissen, wenn du uns gebraucht hast, und du haust einfach ab und meldest dich nie wieder – und jetzt, wo Tyson dich bräuchte, lässt du ihn einfach hängen!“ Die Worte brachen aus Kenny heraus, und mit jedem Satz wurde er lauter und lauter; doch es war ihm egal. Max hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, und nun gab es nichts, das ihn noch halten konnte. „Und nicht nur Tyson – auch die All Starz, und dich selbst! Denkst du wirklich, man könnte nicht sehen, wie kaputt du bist? Deine ganze Wohnung stinkt nach Alkohol und Rauch und was-weiß-ich-alles, und die Klatschpresse zerreißt sich schon seit Jahren das Maul über dich und deine Sexgeschichten. Was denkst du dir dabei? Dass das die Art zu leben ist? Dass du glücklich wirst, wenn du dich so kaputt machst und alle anderen hängen lässt, denen du etwas bedeutest? Die dir etwas bedeuten sollten?!“ Max‘ Miene wurde hart, doch er unterbrach Kenny nicht, der ihn inzwischen geradezu anbrüllte. „Und überhaupt, hast du ein einziges Mal an deine Mutter gedacht? Was du ihr mit deinem Verhalten antust? Was du ihrer Position damit antust? Sie hat sich kaputt gearbeitet, um dir ein gutes Leben zu ermöglichen, sie finanziert alles, was du hast, und die Leute lachen darüber, dass der Sohn der Präsidentin der BBA ein schwuler Junkie ist – und du dankst es ihr, indem du alles, was sie erreicht hat, für dich erreicht hat, mit Füßen trittst!“ Schwer atmend stand Kenny vor Max, der ihn aus hasserfüllten Augen anstarrte. Fast fürchtete er, sein Gegenüber könnte aufspringen, um ihn zu schlagen – da fing Max an zu lachen; es war das furchtbarste Geräusch, das Kenny je gehört hatte. Max‘ Lachen war vollkommen freudlos: Bitterkeit, Verzweiflung, Verachtung, Hass und noch viel mehr schwang in dem Laut mit, der genauso verzerrt und bizarr war wie das Leben, das sich Max geschaffen hatte. Lange Minuten stand Kenny da, und eisige Schauer liefen ihm über den Rücken, als er seinen ehemaligen Freund sah, der wie von einem Anfall geschüttelt wurde, während er weiter lachte. Schließlich hatte sich Max beruhigt, und berechnend blickte er Kenny an, während sich seine Atmung normalisierte. „Ich will dir etwas über die Präsidentin der BBA erzählen, mein lieber, alter Kenny. Meine Mutter“, er spuckte das Wort aus, als wäre es ein vergiftetes Stück Fleisch, „hat sich nie für mich interessiert. Alles, was sie getan hat, hat sie für sich getan – nicht für mich. Natürlich habe ich das auch nicht sofort gemerkt; lange Zeit habe ich sie für die beste Mom gehalten, die ich mir hätte wünschen können. Aber wenn es dann hart auf hart kommt, trennt sich eben die Spreu vom Weizen; und wenn es mal nicht darum geht, ihre Karriere voranzutreiben, dann kannst du dir sicher sein, dass Judy Tate dich einfach im Stich lässt.“ Max‘ Augen glänzten in einem ungekannten Licht, und es machte Kenny nervös; doch er wagte es nicht, ihn zu unterbrechen. „Du willst wissen, was mit mir passiert ist, Kenny? Ich verrate es dir! Nachdem ich hier war habe ich endlich zu mir gefunden – ich war gut in der Schule, hatte Freunde, unterstütze meine Mom auf ihrem Weg an die Spitze und habe endlich Liebe gefunden“, er kicherte schrill, und Kenny zuckte zusammen. „Schon als ich noch in Japan war wusste ich, dass ich auf Männer stehe; eine Zeit lang stand ich sogar auf Tyson – doch er hat meine Gefühle nie erwidert.“ Max verzog das Gesicht, und Kenny wunderte sich unwillkürlich, ob das der Grund gewesen war, warum Max so plötzlich zurück in die USA gezogen war. „Doch das alles war mir egal, denn ich hatte ihn dann endlich gefunden, meinen Traumprinzen, der auf einem weißen Pferd daher geritten kam, und er brachte mein Herz zum Schmelzen.“ Die Selbstverachtung, die in den Worten lag, schnürte Kenny die Kehle zu, und er hatte das Gefühl, dass diese Geschichte kein gutes Ende nehmen würde; doch gebannt von der Absurdität der Situation konnte er nicht anders, als weiter zuzuhören. „Ja, er war wirklich alles was ich wollte – und er machte mich so glücklich. Wirklich, ich war im Himmel, als er mich nach drei Wochen in der gemeinsamen Wohnung das erste Mal in diese Ecke zwang und mich verprügelt hat. Und es war pure Glückseligkeit, als er mich danach auf die Knie zwang und sein Ding in meinen Arsch gesteckt hat.“ Inzwischen rannen Tränen Max‘ Wangen hinunter, und sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, die so furchtbar war, dass Kenny am liebsten seinen Blick abgewandt hatte. Er wollte schreien, um Max zum Schweigen zu bringen, doch kein Laut drang über seine Lippen. „Vier Monate lang waren wir zusammen in diesem Loch, und jeden Abend bedrängte er mich wieder, jeden Abend war ich ihm hilflos ausgeliefert. Und weißt du, was mir meine wundervolle Mom vier Monate lang gesagt hat?“ Max zitterte. „Sie hat mir gesagt, ich soll sie in Ruhe lassen, weil sie keine Zeit hat, während sie gleichzeitig irgendeinem Kerl ihre Zunge in den Hals gesteckt hat.“ Er ballte seine Hände zu Fäusten. „Die Polizei hat mich ausgelacht, weil es ja so lustig ist, wenn ein Mann vergewaltigt wird.“ Er streckte Kenny seine Arme hin, und neben einigen Einstichen in der Armbeuge konnte Kenny feine Narben erkennen, die sich über die blasse Haut seines Unterarms zogen. „Ich musste erst versuchen, mich umzubringen, bevor mir irgendjemand zugehört hat. Und weißt du, was meine liebevolle Mutter mir gesagt hat, nachdem sie den Typen endlich verhaftet hatten und ich wieder bei ihr zu Hause war? Ich solle mich endlich zusammenreißen und mir eine eigene Wohnung suchen, damit ich sie nicht mehr so behindere. Das hat mir meine wundervolle Mom gesagt, die sich ja so für mich eingesetzt hat und sich so um mich bemüht hat. Genau wie meine Freunde, die in dem Moment verschwunden waren, in dem ich sie wirklich gebraucht hätte.“ Inzwischen wurde Max von unterdrücktem Schluchzen geschüttelt, und Kenny spürte, wie Tränen in seinen eigenen Augen brannten. Er machte einen Schritt auf Max zu, der vor ihm zurückwich. „Max, ich- ich hatte keine Ahnung…“ „Geh einfach, Kenny. Geh.“ Mit hängenden Schultern wandte Max sich ab, und Kenny kam noch einen Schritt näher. „Max, bitte-“ „Verschwinde!“, brach es da aus Max hervor, und mit einem Mal drehte er sich wieder um, griff wahllos nach einer der herumliegenden Flaschen und warf sie nach Kenny. „Verpiss dich endlich!“ In letzter Sekunde duckte sich Kenny unter dem Wurfgeschoss hindurch und rannte aus dem Zimmer, als Max nach der Glasschüssel mit den Snacks griff. So schnell er konnte verließ er das Appartement, und er konnte hören, wie das Gefäß an der Wohnungstür zersplitterte, kurz nachdem er sie hinter sich zugezogen hatte. Eilig stürmte er die Treppen hinunter, falls Max ihm folgte, um noch gefährlichere Dinge nach ihm zu werfen, bis er schließlich auf der Straße stehen blieb. Er atmete schwer, und er spürte, dass er weinte. Ein paar Passanten drehten sich verwundert zu ihm um, die meisten liefen jedoch an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Schniefend wischte er sich mit dem Ärmel über das Gesicht, dann mischte er sich unter die Menge. Er hätte Trish anrufen können, um ihn abzuholen, doch er wollte lieber alleine sein. Kapitel 6: Unerwartete Hilfe ---------------------------- - 25. April, New York – Lustlos schob Kenny das Essen auf seinem Frühstücksteller hin und her, konnte sich jedoch nicht dazu überwinden, einen Bissen zu nehmen. Der Schock, den ihm das Treffen mit Max beigebracht hatte, steckte noch immer tief in seinen Knochen. Auch wenn sein Verstand ihm sagte, dass Max es selbst gewesen war, der den Kontakt abgebrochen hatte, fühlte er sich mitschuldig daran, dass es so weit hatte kommen können. Wenn er sich nur etwas mehr Mühe gegeben hätte, wenn er Max nur besser im Auge gehabt hätte, als er noch die Chance dazu gehabt hatte – vielleicht hätte er ihn dann retten können. Vielleicht hätte er auch Tyson retten können, wenn er besser aufgepasst hätte, was auch immer mit ihm passiert war. Wenn er sich nur mehr um ihn gekümmert hätte… „Du siehst furchtbar aus, Kenny. Was hast du heute Nacht getrieben?“ Erschöpft blinzelte er, als jemand den Stuhl neben ihm zur Seite schob und sich zu ihm an den Tisch setzte. Besorgt lehnte sich Emily nach vorne, um ihm ins Gesicht sehen zu können (er hatte ganz vergessen, dass er sich an diesem Morgen mit ihr verabredet hatte). Es war eine Tatsache, dass er in den letzten zwei Nächten von trüben Gedanken geplagt wach gelegen hatte, und die Belastung durch die Besprechungen mit BeyWheelz tat ihr Übriges dazu – doch sobald er die Augen schloss sah er wieder Max vor sich, mit diesem verlorenen Gesichtsausdruck, und Tysons verlassenes Haus. An Schlaf war dabei einfach nicht zu denken. „Ich denke abends nur zu viel über die Meetings nach – es ist nichts weiter“, log er schnell und hoffte, dass Emily nicht weiter nachfragen würde. Nachdem sie nach wie vor Judys rechte Hand war, wollte er nur ungern mit ihr über Max‘ Geschichte reden – wenn sie die Details nicht schon kannte. Emily nickte langsam, bedachte ihn nochmals mit einem besorgten Blick und zog dann ein Tablet aus ihrer Tasche. Sie öffnete einige Anwendungen und hielt ihm den Bildschirm vor die Nase. „Ich habe mich ein wenig schlau gemacht wegen dieses Signals, von dem du mir erzählt hast. Und wenn du nicht so überzeugend gewesen wärest, dann hätte ich dich ehrlicherweise ausgelacht – denn bis vor ein paar Tagen habe ich absolut nichts in unseren Systemen finden können. Kein Bug, kein Virus, kein fehlerhaftes Patch; keine Anomalien in den Systemleistungen oder den Servern; keines der normalen Geräte war in der Lage, irgendein Signal zu finden, das nicht auch von uns kam und fehlerfrei lief“, Kenny wollte gerade widersprechen, als Emily seinen Einwurf unterband, „bis ich dann noch einmal mit den CM-Systemen der PPB alle Kanäle abgesucht habe – und fündig geworden bin.“ Sie tippte etwas auf dem Tablet ein, und einige Hüllkurven erschienen auf dem Bildschirm. „Hier, siehst du die oberen beiden Grafiken? Das sind die normalen PPB-Frequenzen, mit denen wir unsere AI-Systeme weltweit synchronisieren. Aber das hier“, sie deutete auf die unterste Anzeige, „das hier ist nicht von uns – zumindest nicht aus dem PPB-Programm. Aber siehst du, wie ähnlich sich die Signale sind?“ Mit einer einfachen Bewegung schob sie die drei Hüllkurven übereinander, und Kenny sah die Bestätigung für das, was er selbst schon herausgefunden hatte: bis auf marginale Unterschiede waren die Wellen identisch. „Die Struktur zeigt eindeutig, dass es eine Cyber-Mind-Sendung ist; allerdings habe ich ehrlicherweise noch keine Idee, wo sie herkommen könnte. Künstliche Bitbeasts sind nicht so einfach zu erschaffen, wie es scheint, und seit Zagart und die Biovolt gefallen sind ist die PPB die einzige Einrichtung der Welt, die es geschafft hat, stabile Cyber-Beasts zu programmieren und ihre neuralen Kapazitäten auch für Zwecke der Forschung, Wissenschaft und Datenverarbeitung zu nutzen. Außerdem sind die Firewalls der PPB quasi unüberwindbar – es ist unmöglich, dass sich jemand von außen in unsere Systeme gehackt und ein weiteres Signal eingeschleust hat. Trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass es unsere eigenen Sender sind, die das Signal verschicken.“ „Und was bedeutet das…?“ Kenny fühlte sich dumm, diese Frage stellen zu müssen, doch er hatte an diesem Morgen eindeutig zu wenig geschlafen und zu viele andere Dinge im Kopf, um bei Emilys Redeschwall nicht den Überblick zu verlieren. Mit einem Augenrollen packte Emily ihr Tablet wieder in die Tasche. „Das bedeutet, Kenny, dass wir jemandem in der PPB haben, der offensichtlich dieses Signal einschleust – warum auch immer.“ Nachdenklich ließ Kenny seine Gabel auf den Teller sinken. „Du meinst, es gibt einen Spion in der PPB?“ „Entweder das, oder jemanden, der einen Ego-Trip hat und versucht, irgendein tolles Projekt ohne mein Okay durchzuziehen. Bevor wir das herausfinden bleibt allerdings die Frage, was genau dieses Signal nun eigentlich tut – du meintest, dass Dizzi sich davon gestört fühlt, aber ansonsten konnte ich bisher keinerlei Zugriffe auf andere Programme oder Datenströme finden. Es ist auch merkwürdig, dass das Signal offensichtlich nur von den CM-Systemen gefunden werden kann.“ Mit einem Schulterzucken stand sie wieder auf und nickte Kenny zu. „In Jedem Fall wollte ich dir ein Update geben, was ich aktuell herausgefunden habe, und mich bedanken. Warum auch immer wer auch immer dieses Signal über unsere Satelliten laufen lässt, es ist mein Job, ihm gehörig in den hintern zu treten. Ohne dich hätte ich diese Chance fast verpasst!“ Mit einem vergnügten Grinsen zwinkerte Emily ihm zu, doch er konnte an ihrer verspannten Haltung sehen, dass es sie ärgerte, dass es in ihrer Abteilung eine solche Sicherheitslücke gab. „In jedem Fall werden wir uns hoffentlich noch sehen, bevor du wieder abreisen musst; es sind ja auch noch ein paar Tage, nicht wahr? Bis dann also!“ So schnell sie gekommen war, so schnell war sie wieder verschwunden, und Kenny blieb wieder alleine mit seinem Frühstück am Tisch zurück. - 27. April, New York – Der Himmel war schwarz, doch die Lichter der Stadt leuchteten unaufhörlich und drangen durch die Fenster in sein Hotelzimmer. In eine Decke gewickelt saß Kenny auf seinem Bett, Dizzi auf dem Schoß, und ging seine E-Mails durch. Er war nun schon eine Woche in den Staaten, und die Verhandlungen über seinen Prototypen zogen sich hin. Es war ihm gar nicht bewusst gewesen, wie viel Aufwand in der Abwicklung eines solchen Geschäfts steckte; bisher hatte er bei den meisten seiner neuen Entwicklungen einfach nur die Baupläne an die nächsthöhere Stelle weitergeleitet, die sich dann um alles andere gekümmert hatte. Nun, da er selbst an den Verhandlungen beteiligt war, empfand er tiefe Bewunderung für die Menschen, die so etwas ständig taten. Eine Brise wehte durch die offene Balkontür, und er zog die Decke enger um sich. Gerne hätte er einfach die Heizung aufgedreht, das Fenster geschlossen (und damit die Kälte ausgesperrt) und sich einfach schlafen gelegt, doch er hatte noch zu viel Arbeit vor sich. Am nächsten Morgen würden die abschließenden Details der Verhandlungen geklärt, und er hatte noch seitenweise Notizen zusammenzufassen. Die kühle Abendluft hielt ihn wach und am Arbeiten; und so konnte er auch den Schuldgefühlen entkommen, die ihn noch immer wegen Max und Tyson plagten. „Deine Liebste hat dir geschrieben“, flötete Dizzi auf einmal in hämischem Ton, und Kenny schnaubte mit einem schwachen Lächeln. „Du wirst mir wohl nie glauben, dass zwischen uns nichts läuft“, murmelte er gedankenverloren, während er die neuste E-Mail öffnete und den Text überflog. Ungläubig zog er die Augenbrauen zusammen. Emily hatte tatsächlich herausgefunden, woher das Signal kam – und die Wahrheit hatte sie wohl ebenso überrascht wie ihn. Offensichtlich hatte die PPB den mysteriösen Stein, der vor einiger Zeit aus dem Museum of Natural History gestohlen worden war, tatsächlich untersucht, bevor sie ihn an das Museum geleitet hatte (ohne diese Daten jedoch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, was Kenny sehr ärgerte; für seinen Aufsatz wären diese Aufzeichnungen sehr hilfreich gewesen). Die Daten hatten zwar die Existenz eines Bitbeast im Inneren des Steines bestätigt, allerdings war es in seiner weiteren Struktur für die Forschungsabteilung der PPB nicht interessant gewesen; daher hatte man den Stein ohne weiteren Vermerk an das Museum weitergereicht. Bei der Untersuchung war es allerdings wohl zu einem Zwischenfall gekommen (den man Emily zunächst verschwiegen hatte – Kenny empfand spontanes Mitleid für den Mitarbeiter, der dafür nun seinen Job verlieren würde), der es dem Bitbeast ermöglicht hatte, sich kurz mit den CM-Systemen zu verbinden: dem Netzwerk, das dafür verantwortlich war, die AIs der PPB und die Cyber-Minds ihrer künstlichen Bitbeasts zu kontrollieren und zu verwalten. Zwar war die Verbindung wieder unterbrochen worden, doch eine Kopie (oder eher: ein Echo) der Energiesignatur des Beasts war in den Systemen zurückgeblieben. Das war wohl auch der Grund, warum nur Dizzi und die Cyber-Mind-Systeme das Signal finden konnten – die Trägerwellen von Bitbeasts waren ohne die Technologie der PPB nach wie vor nicht mit üblichen digitalen Systemen kompatibel. Erleichtert seufzte Kenny auf. „Immerhin wäre damit eines unserer Probleme endgültig geklärt – Emily entfernt dieses Datenecho aus dem System, und du bist das Signal los. Damit löst sich alles in Wohlgefallen auf.“ „Was? Du gibst einfach so auf, Chef?“ Empörung schwang in Dizzis Stimme mit. „Wo ist dein Kampfgeist? Deine zweifelnde Natur, dass die Lösung für das Problem so einfach sein kann? Dass Tyson einfach in den Urlaub gefahren ist akzeptierst du nicht – aber diesen Unfug, denn Fräulein Superschlau dir geschickt hat, glaubst du? Wirklich, ich hätte von dem Verschwörungstheoretiker in dir mehr erwartet.“ Mit einem missmutigen Schnauben verdrehte Kenny die Augen und tippte eine schnelle Antwort an Emily, bevor er Dizzi antwortete. „Was erwartest du denn, Dizzi? Das Signal ist gefunden und wird behoben. Es ist jetzt klar, wie es entstanden ist. Soll ich jetzt etwa anfangen, zu behaupten, dass dieses Störsignal für Tysons Verschwinden verantwortlich ist, nur um dich glücklich zu machen?“ Ratlos warf Kenny die Arme in die Luft, und ein heftiger Windstoß durchfuhr den Raum. „Damit hättest du allerdings gar nicht so unrecht“, klang auf einmal eine kalte Männerstimme dicht neben seinem Ohr, und erschrocken schrie Kenny auf. Sofort legte sich eine Hand auf seinen Mund, und ein kräftiger Arm umschlang seinen Körper und hinderte ihn so effektiv daran, sich von der Stelle zu bewegen. „Sei gefälligst leise! Willst du, dass dich das ganze Hotel hört?“, zischte der Mann, und Dizzi kicherte vergnügt auf Kennys Schoß. „Ich habe genug hentai gesehen, um zu wissen, wohin das führt“, kommentierte sie mit fröhlichem Singsang, und Kenny wimmerte leise. Der Schraubstockartige Griff um seinen Körper verhinderte, dass er den Kopf drehen konnte – und da der Fremde mehr oder weniger hinter ihm stand hatte er daher keine Chance zu sehen, wer in sein Hotelzimmer eingebrochen war. Doch er konnte die Muskeln des Anderen durch seine Kleidung hindurch spüren, und er wusste, dass er verloren war; was auch immer dieser Mann mit ihm vor hatte, er würde sich nicht wehren können. „Dizzi, halt die Klappe“, hörte er hinter sich den Einbrecher genervt seufzen, dann wandte er sich an ihn. „Und du hörst mir zu, Kenny: ich werde dich jetzt loslassen, und du wirst nicht schreien. Kapiert?“ Zögerlich nickte Kenny, und nach einem kurzen Moment spürte er, wie sich der Griff des Mannes löste. So schnell er konnte brachte Kenny Abstand zwischen sich und den Eindringling und sog so viel Luft wie möglich ein, um laut zu Schreien – als er endlich sehen konnte, wer da in seinem Hotelzimmer stand. Dunkle Kleidung, deren ganzer Stil nach Gefahr schrie. Ein trainierter Körper, dessen Muskeln sich durch den Stoff abzeichneten. Und ein von blaugrauen Strähnen umrahmtes Gesicht, auf dessen Wangen selbst im Zwielicht des Hotelzimmers blaue Farbe zu erkennen war. Ungläubig starrte Kenny sein Gegenüber an, während Dizzi noch immer glucksend kicherte. „Nur damit ihr beiden es wisst, ich habe jede Sekunde eures Wiedersehens aufgenommen. Stellt euch nur vor, wie viele Likes das werden, wenn ich das poste! Ich werde berühmt!“ „Wenn du das postest, Dizzi, dann haben meine Hacker dein System zerstört, ehe du um Gnade winseln kannst“, knurrte der Mann, und Dizzi seufzte wohlig auf. „Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Kai“, säuselte sie, und der Angesprochene rollte mit den Augen. „Was auch immer. Ich bin nicht ohne Grund hier, Kenny“, begann er, und Kenny erwachte aus der Schreckstarre, in die er für Sekunden gefallen war, und stieß langsam den Atem aus, den er angehalten hatte. Er war zu perplex, um etwas zu sagen, daher fuhr Kai einfach unbeirrt fort. „Ich bin momentan dabei, mich um einige Geschäfte zu kümmern, die dringend meiner Aufmerksamkeit bedürfen. Bisher habe ich mich bemüht, die Sache innerhalb der Mauern meines Unternehmens zu lassen, doch leider stößt meine Forschungsabteilung aktuell an ihre Grenzen.“ Mit einer fließenden Bewegung zog er einen Plastikbeutel aus seiner Hosentasche, in dem sich einige kleine Gegenstände befanden, und warf ihn vor Kenny auf das Bett. „Ich brauche deine Hilfe.“ Kapitel 7: Unterm Mikroskop --------------------------- - 27. April, New York – Angespannt massierte sich Kenny die Schläfen, während Kai ihm gegenüber stumm an der Wand lehnte und ihn aus wachen Augen heraus beobachtete. Das Schweigen zwischen ihnen wurde gefüllt durch die sanften Klänge diverser Smooth Jazz-Stücke, die Dizzi in einer schier endlosen Playlist angeordnet hatte und nun schon seit einiger Zeit abspielte (um für die richtige Stimmung zu sorgen, wie sie es ausdrückte). In Verbindung mit all den Informationen, die er zu verarbeiten hatte, führte die seichte Musik jedoch eher dazu, dass Kenny Kopfschmerzen bekam. „Also, lass mich das nochmal zusammenfassen“, begann er und rieb sich über die Augen, „seit Jahren verschwinden Beyblader und ihre Bitbeasts spurlos, und niemandem fällt das auf?“ Ein rauchiges Saxofon spielte ein inniges Solo, während Kenny missmutig die Schultern hängen ließ. „Und es gab immer diese merkwürdigen Störsignale? Aber ich dachte, das wäre durch den Zwischenfall im Labor entstanden – oder war das etwa Absicht?“ Verzweiflung keimte in Kenny auf, während sich die Musik in endlosen Pendeln der immer gleichen Harmonien um sich selbst drehte. Wenn Kai Recht hatte, dann war irgendjemand – irgendjemand mit sehr viel Macht – schon seit Jahren dabei, ein neues Netz zu spinnen, das dazu gedacht war, letztlich die ganze Welt einzuhüllen; eine neue Biovolt, eine neue BEGA, nur diesmal wesentlich gefährlicher. „Um das herauszufinden bin ich hier“, entgegnete Kai kühl und trat an das Bett heran, auf dem Kenny noch immer saß, „aber für diesen Teil der Arbeit brauche ich dich nicht. Mit dem Aufspüren der verschwundenen Blader sind bereits meine besten Männer betraut.“ Bedeutungsvoll sah er Kenny an, der den Blick schon bald abwenden musste; er hatte Kai noch nie lange in die Augen sehen können. „Wofür brauchst du mich dann? Du bist der Chef der Hiwatari Enterprises, für dich arbeiten die schlausten Köpfe der Welt!“ „Dann hast du nun die Chance zu beweisen, dass du schlauer bist als sie.“ Mit einem Nicken wies Kai auf den Plastikbeutel, den er neben Kenny auf das Bett geworfen hatte, und der bisher von ihnen ignoriert worden war. „Das sind einige defekte Bitchips; Cyber-Bitchips. Es tauchen immer mehr von ihnen auf dem Schwarzmarkt auf, während die echten Bitbeasts verschwinden. Die meisten von ihnen sind fehlerhaft und richten gewaltige Schäden an. Ich will wissen, von wem sie kommen – um das herauszufinden brauche ich allerdings das entsprechende Equipment.“ „Oh, ich bin mir sicher, dein Equipment ist herausragend“, mischte sich da auf einmal Dizzi mit schnurrender Stimme in das Gespräch ein. Unbeeindruckt hob Kai eine Augenbraue und blickte auf den Laptop, während Dizzi amüsiert kicherte. „Die Hiwatari Enterprises haben nichts mit Beyblades oder Bitbeasts zu tun – deshalb brauchst du mich, um an die Ausstattung der PPB zu kommen, um diese Bitchips zu untersuchen; habe ich Recht?“, setzte Kenny die Unterhaltung mit leicht geröteten Wangen fort und überging damit Dizzis Kommentar. Kai schüttelte den Kopf. „Wenn ich nur Zugang zu den PPB-Systemen haben wollte, dann würde ein Anruf bei Judy genügen, und ich hätte Zugriff auf alles, was ich brauche. Aber das nützt mir nichts, wenn ich niemanden habe, der diese Systeme auch bedienen kann.“ Mit ernster Miene nahm Kai den Beutel mit den Bitchips in die Hand und hielt ihn Kenny hin, der ihn zögerlich entgegen nahm und sich die Bruchstücke näher besah. Dann seufzte er und gab Kai die Tüte zurück. „Ich weiß nicht, ob ich der Richtige dafür bin. Ich habe die Systeme hier immerhin selbst erst ein paar Mal bedient – und das hier ist wichtig. Ich meine, wirklich wichtig. Vielleicht solltest du lieber Emily fragen-“ „Ich traue Emily nicht“, fiel Kai ihm ins Wort und packte den Beutel wieder in seinen Mantel. „Genau so wenig wie den meisten anderen hier. Du bist der Einzige, auf den ich mich verlassen kann.“ Er wandte sich ab und ging wieder zur Balkontüre. „Morgen wirst du von mir hören. Ich baue auf dich.“ Mit diesen Worten verschwand er hinaus in die Nacht, auf dem Weg, den er gekommen war. „Wie romantisch“, säuselte Dizzi, und entnervt stöhnte Kenny auf. - 28. April, New York – Mit einem langgezogenen Gähnen verließ Kenny den Konferenzraum. Das Treffen mit Kai hatte ihn in seiner Zeitplanung völlig aus der Bahn geworfen, und Schlaf hatte ihn übermannt, während er noch damit beschäftigt gewesen war, seine Notizen zusammen zu schreiben – was zur Folge gehabt hatte, dass er mehr oder minder unvorbereitet in die Abschlusssitzungen der BeyWheelz-Verhandlungen hineingestolpert war. Dennoch waren die Gespräche gut verlaufen, und der Vertragsabschluss war zustande gekommen; mit einigen Veränderungen am Original-Modell, verstand sich. Ein Beyblade, das all zu hohen Belastungen standhielt und eine lange Lebensdauer aufwies war für einen Kreiselhersteller kaum rentabel (man würde ja kaum etwas verdienen, wenn sich jeder nur ein Beyblade kaufen und dieses dann über Jahre behalten würde). Doch nun, da alles vorbei war, fühlte er sich koplett überfahren. Ein warmes Bad, und dann einfach nur schlafen… „Komm mit“, murrte da plötzlich eine dunkle Stimme neben ihm, und unsanft wurde er am Arm gepackt und mitgezogen. Erschrocken blickte er zur Seite, direkt in Kais Gesicht. „Wo kommst du auf einmal her? Und wohin gehen wir? Ich bin müde“, klagte Kenny und gähnte abermals. „Wir haben einen Termin bei Judy, und nachdem deine Verhandlungen unerhört lange gedauert haben sind wir spät dran, also sei still und beeil dich.“ Gnadenlos zog Kai ihn mit, und schicksalsergeben folgte Kenny. Gegen seinen ehemaligen Teamchef hatte er ohnehin keine Chance. Sie verließen das Gebäude und stiegen in ein Taxi, das bereits auf sie wartete. Während der Fahrt herrschte Schweigen, doch Kenny bemerkte, dass Kai an diesem Tag anscheinend als Chef der Hiwatari Enterprises unterwegs war – die markante Gesichtsbemalung fehlte, und anstelle der provokanten Kleidung mit viel Leder, Ketten und Netz, die er sonst in den Beyblade-Arenen der Welt zur Schau trug, hatte er sich mit einer schwarzen Stoffhose und einem ebenso schwarzen Seidenhemd angemessen in Schale geworfen. Eine bestickte, dunkle Weste und eine dazu passende Krawatte komplettierten das Ensemble. Wieder fühlte sich Kenny mit seinem schlichten, weißen Hemd und der grauen Krawatte vollkommen fehl am Platz. Der Wagen hielt vor den Stufen des Hauptkomplexes der BBA. Das Gebäude war futuristisch, eindrucksvoll und strahlte auf eine fürsorgliche Art Macht aus. Die gläserne Eingangsfront lag erhöht und war über einen Treppenaufgang aus weißem Marmor zu erreichen; die Mauern selbst waren aus viel Stahl, Glas und weißem Beton gestaltet und ähnelten in ihrer Form einem Raumschiff, das eben gelandet war. Mit schnellen Schritten stiegen sie die Stufen empor, und Kenny hatte alle Mühe, mit Kai Schritt zu halten. „Kai… Wenn wir ohnehin schon spät sind… können wir… ein bisschen langsamer machen?“, keuchte Kenny, als er durch die Glastüren schritt, und ungnädig warf Kai ihm einen Blick über die Schulter zu, wurde jedoch langsamer. Mit einem dankbaren Nicken steuerte Kenny auf den Empfang zu, wurde jedoch gleich in Richtung des Aufzuges gezogen. „Wir werden schon erwartet; wir müssen uns nicht mehr anmelden. Und versuch wenigstens, nicht ganz so kläglich auszusehen“, kommentierte Kai abschätzend, als er einen Blick auf Kenny warf, der atemlos und verschwitzt hinter ihm her trottete. „Immerhin geht es darum, Judy zu überzeugen, dass wir unlimitierten und nicht überwachten Zugriff auf alle Systeme und Daten erhalten.“ „Ich dachte, dafür genüg ein Anruf“, konterte Kenny verärgert. Es war nicht seine Schuld, dass er nach anstrengenden, stundenlangen Verhandlungen im Anschluss an eine fast schlaflose Nacht vollkommen unvorbereitet hierher geschleift worden war! Kai jedoch überging seine Bemerkung vollkommen, und abermals schweigend lauschten sie der Musik, die im Fahrstuhl gespielt wurde – einige der neuen Promo-Songs der aktuellen US-amerikanischen Beyblade-Teams, wie Kenny erkannte. Schließlich hatten sie das Penthouse erreicht, in dem das Präsidenten-Büro lag, und traten aus dem Aufzug in das Vorzimmer von Judys Büro. Der Raum war stilvoll eingerichtet, mit schweren Holzmöbeln, lederbezogenen Sesseln und teuren Gemälden an der Wand. Die Sekretärin – eine Frau mittleren Alters mit dunklen Haaren und einem freundlichen Gesicht – begrüßte sie mit einem Nicken. „Die Präsidentin erwartet sie bereits.“ Mit einer einladenden Geste wies sie auf eine dunkle Holztür, in die in Goldlettern der Schriftzug Präsidentin J. Tate eingelassen war. Kai nickte knapp, klopfte kurz an die Tür und trat dann ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Kurz überlegte Kenny, sich für diese Unhöflichkeit zu entschuldigen, entschied sich dann jedoch dagegen; wenn Kai einen schlechten Eindruck hinterlassen wollte, dann sollte er das auch tun. Das Zimmer war riesig, mit einem Panoramafenster gegenüber der Bürotür, das einen fantastischen Ausblick auf die Skyline der Stadt bot. Vor dem Fenster stand ein massiver Schreibtisch mit wertvollen Schnitzereien, auf dem einige Bildschirme und Aktenablagen standen. Eine Wand des Büros wurde von einer Regalfront eingenommen, die gefüllt war mit Pokalen und Preisen, die von Schützlingen der BBA gewonnen worden waren, sowie den bedeutendsten Veröffentlichungen der letzten Jahre, die in den hauseigenen Laboren entstanden waren. Auf der anderen Seite des Raumes befand sich eine geschmackvoll eingerichtete Sitzecke mit einer kleinen Bar, die die verschiedensten Getränke bot, die ein wichtiger Gast begehren konnte, während hier wichtige Vertragsabschlüsse getätigt wurden. Daneben standen ein dunkles Ledersofa mit dazu passenden Sesseln, sowie ein ovaler Tisch aus Rosenholz, dessen Oberfläche rötlich schimmerte. Judy lehnte an der Bar und lächelte sie berechnend an. Ihre Augen blitzten, als sie Kai betrachtete. „Kai Hiwatari, was für eine freudige Überraschung, dass du es doch noch zu deinem Termin geschafft hast“, scherzte sie, als sie zu ihnen trat. Ihre Kleidung war eher schlicht – wahrscheinlich hatte sie an diesem Tag keine weiteren wichtigen Termine –, zu einem kurzen, schwarzen Rock trug sie eine tief ausgeschnittene, weinrote Seidenbluse, die ihre weibliche Figur zur Geltung brachte. Judy Tate war eine schöne Frau, und sie zierte sich nicht, das auch zu zeigen (weshalb manch böse Zungen auch behaupteten, dass sie so manches Geschäft eher im Schlafzimmer als im Büro verhandelt hatte). Mit einem charmanten Grinsen hielt Kai ihr die Hand hin. „Es tut mir Leid, Judy, doch wir wurden aufgehalten – die Verhandlungen mit BeyWheelz haben unerwartet länger gedauert, und ich wollte das Wunderkind nur ungern verfrüht aus dem Geschäft seines Lebens reißen“, erklärte er entschuldigend, während Judy seine Hand kurz drückte. Sie nickte lächelnd, dann wandte sie sich an Kenny und schüttelte ihm ebenfalls kurz die Hand. „Das habe ich mir schon fast gedacht – doch wie ich hörte, sind deine Verhandlungen gut gelaufen, Kenny. Meinen Glückwunsch.“ „Danke, Judy“, beeilte sich Kenny zu sagen, und Judy lachte amüsiert. „Bitte, Kenny, nicht so schüchtern – immerhin sind wir jetzt ja Kollegen. Aber kommt, setzt euch – Kai hat bereits angedeutet, dass ihr ein dringliches Anliegen habt. Also, wie kann ich den ehemaligen Teamkollegen meines Sohnes helfen?“ Geschmeidig ließ sie sich auf einem der Ledersessel nieder, und Kai setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa; schnell nahm Kenny neben ihm Platz. „Die Sache ist folgende, Judy“, begann Kai, und Kenny fiel auf, dass er Judys Namen immer auf eine merkwürdige Art und Weise betonte, „Ich brauche Kennys Fähigkeiten und die Ausstattung der PPB für ein Projekt, an dem ich aktuell arbeite – allerdings bräuchte ich dafür die höchste Sicherheitsfreigabe, und ich würde es begrüßen, wenn wir bei unserer Arbeit nicht überwacht würden.“ Erschrocken sog Kenny die Luft ein, als Kai so mit der Wahrheit herausrückte – war er es nicht gewesen, der ihn vor wenigen Momenten noch bemängelt hatte, weil es darum ging, einen guten Eindruck für die Verhandlungen zu machen? Auch Judy hob überrascht eine Augenbraue, und ihr Blick wurde kühler. „Und warum sollte ich dir diesen Zugriff gewähren, Kai? Es geht hier um vertrauliche Dateien und Firmengeheimnisse. Ich kann dir nicht einfach so Zugang dazu verschaffen, vor allem, da du aktuell nicht einmal eine generelle Zugangsberechtigung hast. Und für dich ein Nutzerkonto anzulegen würde viel zu viele Fragen aufwerfen. Ich hoffe, das ist dir klar.“ Abschätzend blickte sie Kai an, der in Kennys Richtung nickte. „Deshalb habe ich Kenny dabei. Soweit ich weiß hat er bereits eine recht hohe Sicherheitsfreigabe – und angesichts seines aktuellen Projektes und dieses merkwürdigen Signals, das er aufgespürt hat, wäre es doch durchaus denkbar, dass er diese Freigabe kurzzeitig bekommt; etwa, um das Signal zu entfernen, weil Emily zu viel zu tun hat, um sich darum zu kümmern.“ Verschmitzt grinste Kai Judy an, und Kenny schüttelte ungläubig den Kopf. Worum Kai da dreist bat war schlicht und einfach Betrug! Schweigen füllte den Raum für eine Weile, dann seufzte Judy schwer, und Kenny wandte sich ihr zu. „Nun, ich schätze, ich schulde dir noch den ein oder anderen Gefallen, Kai; und da du ohne Kenny an den Systemen nicht arbeiten kannst, kann ich mir auch sicher sein, dass du keine Sabotage planst. Aber diese Hinwendung wiegt wesentlich schwerer als das, was ich dir schulde – ich hoffe, das ist dir klar.“ Mit funkelnden Augen blickte sie Kai an, der sich verschwörerisch nach vorne lehnte. „Ich glaube, ich habe noch einiges, dass ich Ihnen anbieten kann, Präsidentin Tate“, raunte er, und Kenny lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass er gerade etwas sehr offensichtliches übersah – irgendetwas lag in der Luft, doch er wusste nicht so Recht, was es war. Nachdenklich musterte Judy ihre Gegenüber, dann nickte sie langsam, und ein leichtes Grinsen lag um ihre Mundwinkel. „In Ordnung. Ich werde Kennys Sicherheitsfreigabe in den nächsten zwei Tagen erhöhen; mir wird schon ein Grund einfallen. Damit kannst du auch schon gehen, Kenny – unter der Prämisse, dass, wie immer, alles, was hier besprochen wurde, vertraulich bleibt.“ Eindringlich blickte Judy Kenny an, und dieser nickte schnell. „Natürlich, Judy. Und danke sehr.“ Er wusste zwar nicht so recht, wofür er sich eben bedankt hatte (oder warum genau er mit in das Büro hatte kommen sollen), doch Kenny war froh, das Zimmer wieder verlassen zu können; Kai murmelte etwas davon, dass er noch die genauen Verhandlungsbedingungen mit Judy klären musste und bliebt zurück, doch Kenny war es gleich. Er wollte nur eines: Schlafen. - 29. April, New York – Ungeduldig blickte Kai auf den Bildschirm vor sich, während Kenny neben ihm in Windeseile auf Dizzis Tastatur einhämmerte. Während Kenny den gesamten Vormittag damit verbracht hatte, die Cyber-Bitchips zu untersuchen, hatte Kai sich mit dem von Emily isolierten Störsignal befasst und mit einigen seiner Angestellten Rücksprache gehalten. Sehr zu seinem Missfallen schien es der Wahrheit zu entsprechen, dass dieses Signal nur durch Zufall entstanden war (was er Kenny jedoch nicht sofort erzählen würde); dennoch hatte er eine Kopie der Hüllkurvenanalyse an sein eigenes Netzwerk geschickt. Die Analyse der Bitchips jedoch nahm mehr Zeit in Anspruch, als ihm lieb war, und er empfand es als sehr unangenehm, mehr Zeit als nötig in den Räumen der PPB verbringen zu müssen. Schließlich hörte Kenny auf zu tippen und streckte sich mit einem erleichterten Seufzen. „So, das war’s.“ Überrascht hob Kai eine Augenbraue. „Die Analyse ist fertig?“ Damit hatte er nicht gerechnet. Kenny schüttelte jedoch den Kopf. „Nein… Ich habe die CM-Systeme für die Analyse fertig programmiert; die Analyse selbst fängt eben erst an.“ Entschuldigend zuckte Kenny mit den Schultern. „Die Bitchips waren ziemlich hinüber, deswegen bin ich ehrlicherweise froh, dass ich überhaupt Parameter gefunden habe, die noch für eine Analyse geeignet waren.“ Langsam nickte Kai. „Wann können wir mit den Ergebnissen rechnen?“ „Nicht vor morgen früh, aber wenn du möchtest, kann ich dich bis dahin warm halten“, gurrte Dizzi, und Kenny wurde rot. Kai schnaubte belustigt. „Tut mir Leid, Dizzi, aber ich habe andere Pläne.“ Mit einer fließenden Bewegung stand er von seinem Platz am PC auf und wandte sich zur Tür. „Gebt mir Bescheid, wenn die Analyse abgeschlossen ist; bis dahin habe ich zu arbeiten. Ach, und übrigens“, fügte er mit einem Blick auf Kenny hinzu, „du dürftest inzwischen eine Mail bekommen haben, dass du die nächsten drei Wochen bezahlten Urlaub bekommst. Ich brauche dich noch eine Weile.“ Mit einem Grinsen verließ er das Labor, aus dem ihm ein verblüffter Kenny hinterher blickte. Kaum hatte Kai den Komplex der PPB verlassen, rief er ein Taxi und wies den Fahrer an, zu seinem Hotel zu fahren. Dann zückte er sein Handy. Ahnt er was?, erwartete ihn bereits eine Nachricht. Schnell tippte er seine Antwort ein. Nein. Wie sollte er? Ich habe ihm nur das gesagt, was er zu wissen braucht. Gerade wollte er das Gerät wegpacken, als auch schon die Antwort erschien (es war beachtlich, wie schnell manche Menschen tippen konnten): Und dazu gehört offensichtlich nicht, dass du Tysons Verschwinden vertuscht hast. Was für ein guter Freund du doch bist. Verärgert zog Kai die Brauen zusammen. Wenn die Behörden auf den Fall aufmerksam geworden wären, hätten wir Jahre verloren, also halt die Klappe. Diesmal wartete er, bis die Antwort kam, und wieder dauerte es nur wenige Momente, bis der Text zu lesen war. Ich mein ja nur. Nachdem du den Brief an die Eltern und den Urlaubsantrag gefälscht hast hättest du wenigstens noch das Haus aufräumen können, anstatt das dem armen Kleinen zu überlassen. Verärgert packte Kai sein Handy weg. Er würde nicht mehr antworten. Auf eine so sinnlose Diskussion würde er sich nicht einlassen – zumal sein Gesprächspartner ihn ohnehin nur ärgern wollte. Kapitel 8: Die Promis kommen! ----------------------------- - 30. April, New York – Nachdenklich betrachtete Kai das Labor. Die kahlen Wände und das minimalistische Design der Möbel ließen den Raum steril wirken, und hinter einer Plexiglaswand türmten sich Serverbänke als bedrohliche Wand aus Kabeln und Anschlüssen. Einige der Tische waren mit PCs ausgestattet, andere mit Mikroskopen, Zentrifugen, einem Massenspektrometer, chemischen Indikatoren und anderen Geräten, die zur Analyse von Proben und Daten beitragen konnten. Die Raumtemperatur war relativ niedrig, um die vorhandene Technik zu schonen, und es roch immer penetrant nach Desinfektionsmittel, da die Putzkolonne ihre Arbeit sehr ernst nahm. Alles in allem musste Kai zugeben, dass es kein schöner Ort war; er war hier, weil er hier sein musste, und hatte sonst kein Bedürfnis, noch mehr Zeit an diesem Ort zu verbringen. Kenny jedoch schien das anders zu sehen. Amüsiert hob Kai eine Augenbraue, als er den jungen Mann am Boden betrachtete, der sich zusammengerollt an einen PC kuschelte, dessen Wärmeabstrahlung ihn magisch anzuziehen schien. „Ich dachte schon, du hättest uns vergessen“, murmelte Dizzi auf einmal pikiert (und klang dabei etwas müde), und mit einem leichten Grinsen blickte Kai auf den Laptop, der auf dem Tisch stand. „Dich zu vergessen ist unmöglich, glaub mir, Dizzi. Außerdem hatte ich Arbeiten zu erledigen – genau wie ihr.“ Vorsichtig setzte er sich auf den Stuhl, bemüht, Kenny nicht zu wecken; ihm war bewusst, dass er ihm viel abverlangte, und solange Dizzi ihn über die Analyseergebnisse informierte konnte Kenny weiterschlafen. „Hättest du deine Arbeiten nicht auch hier im Labor erledigen können? Dann hätte ich wenigstens noch etwas zum Hingucken gehabt“, säuselte das Bitbeast ungeniert, und Kai schüttelte unbeeindruckt den Kopf, während er sich die Daten betrachtete, die auf dem Bildschirm des PCs zu sehen waren, der Kenny als Wärmequelle diente. „Sind das die Ergebnisse der Analyse?“ „Das verrate ich dir nur, wenn du lieb Bitte sagst“, kicherte sie, und Kai bedachte sie mit einem stechenden Blick. „Ich kann auch einfach Kenny wecken.“ „Der könnte dir aber nicht so viel sagen wie ich – denn immerhin habe ich die meisten der Analysen durchgeführt, nachdem Chef einfach eingeschlafen ist und mich mit der Arbeit alleine gelassen hat!“ Theatralisch seufzte sie auf, und Kai starrte den Laptop für eine Weile böse an, bis er schicksalsergeben schnaubte. „Fein. Dann eben so.“ Er holte tief Luft. „Bitte, Dizzi? Sind das die Ergebnisse der Analyse?“ Während Dizzi triumphierend auflachte machte sich Kai eine innere Notiz, dass er Dizzi einen kleinen Virus zum Abschied schicken würde, sobald diese Sache aus der Welt geschafft war. „Ich wusste doch, dass du ein guter Junge sein kannst, Kai“, flötete sie, und einige Tabellen erschienen auf ihrem Monitor. „Das hier sind die Ergebnisse deiner Bitchips. Sie sind eindeutig nicht von der PPB oder anderen Laboren der BBA gebaut worden – das Grunddesign ist zwar ähnlich, aber der Aufbau der Cyber-Bitbeast-Datenfragmente, die noch erhalten sind, und die Art, wie sie in den Träger gespeist sind, unterscheiden sich vollkommen von der Technik, die hier im Haus verwendet wird.“ Stolz schwang in ihrer Stimme mit, und bevor Kai etwas anmerken konnte, fuhr sie schon fort: „Nachdem Kenny außerdem eingeschlafen war und sich einfach nicht wecken ließ habe ich vor lauter Langeweile zudem noch Überstunden gemacht – ich habe alle Daten, die die PPB über Cyber-Bitbeasts, die Labore, in denen sie hergestellt werden, und die verschiedenen bekannten Techniken dazu besitzt gesammelt und mit den Bitchips abgeglichen.“ Erwartungsvoll blickte Kai Dizzi an. „Und?“ „Und… nichts. Kein Treffer. Wer auch immer diese Chips gebaut hat verwendet eine Technik, die zu keinem Verfahren passt, das die BBA je dokumentiert hat.“ „Diese Datenbanken sind allerdings sehr unvollständig“, gähnte da auf einmal Kenny, der sich müde über die Augen rieb und Kai von unten herauf anblinzelte. „Deswegen kann es auch durchaus sein, dass die Chips zu jemandem gehören, der in den Datenbanken zwar aufgelistet ist, aber dessen Technologie nicht vollständig eingegeben wurde.“ Mit einem leisen knacken strecke sich Kenny, dann stand er auf und rieb sich den Nacken, während er Kai von der Seite her ansah. „Seit wann bist du hier?“ „Eine Weile. Dizzi hat mir das Meiste schon erzählt“, bemerkte Kai mit einem Seitenblick auf Kenny, dann wandte er sich wieder Dizzi zu. „Aber das bedeutet, dass du trotz allem nicht weißt, woher die Chips kommen – und dass wir niemanden ausschließen können.“ „Wir können immerhin sagen, dass die BBA nichts damit zu tun hat, und das ist doch schon einmal ein Anfang. Mit Sicherheit hätte ich aber mehr herausgefunden, wenn mich jemand bei meinen Recherchen unterstützt hätte“, meinte Dizzi angespannt und sicherte die Analyseergebnisse auf ihrer Festplatte. Kenny seufzte. „Es tut mir Leid, Dizzi, dass ich eingeschlafen bin. Es war nicht böse gemeint.“ Entschuldigend strich er über das Gehäuse des Laptops (was Kai mit einer hochgezogenen Augenbraue kommentierte), dann zog er sich einen freien Stuhl heran. „Ach, Chef, ich konnte dir noch nie böse sein. Deine zarten Finger auf meiner Aluminiumschale lassen einfach jeden meiner Schaltkreise dahinschmelzen“, kokettierte Dizzi und seufzte wohlig. Kai stand auf. „Ich schätze, dass das der Moment ist, in dem ich wieder verschwinde. Denn das will ich jetzt nicht sehen“, murmelte er. Stöhnend stand auch Kenny wieder auf, während Dizzi empört schnaubte. „Eine Frau hat eben auch ihre Bedürfnisse!“ Mit einem müden Lächeln loggte sich Kenny aus dem PPB-System aus und sammelte die verschiedenen Bitchips wieder ein, die er im Verlauf des Abends in den diversen Untersuchungsgeräten verteilt hatte. Dann reichte er sie Kai. „Hier. Tut mir Leid, dass nicht mehr herausgekommen ist.“ Kai zuckte mit den Schultern und wandte sich in Richtung Tür. „Du hast schon mehr herausgefunden als alle anderen, die ich bisher darauf angesetzt hatte, also kümmert es mich nicht. Und jetzt komm – vor uns liegt noch einiges an Arbeit.“ Ohne sich noch einmal umzudrehen verließ Kai das Labor, und Kenny folgte ergeben. Es bereitete ihm keine Freude, mit Kai zusammenzuarbeiten (er hatte immer das Gefühl, dass Kai ihn mehr als Werkzeug denn als alten Freund sah), doch im Moment war Kai der einzige Weg, der ihn näher an Tyson heran brachte. Und er würde Tyson nicht im Stich lassen. Schweigend gingen die beiden die Flure entlang, Kenny mit Dizzi unter dem Arm. Gelegentlich trafen sie auf Angestellte der PPB, die sie freundlich grüßten oder wahlweise ignorierten; die meisten von ihnen kannte Kenny jedoch nicht. „Sieh einmal an – wenn das nicht der Herr Weltmeister ist“, tönte da auf einmal eine spöttische Stimme aus einem Seitengang, an dem sie vorbei gekommen waren, und überrascht blieb Kenny stehen. Kai stoppte ebenfalls, als der Mann, zu dem die Stimme gehörte, aus dem Gang heraus zu ihnen trat und sie herausfordernd angrinste. „Ich hätte nicht gedacht, dass du dich trauen würdest, dich persönlich hier blicken zu lassen – immerhin ist das hier mein Revier, und in das traust du dich ja nicht mal in der Arena.“ Überheblich fuhr sich der Neuankömmling durch die roten Haare, und das Emblem der Allstarz glänzte an seiner Gürtelschnalle. Kai hob kühl eine Augenbraue. „Parker.“ „Der einzig Wahre!“ Theatralisch warf sich Michael in Pose, und Kai rollte mit den Augen. „Ich habe keine Zeit für dich und diesen lächerlichen Kleinkram.“ „Ha, von wegen keine Zeit! Du bist einfach nur zu feige, dich mir in den Teamkämpfen zu stellen – jeder weiß, dass das die wahre Königsdisziplin des Beybladens ist! Aber andererseits waren Teams ja noch nie deine Stärke“, feixte Michal, und Kais Augen wurden schmal. Unsicher blickte Kenny zwischen den beiden hin und her. Seit den letzten Weltmeisterschaften war die Stimmung zwischen Michael und Kai angespannt. Kai war bereits zum dritten Mal in Folge Weltmeister im Einzel geworden, während sich Rick und Michael bei den vergangenen Meisterschaften gegen die Titelverteidiger im Teamkampf, Oliver und Johnny, hatten durchsetzen können. Mit dem Titel war Michaels Ego noch größer geworden als sonst, und er hatte Kai postwendend zu einem öffentlichen Kampf herausgefordert – den dieser ausgeschlagen hatte. Seither vertrat Michael die Meinung, dass Kai Angst vor ihm hatte und zu feige war, sich ihm in der Arena zu stellen – und die zufälligen Treffen der beiden, die sich von Zeit zu Zeit ergaben, endeten meistens mit kuriosen (und unschönen) Schlagzeilen in der Klatschpresse. Gerade setzte Kai an, etwas zu erwidern, als Rick aus dem Gang trat, aus dem Michael gekommen war, und Kai und Kenny zunickte, bevor er sich an seinen Teamkollegen wandte. „Wenn du langsam fertig mit dem Aufplustern bist, Parker, dann hätte ich nichts dagegen, wenn du mir beim Tragen helfen würdest.“ Empört blickte Michael Rick an, während Kai dezent grinste (denn offensichtlich erheiterte es ihn, dass Rick Michaels Auftritt platzen ließ). „Ich bin hier gerade mitten in einem wichtigen Gespräch!“ „Menschen zu belästigen ist nicht das gleiche wie ein Gespräch zu führen, Parker, und jetzt komm – die anderen warten schon!“ Und, als Michael etwas entgegnen wollte, setzte er hinzu: „Alternativ trage ich eben die Getränke und Snacks alleine – aber denk nicht, dass du dann auch nur einen einzigen Twinkie bekommst.“ Mit steinerner Miene blickte Rick seinen Teamkollegen an; Entsetzen machte sich auf Michaels Gesicht breit (und Kai genoss die Szene offensichtlich). Schließlich, nachdem Rick das Wettstarren gewonnen hatte, steckte Michael die Hände in die Hosentaschen und stapfte mürrisch an seinem Teamkollegen vorbei. „Du bist grausam“, murrte er, dann verschwand er durch eine Tür. Rick schüttelte den Kopf und wandte sich an Kenny und Kai, die er erst abschätzig musterte, und ihnen dann bedeutete, ihm zu folgen. „Ihr beiden könnt mir auch gleich helfen, wo ihr gerade hier seid; wir haben so eine Art Klassentreffen mit Eddy und Steve…und Max, wenn er sich denn diesmal ausnahmsweise blicken lässt“, schnaubte Rick. Bei der Erwähnung von Max‘ Namen zuckte Kenny leicht zusammen, als Schuldgefühle ihm kurzzeitig die Kehle zuschnürten. „Und wo ihr beiden schon mal hier seid… ihr wart zwar nicht im Team, aber hey, ich glaube, so schnell werden wir uns nicht wieder sehen, also kommt einfach mit.“ Kapitel 9: Das Ende einer Freundschaft? --------------------------------------- - 30. April, New York – Fasziniert blickte sich Kenny in dem geräumigen Zimmer um. Zwar hatte Kai nicht allzu begeistert gewirkt, doch Kenny hatte ihn überzeugen können, sich Rick anzuschließen und die ehemaligen Allstarz zu treffen. Ihm war bewusst, dass Kai es wahrscheinlich als Zeitverschwendung ansah, und ohnehin war seine Beziehung zu den meisten anderen Bladern im besten Fall als unterkühlt zu klassifizieren, doch Kenny erhoffte sich, dass vielleicht einer der anderen etwas von Tyson wusste. Nur weil Kai behauptet hatte, dass Blader verschwanden und es Zusammenhänge gab und er nun offensichtlich mehr oder minder im Alleingang versuchte das Problem aus der Welt zu schaffen hieß das nicht, dass nicht einer der Allstarz noch mit Tyson Kontakt gehalten haben konnte und ihnen weiterhelfen könnte (oder zumindest etwas von einem der anderen verschwundenen Blader gehört hatte). Und nun saß er hier, auf einem breiten Sofa mit rotem Nikki-Bezug mit USA-Print, eine Flasche Cola in der Hand, und bewunderte den Gemeinschaftsraum der Allstarz, der von einer gewaltigen Sitzgruppe um einen Flachbildfernseher herum dominiert wurde, die willkürlich zusammengestellt war; offensichtlich hatten einzelne Teammitglieder im Verlauf der Zeit immer wieder neue Sitzmöbel hinzugefügt: Neben der großen Couch, auf der er saß, stand noch ein weiteres Kanapee, dessen Bezug vollkommen ausgeblichen und zerschlissen war, und auf dem es sich Steve bequem gemacht hatte. Quer dazu standen zwei lederne Ohrensessel, die von Rick und Eddy in Beschlag genommen worden waren, und an die sich wiederum ein Diwan mit glänzendem Brokatbezug anschloss, auf dem Emily lag und ein paar Akten durchsah. Kenny gegenüber wurde der Halbkreis, den die Sitzgelegenheiten um den Fernseher bildeten, von einem schweren Sessel mit Allstarz-Print abgeschlossen, der sehr an einen Thron erinnerte, und auf dem sich Michael niedergelassen hatte, der sich alle Mühe gab, den neben der Tür an der Wand lehnenden Kai mit seinen Blicken zu erdolchen. Abgesehen von der Sitzgruppe gab es in dem Raum ein Regal, auf dem die Allstarz einige Trophäen und Pokale drapiert hatten, die sie in den diversen Sportarten gewonnen hatten, die sie ausübten, und einen Kühlschrank mit Getränken und Snacks; an den Wänden hingen außerdem zahllose Fotos, die sie beim Beybladen zeigten, oder während verschiedener Trainingsausflüge. Kenny musste zugeben, dass ihm die Allstarz imponierten. Damals, als er mit den Bladebreakers in die PPB-Labore eingebrochen war, waren die Allstarz ein Team gewesen, das vor lauter Konkurrenz fast auseinandergeplatzt war; ein Haufen Alphatiere, die es nicht lange miteinander aushalten würden, das hatte er geglaubt. Die Bladebreakers dagegen waren enge Freunde gewesen, unzertrennlich, und er hatte geglaubt, sie würden ewig zusammenhalten. Wie er sich geirrt hatte. Von den ehemaligen Bladebreakers war inzwischen nichts mehr übrig geblieben – die Allstarz dagegen waren noch immer gut befreundet und trafen sich regelmäßig, auch wenn die meisten von ihnen nicht mehr aktiv bladeten; und es versetzte ihm einen Stich. „…und das war der Moment, in dem ich ihm dann gesagt habe: Fahren Sie mich irgendwo hin, ich werde überall gebraucht“, riss ihn auf einmal eine amüsierte Stimme aus seinen Gedanken, und Kenny zuckte leicht zusammen, während Steve über seinen eigenen Witz lachte und die anderen milde lächelten. Gerade wollte er ansetzen, noch etwas zu sagen, als Emily ihn streng anblickte. „Steve, versteh mich nicht falsch, aber… das waren genug Psychiaterwitze für heute. Wirklich“, meinte sie kühl, und theatralisch warf Eddy die Hände in die Luft. „Endlich spricht es jemand aus! Ich dachte schon, wir würden nie erlöst.“ Mit einem Grinsen streckte er Steve die Zunge heraus, der ein Kissen nach ihm warf. „Vielen Dank auch“, brummte er, doch er konnte das Lächeln nicht unterdrücken, das ihm auf den Lippen lag. Unschlüssig blickte Kenny zwischen den Allstarz hin und her. Er hätte sich gerne in das Gespräch eingebracht – doch er wusste nicht wie. Er war ein Fremdkörper in einer eingespielten Gruppe, und Extrovertiertheit war noch nie seine Stärke gewesen. Dankbarerweise kam ihm jedoch Steve zur Hilfe, der sich nun, da ihm das Witzeerzählen verboten worden war, eine neue Beschäftigung suchte und ihm zunickte. „Da fällt mir ein, Kenny – ich muss dir noch gratulieren. Ich habe von diesem riesigen Geschäft gehört, dass du abgewickelt hast. Sehr beeindruckend, wirklich – du läufst Emily noch den Rang als Wunderkind ab, wenn du so weitermachst“, scherzte er, und Emily warf ihm einen skeptischen Blick zu; doch das Lob war ehrlich, und Kenny wurde rot. „Danke sehr, aber das ist zu viel der Ehre.“ Unsicher blickte er sich zwischen den Allstarz um, die ihn (mit Ausnahme von Michael, der immer noch auf Kai fixiert war), nun alle ansahen, und nervös schluckte er. „Mir ist es nur peinlich, dass ihr das alle zu wissen scheint… und ich weiß gar nicht, was ihr so macht“, nuschelte er, und Eddy zuckte mit den Schultern. „Mach dir da mal nichts draus – von einem renommierten Preis und wichtigen Beyblade-Geschäften erzählt zu bekommen und auf dem Laufenden zu bleiben ist leicht, wenn man mit Emily befreundet ist“, beruhigte er Kenny, und Emily schnaubte pikiert. „Wenn ihr mir hier gerade etwas sagen wollt, dann sprecht es laut aus oder seid still; ich habe auch Besseres zu tun, als hier meine Zeit zu verschwenden.“ „Genau, du könntest einen weiteren Preis für irgendeine deiner Arbeiten abräumen – du hast bisher so wenige davon“, meinte Rick trocken und schob sich genüsslich ein Twinkie in den Mund. „Aber anstatt dich hier so auszuschließen können wir es dir auch einfach machen“, begann Eddy schnell, bevor Emily reagieren konnte. „Wir könnten dir auch einfach erzählen, was wir aktuell so treiben.“ Aufmunternd lächelte er Kenny an, und dieser nickte dankbar. „Dann mach ich auch gleich den Anfang – ich spiele inzwischen in der ABA professionell Basketball. Ich bin der Center der Arizona Scorpions – wir sind aktuell auf Rang neun, und es läuft eigentlich ganz gut“, erzählte er mit stolz geschwellter Brust. Michael schnaubte. „Ich kann immer noch nicht fassen, dass du das Beybladen dafür aufgegeben hast. Als Mitglied der Allstarz würdest du wesentlich besser verdienen als im Basketball“, maulte er, und Rick rollte mit den Augen, während Eddy mit den Schultern zuckte. „Man kann es nicht allen recht machen“, meinte er gelassen (und Kenny hatte das Gefühl, dass sie diese Unterhaltung schon oft geführt hatten). Michael ignorierte diese Bemerkung jedoch und fuhr unbeirrt fort: „Aber wenigstens machst du überhaupt noch Sport, im Gegensatz zu Herrn Freud hier.“ Mit diesen Worten warf er einen enttäuschten Blick zu Steve, der abwehrend die Hände hob. „Nur weil du dich gegen ein Studium entschieden hast heißt das nicht, dass es alle so machen müssen“, meinte er verteidigend, und lachte kurz, als er Kennys ungläubigen Blick auf seine Muskelmasse bemerkte. „Nur weil ich mich für ein Studium entschieden habe heißt das aber auch noch lange nicht, dass ich außer Form geraten muss. Beim Hanteltraining lernt es sich einfach am besten – und alte Gewohnheiten lassen sich schwer ablegen.“ Überrascht runzelte Kenny die Stirn. „Du hast studiert? Ich meine, damit will ich nicht sagen, dass ich dir das nicht zutrauen würde, ich meine-“ „Keine Sorge“, lachte Steve, „Lange Zeit hätte ich auch nicht geglaubt, dass es mich je an eine Uni ziehen würde. Aber als ich dann mit der Schule fertig war wusste ich einfach, dass Football und Beybladen nicht für immer mein Leben bleiben konnten – also habe ich mich für ein Sportstipendium beworben und Psychologie studiert.“ Breit grinste Steve, als Kenny ihn mit großen Augen anstarrte. „Das hättest du jetzt nicht erwartet, was? Ich habe auch noch eine Ausbildung zum Psychotherapeuten gemacht – wenn du also jemanden kennst, der einen Therapeuten braucht, schick ihn zu mir!“ „Solltest du dafür nicht erst einmal deine Praxis eröffnen?“, warf Emily amüsiert ein, und Steve seufzte schwer. „Jaja, hack nur auf den armen, mittellosen Seelenklempnern herum.“ „Immerhin tust du was mit deinem Leben – im Gegensatz zu Parker“, kommentierte Rick schroff und fischte sich ein weiteres Twinkie aus einer Schüssel, die neben ihm auf dem Boden stand. Empört schnappte Michael nach Luft. „Was soll das denn bitte heißen? Ich bin Weltmeister im Beybladen und ein Supermodel!“ „Wir sind Weltmeister im Bladen, Parker, und dein dämliches Grinsen in jede Kamera zu schieben, die sich dir auf zehn Meter nähert, ist keine Arbeit.“ Mit einem zufriedenen Brummen schob er sich das Twinkie in den Mund, und Michael setzte zum Protest an, als sich die Tür des Raumes öffnete und Max herein trat. Für einen kurzen Moment wurde es still, und überrascht blickten alle den Neuankömmling an (es war offensichtlich, dass keiner der Allstarz damit gerechnet hatte, dass Max erscheinen würde), der sich mit glasigen Augen kurz im Raum umsah – bis er Kai neben sich bemerkte. In diesem Moment überschlugen sich die Ereignisse: Ohne Vorwarnung stürzte sich Max mit einem animalischen Schrei auf Kai, der zu perplex war, um ihm auszuweichen, und stürzte mit ihm zu Boden. Mit aller Kraft prügelte er auf seinen ehemaligen Teamkapitän ein, der in seiner unglücklichen Position gerade in der Lage war, die Hiebe notdürftig abzuwehren. „Arschloch!“, war eines der wenigen Worte, die man zwischen Max‘ unverständlichen Schreien und dem ständigen Ruf „Stirb!“ verstehen konnte. Nach einem kurzen Schockmoment sprangen Rick, Eddy und Steve auf und eilten zu den beiden. Mit sichtbarer Mühe zerrten Steve und Rick Max von Kai herunter und hielten ihn fest, während Eddy Kai aufhalf. Entsetzt blickten alle auf Max, der noch einen Moment versuchte, sich aus dem Griff seiner ehemaligen Teamkollegen zu befreien, und dann auf einmal schluchzend in sich zusammensank. Betreten sahen sich Steve und Rick an, und Kai starrte mit leerem Gesicht auf die elende Gestalt vor sich. „Ich denke, ihr solltet besser gehen“, meinte Eddy mit belegter Stimme, die Augen auf Max gerichtet. Kai nickte knapp, dann verließ er wortlos den Raum. Eilig sprang Kenny auf, und entschuldigend hob er die Hand zum Abschied; seine Kehle war wie zugeschnürt, als er seinen ehemaligen Freund so sah. Dann folgte er Kai aus dem Zimmer und musste sich beeilen, um ihn auf dem Gang in Richtung Ausgang einzuholen. Schweigend gingen sie nebeneinander her, bis sie schließlich das Gebäude verlassen hatten und in einem Taxi zurück zu Kennys Hotel fuhren. Dort angekommen war es Kai, der das Wort ergriff. „Wir müssen uns einen neuen Plan überlegen“, meinte er kühl, und Kenny blickte ihn überrascht an. „Wie bitte?“ „Die Bitchips kamen nicht von der PPB; das bedeutet, wir müssen an anderer Stelle weiter suchen. An einem anderen Ort, an dem mit Cyberbeasts experimentiert wurde.“ Mit unbewegter Miene holte Kai sein Smartphone aus der Tasche, warf einen kurzen Blick darauf und steckte es wieder ein. „Von Zagart gab es schon seit Jahren nichts mehr zu hören, aber in Russland gibt es Gerüchte um ein paar der alten Biovolt-Standorte. Morgen früh geht der Flug nach Moskau – du solltest dich also beeilen, deine Sachen zu packen, wenn du noch etwas schlafen willst.“ Perplex starrte Kenny ihn an. „Du… was… wie bitte?“ Genervt rollte Kai mit den Augen. „Flug. Moskau. Morgen. Verstanden? Die Details schicke ich dir per Mail“, fügte er noch hinzu und wandte sich ab, um zu gehen, doch mit einer bisher ungekannten Selbstsicherheit wurde er von Kenny zurückgehalten. „Warte gefälligst! Denkst du, ich lass dich einfach so mir nichts, dir nichts, verschwinden?“, aufgebracht gestikulierte Kenny mit den Armen. „Erst einmal erklärst du mir, was hier los ist! Ich versuche wochenlang, dich zu erreichen, und nie meldest du dich. Dann bin ich beruflich in den USA, und plötzlich tauchst du auf, erzählst mir irgendwelche seltsamen Dinge von verschwundenen Beybladern und Cyberbitbeasts und bestimmst über alles, was ich tun und lassen soll und kommandierst mich herum wie ein Haustier! Dann dieses mysteriöse Treffen mit Judy, und jetzt greift Max dich ohne Grund an – was wird hier eigentlich gespielt!?“ Schwer atmend stand Kenny vor Kai, und zum ersten Mal in seinem Leben hielt er Kais eisernem Blick stand. Eine Weile lang verharrten sie so, bis Kai schließlich schnaubte. „Also war es das? Denn ich habe besseres zu tun, als mich hier mit dir herumzustreiten.“ Mit diesen Worten wandte er sich um und ging zurück zum Taxi. „Morgen früh am Flughafen. Du wirst da sein.“ Und noch ehe Kenny reagieren konnte war er in das Auto gestiegen und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Ungläubig stand Kenny da und blickte dem Auto hinterher, während es sich in den Stadtverkehr einordnete. In was war er da nur hineingeraten? Kapitel 10: Bladin' in the Streets ---------------------------------- - 01. Mai, Moskau – Mit finsterer Miene stand Kenny am Sheremetyevo-Flughafen in Moskau und starrte Kais Rücken an. Am liebsten hätte er ihn an diesem Morgen einfach versetzt – denn es verletzte ihn, wie Kai ihn benutzte wie eine Schachfigur und sich keiner Bringschuld bewusst schien; doch Kai war im Moment die einzige Spur, die ihn zu Tyson führen könnte, und so war er dennoch am frühen Morgen in New York am JFK-Airport aufgetaucht und gemeinsam mit seinem ehemaligen Teamkollegen nach Moskau geflogen. Die zehn Stunden seither hatten sie schweigend verbracht, doch Kenny ließ es sich nicht nehmen, Kai deutlich zu zeigen, was er von seinem Verhalten hielt. Genug war genug. Eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben fuhr vor, und geschmeidig setzt sich Kai in Bewegung, Kenny folgte ihm; etwas unwirsch raunte Kai den Fahrer auf Russisch an, als er einstieg (wahrscheinlich, weil sie ganze fünf Minuten vor dem Flughafen hatten warten müs-sen), dann umhüllte sie wieder Schweigen. Aufmerksam blickte sich Kenny im Wageninneren um, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte. Die Sitze waren mit dunklem, weichen Leder bezogen, und die Innenwände des Autos mit cremefarbenem Stoff ausgeschlagen. Kai, mit schwarzer Lederjacke und dunkler Jeans, fügte sich auf seine ganz eigene Art perfekt in dieses Bild, und Kenny wurde plötzlich bewusst, wie viele Welten zwischen ihm und Kai lagen. Es wunderte ihn, wie sie es als Bladebreakers überhaupt so lange miteinander hatten aushalten können. Nachdem er schließlich einen Eindruck der Limousine gewonnen hatte, begann Kenny, aus dem Fenster zu blicken, und beobachtete Häuser und Straßenzüge und gelegentliche Grünanlagen, wie sie an ihnen vorbei zogen. Schilder in kyrillischer Schrift säumten die Straße, doch er konnte sie nicht lesen. Erst, als sie nach etwa vierzig Minuten Fahrt in eine breite Straße einbogen erkannte Kenny, wohin der Fahrer sie brachte: Die Rubljowo-Uspenskoje-Chaussee, die den Weg zu den Villen der Reichen und Mächtigen Moskaus darstellte. Natürlich lag auch Kais Herrenhaus an der Chaussee; alles andere wäre unter der Würde der Hiwatari-Familie gewesen. Die breite Auffahrt, die einige hundert Meter weit zu den mächtigen Mauern führte, die das Anwesen einrahmten, war von Platanen gesäumt, deren junge Triebe hellgrün in der Nachmittagssonne leuchteten. Es war ein wundervoller Tag, und ausgesprochen warm. Schließlich hatten sie das schmiedeeiserne Tor passiert, und Kenny musste staunen, als er die Villa durch die getönten Scheiben der Limousine betrachtete. Er hatte gewusst, dass Kai Geld hatte und im Luxus lebte, doch das… war einfach atemberaubend. Das Herrenhaus besaß drei Flügel aus dunklem Sandstein, die in Hufeisenform angeordnet waren; an den alten Mauern rankte sich immergrüner Efeu, und die Fenstersimse waren mit ausladenden Steinmetzarbeiten gestaltet. Blutrote Ziegel leuchteten auf dem Dach, und das Eingangsportal, das über einen dreistufigen Treppenaufstieg aus Granit erreichbar war, war mit einer schweren, dunklen Holztür verschlossen. Die Auffahrt selbst war hinter dem Tor mit weißem Kies geschottert und eingefasst von penibel beschnittenen Buchsbaumhecken, an die weite, grüne Wiesen angrenzten, in denen eindrucksvolle Zierbeete prachtvolle Blüten zur Schau trugen. Kenny hatte eine solche Anlage noch nie aus der Nähe gesehen, und die altehrwürdige Ausstrahlung der Villa sorgte dafür, dass er sich klein und unbedeutend fühlte. Das Auto hielt vor den breiten Stufen, und mit routinierter Selbstverständlichkeit stieg Kai aus und schritt zur Tür hinauf, ohne dass man ihm hätte ansehen können, dass ihn irgendetwas an dem Gebäude beeindruckt hätte – Kenny kam es fast so vor, als würde Kai das Haus gar nicht sehen (andererseits war er hier aufgewachsen – wahrscheinlich war es da normal, dass man nicht mehr jedes Mal beeindruckt das Gemäuer anstarrte). Der Fahrer holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum und trug es ihnen hinterher, und Kenny lächelte ihn dankbar an, was mit einem höflichen Kopfnicken quittiert wurde. Als er hinter Kai die Eingangshalle betrat konnte Kenny ein beeindrucktes „Wow“ nicht zurückhalten, das ihm über die Lippen glitt. Kai schnaubte herablassend und blickte ihn kühl über die Schulter an. „Pass auf, dass du keine Wurzeln schlägst; das würde den Boden ruinieren“, kommentierte er und schritt dann zügig zu einem breiten Treppenaufgang am Ende des Raumes, der in seiner Höhe zwei Stockwerke umfasste und ringsum von einer ausladenden Galerie mit filigran geschnitzten Holzbalustraden umgeben war. Der Boden war mit buntem Marmor bedeckt, der zu geometrischen Mustern angeordnet war, und ein tiefroter Teppich führte von der Tür zur Treppe. Die hohen Fenster neben dem Eingang ließen viel Licht in den Raum, und edle Orchideen, die auf eleganten Beistelltischen angeordnet waren, sowie fein gearbeitete Statuen verliehen der Halle eine ehrwürdige Ausstrahlung. Wandspiegel in reich verzierten Goldrahmen ließen den Raum größer und heller wirken, und strahlende Kristalllüster brachen das Licht in allen Farben des Regenbogens. Kenny konnte sich ausmalen, wie Abendgesellschaften in edlem Brokat und fließender Seide hier zu galanter Musik tanzten und rauschende Feste feierten, und es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass Kai in dieser Villa tatsächlich dauerhaft wohnte – Kai, der in schwarzem Leder, mit Netzteilen und Metallnieten gespickt, nach wie vor als der Bad Boy der Beyblade-Szene verschrien war und so gar nicht in dieses Bild erhabener aristokratischer Eleganz passte. Und doch fügte er sich perfekt hinein, als er auf dem Treppenabsatz stehen blieb und sich ungeduldig zu ihm umdrehte. „Hast du vergessen, wie man läuft? Wir haben heute noch einiges zu tun, und ich habe nicht vor, mir von dir meine Zeitplanung vermasseln zu lassen“, sprach Kai mit kalter Stimme, und Kenny warf ihm einen bösen Blick zu; dennoch beeilte er sich, die Treppe hinauf zu steigen und Kai zu folgen, der ihn durch die weitläufigen Flure des Hauses führte. Schließlich, als Kenny das Gefühl hatte, endgültig die Orientierung in den mit Gemälden und Kunstgegenständen ausgestatteten Gängen zu verlieren, kamen sie an einer hell gestrichenen Doppeltür an. „Hier ist dein Zimmer. Oleg wird dein Gepäck gleich bringen. Du hast eine halbe Stunde, um dich einzuquartieren, dann erwarte ich dich in der Eingangshalle.“ Mit diesen Worten wandte sich Kai wieder um, doch Kenny hielt ihn zurück. „Und wohin gehen wir dann? Wenn ich denn würdig bin, in deinen großen Plan eingeweiht zu werden“, kommentierte er bissig, „oder bin ich nur gerade gut genug, um für dich deinen Computer zu bedienen?“ Einen Moment blickte Kai ihn regungslos an, dann neigte er den Kopf leicht zur Seite. „Wir haben einen Termin im Gorki-Park. Dort findet momentan ein Straßenfest statt, auf dem es uns hoffentlich möglich sein wird, Ian und Spencer zu treffen.“ Überrascht blickte Kenny Kai an. „Ian und Spencer? Warum treffen wir uns mit ihnen?“ „Wenn es jemanden gibt, der uns dabei unterstützen kann, Nachforschungen über die Biovolt anzustellen, dann sind es die ehemaligen Schüler der Abtei; Tala und Bryan sind allerdings untergetaucht, und nicht einmal mir ist es gelungen, sie aufzuspüren. Also muss ich wohl oder übel auf die weniger qualifizierte Alternative zurückgreifen.“ Ohne auf eine weitere Antwort zu warten machte sich Kai auf den Weg den Flur hinab, und Kenny schüttelte traurig den Kopf. „Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt jemanden gibt, den du leiden kannst – und der dich leiden kann“, murmelte er, als er die Tür öffnete. Zu seinem Erstaunen stand sein Koffer bereits im Raum, doch nachdem er sich kurz in dem luftigen Zimmer mit der hellen Wandtäfelung umgesehen hatte fiel ihm ein Dienstbotendurchgang in einem der Paneele auf, den Oleg wohl genutzt haben musste. Ansonsten war der Raum eingerichtet wie ein luxuriöses Hotelzimmer: Ein Doppelbett mit dunklem Holzrahmen, eine Kommode und ein Schreibtisch aus poliertem Mahagoni, ein begehbarer Schrank und eine Sitzecke mit bequemen Ledermöbeln, inklusive Flachbildfernseher und Minibar. Neben dem begehbaren Schrank befand sich außerdem die Tür zu einem geräumigen Bad, in dem jemand bereits blütenweiße Handtücher und edle Lotionen für ihn ausgelegt hatte. Schließlich trat er an die wandhohen Fenster und genoss den eindrucksvollen Blick über die Gartenanlage, die an die Villa angeschlossen war; er hatte noch selten etwas so beeindruckendes gesehen. Nach einer Weile gelang es ihm, sich von der Szenerie loszureißen, und er nahm sich eine Flasche gekühltes Wasser aus der Minibar. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er noch zehn Minuten Zeit hatte, bis Kai ihn in der Eingangshalle erwartete, und besorgt fragte er sich, ob er den Weg zurück überhaupt finden würde. Als er sein Zimmer verließ konnte er jedoch erleichtert aufatmen, denn vor der Tür erwartete ihn bereits ein junges Dienstmädchen in adretter Uniform. „Guten Tag, Herr Saien. Ich bin hier, um Ihnen den Weg zur Eingangshalle zu zeigen“, erklärte sie in gebrochenem Japanisch, und dankbar nickte Kenny ihr zu. „Danke sehr, das ist sehr freundlich von Ihnen.“ Schweigend gingen sie den Weg zurück, den Kai ihm gezeigt hatte, und diesmal bemühte sich Kenny, sich alle Abbiegungen und Wege genau einzuprägen. Als sie in der Eingangshalle ankamen stand Kai bereits mit ungeduldigem Blick da, sparte sich jedoch eine Bemerkung. Stattdessen schickte er die Angestellt mit einer flüchtigen Handbewegung fort und deutete Kenny, ihm zu folgen, als er die Villa verließ und wieder in die Limousine einstieg. Der Weg in die Moskauer Innenstadt war ebenso schweigsam wie die Fahrt zum Anwesen der Hiwatari-Familie, und Kenny fragte sich, ob der Rest ihrer Unternehmung – wie lange sie auch dauern mochte – wohl von nun an wortlos geschehen würde. Nach vierzig Minuten waren sie schließlich am Gorki-Park angekommen, und beeindruckt sah sich Kenny in den Menschenmengen um, die sie in dem Moment umgaben, da sie das Auto verließen: Frauen, Männer und Kinder verschiedenster Altersstufen tummelten sich in den Straßen und stürmten durch den Säulengang, der den Parkeingang markierte. Bunte Banner waren zwischen den Pfeilern gespannt worden, auf denen in großen Lettern in Englisch und Russisch das Straßenfest gepriesen wurde: Bladin‘ in the Streets! Während sie durch die Säulen schritten, wandten sich einige der Passanten zu ihnen um – Kai war der Weltmeister im Einzelkampf der Senior-Klasse, und natürlich wurde er von den Menschen auf dem Fest erkannt; sein eisiger Blick in Verbindung mit seinem Ruf sorgte jedoch dafür, dass es keiner wagte, sich ihm weiter zu nähern, und die Kinder, die zu ihm laufen wollten, wurden von ihren Eltern zurückgehalten. Peinlich berührt zog Kenny den Kopf zwischen den Schultern ein und lief hinter Kai her. Es behagte ihm nicht, dass er als Kais Begleitung dessen abweisende Aura mittragen musste. Mit zielgerichtetem Schritt überquerten sie den asphaltierten Platz, der sich am Parkeingang erstreckte, und auf dem zahllose Bowls aufgestellt worden waren, in denen Kinder wie Erwachsene gleichermaßen bladeten. Schausteller in bunten Gewändern führten zudem Kunststücke mit ihren Beyblades vor, und junge Frauen in eleganten Uniformen verkauften Lose für eine große Tombola, deren Hauptpreise ein Bitchip sowie ein Meet-and-Greet-Training mit dem aktuellen Favoriten-Team der Junior-B-Klasse waren. Auf einigen Bühnen, die im gesamten Park verteilt waren, waren kleinere Shows zu sehen, Interviews mit prominenten Beybladern oder Vorführungen der neuesten Entwicklungen auf dem Beyblade-Markt. Zudem hatte man zwei provisorische Arenen mit Tribünen aufgebaut, von denen sich eine direkt hinter dem Hauptplatz am Parkeingang befand; in diesen Arenen trugen die bekanntesten und beliebtesten Blader des Landes Schaukämpfe aus, und die Menge jubelte ihnen begeistert zu. Der Eintritt für das Festival war gratis, doch alle Einnahmen, die durch Losverkäufe, Einsätze bei den Schaukämpfen oder bei den angebotenen Spielständen erzielt wurden, wurden als Spenden für die Unterstützung von Kinderheimen im Land gesammelt. Das ganze Straßenfest stand unter dem Banner der russischen BBA, und hatte nun schon bereits im vierten Jahr ein-schlagenden Erfolg. Oder zumindest war es das, was Kenny auf dem Wurfblatt lesen konnte, das er sich im Vorbeigehen von einer der Tombola-Damen mitgenommen hatte. Nachdem sie den Hauptplatz überquert hatten und bei der vorderen Arena angekommen waren blieb Kai stehen und warf einen ungeduldigen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor sechs Uhr abends, und die beiden Blader, die sie suchten, standen sich gerade in der Arena gegenüber und lieferten sich einen Schaukampf, der die Tribünen erzittern ließ. „Sie sollten schon längst fertig sein“, murmelte Kai verärgert, doch Kenny ignorierte ihn und beobachtete fasziniert das Match. Ian war gerade dabei, Spencer mit einer Reihe von Dive Bombs an den Rand der Bowl zu drängen, und es sah schlecht für Seaborg aus. In letzter Sekunde gelang es Spencer, seinen Beyblade umzulenken und der Niederlage zu entkommen, doch Ian startete bereits seine nächste Attacke, und Funken flogen, als die beiden Blades aufeinander trafen und miteinander rangen. Plötzlich öffnete sich eine Lücke in Ians Verteidigung, und ein siegessicheres Lächeln erschien auf Spencers Gesicht. „Seaborg! Wave Impact!“ „Wyborg, halt dagegen! Snake Pit!“ Das Rufen der Menge wurde zu ohrenbetäubendem Tosen, als sich die beiden Bitbeasts mit hellem Strahlen aus ihren Blades erhoben und einander angriffen. Das grelle Licht blendete Kenny, und als er wieder etwas sehen konnte, lag Seaborg regungslos in der Bowl, während Wyborg neben ihm eierte. Zufrieden grinste Ian Spencer an, während der Kommentator begeistert das Kampfergebnis in sein Mikrofon brüllte und die Menge zu noch mehr Jubel anstachelte. Ian uns Spencer holten ihre Beyblades aus der Bowl, winkten den Fans nochmals zu und verschwanden dann in einen abgesperrten Bereich hinter die Arena; Kai folgte ihnen zielsicher, und Kenny eilte ihm hinterher. Er rechnete damit, dass die Sicherheitskräfte am Bühneneingang (zumindest war das die nächste Entsprechung, die Kenny für den Durchgang zwischen den Absperrungen einfiel) sie aufhalten würden, doch scheinbar war Kais Bekanntheit genug, um ihm Zutritt in den VIP-Bereich zu gewähren. Hinter den blickdichten Absperrungen standen ein paar Plastikstühle, ein Klapptisch und einige Wasserkästen; Ian und Spencer hatten sich in das hintere Eck des provisorischen Raumes zurückgezogen und unterhielten sich leise auf Russisch, bis sie Kai bemerkten, und ihr Gespräch unterbrachen. Erstaunt ob des ungewöhnlichen Besuches hob Spencer eine Augenbraue, während Ian seinen ehemaligen Teamkollegen unverhohlen anstarrte, als wäre er ein Geist. Schließlich war der Moment der Überraschung vorbei, und nachdem Kai keine Anstalten machte, etwas zu sagen, ergriff Ian das Wort. „Hey Arschgesicht“, begrüßte er ihn förmlich und nickte ihm zu, „Was treibt dich in die Niederungen der Normalsterblichen?“ Aufmerksam betrachtete Ian Kais Gesicht, der sich jedoch unbeeindruckt zeigte. „Papov“, grüßte er knapp und wandte sich dann Spencer zu, „Petrov.“ „Es spricht…!“, flüsterte Ian mit geheucheltem Erstaunen, was Spencer dazu verleitete, die Augen zu verdrehen; dann schüttelte Ian jedoch den Kopf und wandte sich Kenny zu, den er kurz betrachtete und gleichgültig mit den Schultern zuckte. „Ich weiß zwar nicht mehr genau, wie noch mal dein Name war, aber ich weiß, dass wir uns theoretisch kennen, von daher… Hi.“ „Was wollt ihr von uns?“, brachte Spencer die Begrüßung unwirsch zu einem jähen Ende und blickte misstrauisch zwischen Kenny und Kai hin und her. „Du tauchst niemals auf wenn du nichts brauchst, Kai. Was ist es diesmal?“ Ein Schauer lief Kennys Rücken herab, als er spürte, wie sich zwischen Kai, Ian und Spencer eine bedrohliche Spannung aufbaute. Unsicher trat er einen Schritt zurück, als Kai die Schultern straffte; er kannte die ehemaligen Demolition Boys nicht gut, doch er musste Spencer und seine Muskeln nur ansehen um zu wissen, dass er sich nicht in Reichweite befinden wollte, wenn es zu einer körperlichen Auseinandersetzung mit ihm kam. Hektisch rief sich Kenny alles ins Gedächtnis, was er jemals über die Deeskalation von Situationen in Erfahrung gebracht hatte; wenn er nicht schnell etwas tat, das spürte er, dann würden sich diese drei gegenseitig zerfleischen – doch ihm wollte einfach nichts einfallen. Glücklicherweise kam ihm da der Kommentator des Wettkampfes zu Hilfe, der durch den Eingang kam und Ian und Spencer auf Russisch etwas zurief. Die beiden nickten und antworteten höflich, dann begaben sie sich in Richtung Ausgang. Kai folgte ihnen mit etwas Abstand, und verunsichert hängte sich Kenny hintenan. Kaum, dass sie den VIP-Bereich verlassen hatten, wurden sie auch schon von Fans umringt, die ihnen begeistert zujubelten – oder eher: die Ian und Spencer begeistert zujubelten, die die Menge freundlich anlächelten und geduldig Autogramme unterschrieben und Fotos mit sich machen ließen. Kai schnaubte verächtlich und wandte sich dann ab. Mit Blick auf die Uhr stellte er sich etwas abseits, um nicht in das Gewühl der Fans hinein zu geraten, und beobachtete Ian und Spencer ungeduldig. Kenny schüttelte ungläubig den Kopf. Wie konnte Kai nach dieser vollkommen gescheiterten Begrüßung erwarten, dass die beiden sich sein Anliegen überhaupt anhören würden?! „Sie kennen mich, und ich sie. Nur weil wir uns nicht leiden können heißt das nicht, dass wir nicht zusammen arbeiten können“, beantwortete Kai grimmig seine unausgesprochene Frage, und Kenny zuckte zusammen. „Denkst du nicht trotzdem, dass ein bisschen Freundlichkeit manchmal der angenehmere Weg wäre?“, fragte er vorsichtig, und Kai hob eine Augenbraue. „Wenn es keinen Effekt auf das erreichbare Ergebnis hat ist das nur unnötige Ressourcenverschwendung“, antwortete er knapp, und Kenny akzeptierte, dass das kurze Gespräch damit beendet war. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis sich die Fans zerstreut hatten (und das auch nur, weil der nächste Schaukampf bald beginnen würde), danach warfen Ian und Spencer, die noch immer etwas entfernt standen, einen kurzen Blick auf Kai und begannen eine leise, aber hitzige Diskussion. Schließlich schüttelte Spencer vehement den Kopf, und Ian seufzte schwer. Die beiden reichten einander die Hand, dann trennten sich ihre Wege: Ian kam zu Kai und Kenny gelaufen, während Spencer in der Menge verschwand. „Du solltest echt an deiner Strategie arbeiten, Mister Sonnenschein – Spencer hast du gehörig vergrault, und wenn du so weiter machst, dann entscheide ich mich vielleicht auch irgendwann dazu, auf meinen Verstand zu hören und dir nicht mehr zu helfen, wenn du mal wieder eine deiner mysteriösen Operationen durchführst“, meinte Ian resigniert und blieb vor den beiden stehen. „Also, wo brennt es diesmal?“ „Das würde ich nur ungerne hier besprechen; da du heute Abend ohnehin nichts vorhattest schlage ich daher vor, dass du uns zu meinem Anwesen begleitest.“ Die Endgültigkeit in Kais Tonfall brachte Ian dazu, milde überrascht die Stirn zu runzeln, doch es war ersichtlich, dass er sich bereits mit der Aussicht abgefunden hatte, nach Kais Pfeife zu tanzen. „Na dann mal los“, murmelte er halblaut, als sie sich zum Ausgang des Parks bewegten; währenddessen warf Ian einen kurzen Blick zu Kenny. „Ich muss allerdings gestehen, dass das vorhin kein Scherz war; ich habe deinen Namen wirklich vergessen.“ „Er heißt Kenny, aber das ist jetzt völlig nebensächlich“, schritt Kai ein, bevor Kenny überhaupt die Chance hatte, etwas zu entgegnen. „Namen sind ohnehin nur Schall und Rauch, nehme ich an, Hiwatari-Sempai?“, kommentierte Ian mit beißendem Sarkasmus, doch Kai ignorierte ihn, als sie die Limousine erreichten und einstiegen. Kaum waren sie im Inneren des Wagens angekommen, begann Kai damit, Ian über die aktuellen Geschehnisse zu informieren, der aufmerksam zuhörte und nur gelegentlich Fragen stellte. Es dauerte die gesamte Fahrt, die Details der Situation auszubreiten: Von den verschwundenen Bladern über die fehlerhaften Cyber-Bitbeasts bis hin zu den mysteriösen Störsignalen und den Gerüchten über die Biovolt. An der Villa angekommen führte Kai sie in ein Herrenzimmer, in dem sie sich auf schweren Kanapees niederließen. Nachdenklich fuhr Ian die Stickereien auf dem tiefroten Brokat mit dem Finger nach. „Ich kann verstehen, dass die PPB nach euren Recherchen als Kandidat ausscheidet – aber seid ihr euch sicher, dass nicht doch Zagart hinter den Cyber-Beasts und den verschwundenen Bladern steckt?“ Die Frage klang fast flehentlich, und Kai verzog das Gesicht. „Mach dir nicht gleich in die Hosen, Papov.“ „Oh, verzeih mir, großer Anführer, dass ich nicht begeistert bin, wenn mir jemand erzählt, dass die Organisation, die mein halbes Leben ruiniert hat, dabei ist, ihr großes Comeback zu feiern“, entgegnete Ian patzig und begann, sich nervös am Arm zu kratzen. „Dir mag es ja entgangen sein, aber du hast nur einen Bruchteil von dem Mist erlebt den sie uns angetan haben.“ „Mir kommen die Tränen.“ Kais Gesicht war wie versteinert, und Wut flammte in Ians Augen auf, bevor er Kai den Mittelfinger entgegen reckte. Dann wandte er sich an Kenny. „Im Ernst, wie hast du es je ausgehalten, mit ihm befreundet zu sein?“, fragte er ungläubig, und Kenny, der sich bisher wie das fünfte (oder eher das dritte) Rad am Wagen gefühlt hatte, zuckte zusammen. Doch wieder unterbrach Kai ihn, bevor er auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte. „Das ist jetzt vollkommen irrelevant. Ich habe dir erklärt, worum es geht, Papov. Bist du dabei oder nicht?“ Herausfordernd blickte Kai Ian an, und dieser erwiderte den Blick ungerührt. Eine Weile herrschte Schweigen, dann hob Ian ergeben die Hände. „Ich hab ja eh keine andere Wahl, also was soll’s. Ich weiß nur ehrlicherweise nicht, was du eigentlich von mir willst – abgesehen von der Tatsache, dass ich noch immer mehr oder minder aktiv blade habe ich absolut keine Ahnung, wo man ansetzen müsste, um die Biovolt aufzuspüren…“ „Dafür brauche ich dich auch nicht“, meinte Kai kühl und lehnte sich nach vorne, mit einem ungewöhnlichen Leuchten in den Augen. „Du musst mir helfen, Tala zu finden.“ Kapitel 11: Die Kunst der Attacke --------------------------------- - 2. Mai, Moskau – Konzentriert blickte Kenny auf Dizzis Bildschirm und bemühte sich, den Datenbergen, die sich ihm präsentierten, einen Sinn zu entnehmen. Kai hatte ihm noch einige Aufzeichnungen der vergangenen Störsignale zukommen lassen, die er nun zu analysieren versuchte, und er hatte es sich zum Ziel gesetzt, aus den Datenfragmenten der Cyberbitchips ein Profil zu erstellen, das ihnen helfen würde, den Ursprung dieser Technologie zu finden; doch bisher blieb er erfolglos. Er konnte auch nicht verleugnen, dass ihn seine Gedanken im Moment eher an der Arbeit hinderten – sowohl die Situation mit Max als auch das Gespräch mit Ian, das sie am Vorabend geführt hatten (oder eher: das Kai mit Ian geführt hatte, da er Kenny kein einziges Mal zu Wort hatte kommen lassen), drängten sich immer wieder in sein Bewusstsein und verlangten seine Aufmerksamkeit. Nachdem Tyson verschwunden war hatte Kenny erkannt, dass er abgesehen von Tyson und Dizzi keine wirklich Freunde hatte, und er hatte sich furchtbar gefühlt; doch nun, da er mit Kai zusammen arbeitete kam er nicht umhin, sich zu fragen, ob Kai womöglich noch einsamer war als er selbst. Die Stimmung zwischen ihm und Ian war unterkühlt – zwar besaß Kai eine Art von natürlicher Autorität, die Ian akzeptierte, doch er hatte deutlich gemacht, dass er Kai ebenso wenig leiden konnte wie die Biovolt selbst; und in Hinblick auf Kais Verhalten ihm gegenüber konnte er es ihm nicht verübeln. Es verwunderte ihn eher, dass Ian überhaupt bereit war, Kai zu unterstützen und ohne große Widerworte zugesagt hatte, den Weg zu Tala zu finden (wie auch immer er das anstellen wollte; nach Kais Aussage zu urteilen war Tala so tief untergetaucht, dass seit acht Jahren niemand mehr etwas von ihm gehört oder gesehen hatte – doch Ian schien sich seiner Sache sehr sicher). Doch warum hatte Max Kai angegriffen? Das wollte Kenny nicht in den Kopf. Max und Kai hatten keine Vorgeschichte wie Ian und Kai. Sie waren nicht gemeinsam von der Biovolt gefoltert worden, und Kenny hätte es gewundert, wenn Max in seinem aktuellen Zustand von Kai in irgendeiner Art und Weise als nützlich betrachtet worden wäre. Nein, an Kais Verhalten gegenüber Max konnte es nicht liegen; es musste einen anderen Grund geben. Und er wusste einen Weg, wie er ihn herausfinden konnte… „Erbarmst du dich noch, mich in deine Gedanken einzuweihen, oder wirst du mich heute den ganzen Tag schweigend anstarren?“, klagte da auf einmal Dizzi, und Kenny fasste einen Entschluss. „Entschuldige Dizzi, aber ich kann mich momentan einfach nicht auf diese Daten konzentrieren. Aber du könntest mir einen Gefallen tun und meinen Webmailer öffnen – ich muss eine E-Mail verschicken.“ - 3. Mai, Tulýmski Kámen – Liebevoll strich Ian über die kühle Außenhaut des Helikopters, dann ließ er seine Hand sinken und trat ein paar Schritte zurück, um sich das Fluggerät nochmals zu betrachten. Die schwarze Lackierung der Sikorsky X2 glänzte matt im Sonnenlicht, und der Hubschrauber wirkte auf ihn wie ein Raubtier, elegant und gefährlich, so, wie er auf dem frischen Grün des jungen Grases stand und die Rotorblätter sich langsam ausdrehten. Er war schon lange nicht mehr geflogen, und er musste sich eingestehen, er hatte es vermisst, mit einer wendigen Maschine über das Gelände zu gleiten, die Erde weit unter sich – und allein das machte die Tatsache, dass er mit Kai neun Stunden Flug hinter sich gebracht hatte, wieder um einiges wett. „Und wohin müssen wir jetzt? Ich hoffe für dich, dass du uns nicht einfach nur mitten in die Pampa geflogen hast, um mir eins auszuwischen, Papov“, murrte Kai, der neben ihn trat und sich missmutig umsah. Ringsum waren sie umgeben von wilder Natur: Die kleine Lichtung am Fuße des Berges Tulýmski Kámen, auf der Ian die Sikorsky X2 gelandet hatte, befand sich inmitten des Wischera-Sapowednik-Naturschutzgebietes, das am Rande der Perm-Region im Uralgebirge lag. Diese bewaldete Gegend war mit dem Auto nicht zu erreichen – und Ian hatte all seine Flugkünste gebraucht, um den Helikopter heil in das Gebiet zu fliegen und gleichzeitig dem Radar zu entkommen; der Flug von Moskau nach Kirov (wo sie zum ersten Mal getankt hatten) und auch die Strecke von Kirov nach Berezniki (wo sie zum zweiten Mal nachgetankt hatten – Hochgeschwindigkeits-Hubschrauber brauchten eine Menge Benzin, zumal auf einer Strecke von etwa tausendachthundert Kilometern), waren angemeldet und genehmigt worden. Ihren spontanen Ausflug von Berezniki zum Tulýmski Kámen hatten sie jedoch unter dem Deckmantel eines kleinen Rundfluges unter den Tisch fallen lassen – und eine Zwischenlandung im Naturschutzgebiet würde bestimmt keiner Behörde gefallen. Und nun standen sie hier, mit dampfendem Atem, in der frischen Nachmittagssonne, und abgesehen vom Wald, der sich an den felsigen Hängen ein Stück weit empor schob, gab es nichts um sie herum. Ian zuckte mit den Schultern. „Mach dir nicht ins Hemd, Süßer. Ich weiß, wo wir sind, und ich weiß, wo wir hin müssen; nur einen Heli an einem Steilhang zu landen übersteigt selbst meine gottgleichen Fähigkeiten“, erklärte er munter und lief zielgerichtet in den Wald hinein. „Komm mit, wir haben ein schönes Stück Weg vor uns.“ Pikiert blickte Kai auf Ians Rücke, verbiss sich jedoch einen rüden Kommentar und folgte ihm; Streit hatte jetzt keinen Zweck, und er musste darauf vertrauen, dass Ian ihn zu Tala führen würde. „Woher willst du überhaupt wissen, dass Tala hier ist? Ich suche schon seit Jahren nach ihm und habe ihn nicht ausfindig machen können.“ „Und deswegen hast du ja mich um Hilfe gebeten, oder?“, entgegnete Ian mit einem Schulterzucken. „Nur weil du versagt hast, heißt das noch lange nicht, dass es dem Rest der Welt auch so gehen muss. Und ich habe meine eigenen Quellen.“ „Ach ja?“ Mürrisch kickte Kai einen Stein beiseite, der ihm im Weg lag. „Und die wären?“ Kurz warf Ian ihm einen unsicheren Blick zu, dann seufzte er. „Tala hat es mir gesagt. Um genau zu sein habe ich ihn sogar hierher gebracht.“ Abrupt blieb Kai stehen, und Ian rollte mit den Augen, als er dessen empörten Blick sah. „Im Ernst, Hiwatari, wenn du ein Problem damit hast, dann klär das mit Tala selbst, und nicht mit mir – immerhin bringe ich dich zu ihm, oder? Und jetzt komm mit, ich will das so schnell wie möglich hinter mich bringen“, murrte er und setzte seinen Weg unbeirrt fort. Kai würde ihm schon folgen, wenn er eingesehen hatte, dass Ian nicht auf ihn warten würde. Oder er würde ihn aus den Augen verlieren, sich im Wald verlaufen und elendig krepieren – im Moment schienen beide Optionen für Ian durchaus annehmbar. Enttäuscht sackten seine Schultern in sich zusammen, als Kai ihm nach einigen Momenten wieder folgte und ihn mit eisernem Schweigen strafte. Ihm sollte es recht sein. Der Waldboden unter ihren Füßen stieg stetig an, und schließlich wurde er merklich felsiger. Die mächtigen Fichten, unter denen ihr Weg entlang führte, wichen langsam aber sicher den hellen Stämmen von Birken, die an den Hang gedrängt wuchsen und der Kälte trotzten; auf dem Gipfel des Berges überdauerte der Schnee häufig den ganzen Sommer, und an den Hängen des Tulýmski Kámen behielt der Wind auch im späten Frühling noch den bissigen Hauch des Winters. Das Klima hier verlangte Pflanzen und Tieren einiges ab, und doch war ein schier unbezwingbarer Lebenswille tief im Wald verwurzelt. Diese Umgebung war wirklich perfekt für Tala geschaffen – das musste sich Kai bitter eingestehen. Nach etwa zwei Stunden Fußweg erreichten sie schließlich über einen kleinen Pfad (wann waren sie auf den Weg gestoßen? Kai konnte sich nicht daran erinnern) ein Plateau am Waldrand, das, geschützt von einigen Birken und Krummhölzern, einen guten Blick über das umliegende Gelände gab. Es war ein beeindruckender Anblick. Das Plateau maß etwa acht Meter von einer Seite zur anderen, und mehrere schmale Pfade führten hinunter in den Wald. Der Boden war behauen und zeigte ein monumentales Relief von einem Wolf, der ein paar gewaltiger Schwingen aus Eiskristallen ausgebreitet hatte und inmitten eines Sturmes zu schweben schien. Um das Relief herum war ein Spruchband in den Stein gemeißelt, auf dem etwas in einer Sprache geschrieben stand, die Kai nicht beherrschte; doch es mussten mächtige Worte sein – für einen mächtigen Geist. Verschiedene geschnitzte Stämme standen außerdem auf der Fläche verteilt, jeder von ihnen zeigte ein anderes mythisches Wesen: Kai konnte einen Drachen erkennen, eine Seeschlange, einen Phönix (ihm wurde warm in der Brust, als er die Skulptur sah) und einige andere Kreaturen, die er nicht zuordnen konnte. Wo der Vorsprung an die Felswand stieß lag ein unauffälliger Höhleneingang, der von einer Tür aus gewebten Birkenzweigen verschlossen wurde, die mit Lehm abgedichtet worden war. Ein Rohr führte durch das Gewebe ins Freie, aus dem verlockend duftender Rauch aufstieg. „Ich glaube, wir werden erwartet“, kommentierte Ian die Szenerie mit einem schiefen Grinsen und ging zur Tür, während er mit leuchtenden Augen die Gestaltung des Plateaus betrachtete, und Kai folgte ihm. Sie mussten nicht klopfen, als sie den Durchgang erreicht hatten, denn kaum standen sie vor dem Höhleneingang wurde die Birkentür beiseitegeschoben, und vor ihnen stand Tala. Über eine schlichte Hose aus einem dichten, erdfarbenen Wollstoff und einem Pullover aus demselben Material trug er eine grob geschneiderte Fellweste. An seinem Gürtel hingen verschiedene Messer, eine kurze Axt und eine Tasche, aus der Kai das Ende einer Reißleine herausragen sah. Talas Haut war dunkler als früher, und trotzdem noch viel zu blass, um gesund zu wirken; seine Augen schienen so klar und blau wie das Polareis, seine Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, so rot wie Feuer – und er trug einen beeindruckenden Bart zur Schau. Kai bemühte sich, seine neutrale Miene beizubehalten, doch Ian neben ihm brach sofort in schallendes Gelächter aus. „Oh Gott, Tala – du siehst aus wie ein Neandertaler!“, brachte er japsend hervor, während er sich die Seiten hielt. Tala bedachte ihn mit einem strengen Blick, während er sich stolz über den Bart strich. Dann wandte er sich Kai zu, und mit einem Mal wurde sein Blick kühler; Kai spürte einen eiskalten Stich in der Brust. „Kai. Ich hatte nicht damit gerechnet, dich einmal hier auftauchen zu sehen“, sprach er mit ausdrucksloser Stimme und warf einen scharfen Blick zu Ian, der gerade dabei war, wieder zu Atem zu kommen, „doch nun, da du hier bist, kann ich dich wohl nicht mehr wegschicken. Kommt herein.“ Mit diesen Worten trat Tala zur Seite und führte die beiden in die Höhle hinein, die er offensichtlich bewohnte. Der Ort war gemütlicher und schöner, als Kai es einer Höhle jemals zugetraut hätte. Hinter dem Eingang führte ein schmaler Gang mit reich verzierten Wänden etwa vier Meter in den Berg, bis er sich in einen größeren Hohlraum öffnete, mit einer Höhe von etwa drei Metern und einem Durchmesser von vielleicht fünf, sechs Metern; in einer Nische führte ein weiterer Gang aus dem Raum noch tiefer in den Berg, doch das Licht des Feuers, das in einem rudimentären Kamin brannte, reichte nicht bis dorthin. Über dem Kamin war das Abzugsrohr angebracht, das durch den Gang bis hinaus vor die Höhle verlief. Im Licht der Flammen betrachtete sich Kai das Innere des Raumes: Ein grob gearbeitetes Bett aus Balken und Wolltuch stand an der Wand neben dem Kamin, und daneben stand eine geschnitzte Truhe, aus der einige Kleidungsstücke aus Fell und Loden herausragten. Der Boden war mit Fellen verschiedener Tiere ausgelegt, und auf einem Gestell an einer Wand hingen weitere Tierhäute, die auf ihre Verarbeitung warteten. Ein grober Tisch stand in der Mitte der Höhle, um ihn herum Stühle, die aus Birkenstämmen gefertigt waren. Auf dem Tisch bereit lagen zwei schlichte Essgeschirre aus Holz und ein Laib dampfendes Brot. Daneben standen ein gewaltiger Tonkrug mit Wasser und ein Regal, auf dem verschiedene Werkzeuge, Geschirr und ein Bogen mit Pfeilköcher gelagert waren. Insgesamt haftete dem Ganzen eine heimelige Aura an. Als Kais blick jedoch an die Wände und Decke fiel stockte ihm der Atem: Jeder Zentimeter der Felswände war mit reichen Reliefs verziert, die allerlei verschiedene Motive zeigten: Mächtige Fabelwesen, prächtig geschmückte Krieger, ruhige Szenen mit Tieren und Menschen, beeindruckende Landschaften. Manche der Arbeiten waren bemalt, andere naturbelassen, und Kai musste sich eingestehen, dass er noch nie etwas so schönes gesehen hatte. „Du hast ganz schön was geschafft, seit ich das letzte Mal hier war, mit deiner Kunst durch Angriff“, bemerkte Ian anerkennend und betrachtete sich eines der Wandreliefs. „Die Höhle war definitiv weniger Bunt. Und der Wolf vor der Tür ist auch neu.“ Mit einem verschmitzten Grinsen blickte er zu Tala, der das Lob mit einem Nicken annahm und ein weiteres Essgeschirr für Kai vom Regal holte und auf den Tisch stellte. Dann ging er zum Kamin, nahm einen Kessel mit duftendem Eintopf von der Feuerstelle und stellte ihn auf den Tisch. „Es heißt Kunst der Attacke, Ian, und ich freue mich zwar über die Rückmeldung, aber ich bezweifle, dass ihr den Weg gekommen seid, nur um meine Innenausstattung zu bewundern. Kommt her und esst etwas mit mir, und dabei könnt ihr mir erzählen, was los ist.“ - 04. Mai, Moskau – Nachdenklich blickte Tala auf das Foto in seiner Hand und strich über sein Kinn; nun, da er wieder in der Zivilisation angekommen war, hatte er seine schlichte Kleidung gegen eine vernünftige Hose und einen Pullover eingetauscht, und auch den Bart hatte er sich abrasiert – in seinem Zuhause hatte ihn das flammendrote Haar vor der Kälte geschützt und noch mehr Distanz zwischen dem Jetzt und seiner Vergangenheit geschaffen; doch nun hatte er keine Verwendung mehr für ihn. Kai und Ian hatten ihm von den Gerüchten über die Biovolt erzählt, und davon, dass immer mehr Blader und ihre Bitbeasts verschwanden. Von den neuen Cyber-Bitbeasts und den neuen Cyber-Mind-Signalen. Und von ihm. Grimm runzelte er die Stirn, während er das Foto vor sich auf den Tisch legte und sich auf dem Sofa zurücklehnte. Unruhig huschte sein Blick an der reich geschmückten Zimmerdecke entlang und blieb an einem zierlichen Kristalllüster hängen. Es war Jahre her, seit er ein richtiges Haus betreten hatte, geschweige denn eine Villa wie das Anwesen der Hiwatari-Familie, und er hatte sich gut gefühlt. Frei. Losgelöst von der Welt, nur noch sich selbst verpflichtet, unabhängig von den Erwartungen anderer. Er war glücklich gewesen. Und nun saß er doch wieder hier, gefangen in einem goldenen Käfig, und war im Begriff, alles aufzugeben, was er sich in den letzten Jahren erarbeitet hatte. Nur wegen ihm. „Er ist also wirklich zurück“, murmelte er halblaut, und neben ihm brummte Kai zustimmend. „Es besteht kein Zweifel“, bestätigte er und nahm dann selbst das Foto in die Hand und betrachtete es mit eindringlichem Blick. Darauf zu sehen war ein Mann mit leuchtend roten Augen, die hinter einer schwarzen Maske versteckt waren. Sein violettes Haar war zurückgekämmt, und ein langer, schwarzer Mantel verhüllte seinen Körper, während er mit einem anderen Mann sprach, den sie beide nicht kannten. Ein Schauer lief über Kais Rücken, dann legte er das Bild wieder auf den Tisch, während Tala schwer seufzte. „Boris lebt also noch“, meinte er mit tonloser Stimme, und Schweigen hüllte die beiden ein. Nachdem Ian sie in der Sikorsky X2 sicher zurück geflogen hatte war er sofort in das Gästezimmer zurückgekehrt, in dem Kai ihn einquartiert hatte, um zu schlafen; und Kai war dankbar dafür. Es gab einiges, was er mit Tala zu klären hatte. „Warum er?“ „Huh?“ Verwirrt wandte sich Tala zu Kai, der ihn mit dunklen Augen ansah. „Ich habe Geld, ich habe Beziehungen. Ich hätte dir eine neue Identität verschaffen können, ein sicheres Versteck an jedem Ort der Welt. Ich hätte alles für dich tun können“, Kai konnte den vorwurfsvollen Ton seiner Stimme nicht verhindern, „doch das alles war wohl nicht gut genug für dich.“ Lange blickten sich die beiden schweigend an, und Kai erwartete schon fast keine Antwort mehr, als Tala endlich einen langen Atem ausstieß. „Ich wollte verschwinden, Kai, nicht untertauchen. Ich habe keine Beziehungen oder Geld gebraucht – ich habe einfach jemanden gebraucht, der mich weg bringt. Dem ich vertrauen kann. Der weiß wo ich bin – und meinen Wunsch respektiert, dort alleine zu bleiben.“ „Und mir kannst du offensichtlich nicht vertrauen“, stellte Kai verärgert fest, „aber Papov ist natürlich perfekt dafür geeignet. Papov, das Team-Baby, der uns bei jeder erstbesten Gelegenheit gemeldet hat, der uns immer nur Ärger eingehandelt hat-“ „Kai!“, unterbrach Tala seinen Ausbruch unwirsch, und Kai schnaubte verächtlich. Ungläubig schüttelte Tala den Kopf. „Wenn du ihn so hasst, warum hast du ihn dann überhaupt um Hilfe gebeten?“ Nun war es an Kai, zu schweigen, und schließlich senkte er den Kopf. „Papov hat schon immer Dinge einfach gewusst. Und ich hatte gehofft, dass es diesmal auch so sein würde, auch wenn das vollkommen lächerlich schien.“ „Aber es hat funktioniert“, stellte Tala fest und zog seine Beine an. Dann seufzte er. „Weißt du, Kai, es hat einen Grund, warum Ian schon immer Dinge wusste. Weil wir sie ihm erzählt haben.“ Nachdenklich legte er das Kinn auf seine Knie, während Kai überrascht eine Augenbraue hob. „Ian hat ein gutes Gespür dafür, wann er ein Geheimnis bewahren muss, und wann es an der Zeit ist, andere einzuweihen, um alles zu einem guten Ende zu bringen. Das habe ich schon immer sehr an ihm geschätzt.“ „Also traust du mir nicht zu, ein Geheimnis zu bewahren?“, fragte Kai vorwurfsvoll, und Tala blickte ihn kühl von der Seite an. „Ich vertraue dir, Kai, aber ich kenne dich auch. Du hättest wahrscheinlich meinen Aufenthaltsort geheim gehalten – aber hättest du mich wirklich acht Jahre lang in Ruhe gelassen, nur weil ich dich darum gebeten hätte?“ Trotzig zog Kai die Augenbrauen zusammen, antwortete jedoch nicht; ihm war klar, dass Tala Recht hatte mit dem, was er zwischen den Zeilen sagte: Hätte Kai all die Jahre gewusst, wo sich Tala befand, hätte er ihn schon längst zurückgeholt. „Ich mache dir das nicht zum Vorwurf“, meinte Tala neutral, „denn wir alle sind, wie wir sind, und wir tragen nur für einen Teil davon die Verantwortung. Aber ich konnte und wollte nicht riskieren, dass du mir die Freiheit nimmst, die ich mir erarbeitet habe.“ Stille legte sich zwischen sie, und widerwillig musste Kai zugeben, dass er Tala verstehen konnte; dennoch fühlte er sich von ihm verraten – und das hinterließ einen bitteren Geschmack. „Warum bist du trotzdem mitgekommen?“, brach Kai schließlich das Schweigen, und Tala zuckte mit den Schultern. „Es gibt Dinge, die sind größer als mein Egoismus und mein Seelenheil.“ „Wie etwa ein lebendiger Boris in den Gassen Moskaus, obwohl er schon vor Jahren erschossen wurde?“ „Du sagst es.“ Ernst blickte Tala Kai an. Wieder legte sich Stille zwischen die beiden, bis Kai sich schließlich auf dem Sofa zurücklehnte und die Arme verschränkte. „Hast du Papov deshalb in deinen Fluchtplan eingeweiht? Damit ich dich finden kann, wenn es wirklich darauf ankommt?“ „Das war einer der Gründe, aber nicht der Hauptgrund“, entgegnete Tala, und ein keckes Grinsen umspielte seine Lippen. Misstrauisch runzelte Kai die Stirn. „Was für Gründe gab es denn sonst?“ „Nun, meine Ausrüstung und ich, wir mussten ja irgendwie zum Tulýmski Kámen kommen.“ „Und?“ „Ian weiß, wie man einen Helikopter fliegt.“ Kapitel 12: Alles ist relativ ----------------------------- - 4. Mai, Moskau – Angespannt saß Kenny an der langen Tafel, auf der ihm sein Frühstück serviert worden war (Rührei, Toast mit Marmelade und frische Waffeln – nicht sehr russisch, doch sehr wohlschmeckend, wie er dem Koch zugestehen musste), und warf gelegentlich einen erwartungsvollen Blick auf die Tür. Aktuell befand er sich noch alleine im Raum – abgesehen von Dizzi, die neben ihm auf dem Tisch stand; doch er erwartete Kai jeden Moment im prunkvollen Speisesaal. Es war halb sechs Uhr morgens, und der Himmel draußen war noch dunkel, aber Kenny wollte nicht riskieren, ihn zu verpassen. Nicht nach dem, was er in den vergangenen zwei Tagen herausgefunden hatte. Er hatte mit Kai einiges zu besprechen. Als er in der Nacht gehört hatte, wie der Helikopter auf dem Landeplatz ankam, hatte er für einen kurzen Moment überlegt, seinen ehemaligen Teamkapitän gleich zur Rede zu stellen, sich dann jedoch dagegen entschieden. Bevor Kai einen Grund hatte, ihn wegen der späten Uhrzeit abzuwürgen, oder er selbst vor Müdigkeit kein Durchhaltevermögen mehr besitzen würde, die Sache anzugehen, hatte er sich lieber dazu entschieden, noch bis zum Morgen zu warten. Sein Blick glitt über die reich verzierten Stuckaturen an der Raumdecke, die Akanthusranken und mystische Wesen zeigten, die der Fantasie eines ihm unbekannten Künstlers entsprungen sein mochten. Sämtliche Ornamente waren vergoldet, und verliehen dem Raum in Verbindung mit der karminroten Seidentapete eine majestätische Ausstrahlung. Es war für Kenny immer noch kaum zu glauben, dass ausgerechnet Kai hier wohnte. „Wie kommt es eigentlich, dass du die ganze Zeit diese Besenkammer anstarrst, anstatt dich mit mir zu beschäftigen?“, meldete sich da Dizzi zu Wort. „Überhaupt, in letzter Zeit verbringst du kaum noch Zeit mit mir. Emily hier, Kai da… Ich fühle mich, als wäre ich nur noch ein billiger Laptop für dich, den du ein- und ausschalten kannst, wann du willst!“ Innerlich stöhnte Kenny auf, als er diese Worte hörte. Eine beleidigte Dizzi hatte ihm gerade noch gefehlt – und das, wo er an diesem Morgen ohnehin schon weit über die Grenzen seiner sozialen Kompetenz hinaus Vorhaben für sich gefasst hatte. Kai mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren war die eine Sache – aber nebenher auch noch mit einer beleidigten Dizzi umgehen? Das war ein ganz anderes Kaliber. Gerade setzte er an, um Dizzi zu erklären, dass er sie weder ignorierte noch sie als leblosen Computer betrachtete, den man nach Bedarf an- und abschalten konnte, als sich die Tür des Raumes öffnete und Kai und Tala den Raum betraten; aus Reflex schloss er den Laptop neben sich. Die beiden waren offensichtlich in ein Gespräch vertieft, das sie leise auf Russisch führten, und schienen ihn nicht zu bemerken (oder ihn gezielt zu ignorieren). Kenny nutzte diesen Moment, um einen genauen Blick auf Tala zu werfen – soweit Kai ihn informiert hatte (und soweit das seine eigenen Recherchen getan hatten) war Tala bereits seit acht Jahren vollkommen von der Bildfläche verschwunden gewesen, bevor er nun wieder aus der Versenkung hervorgezaubert worden war. Einige seiner Fans hatten mehrere landesweite und internationale Suchaktionen nach ihm angeleitet, und mehrere TV-Sender hatten sich in Sondersendungen mit der Frage beschäftigt, was aus dem markanten Beyblader mit den flammendroten Haaren geworden war, doch sie alle waren zu dem gleichen Schluss gekommen: Tala war wie vom Erdboden verschluckt, und seine Spur endete abrupt an einem milden Frühlingstag vor acht Jahren. Nicht einmal Kai hatte gewusst, wo sich Tala befunden hatte (was Kenny sehr erstaunt hatte), doch aus unerfindlichen Gründen war gerade Ian das fehlende Kettenglied gewesen, um den verschollenen Teamkapitän der Demolitionboys wiederzufinden. In der Nacht hatte er keinen Blick auf Tala werfen können, doch er hatte sich nicht davon abhalten können, sich Gedanken zu machen, wie er nun aussehen würde; ob er nach so langer Zeit einen Bart tragen würde, oder ob das Leben jenseits der Bildfläche sonstige Spuren hinterlassen haben würde… …doch Kenny wurde bitter enttäuscht. Der Tala, der gemeinsam mit Kai zum Tisch gelaufen kam, hatte sich optisch kaum verändert, seit er ihn nach der Niederlage der BEGA zuletzt gesehen hatte – glatt rasiert, blasse Haut, ein furchtbar androgynes Gesicht (wenn auch seine Schultern inzwischen breiter geworden waren); sogar die Haare hatte er wieder zu den klassischen Hörnern hochgestylt, die während all seiner Jahre als Beyblader sein Markenzeichen gewesen waren. Er sah aus, als wäre er keinen Tag weg gewesen. Die beiden setzten sich am anderen Ende der Tafel auf zwei Stühle und setzten ihre Unterhaltung unbeirrt fort, während einige Bedienstete herbei geeilt kamen, um für die beiden aufzudecken. Nervös schluckte Kenny. Jetzt oder nie. „Kai“, brachte er mühsam hervor, und seine Stimme quäkte fürchterlich; er klang bemitleidenswert. Kai setzte unbeirrt seine Ausführungen fort und ignorierte ihn. Verärgert ballte Kenny die Hand zur Faust und versuchte es erneut. „Kai!“ Diesmal war seine Stimme kräftiger; sie zitterte etwas, doch ihr Klang war klar und fordernd. Sei es, dass Kai ihn nun endlich gehört hatte oder einfach akzeptierte, dass er ihn heute nicht ignorieren konnte, doch er unterbrach sein Gespräch mit Tala, der Kenny mit berechnendem Blick betrachtete, und wandte sich ihm zu. „Ja?“ „Wir müssen reden“, begann Kenny, und für einen Moment fürchtete er, dass Kai ihm das Wort verbieten würde; doch mit einer klaren Handbewegung gab er ihm zu verstehen, dass er fortfahren sollte. „Ich habe einige Nachforschungen angestellt, während ihr unterwegs wart - und zwar solche, die nichts mit den Cyber-Bitbeasts oder den Bladern zu tun haben. Ich spreche von dem Zwischenfall mit Max.“ Während dieser Worte wandelte sich Kais Ausdruck von neutral zu offen-abweisend, und Kenny spürte, dass er einen Nerv getroffen hatte. „Dieser Zwischenfall war nicht von Bedeutung. Max spielt für unser weiteres Vorgehen keine Rolle. Du solltest deine Zeit nicht mit so unwichtigen Dingen verschwenden.“ Mit diesen Worten richtete Kai seine Aufmerksamkeit zurück auf Tala, der ihn verblüfft ansah; Kenny stand der Mund offen. „Unwichtigen Dingen? Du bezeichnest Max als ein unwichtiges Ding?!“ Wütend stand Kenny auf und baute sich vor Kai auf. „Du hast mit seiner Mutter geschlafen!“ Aufgebracht gestikulierte er mit beiden Armen, doch Kais Miene blieb versteinert. „Ich habe mit vielen Menschen geschlafen, Kenny“, entgegnete er kühl, als sich ein boshaftes Grinsen auf sein Gesicht schlich. „Hilary lässt übrigens schön grüßen.“ Geschockt schnappte Kenny nach Luft – doch kein Ton verließ seinen Mund. Mit grimmiger Zufriedenheit wandte sich Kai erneut von Kenny ab und Tala zu, der ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Missbilligung musterte. Ein Dienstmädchen betrat den Speisesaal und schob einen Wagen mit dampfenden Köstlichkeiten in den Raum: gerösteter Toast, Rührei, frische Waffeln und eine Kanne mit duftendem Kaffee für Kai und Tala. Schweigend deckte sie auf und zog sich dann wieder zurück, während die drei Männer unbewegt verweilten. Schließlich stieß Kenny langsam den Atem aus, den er angehalten hatte ohne es zu bemerken, und zwang sich, ruhig zu bleiben. „Du magst mich für schwach halten, Kai, und denken, dass du mit mir alles machen kannst, was du willst, ohne dass es irgendwelche Folgen für dich hat; aber du irrst dich. Dir mag es egal sein, was du Max angetan hast, doch mir ist es das nicht, und ich erwarte eine Erklärung! Wenn du weiterhin willst, dass ich für dich arbeite, dann will ich, dass du mit offenen Karten spielst – und dazu gehört auch, dass ich weiß, was du den Menschen angetan hast, mit denen wir in dieser Sache zusammenarbeiten könnten.“ Kai schnaubte. „Du tust fast so, als würde es ihn umbringen, dass ich es seiner Mutter besorge“, kommentierte er belustigt, doch seine Stimme klang belegt. „Er hat versucht sich umzubringen“, fuhr Kenny ihn da an, „und du hast es seiner Mutter nicht nur besorgt, du hast gezielt dafür gesorgt, dass sie Max fallen lässt!“ Abrupt stand Kai auf und stellte sich so dicht vor Kenny, dass sich ihre Nasen fast berührten. „Du hast keine Ahnung, was damals wirklich los war, also halt dich gefälligst da raus!“ „Das kannst du vergessen, Kai“, konterte Kenny, „diesmal nicht. Diesmal bist du zu weit gegangen. Und ich weiß, was passiert ist, denn ich habe Emily gefragt – und sie hat mir dankbarerweise alles erzählt. Wie du deine Affäre mit Judy benutzt hast, um deine Firma voran zu bringen, und wie du dafür gesorgt hast, dass sie dir geglaubt hat, dass die Sache mit Max ja nur halb so schlimm sei. Du hast sie gezielt gegen Max aufgebracht, damit du ihre Beziehungen für deine Geschäfte nutzen konntest! Und das, als Max seine Mutter am meisten gebraucht hätte!“ Er schrie schon fast, so sehr hatte er sich in Rage geredet, und Kais Augen sprühten geradezu vor Zorn. „Ach, du willst mir das also vorwerfen, ja?! Dann hör zu, Kenny, denn ich erzähl dir jetzt was! Ich habe nicht nur Judy geknallt und ihr gesagt sie soll ihren jämmerlichen Sohn endlich aufgeben – nein! Dieser Versager hatte auch noch den Nerv, zu mir zu kommen, und mir vorzujammern, wie schrecklich doch seine Situation sei. Dass er Hilfe braucht, dass ich mit seiner Mutter reden soll.“ Kai lachte boshaft. „Und weißt du, was ich ihm erzählt habe? Die Wahrheit! Dass er ein elendes Nichts ist, dass er in dem Loch verschwinden sollte, aus dem er gekrochen war, und dass er sich am besten von seinem Liebhaber totschlagen lassen sollte, damit die Welt endlich von ihm erlöst ist! Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, dass ich ihn hasse, dass alle ihn hassen!“ Seine Stimme überschlug sich geradezu, als er die letzten Worte in Kennys Gesicht schrie, und schwer atmend standen sich beide gegenüber. Entsetzen stand in Kennys Gesicht geschrieben, vermischt mit Verachtung und Zorn. Ohne ein weiteres Wort zu sagen drehte er sich um, ging zu seinem Platz zurück, nahm Dizzi vom Tisch und verließ den Raum. Noch einen Moment blieb Kai stehen, dann ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Das hast du super hinbekommen, Hiwatari…“, murmelte er, dann blickte er missmutig zu Tala, der ihn mit schief gelegtem Kopf ansah. „Weißt du, Kai“, begann er nach einer Weile vorsichtig, „als du mir die Geschichte damals erzählt hast, klang das alles ein wenig anders. Dein Bericht über die Prügelei mit Max, den du eben abgeliefert hast, übrigens auch.“ Kai seufzte schwer und strich sich durch die Haare. „Ich weiß“, murmelte er und spielte an der Spitzenborte der Tischdecke herum, bevor er schließlich das Gesicht verzog. „Ich schätze, ich habe mich eben wie ein totaler Idiot aufgeführt.“ „Kai, du magst es nicht bemerkt haben, aber du benimmst dich immer wie ein Idiot“, entgegnete Tala kühl, doch sein Gesicht verriet, dass er es nur halb so vorwurfsvoll meinte, wie es klang, und Kai reckte ihm halbherzig seinen Mittelfinger entgegen. Er hatte Tala (und vor allem die Gespräche mit ihm) vermisst. Gerade setzte Kai an, um etwas zu sagen, als sich die Tür des Speisesaals öffnete, und Ian den Raum betrat. Seine Haare waren zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden, und abgesehen von einer abgetragenen Jogginghose war er unbekleidet. Unwillig zog Kai die Augenbrauen zusammen, während Tala missbilligend mit der Zunge schnalzte. Ian nahm beides mit einem Schulterzucken hin und ließ sich dann neben Tala auf einen Stuhl fallen. „Morgen“, murmelte er, griff nach einer der beiden Tassen, die auf dem Tisch standen, und goss sich etwas Kaffee ein. „Ich bewundere, mit welcher Selbstverständlichkeit du in diesem Aufzug hier auftauchst – und in welchem Zustand“, entgegnete Tala mit tadelndem Blick. „Wenn du noch nicht wach bist, dann bleib in deinem Zimmer; wenn du aber wach bist, dann hab wenigstens den Anstand, dich ordentlich anzuziehen.“ Mit demonstrativem Gleichmut gähnte Ian einmal langgezogen und nahm dann einen Schluck Kaffee, bevor er sich Tala zuwandte. „Diese Predigt war schon alt, als du noch nicht die Tarzan-Nummer in der russischen Wildnis durchgezogen hast; erwarte nicht, dass sie mich heute stört.“ Er kratzte sich müde am Arm, bevor er sich Kai zuwandte. „Außerdem wollte ich dich was fragen, Hiwatari. Mir kam eben Kevin – oder war es Kanye? – entgegen, der so laut vor sich hin geflucht hat, dass ich nicht umhin kam, mitzuhören, dass er vorhat, von hier zu verschwinden. Ist das Absicht, oder hast du vor, ihn dir weiter als Haustier zu halten? Je nachdem sollte nämlich jemand zu ihm gehen und ihn davon abhalten, das einzig Vernünftige zu tun und hier abzuhauen.“ Abschätzend musterte er Kai, der seinen Blick kurz nachdenklich erwiderte und dann ergeben mit dem Kopf schüttelte. „Wir können nicht auf ihn verzichten. Sein Know-How ist unverzichtbar, wenn wir eine Chance gegen Boris haben wollen.“ Wieder kratzte sich Ian am Arm, bevor er noch einen Schluck Kaffee nahm. „Nun, dann sollte jemand mit ihm reden. Am besten jemand, dessen soziale Kompetenz sich nicht auf dem Niveau einer Tränengasgranate befindet.“ „Das lässt die Auswahl hier am Tisch allerdings drastisch sinken“, entgegnete da Tala, während Kai verärgert schnaubte. „Nicht mein Problem“, murmelte Ian, während er einen weiteren Schluck Kaffee nahm; als er sich von seiner Tasse ab- und den anderen wieder zuwandte, bemerkte er, dass beide ihn erwartungsvoll ansahen. Kurz setzte er an, um zu protestieren, hob dann aber die Hände zur Kapitulation. „Na schön, na schön, ich geh ja schon. Ehrlich, warum muss ich eigentlich immer euren Mist ausbaden?“, fragte er pikiert, bevor er seine Tasse mit einem großen Schluck leerte und diese dann vor Kai auf den Tisch stellte. „Ehrlich, Hiwatari, dafür schuldest du mir was. Aber dann geh ich eben zu deinem Keiji und versuch, ihn doch noch umzustimmen.“ „Er heißt Kenny, Papov“, knurrte Kai nur, während Ian ihn mit spöttischem Blick ansah. „Ich dachte, das sei völlig nebensächlich?“, konterte Ian, bevor er sich streckte und den Raum verließ. Kai warf ihm noch eine rüde Bemerkung hinterher, doch er überging sie einfach; es war zu früh, als dass ihn ein längeres Wortgefecht reizen würde, und Kai hatte trotz allem Recht – sie brauchten Kenny. Und je früher Ian ihn davon überzeugen konnte, hier zu bleiben, desto besser. Während er die Gänge zu Kennys Zimmer entlang lief fiel ihm auf, dass er ganz vergessen hatte, zu fragen, was eigentlich passiert war – andererseits war es vielleicht ohnehin geschickter, zuerst die Seite der Geschichte zu hören, die nicht von Kai (oder Tala) erzählt wurde. Gedankenverloren rieb er sich über seinen Arm. Wenn diese Aktion schon so anfing – wie sollten sie dann jemals Erfolg haben? - 05. Mai, Moskau – Angespannt saß Kenny auf seinem Stuhl im Konferenzsaal des Hiwatari-Anwesens und blickte Ian mit vorwurfsvollem Blick an, was von diesem mit einem Schulterzucken quittiert wurde. Er konnte immer noch nicht so recht glauben, dass Ian es tatsächlich geschafft hatte, ihn davon zu überzeugen, dem ganzen Unternehmen eine neue Chance zu geben. Nachdem Kenny am Vortag aus dem Speisesaal gestürmt war hatte er sich zunächst in den Garten der Villa zurückgezogen, um etwas frische Luft zu schnappen und sich bei Dizzi über Kai zu beschweren – eine fatale Idee, wie sich herausgestellt hatte, nachdem sein Bitbeast alles andere als angetan davon war, dass er sie schon wieder einfach ausgeschalten hatte. Die Diskussion mit ihr hatte zwei volle Stunden in Anspruch genommen, doch schließlich hatte er es geschafft, sie zu beruhigen und ihr seine Entschuldigung glaubhaft zu machen. Nachdem er sich dann doch noch bei ihr über seinen ehemaligen Teamchef hatte beklagen können und zurück zu seinem Zimmer gegangen war, um seine Sachen zu packen, hatte er überraschenderweise Ian getroffen, der (nur halb bekleidet) vor seiner Zimmertür gesessen hatte. Nachdem Ian ihm bisher noch nichts getan hatte (außer seinen Namen zu vergessen), hatte er zugestimmt, ihm zuzuhören – und inzwischen ärgerte er sich darüber, denn Ian konnte verdammt überzeugend sein, wenn er es denn wollte. Sie hatten etwa vier Stunden miteinander geredet (und es war eine anstrengende Unterhaltung gewesen, da Kenny um des Friedens Willen darauf verzichtet hatte, Dizzi abzuschalten), in denen Ian ihm unter anderem erklärt hatte, wie die Problematik mit Max zustande gekommen war, und in denen er Kenny auch erzählt hatte, warum er trotz aller Widrigkeiten mit Kai zusammenarbeitete. Im Grunde hatte er ihrer aller Lebensgeschichte in der Abtei erzählt: wie sie gelernt hatten, dass nur physische Stärke und Grausamkeit ihr Überleben sichern konnten; wie sie immer und immer wieder gegeneinander ausgespielt worden waren, um ihr Vertrauen ineinander zu brechen; wie der einzige Weg, sich selbst zu schützen, gewesen war, alle anderen von sich weg zu stoßen. Er hatte nicht versucht, Kai in Schutz zu nehmen, und Kenny deutlich gezeigt, dass er dessen Verhalten ebenso verabscheute wie alles andere an ihm. Doch er hatte ihm geholfen, zu verstehen, warum Kai so war, wie er war – und dass sein Charakter nichts über die ethische und moralische Qualität seiner Ziele aussagte. Er hatte Kenny geraten, seine Entscheidung danach zu fällen, wie er ihr Vorhaben beurteilte, und nicht nach dem, was er von Kai hielt – und so hatte sich Kenny dazu entschieden, zu bleiben. Und nun saßen sie hier, zu viert, und es kam ihm alles so lächerlich vor: vier Männer alleine gegen den Rest der Welt – und sie konnten sich noch nicht einmal leiden. Leise stieß er ein trockenes Lachen aus, was ihm einen fragenden Blick von Ian einhandelte, doch er gab keine Erklärung ab. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf Kai, der gerade damit fertig geworden war, seinen Laptop an die Beamer-Anlage anzuschließen, um ihnen einen Gesamtüberblick darüber zu geben, wie sie von nun an vorgehen würden (wofür er extra eine digitale Präsentation vorbereitet hatte, was der Situation eine fast schon komödiantische Absurdität zuteilwerden ließ). Er räusperte sich kurz, dann begann er mit seinen Ausführungen: „Seit mehreren Jahren verschwinden Beyblader auf der ganzen Welt – vor allem solche, die mit Cyber-Bitbeasts oder der Biovolt zu tun hatten. Nach meinen Informationen weiß ich sicher, dass dies auf das Team Psykick zutrifft, einschließlich Zagart und seine ehemaligen Laboranten. Ebenfalls verschwunden sind die Justice 5, und auch von F Dynasty hat man lange nichts mehr gehört.“ Auf der Leinwand erschienen verschiedene Fotos der Teams, sowie verschiedene Zeitungsartikel, die sich mit verschwundenen Wissenschaftlern beschäftigten. „Seitdem die Teams verschwinden tauchen außerdem immer mehr fehlerhafte Cyberbitbeasts im Untergrund auf, die verheerende Schäden bei ihren Partnern anrichten. Ich hatte von Anfang an befürchtet, dass die Biovolt dahinter steckt“, erläuterte er mit einem Seitenblick auf Kenny, der überrascht die Stirn runzelte, „als jedoch das Cyber-Mind-Signal der PPB aufgetaucht ist, war ich mir nicht mehr so sicher; also habe ich mich auf den Weg gemacht, um das zu überprüfen.“ Die nächste Folie zeigte verschiedene Hüllkurven von verschiedenen Signalen, und Kenny erkannte die Signatur, die Emily in den Datenströmen der PPB gefunden hatte. „Mit Kennys Hilfe konnte die Möglichkeit, dass die amerikanische BBA ihre Finger mit im Spiel hatte, jedoch getilgt werden. Und das wiederum bedeutet, dass unsere schlimmsten Befürchtungen wahr sind.“ Kai warf einen bedeutungsvollen Blick in die Runde, ehe er die nächste Folie erscheinen ließ. Zu sehen waren Bilder von Boris, der mit verschiedenen Personen an unterschiedlichen Orten sprach; einige waren mit Datum versehen – mit einem Datum des laufenden Jahres. Kenny sog erschrocken die Luft ein. Boris‘ Tod war vor elf Jahren durch alle Medien gegangen: Bryan, sein eigener Sohn, hatte ihn mit mehreren Schüssen in die Brust getötet, und war dafür acht Jahre lang in Jugendhaft gekommen. Ein Blick auf Tala und Ian verriet ihm, dass die anderen wohl bereits seit längerem wussten, was man ihm eben erst offenbart hatte, denn beide blieben ruhig, als Kai seine Enthüllung machte. Lediglich Ian kratzte sich geistesabwesend am Arm, der inzwischen einen ungesunden Rotton an der Stelle angenommen hatte, die immer von ihm bearbeitet wurde. Bevor Kenny sich entscheiden konnte, ob es ihn ärgerte oder nicht, dass man ihn als letzten der Runde informiert hatte, sprach Kai weiter. „Die Biovolt ist, wie ich befürchtet hatte, zurück; meine Informanten, die ich seit einiger Zeit im Untergrund beschäftige, bestätigen das. Und sie haben noch mehr herausgefunden“, während er dies sagte, schaltete er in der Präsentation weiter, und ein Foto von einer Gebirgslandschaft mit einem zugefrorenen See erschien, die Kenny nur allzu gut kannte, „denn es ist ihnen gelungen, eine Basis der Biovolt ausfindig zu machen, deren Sicherheitsvorkehrungen überwindbar scheinen. Mit entsprechender Vorbereitung – die ich schon in die Wege geleitet habe – sollte es uns möglich sein, in das Gebäude einzudringen und Zugriff auf die Datenbanken zu erhalten, was uns die entscheidenden Informationen verschaffen wird, um einen effektiven Plan zu entwickeln, der die Biovolt ein für alle Mal aufhalten wird.“ Wieder bedachte Kai alle mit einem bedeutungsschwangeren Blick, bevor er fortfuhr. „Packt also eure Ausrüstung zusammen, denn wir fliegen zum Baikalsee.“ Kapitel 13: Kais dunkle Vergangenheit ------------------------------------- - 5. Mai, Moskau – Unschlüssig blickte Kenny in den Rucksack, der halb gepackt vor ihm auf dem Bett lag. Vor etwa zwei Stunden hatte Kai die Planbesprechung beendet, und er selbst, Ian und Tala waren sofort aus dem Raum marschiert, um Vorkehrungen zu treffen und ihre Ausrüstung zusammen zu suchen. Die drei wussten, was sie für ihr Vorhaben brauchten, wie sie sich kleiden mussten, welche Ausrüstung und Bewaffnung wichtig war. Doch er, Kenny, war niemals auf einer solchen Mission gewesen. Er hatte niemals Teil einer solchen Mission sein wollen. Er wusste nicht einmal sicher, ober er überhaupt Teil dieser Mission sein wollte. Natürlich, er wollte noch immer Tyson finden, und die konkreten Informationen, die er hier bekam (und die sie hoffentlich noch bei ihrer Unternehmung gewinnen würden) waren eine heiße Spur – und die einzige, die er hatte. Auch ihr Vorhaben an sich – so lächerlich es ihm vorkam, dass vier junge Männer alleine gegen die Biovolt ziehen wollten – war wichtig und richtig. Dennoch war er so wütend auf Kai, dass er am liebsten alles abgeblasen hätte um mit dem ersten Flieger zurück nach Tokyo zu fliegen. Bisher hatte sich sein ehemaliger Teamkapitän schon stets sehr nah an der Grenze dessen bewegt, was er noch über sich ergehen ließ; das aber, was Kai sich am Vortag geleistet hatte, war weit jenseits von allem, was er akzeptieren konnte. Schwer seufzte er und ließ sich neben dem Rucksack auf das Bett fallen. Was sollte er nur tun? „Bist du dir sicher, dass deine Ausrüstung schon vollständig ist?“, machte sich da Dizzi bemerkbar, die auf der anderen Seite des Bettes lag. Kenny schüttelte den Kopf. „Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Ich meine, wenn ich jetzt mitgehe, dann bedeutet das für Kai, dass er mit mir machen kann, was er will, und dass ich trotzdem immer wieder angerannt komme. Aber wenn ich nicht mitgehe, dann verzichte ich auf die größte Chance, die ich habe, um Tyson zu finden. Vielleicht sogar auf die einzige.“ „Die Frage ist also, was dir hier wichtiger ist: dein Stolz oder das Leben deines besten Freundes?“ Kenny bedachte Dizzi mit einem verletzten Blick. „Wenn du es so sagst, klingt es so, als wäre es verwerflich, dass ich das Abreisen überhaupt in Betracht ziehe. Es geht hier immerhin nicht nur um meinen verletzten Stolz, sondern um das, was Kai gesagt und getan hat!“ „Also geht es im Grunde doch nur um deinen gekränkten Stolz“, stellte sie nüchtern fest, und aufgebracht gestikulierte Kenny mit den Armen. „Das ist doch keine Frage von Stolz, das ist eine Frage von Respekt vor der Menschenwürde! Denk doch mal an das, was er Max angetan hat!“ „Nun, es fällt mir schwer, das zu beurteilen; immerhin war ich bei dem Gespräch mit Kai, bei dem er sein Geständnis abgelegt hat, selbst nicht anwesend“, entgegnete Dizzi kühl, und innerlich seufzte Kenny auf. Er stand vor einer der wohl schwierigsten Entscheidungen seines ganzen Lebens, und die einzige Person, die ihm hätte helfen können, war wegen eines kleinen Fehltritts beleidigt. Super. „Was mir allerdings aufgefallen ist“, fuhr sie fort, und Kenny horchte auf, „ist, dass du dir womöglich an die eigene Nase fassen solltest, Chef, bevor du vorschnell über Kai urteilst. Er ist immerhin nicht der einzige, den ich kenne, der seine Freunde nur dann eines Blickes würdigt, wenn er sie gerade für seine Arbeit braucht.“ Dizzis Ton war scharf, und Kenny starrte sie fassungslos an. „Aber was beklage ich mich – immerhin bin ich ja nur noch ein Programm in einem Laptop und kann mich nicht wehren, wenn man mich ausschaltet.“ Ein paar Mal klappte Kenny seinen Mund auf und wieder zu, doch kein Wort kam heraus. Bereits am Tag zuvor hatte er lange Zeit mit Dizzi über dieses Thema geredet, und er hatte gedacht, er hätte es geschafft, sie davon zu überzeugen, dass er sie nicht als bloßes Werkzeug sah. Er hatte sie seit ihrem Gespräch nicht einmal abgeschaltet! Doch dass sie das Ganze nun nochmal hervor holte zeigte ihm, wie sehr er sie verletzt haben musste; und dass sie ihn sogar auf eine Stufe mit Kai stellte - dieser Vergleich hatte gesessen. Und sie hat gar nicht so unrecht, meldete sich eine kleine, schuldbewusste Stimme in seinem Hinterkopf zu Wort. Erneut setzte er an, um etwas zu sagen, als es an der Tür klopfte, und Ian den Raum betrat, bevor er auch nur die Chance hatte, ihn hereinzubitten. „Hey“, grüßte er knapp und nickte Kenny zu, dann ging er zum Bett und ließ eine Tasche vor Kennys Füßen auf den Boden fallen. „Ich weiß, dass ich störe, aber ich habe hier deine Ausrüstung und muss selbst noch genug vorbereiten, deswegen muss das jetzt sein.“ Etwas hilflos hob Kenny die Hände, während Ian damit begann, den Inhalt der Tasche neben Dizzi auf dem Bett auszubreiten. „Der Frühling ist aktuell zwar schon an vielen Orten eingekehrt, aber am Baikalsee noch nicht. In diesem Jahr halten sich die Minusgrade dort besonders hartnäckig, und wir müssen wohl mit einer Schneedecke von zehn bis zwanzig Zentimetern rechnen, und die Temperatur liegt knapp unter Null. Im Vergleich zu dem, was der Winter dort zu bieten hat, ist das zwar nichts, aber es behindert uns dennoch“, erklärte er mit einem Blick, der Kenny bewusst werden ließ, dass die einzige Behinderung auf dieser Mission er selbst sein würde – wie aufbauend. „Nachdem du zu Beginn deiner Reise nicht damit gerechnet hattest, in Russland zu landen, bin ich davon ausgegangen, dass du keine vernünftige Winterkleidung dabei haben wirst – also habe ich dir etwas herausgesucht.“ Mit diesen Worten legte Ian einen dunkelgrauen Pullover aus einem dichten Lodenstoff mit passender Hose auf das Laken. „Das hier ziehst du als Basiskleidung an. Die Sachen werden dich warmhalten, selbst wenn sie irgendwie durchnässt werden sollten. Die gedeckte Farbe gibt uns außerdem einen Tarn-Vorteil – gesetzt den Fall dass das Versteck, in das wir einsteigen, vom gleichen Innenarchitekten wie die Abtei ausgestattet wurde“, murmelte er und rieb sich über seinen Arm, an dem Kenny einen Verband erkennen konnte, der unter dem hochgekrempelten Ärmel hervorlugte. Ian bemerkte seinen Blick und grinste schief. „Das Kratzen ist so ein Tic von mir, wenn ich über bestimmte Dinge nachdenke. Nachdem ich das in letzter Zeit ziemlich oft tun muss, ist meine Haut entsprechend strapaziert – und vorhin bin ich mehr oder minder auf Grund gestoßen.“ „Igitt. Na dann Glück auf“, mischte sich da Dizzi in das (bisher recht einseitige) Gespräch mit ein, und Ian schnaubte. „Du kannst froh sein, dass du eine Dame bist, und dass ich zumindest ein paar Grundzüge an guter Erziehung behalten habe, Diz, sonst müsste ich dich jetzt mit ein paar Worten bedenken, die wahrscheinlich alle deine Kindersicherungen kurzschließen würden.“ „Vergiss nicht, dass ich dauerhaft mit dem Internet verbunden bin, junger Mann“, konterte sie postwendend, „in ebendieser Sekunde habe ich Zugriff auf Milliarden Dateien, deren Inhalt dich weinend nach deiner Mami rufen lassen würde.“ Kurz blickte Ian den Laptop mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck an, dann schüttelte er seufzend den Kopf und rieb sich erneut über seinen Arm. „Lassen wir das einfach.“ Unbehaglich trat Kenny auf der Stelle. Zum einen erleichterte es ihn, dass Dizzis Laune immerhin noch gut genug schien, um mit Ian zu scherzen – auf der anderen Seite graute es ihm davor, was er sich später noch von ihr würde anhören müssen. Zudem war deutlich zu spüren, dass Dizzi sich mit ihrem letzten Kommentar direkt in Ians persönliches Minenfeld begeben hatte. Noch hatte sie lediglich die Warnsysteme aktiviert; doch Kenny wollte nicht in der Nähe sein, wenn tatsächlich eine dieser Minen in die Luft ging, und Dizzis (nicht vorhandenes) Taktgefühl rückte diese Möglichkeit in bedrückend greifbare Nähe. Für den Moment jedoch schien sie Ians Bitte zu akzeptieren, und schwieg wieder. Ian selbst dagegen kramte weiter in der Tasche und zog schließlich einen weißen Overall mit Kapuze hervor, der aus einer matt glänzenden Synthetikfaser gefertigt war. „Nachdem Dunkelgrau vor weißem Schnee keine allzu gute Tarnung abgibt haben wir diese hier; das sind spezielle Schneeanzüge, die du über die anderen Sachen ziehst. Eigentlich sind sie auf Temperaturen im zweistelligen Minusbereich ausgelegt, weshalb es sein kann, dass dir morgen darin etwas warm wird; allerdings sind wir auf die Tarnfarbe angewiesen, und wir wissen noch nicht sicher, wie lange wir draußen bleiben müssen, daher ist es wichtig, dass wir im Zweifelsfalle nicht sofort erfrieren.“ Etwas zögerlich nickte Kenny. Nachdem er keinerlei Erfahrungen mit Unternehmungen dieser Art hatte schreckte ihn der Gedanke, dass sie längere Zeit in der Schneewüste des Baikalsees verbringen mussten, sehr; doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als dieses Risiko einzugehen und darauf zu vertrauen, dass ihn die anderen drei sicher wieder nach Hause bringen würden. Er schauderte. „Und ihr seid sicher, dass ihr mich wirklich bei dieser Mission braucht? Ich meine, wenn ihr das Equipment installiert, dann kann ich die Datenbanken bestimmt auch von hier aus hacken“, begann er in einem schwachen Versuch, sich selbst und Ian davon zu überzeugen, dass es womöglich doch einen einfacheren Weg gäbe, die Sache über die Bühne zu bringen, doch Ian schüttelte den Kopf. „Du weißt genau so gut wie ich, dass das so nicht läuft. Dabei würden zu viele neue Risiken in Kauf genommen werden – wenn das Equipment versagt oder sie ein Störsignal haben das stärker ist als unser Sender, dann wäre die ganze Tour zwecklos. Außerdem habe ich seit Jahren keine wirkliche Übung mehr mit Ausrüstung, die nicht dazu gedacht ist, letzten Endes in die Luft zu fliegen, also… musst du wohl oder übel mit.“ Er schenkte Kenny ein schiefes Grinsen. „Aber keine Sorge, wir bringen dich da heile rein und auch wieder raus.“ Krampfhaft versuchte Kenny, die aufmunternde Geste zu erwidern, doch es wollte ihm nicht gelingen; stattdessen machte sich leichte Übelkeit in seiner Magengegend breit. Er las nicht oft Belletristik, und er sah sich auch nicht oft Filme an, doch immer, wenn in den Werken, die er kannte, jemand einen solchen Satz aussprach, dann passierte letzten Endes etwas Furchtbares. Und in Anbetracht ihrer Situation hatte er das ungute Gefühl, dass diese Regel auch auf ihr Vorhaben zutreffen würde. Schließlich holte Ian die letzten Teile aus der Tasche: Ein Paar dunkler Socken, drei Paar Handschuhe (eines aus Latex, eines aus dunkelgrauem Loden, eines aus dem gleichen Material wie der Overall), eine Mütze und ein Paar weißer Stiefel, das mit Fell gefüttert war. „Damit ist erst einmal deine Grundausstattung komplett. Eine geeichte Uhr, eine Schneebrille und ein Funkgerät wirst du morgen im Flugzeug bekommen, und ein paar Sachen, die zum Hacken ganz praktisch sind – wenn mich meine Erinnerung nicht trügt – habe ich auch schon zusammensuchen lassen. Hier hast du eine Liste“, meinte er und drückte Kenny einen Zettel in die Hand, den er aus seiner Hosentasche hervorgekramt hatte, „Wenn noch was fehlt, dann melde dich einfach bei Kai, oder Tala, oder mir… am besten gleich bei mir.“ Etwas unschlüssig sah sich Ian im Raum um, bevor er mit den Schultern zuckte. „Ansonsten, wenn du noch letzte Fragen hast, ist das der Moment, um zu fragen, schätze ich.“ Unglücklich blickte Kenny auf die Ausrüstung, die Ian auf dem Bett ausgebreitet hatte, dann zu Dizzi und dann zu Ian. „Bist du dir wirklich sicher, dass ich der Richtige für euer Vorhaben bin? Ich meine… ihr seid alle für solche Missionen ausgebildet, ihr wisst genau, was ihr zu tun habt, und ihr wisst, was auf euch zu kommt… ich habe fast mein gesamtes Leben nur hinter PCs und in Laboren verbracht. Was, wenn ich die Alarmanlage auslöse, oder wenn ich zu langsam bin, oder-“ „Kenny“, unterbrach Ian seinen Redeschwall mit ernster Miene und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter, „wenn wir uns nicht sicher wären, dass du das packst, dann hätten wir dich nicht mit ins Boot geholt. Du hast die Fähigkeiten, die Datenbanken zu knacken, und Dizzi, die dir dabei hilft, und das ist das einzige, was dich kümmern muss. Alles andere ist unser Job – und wir geben unser Bestes.“ Durchdringend sah er Kenny an, der den Blick etwas verzweifelt erwiderte. „Damit das morgen funktioniert gibt es allerdings eine wichtige Regel, die du zwingend befolgen musst – sonst ist alles verloren. Verstanden?“ Kenny schluckte hart. „Und- und die wäre?“ „Du musst aufhören, an dir – und uns – zu zweifeln.“ Überraschung machte sich auf Kennys Gesicht breit, und Ian ließ seine Schulter los. „Wenn wir morgen da draußen sind, dann ist da kein Platz für Zweifel, Reue oder Selbstmitleid. Alles, woran du denken darfst, ist die Mission, und wie du sie am besten beenden kannst. Jede deiner Entscheidungen muss auf dieses Ziel gerichtet sein. Ist das klar?“ Ian bedachte Kenny mit einem strengen Blick, und Kenny zögerte kurz, nickte dann aber. Zufrieden brummte Ian, dann wandte er sich zur Tür. Bevor er das Zimmer verließ drehte er sich jedoch nochmals um. „Nur noch eine Sache, Kenny. Mir ist bewusst, dass wir dir hier viel abverlangen, und dass das hier nicht deine Welt ist. Aber ich bin dir dankbar dafür, dass du uns trotzdem unterstützt – und Kai und Tala sind das auch, auch wenn sie es nicht zeigen. Deswegen… wenn etwas ist, oder du etwas brauchst, dann komm einfach zu mir. Du weißt ja, wo du mich findest.“ Mit diesen Worten trat er auf den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich. Kaum waren Kenny und Dizzi wieder alleine im Raum, sackte Kenny in sich zusammen und ließ sich auf das Bett fallen. „Was habe ich mir da nur eingebrockt…“ „Was hast du uns da nur eingebrockt, meinst du wohl eher“, kommentierte Dizzi missbilligend seine Aussage, und erschöpft blickte Kenny sie an, bevor er seufzte. „Hör mal, Dizzi… Es tut mir wirklich Leid, dass ich mich in letzter Zeit so daneben benommen habe.“ „Aha“, antwortete das Bitbeast kühl, und Kenny richtete sich etwas auf. „Auch, wenn ich es in letzter Zeit nicht gezeigt habe, du bist mir sehr wichtig, und weitaus mehr für mich als nur irgendeine Erweiterung an meinem Laptop. Du bist meine beste Freundin, und du bist immer für mich da, und ich brauche dich – nicht, um meine Arbeiten zu schreiben oder um zu recherchieren, sondern um mit dir zu reden und um dein Freund zu sein. Deshalb: Verzeih mir bitte, Dizzi.“ Für einige Zeit herrschte Schweigen im Raum, und Kenny fürchtete beinahe, dass er seine beste Freundin verloren hätte – als Dizzi endlich antwortete. „Ach, Chef“, meinte sie mit versöhnlichem Ton, „trotz allem kann ich dir nicht lange böse sein. Vergeben und vergessen, wenn du Besserung gelobst.“ Ein breites Lächeln schlich sich auf Kennys Gesicht. „Versprochen.“ „Na dann“, entgegnete Dizzi mit munterem Ton, „Lass uns gemeinsam die Biovolt hacken! Und damit uns das gelingt, zeig mal diese Liste, die Ian dir gegeben hat – ich bin mir sicher, dass er das Wichtigste vergessen hat.“ - 6. Mai, Insel Olchon – Unruhig knirschte Kai mit den Zähnen, während er über Talas Schulter hinweg auf die Schneelandschaft blickte, durch die sich ihr Quad kämpfte. Mit den Schneeketten kamen sie relativ gut voran, und sie hielten sich im Zeitplan; an sich gab es an diesem Punkt noch keinen Grund für ihn, nervös zu werden. Ihr Flug nach Irkutsk war ohne Zwischenfälle verlaufen, und auf dem Flug hatte er die anderen mit In-Ear-Funk, Schneebrillen, Nachtsichtgeräten und geeichten Uhren versorgt. Ian und Tala hatte er außerdem mit Handfeuerwaffen ausgestattet, und auch er selbst trug eine Halbautomatik bei sich (nachdem Kenny keinerlei Waffenerfahrung hatte, waren sie übereingekommen, dass es gefährlicher als hilfreich gewesen wäre, ihn mit einer Pistole auszurüsten, weshalb er unbewaffnet blieb). In Irkutsk hatte sie bereits ein Transporter erwartet, beladen mit zwei für schneebedecktes Gelände ausgestatteten Quads, der sie zum Baikalsee auf die Insel Olchon in den Ort Khuzhir gebracht hatte. Von dort aus waren sie mit den Quads in die scheinbar unberührte Wildnis der Insel aufgebrochen – in dem Wissen, dass am nördlichsten Ende des Eilandes der Biovolt-Stützpunkt verborgen lag, auf den sie es abgesehen hatten. Ihre Fahrt dauerte nun schon knapp vierzig Minuten, und bald würden sie den Checkpoint erreichen, an dem sie die Quads abstellen und zu Fuß weitergehen würden. „Wenn du nicht bald damit aufhörst, dann werf‘ ich dich ab“, brummte da auf einmal Tala und riss Kai aus seinen Gedanken. Irritiert runzelte er die Stirn. „Aufhören womit?“, fragte er verständnislos, und Tala schnaubte. „Du knirschst mit den Zähnen, seit wir hier sind. Das ist auf Dauer echt nervtötend“, entgegnete er nüchtern, und mit einem Mal wurde Kai die Kraft bewusst, mit der er seine Kiefer aufeinanderpresste. Langsam ließ er locker und bemerkte mit Unwillen, dass seine Gesichtsmuskeln schmerzten. „Irgendeinen Grund, warum du so zerknirscht bist?“, hakte Tala nach, doch Kai zuckte mit den Schultern. „Nichts Besonderes. Generelle Anspannung“, log Kai, doch er wusste, dass er Tala damit nicht überzeugen konnte, genau so wenig wie sich selbst. Er wusste sehr wohl, warum sein Tic wieder ausgebrochen war, denn er spürte es, seit sie am See angekommen waren: Ein Huschen in den Schatten um sie herum, eine brennende Kälte, die sich um sein Herz legte, und eine betörende Stimme, die in seinen Gedanken die süßen Verlockungen von Macht und Ruhm versprach. Black Dranzer. Vor so vielen Jahren hatte er das Bitbeast in den Tiefen des Sees versenkt, um sich von ihm zu lösen, doch es war ihm nie gelungen. Er würde immer mit dem schwarzen Phönix verbunden bleiben, immer von ihm versucht werden, immer den kalten Griff nach seiner Seele spüren. „Wir sind bald am Checkpoint angekommen, drossle deine Geschwindigkeit um vierzig Prozent“, meldete sich da Tala über Funk zu Wort, und Ian auf dem Quad hinter ihnen bestätigte die Anweisung knapp. Nach weiteren fünf Minuten hielten sie bei einer Felsformation und stiegen von den Fahrzeugen; der Himmel über ihren Köpfen färbte sich bereits im Zuge des hereinbrechenden Abends. Kenny hatte etwas wackelige Knie und klammerte sich an die Tasche, in der sich sein Equipment befand (zumindest der Teil, der nicht von Ian getragen wurde), doch kein Klagelaut kam über seine Lippen. Kurz nickte Kai und wies dann zu einem felsigen Hügel, der sich in einiger Entfernung von ihnen erstreckte; unter den Felsen ruhte das Wasser des Sees, das noch immer von einer Eisschicht überzogen war. „Der Biovolt-Stützpunkt befindet sich in dieser Formation. Der Zugang über die Felsen am Ufer ist nicht so stark gesichert wie der von der Inselseite aus, aber wir müssen dennoch vorsichtig sein. Ab hier dürfen wir uns keine Fehler oder Unsicherheiten mehr erlauben. Verstanden?“ Er warf einen letzten Blick in die Runde, und alle nickten zur Bestätigung, dann wandte sich Kai um und begann den Weg zu Fuß durch den Schnee; die anderen folgten ihm (zuerst Tala, dann Kenny, dann Ian als Schlusslicht, um zu verhindern, dass sie ihren Techniker unterwegs verloren). Sie kamen relativ zügig voran, und selbst Kenny konnte mithalten, auch wenn er schnell außer Atem war. Je weiter sie sich jedoch dem Versteck näherten, desto unruhiger wurde Kai. Die Umgebung kam ihm zunehmend bekannter vor, und er spürte immer deutlicher Black Dranzers eisigen Griff. Jeder Schatten wirkte, als berge er ein gefährliches Raubtier, und im Wind konnte er das bedrohliche Flüstern der süßen Stimme des Bitbeasts hören. Angespannt begann er wieder damit, mit den Zähnen zu knirschen, und nervös betrachtete er sich jede Unregelmäßigkeit im Gelände, als würde der schwarze Phönix jederzeit daraus hervorbrechen können. Tala schloss zu ihm auf und warf ihm einen Seitenblick zu. „Die Sache mit der Unsicherheit gilt übrigens auch für dich, furchtloser Truppenführer“, meinte er trocken, und Kai verzog das Gesicht. „Irgendetwas stimmt hier nicht, Tala. Ich kann es spüren.“ „Du wusstest, dass Black Dranzer hier auf dich wartet“, entgegnete Tala kühl, doch Kai schüttelte den Kopf. „Es ist nicht nur das. Mit jedem Schritt, den wir weiter gehen, habe ich das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein… Da ist dieses ungute Gefühl, das nicht verschwinden will.“ Misstrauisch spähte Kai zwischen ein paar Findlingen hindurch, bevor er sie umrundete, und Tala folgte ihm. „Wenn dich das zu sehr mitnimmt, Kai, dann lass den Einsatz lieber sein.“ Talas Tonfall war sachlich, während er sich mit einem Blick über die Schulter versicherte, dass Kenny und Ian ihnen folgen konnten. „Wie du gesagt hast, wir können uns keine Patzer erlauben. Und aktuell bist du ein Nervenbündel.“ „Ich krieg das hin“, knurrte Kai unwillig, und Tala schüttelte resigniert den Kopf. „Wenn du das meinst. Ich hoffe nur, du irrst dich nicht“, fügte er leise hinzu, und ein Schauer rann über seinen Rücken. Ian und Kenny schlossen schließlich zu ihnen auf, und sie legten den Rest der Strecke weitestgehend schweigend zurück. Kai wurde mit jedem Schritt sichtlich nervöser, und Tala warf ihm immer wieder vielsagende Blicke zu, die Kai jedoch ignorierte. Der Fußweg dauerte noch etwa eine Stunde, und als sie an ihrem Ziel angekommen waren, war es bereits dunkel um sie herum. Mit einigen Zeichen gab Kai zu verstehen, dass sie am Fuß des Felsens, in dem das Versteck befindlich war, kurz Rast machten, und dankbar ließ sich Kenny auf den Boden fallen und trank in begierigen Schlucken aus seiner Thermosflasche, während die anderen Nachtsichtgeräte aus ihrer Ausrüstung hervorholten. Ian machte sich auf den Weg, um die nähere Umgebung auszuspähen, und als er nach einiger Zeit zurück kam wechselte er einige leise Worte mit Kai und Tala, bevor er sich an Kenny wandte. „Ich habe einen Einstieg gefunden, durch den wir unbemerkt hinein kommen sollten“, flüsterte er, „Aber er ist nicht ganz einfach, und ich weiß nicht, ob du ihn packst. Deswegen werde ich dich ab hier Huckepack nehmen. Verstanden?“ Zögerlich nickte Kenny, und noch ehe er fragen konnte, wie genau sich Ian das nun vorstellte, begann dieser, ihn mit Expertise mit einigen Gurten, die er aus seiner Tasche zog, zu sichern; nach nur wenigen Minuten war Kenny auf Ians Rücken verschnürt wie ein übergroßer Rucksack (und er kam sich dabei ziemlich unnütz und dämlich vor), und sie brachen auf. Mit schlafwandlerischer Sicherheit fanden die drei ehemaligen Demolitionboys den Weg durch die Felsen, bis sie in eine Spalte hinein kletterten, die tief in das Gestein führte. Kenny kam es so vor, als würde sie gar kein Ende mehr nehmen wollen, als sie schließlich an einer rostigen Metalltür ankamen. Mit geschickten Griffen machte sich Tala am Schloss zu schaffen, während Ian Kenny absetzte, der sich nervös in der Dunkelheit umsah. Schließlich gab die Tür mit einem leisen Klicken nach, und Ian, Tala und Kai wechselten einen vielsagenden Blick, ehe Ian mit routinierter Vorgehensweise einen Blick durch den Türspalt warf und sich dann vorsichtig in den Raum dahinter schob. Für einige Augenblicke, die Kenny wie Stunden vorkamen, blieb Ian verschwunden, bis er schließlich die Tür öffnete und sie hereinwinkte. Schnell folgten sie ihm in einen tristen Gang, der so wirkte, als sei er direkt aus dem Fels geschlagen worden. Das helle Gestein wirkte kalt und unfreundlich, und Kenny schauderte es, während er sich bemühte, mit den anderen Schritt zu halten, die sich mit bewundernswerter Präzision den spärlich beleuchteten Korridor entlang bewegten (der unvorsichtigerweise nicht videoüberwacht zu sein schien). Nach einigen Biegungen kamen sie an einer weiteren Tür an, die mit einem elektronischen Schloss gesichert war, und erwartungsvoll blickten Tala, Kai und Ian auf Kenny, der schluckte und dann Dizzi und einige Werkzeuge hervor holte. Wie soll eine Dame bei dieser Kälte denn bitte ordentlich arbeiten?, erschien als Textnachricht auf ihrem Bildschirm, doch sonst blieb das Bitbeast stumm. Es kostete ihn einige Minuten, doch schließlich gelang es ihm, das Schloss zu knacken ohne den Alarm auszulösen, und er packte seine Ausrüstung wieder ein. Wieder ein vielsagender Blick, den sie sich zuwarfen, und wieder war Ian die Vorhut, um die Umgebung zu sichern. Nach einer Weile kam er zurück und gab ihnen das Okay, und so leise und schnell wie möglich folgten sie ihm in den nächsten Korridor, dessen Wände, Decke und Fußboden komplett aus blankem Stahl zu bestehen schienen. Zielstrebig führte Ian sie an Überwachungskameras vorbei zu einer Kreuzung, an der ein weiterer Gang in den Korridor einmündete, auf dem sie sich befanden, und an dem sich ein Datenknotenpunkt in der Wand befand. Ohne seine Umgebung eines Blickes zu würdigen zog Kenny Dizzi hervor und begann damit, sich an der Konsole zu schaffen zu machen, während die anderen drei die Umgebung sicherten. Kai warf einen Blick in den abzweigenden Flur, und sein Blick fiel auf ein Mosaik, das die gesamte Rückwand des angrenzenden Ganges bedeckte und einen gewaltigen schwarzen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen, umgeben von lodernden Flammen, zeigte – und mit einem Mal fügten sich die Teile zusammen. Er war bereits hier gewesen – der Damm brach, und die Erinnerung kam zurück. An alles. Kai begann, zu schreien. Kapitel 14: Cyber-Tala ---------------------- - 6. Mai, Insel Olchon – Das Kreischen der Alarmsirenen hallte durch die Korridore und bohrte sich schmerzhaft in Kennys Kopf, während er panisch Dizzi an sich riss und um sich blickte. Ian stand neben ihm, zerrte an seinem Arm und rief ihm etwas zu, doch er konnte nichts von dem verstehen, was er sagte. Aus dem Augenwinkel sah Kenny, wie Tala sich über Kai beugte, der zusammengekrümmt auf dem Boden lag, die Finger in die Haare gekrallt, die Augen weit aufgerissen und panisch schreiend. So hatte er sich den Ausgang ihrer Mission nicht vorgestellt. Stolpernd folgte er Ian (der ihn noch immer mit festem Griff am Arm gepackt hatte), das meiste Equipment zurücklassend, zurück in Richtung der Tür, durch die sie in den Stützpunkt eingedrungen waren; Tala, der sich den zuckenden Kai über die Schultern geworfen hatte, war dicht hinter ihnen. Ihre Flucht endete abrupt, als sie nach einer Biegung einer Gruppe Biovolt-Wachposten gegenüber standen, die ihre Waffen direkt auf sie gerichtet hatten. Für einen kurzen Moment schien Ian zu überlegen, es mit ihnen aufzunehmen, doch als eine weitere Gruppe Bewaffneter hinter ihnen Stellung bezog und ihnen den Fluchtweg abschnitt war ihr Schicksal besiegelt. Kai war vollkommen kampfunfähig, Kenny ein unfähiger Kämpfer, und die Wachen in der Überzahl – und wesentlich besser bewaffnet als Ian und Tala. Fluchend warf Ian seine Pistole vor die Füße des Postens vor sich, ehe er seine Hände hob; Tala setzte Kai neben sich auf dem Boden ab und tat es Ian dann gleich. Unsicher blickte Kenny zwischen den Männern hin und her, ehe er zögerlich eine seiner Hände hob, während er mit der anderen noch immer Dizzi fest an sich presste. Einer der Bewaffneten nickte, offensichtlich zufrieden mit ihrem Handeln, und drückte einen Knopf an dem Funkgerät an seinem Gürtel. Sofort hörte das Sirenengeheul auf, und die Stille wurde nur noch von Kais Schreien zerrissen. „Großvater, hör auf! Nein! Bitte, nicht… Ah! Hilfe! Hilfe!“ Kenny schauderte; er hatte noch nie einen Menschen so schreien hören – blanke Panik entstellte Kais Stimme. Der Mann, der die Sirenen ausgeschalten hatte (und offensichtlich der Ranghöchste war), fluchte laut und gab der Wache neben sich ein deutliches Zeichen. „Bring ihn zum Schweigen!“ Mit einem knappen Nicken ging der Mann zu Kai, der sich windend auf dem Boden lag, und mit einem gezielten Schlag seines Gewehrknaufs setzte er den Schreien ein Ende. Tala warf ihm einen giftigen Blick zu, sagte jedoch nichts. Unterwerfung war der einzige Weg für sie, diese Situation lebend zu überstehen; falscher Heldenmut würde sie nur einem unnötigen Risiko aussetzen. Der Anführer ihrer Häscher trat mit einem süffisanten Grinsen vor und bedachte Ian und Tala mit langen Blicken. „Wenn das nicht unsere verlorenen Jungs sind...“, begann er mit einem düsteren Lachen (und Kenny stellte zum ersten Mal bewusst fest, dass der Mann Englisch sprach – warum auch immer), „Willkommen zurück.“ Einladend breitete er seine Arme aus, und hasserfüllt funkelten Ian und Tala ihn an; noch immer schwiegen sie eisern. „Durchsucht sie und nehmt ihnen ihre Ausrüstung ab!“, blaffte er schließlich an seine Männer gerichtet, und sofort drängten sich einige Wachen nach vorne, die damit begannen, sie zu durchsuchen und ihnen die Ausrüstung, die sie noch bei sich trugen, abzunehmen. Hilflos sah Kenny mit an, wie ihm Dizzi aus den Händen gerissen wurde. „Dizzi! Nicht…!“, rief er, und sofort schlug ihm jemand ins Gesicht. „Halt die Klappe“, zischte einer der Männer bedrohlich in sein Ohr, während er und einer seiner Kollegen dabei waren, systematisch Kennys Körper abzuklopfen. Als sie sich sicher waren, dass sich keine versteckten Fallen in seiner Kleidung befanden, gingen sie unsanft dazu über, diese von ihm herunter zu reißen. Ein kurzer Entsetzensschrei kam über seine Lippen, und sofort hielt sich Kenny den Mund zu; er wollte kein weiteres Mal geschlagen werden, weil er es wagte, einen Ton von sich zu geben. Als sein Blick hilfesuchend zwischen den beiden Wachen hindurch fiel konnte er sehen, dass Tala und Ian sein Schicksal teilten – man nahm ihnen nicht nur die Ausrüstung, sondern auch ihre Kleidung ab, bis auf die Unterwäsche. Damit wurde eine Flucht für sie unmöglich; selbst wenn es ihnen gelingen sollte, sich aus den Händen ihrer Häscher zu befreien und den Stützpunkt zu verlassen, würden sie einfach in der Kälte, die den Baikalsee fest im Griff hatte, erfrieren. Ein leises Wimmern kam über Kennys Lippen, als er hart zu Boden gestoßen wurde und ihm ruppig die Stiefel und seine Hose abgenommen wurden; sogar seine Strümpfe wurden von den Wachen konfisziert. Die Männer zogen ihn schließlich unsanft wieder auf die Beine und drängten ihn zwischen Ian und Tala in eine Reihe; hart presste sich der Lauf eines Gewehrs in seinen Rücken. Mit kaltem Grauen musste er mit ansehen, wie ein anderer der Wachposten den inzwischen ebenfalls entkleideten Kai wegbrachte, begleitet von zwei Kollegen, die ihre Ausrüstung inklusive Dizzi davon trugen. Kenny schluckte hart. Schließlich kam der Hauptmann (oder welchen Rang auch immer er hatte) zu ihnen und baute sich mit einem ekligen Grinsen vor Tala auf. „Ich muss sagen, es erstaunt mich wirklich, euch hier zu sehen. Und ich muss gestehen, dass ich enttäuscht bin. Ihr habt euch so schnell und einfach fangen lassen; habe ich euch denn nichts beigebracht?“ Missbilligend verzog er sein Gesicht, und Tala verengte seine Augen zu Schlitzen, doch er schwieg weiterhin. Schließlich seufzte der Mann enttäuscht. „Nun, es war wohl nicht anders zu erwarten – die Welt hat euch weich und schwach werden lassen. Dennoch kann ich nicht verleugnen, dass euer unerwarteter Besuch hier nicht unangenehm ist.“ Er packte Talas Wangen mit einer Hand und drückte sie zusammen. „Ganz und gar nicht unangenehm.“ Ian zischte etwas, und der Hauptmann ließ von Tala ab. „Was war das, Papov?!“ Sein Tonfall war scharf, und Kenny zuckte zusammen. „Ich sagte“, entgegnete Ian in nicht minder geladenem Ton, „dass du ein perverser, alter Sack bist, Chukov.“ Kaum hatte Ian diese Worte ausgesprochen traf ihn eine Faust hart in die Magengrube, und noch ehe er sich wieder sammeln konnte schlug Chukov ihn mit seinem Gewehr nieder. Mit einem dumpfen Geräusch ging Ian zu Boden, und Chukov spuckte ihn an. „Dämliches Balg“, zischte er, ehe er sich wieder Tala zuwandte. „Ich würde mich gerne länger mit dir aufhalten, Ivanov, und alte Erinnerungen auffrischen… aber leider haben wir einen sehr straffen Terminplan, und du kommst uns wie gerufen.“ Wieder machte sich dieses furchtbare Grinsen auf seinem Gesicht breit. „Weißt du eigentlich, wie lange wir nach dir gesucht haben? All die Jahre ist es uns nicht gelungen, auch nur die geringste Spur zu dir zu finden – und dann stehst du auf einmal auf unserer Türschwelle und spielst dich direkt in unsere Hände. Was für ein glücklicher, glücklicher Zufall.“ Beinahe zärtlich strich er über Talas gerötete Wangen, dann gab er einigen der noch anwesenden Wachen ein Zeichen. „Führt ihn ab und bringt ihn zum Helikopter. Und passt gut auf ihn auf – seine Cyber-Programmierung ist unersetzlich. Verstanden?!“ Zackig salutierten die Männer, dann drängten sie Tala mit ihren Waffen den Gang entlang; er wehrte sich nicht. Zitternd blickte Kenny ihm hinterher, und als das Adrenalin in seinem Blut an Wirkung verlor sah Kenny zum ersten Mal die Narben, die Talas gesamten Körper überzogen wie eine bizarre Flickendecke. Dann wurde ihm schwarz vor Augen, und er fiel in Ohnmacht. - 7. Mai, Insel Olchon – Als Kenny wieder erwachte befand er sich in einem kalten, dunklen Raum. Auch nachdem er eine Weile gewartet hatte, damit sich seine Augen an die Finsternis gewöhnten, gelang es ihm nicht, der Schwärze um sich herum auch nur den kleinsten Hinweis auf seine Umgebung abzuringen. Es schien ihm fast, als wäre Licht in diesem Raum einfach nicht existent. Vorsichtig tastete er um sich herum den Untergrund ab, und seine Hände strichen über kalten, rauen Stein; er schien auf dem Boden zu sitzen. Mit behutsamen Bewegungen begann er, sich in eine Richtung vorzuarbeiten – den Raum zu erkunden war besser, als einfach nur starr auf einer Stelle hocken zu bleiben, und so kämpfte er sich Meter für Meter auf allen Vieren durch die Dunkelheit. Schließlich stieß er mit seinen Händen gegen eine Wand, und als er sich daran hochtastete berührten seine Finger einen kleinen Schalter aus Metall. Für einen kurzen Moment zögerte er, dann legte er den Schalter um – und sofort wurde es hell in dem Zimmer. Erschrocken schloss er die Augen und blinzelte dann ein paar Mal, um sich an die neue Helligkeit zu gewöhnen. Unsicher betrachtete er seine Umgebung. Er stand an einer schlichten, kalten Wand aus grauem Fels, und neben ihm befand sich eine schwere Tür aus Stahl, die fest verriegelt war. Die Decke und der Fußboden des Raumes bestanden aus dem gleichen Gestein wie die Wände, und es gab keine Fenster oder andere Türen, die aus dem Raum führten; lediglich einen schmalen Lüftungsschacht konnte Kenny in einer der Wände erkennen, doch der war zu schmal, als dass ein ausgewachsener Mensch hindurchgepasst hätte, und außerdem mit einem schweren Metallgitter gesichert. Das Mobiliar in der Zelle – denn nichts anderes war dieser Raum – war einfach: Eine Pritsche mit einem dünnen, zerschlissenen Laken. In einem Eck befand sich außerdem eine Holzklappe auf dem Boden, und als Kenny sie inspizierte stellte er fest, dass sich darunter ein Loch ins Freie hinaus öffnete, das gerade einmal groß genug wäre, einen Arm hindurch zu stecken; im Tageslicht, das dämmrig den Grund unter ihm beleuchtete, konnte er eindeutige Spuren auf dem Fels erkennen. Er hatte soeben seine Toilette gefunden. Ein lautes Rumpeln aus einem der Nebenräume ließ ihn zusammenschrecken, und schnell schloss er die Klappe wieder und blickte sich nervös im Raum um. Es gab keinerlei Versteckmöglichkeiten oder Schutz; wenn jemand in diese Zelle eindringen würde, dann wäre er dieser Person schutzlos ausgeliefert. Als jedoch auch nach einigen Minuten, in denen der Lärm andauerte und er aufgeregte Stimmen hören konnte, niemand Anstalten zu machen schien, ihn in seiner Zelle aufzusuchen, schlich er sich vorsichtig an die Wand, aus deren Richtung die Stimmen kamen, und lauschte zitternd. Einige Männer waren dabei, sich anzuschreien – die meisten davon erkannte er nicht, doch eine Stimme stach heraus: Ian. Kenny konnte nicht klar verstehen, was er rief, doch anhand der wenigen Fetzen, die durch die Wand drangen, war immerhin zu erkennen, dass er Russisch sprach. Die steinerne Wand schluckte viel von der Unterhaltung; dass es sich um einen Streit handelte, war allerdings ersichtlich – und beide Parteien gaben sich nicht viel. Als Ian jedoch begann, zu schreien, wurde klar, dass er verloren hatte. Erschrocken schlug sich Kenny die Hände vor den Mund, als Ians Schmerzensschreie die Wand durchdrangen, begleitet von schallendem Gelächter. Schnell zog sich Kenny von der Wand zurück und kauerte sich auf die Pritsche, wo er sich in das kalte, modrige Laken einwickelte. Er ertrug es nicht, weiter zu lauschen, doch weder der zerfressene Stoff, noch seine Hände boten ihm Schutz vor dem Lärm, den die Wachen im Nebenraum verursachten. Sein Verstand war nicht dazu in der Lage, sich auszumalen, was Ian gerade durchmachen musste – doch nach seinem Brüllen zu urteilen mussten es Höllenqualen sein, die er in diesem Moment durchlitt. Und anstatt ihm zu helfen oder auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, an der Situation etwas zu verändern, saß er, Kenny, hier, und versteckte sich vor dem Leid seines Kameraden. Erbärmlich. Es kam ihm vor, als wären Stunden vergangen, als die Schreie endlich nachließen, und schließlich hörte er das metallische Geräusch einer zufallenden Tür; doch mit dem Schlagen fiel ihm etwas Furchtbares ein: Nun, da sie mit Ian fertig waren – war er der Nächste?! Panisch stürzte er von der Pritsche, löschte das Licht und warf sich auf den Boden. Sein Herz raste, und verzweifelt versuchte er, sich bewusstlos zu stellen, in der Hoffnung, die Wachen täuschen zu können, die jeden Moment in seine Zelle eindringen konnten. Das Lachen der Männer auf dem Gang vor der Tür jagte ihm Schauer über den Rücken, doch noch schienen sie kein Interesse an ihm zu haben, denn die Stimmen der Wachen wurden leiser und verklangen schließlich, ohne, dass jemand seine Zelle betreten hätte. Dennoch wagte Kenny es für eine ganze Weile nicht, sich zu bewegen. Erst, als sich die Kälte des Steins unter ihm erneut tief in seine Knochen gefressen hatte, stand er langsam und zitternd auf und trat etwas auf der Stelle, bevor er das Licht wieder anschaltete und sich auf der Pritsche in das Laken wickelte. Ein trockenes Schluchzen schüttelte seinen Körper, und er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Wieso…?“, wimmerte er, und eine heiße Träne rann seine Wange herab. Das leise Klicken eines Schlüssels im Schloss seiner Zellentür ließ ihn heftig zusammenfahren, und verzweifelt warf er sich auf den Boden, doch ihm war bewusst, dass es zu spät war. Wer auch immer nun kam um was auch immer mit ihm zu tun, er würde ihn nicht täuschen können. Bebend lag er auf dem kalten Stein, mit zusammengekniffenen Augen, und wartete darauf, dass jemand ihn grob packen und auf die Füße zerren würde; doch nichts dergleichen passierte. Ein weiteres, leises Klicken bedeutete, dass die Tür wieder ins Schloss gefallen war – und plötzlich berührte ihn eine kalte Hand an der Schulter. Heftig zuckte er zusammen, und er hörte ein verächtliches Schnauben neben sich. „Wenn ihn schon das zum Heulen bringt-“ „Halt die Klappe, Hiwatari“, zischte Ian zur Antwort, und überrascht schlug Kenny die Augen auf. „Immerhin war er es nicht, der den Einsatz vermasselt hat.“ Vorsichtig hob Kenny den Blick, und stellte fest, dass neben ihm Ian kniete, der ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter gelegt hatte und mit scharfem Blick auf Kai sah, der an der Tür stand. Beide sahen mitgenommen aus – Kai war kreidebleich, und sein Gesicht wirkte eingefallen; Ians Körper war übersät mit blutunterlaufenen Blessuren, seine Hand- und Fußgelenke waren wundgescheuert, und einige schwach blutende Schnitte zogen sich über seinen Brustkorb. Als er Kennys Blick bemerkte grinste er schief und zuckte dann mit den Schultern, ehe er ihm aufhalf und dann zur Tür ging. Erschrocken sog Kenny die Luft ein, als er die Wunden auf Ians Rücken sah – die Schergen der Biovolt hatten ihn mit zahllosen Schnitten übersät, und ein kyrillischer Schriftzug war grob in die Haut über Ians Schulterblättern geritzt worden. „Hör auf zu starren und reiß dich zusammen“, fuhr ihn da Kai von der Seite an, „Wenn wir hier raus wollen, können wir keine gaffende Heulsuse gebrauchen.“ Schuldbewusst zuckte Kenny zusammen und rieb sich die Arme, bevor ihm etwas klar wurde. „Wie- wie habt ihr es überhaupt aus den Zellen geschafft? Ich meine, ich habe Ian schreien gehört und dachte-“ „Betriebsgeheimnis“, warf Ian mit gepresster Stimme ein, und sein dunkler Blick strafte das gezwungene Lächeln auf seinen Lippen Lügen. Dennoch hob er triumphierend seine rechte Hand, in der er einen Schlüsselbund mit einigen Schlüsseln und Schlüsselkarten hielt. „Chukov ist ein Drecksack, aber er hat uns gut ausgebildet.“ Kenny setzte an, weiter zu fragen, doch Kai stieß ihn grob in die Seite. „Hör auf zu fragen und nimm es, wie es ist“, knurrte er, und Kenny zog den Kopf ein, als ihm etwas anderes auffiel. Kurz zögerte er, doch er musste die Frage stellen: „Wo ist Tala?“ Schweigen füllte den Raum, und Kai und Ian wechselten einen vielsagenden Blick, dann schüttelte Ian den Kopf. „Sie haben ihn zum Helikopter gebracht, wie sie es gesagt hatten“, meinte er dann mit belegter Stimme. „Er ist nicht mehr hier. Und hoffentlich sind wir das auch nicht mehr lange, wenn wir es schaffen, zum Materiallager zu kommen.“ Mit diesen Worten wandte er sich um. „Jetzt halt dich bereit – unser Aktionsfenster ist klein; wir haben nur ein paar Minuten, um hier heraus zu kommen.“ Für einige Momente stand Ian an der Türklinke und zählte stumm, dann öffnete er die Tür einen Spalt breit und warf einen prüfenden Blick auf den Gang, ehe er die Zelle verließ. Unsicher stand Kenny vor dem Durchgang, als Kai ihn unsanft auf den Korridor schob, ihn am Arm packte und mit sich mit zog. Kaum hatte er einen Fuß auf die Betonfließen des Ganges gesetzt, spürte er, wie sich Hoffnung wie ein loderndes Feuer in ihm ausbreitete. Sie würden frei kommen! Korridor für Korridor schlichen sie durch die Basis, und einige Male wären sie fast an Wachposten geraten, doch es gelang ihnen, unbehelligt zu ihrem Ziel zu gelangen: Eine schwere Stahltür mit Zahlenschloss, hinter der ihre Ausrüstung verwahrt wurde – hinter der Dizzi verwahrt wurde (zumindest behauptete Ian das). Missmutig blickte Kenny auf die massive Tür. „Und wie sollen wir da durch kommen? Wir kennen den Code nicht, und Dizzi-“ „Halt die Klappe“, zischte Kai wütend, während Ian sich in den Mund griff, scheinbar nach etwas tastete – und schließlich einen kleinen, weißen Gegenstand herauszog. Ungläubig starrte Kenny auf den Zahn, den Ian in der Hand hielt, als dieser in seinen Zopf griff und eine Haarnadel herauszog. Mit einigen geschickten Bewegungen verband Ian die beiden Gegenstände (und eine weitere Komponente, die er aus seinem Ohr hervorzauberte) zu einem kleinen Klumpen, den er an der Tür anbrachte. Dann wandte er sich an Kenny und Kai. „Da wir den Code nicht kennen und jeder Fehlversuch uns verraten und unnötig Zeit kosten würde, öffnen wir die Tür auf die klassische Methode – was den Alarm auslösen wird. Macht euch also bereit, euch die notwendigste Ausrüstung und Waffen zu greifen, sobald der Weg frei ist, und dann so schnell wie möglich zu verschwinden.“ „Und du denkst, das funktioniert?“, schnaubte Kai, und Ian schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Aber es ist die einzige Chance, die wir haben – und lieber geh ich bei dem Versuch drauf, hier raus zu kommen, als noch einen Tag länger in diesem Loch zu sitzen.“ Ernst nickte Kai, und Kenny schluckte hart, dann trat Ian einige Schritte von der Tür weg und zog Kenny und Kai mit sich. „Kaboom“, murmelte er, als er eine winzige Kugel auf die angebrachte Sprengladung schnippte. Kapitel 15: Garys Galzzly ------------------------- - 7. Mai, Insel Olchon – Das Pfeifen in Kennys Ohren wurde nur noch von den Alarmsirenen übertönt, deren Kreischen durch den Korridor hallte, und Kenny (der von der Explosion noch etwas benommen war) kam die Szene bedrückend bekannt vor, als er unsanft von Ian am Handgelenk gepackt wurde. Eher stolpernd als gehend folgte er ihm durch die qualmende Öffnung, die nun zwischen Stahltür und Steinwand klaffte. Dahinter erstreckte sich ein weitläufiger Lagerraum, dessen Deckenleuchten endlose Regale aus Metall in kaltes Licht tauchten. Jede Regalreihe war klar beschriftet – Schilder in englischer Sprache gaben Auskunft darüber, wo Waffen und Munition gelagert waren, wo sich Ersatzteile für die Laborausrüstung befanden, sogar Druckerpatronen waren in relativer Nähe ausgezeichnet, und Kenny fühlte sich für einen Moment, als wäre er in einem bizarren Supermarkt für Bösewichte gelandet, bevor Kai ihn unwirsch von der Seite her anfuhr. „Hör auf zu gaffen und nimm deine Ausrüstung! Wenn sie uns hier drin einkesseln, sind wir geliefert“, rief er aufgebracht, während er in einen der weißen Schneeanzüge stieg, die sie zu Beginn der Mission getragen hatten. Erst jetzt fiel Kenny der Schreibtisch auf, der neben der Tür stand (und sein Kopf pochte schmerzhaft, während das Pfeifen in seinen Ohren etwas leiser wurde) - um den Schreibtisch herum befanden sich mehrere Stapel mit Kartons mit kyrillischer Aufschrift sowie einige Regale, auf die man unachtsam ihre Ausrüstung gelegt hatte, unter anderem seinen Laptop. „Dizzi!“ Sein Herz machte einen Sprung, und er stürzte auf den Tisch zu, als Ian ihm einen Schneeanzug gegen die Brust drückte und ihn somit aufhielt. „Zieh dich an!“, befahl er mit kaltem Blick, und mit einem Mal wurde Kenny wieder voll bewusst, dass er nur in Unterhose bekleidet inmitten einer feindlichen Basis stand, während der Alarm verriet, dass sie entkommen waren, und ihm wurde schlecht vor Angst. Zitternd kämpfte er sich in den Schneeanzug und die Stiefel, die Ian ihm hinstellte, dann griff er haltsuchend nach Dizzi, während er beobachtete, wie Ian und Kai sich mit Gewehren und Munition eindeckten. Einer plötzlichen Eingebung folgend sah er sich nochmals auf dem Schreibtisch und den Regalen in der Nähe um, bevor ihm etwas klar wurde: Weder Wyborg noch Dranzer noch Wolborg befanden sich hier, obwohl er genau wusste, dass Ian, Kai und Tala ihre Beyblades mitgenommen hatten. Auf dem Gang vor der Tür mischten sich mit einem Mal laute Rufe in das Sirenengeheul, und Kai fluchte laut, bevor er zu einem weiteren Regal lief und eine Granate hervor holte. Kenny stockte der Atem, als Kai zur Tür ging, den Sicherungsbolzen zog und den Sprengkörper dann ohne zu zögern durch die Öffnung warf. Ein ohrenbetäubender Knall wurde dicht gefolgt von Schmerzensschreien, Kai stürmte aus der Tür und gab etliche Schüsse ab. Als Kenny keine Anstalten machte, sich zu bewegen, packte Ian ihn abermals an der Hand und zog ihn mit sich; unter seinen freien Arm hatte er zusätzlich ein Gewehr geklemmt und schoss auf einige der Wachen, die noch standen, während sie an ihnen vorbei aus dem Lager stürmten und ihr Heil in der Flucht suchten. Rücksichtslos stiegen sie über einige Männer, die getroffen zu Boden gegangen waren, und Kenny wurde schwindelig vor Adrenalin und Übelkeit, als er mit flüchtigen Blicken das Massaker wahrnahm, das Ian und Kai angerichtet hatten. Glücklicherweise musste er sich darauf konzentrieren, seine Atmung unter Kontrolle zu behalten und mit Ian und Kai Schritt zu halten, sodass ihm keine weitere Gelegenheit blieb, sich darüber Gedanken zu machen. Mit jedem weiteren Gang, den sie hinter sich brachten, stießen sie auf weitere Wachen – und obwohl Ian und Kai mit jeder Kugel einen der Männer trafen hatten sie von Anfang an keine Chance gegen die Übermacht der Biovolt-Soldaten. Ihre Lage war aussichtslos: Bereits im zweiten Gefecht wurde Ian schwer an der linken Schulter getroffen, Kai ging die Munition aus und Kenny stand kurz davor, zu hyperventilieren, und konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Sie waren noch immer viel zu weit von ihrem Ziel entfernt, als sie auf einen weiteren bewaffneten Trupp stießen, den Ian und Kai in ein Handgemenge verwickelten, während Kenny ihnen hilflos zusah und panisch nach Luft schnappte. Sie waren verloren, das wurde ihm mit einem Schlag klar. Vielleicht hätte die Biovolt sie nach ihrer ersten Gefangennahme leben lassen, doch nun würden sie sie alle töten! Die Welt begann, sich um ihn zu drehen, und am Rande seines Bewusstseins hörte Kenny Kais Schmerzensschrei, als eine der Wachen ihm den Arm brach. Weiße Punkte blitzen vor seinen Augen, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Brüllen den Korridor erfüllte, das sogar die Alarmsirenen übertönte. Ein grelles, rotes Licht erfüllte den Gang, und Kenny konnte einige Männer schreien hören, während das gewaltige Gebrüll die Wände zum Erzittern brachte. Sein Herz raste, und noch immer kämpfte er mit der Ohnmacht, als er eine warme Hand an seiner eigenen spürte, und eine freundliche, ruhige Stimme ihm Worte ins Ohr sprach, deren Sinn ihm entglitt. Dennoch ebbte das Schwindelgefühl langsam ab, und auch seine Atmung beruhigte sich. Wieder ertönte das markerschütternde Brüllen und brachte Kenny endgültig in die Realität zurück; erschrocken schrie er auf, als er vor sich im Gang einen gewaltigen, rot leuchtenden Bären sah, der über den Körpern einiger Männer thronte, die regungslos auf dem Boden lagen. Einige weitere Männer hatten schon ein gutes Stück Weg zwischen sich und das Wesen gebracht, indem sie den Gang hinunter geflohen waren, und keiner von ihnen schien noch gewillt zu sein, den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Ian und Kai standen schwer atmend und blutend da, neben ihnen zwei Unbekannte in Schneeanzügen, die sie stützten. Langsam wandte Kenny sich um, in die Richtung, aus der die freundliche Stimme ihm ins Ohr sprach, und sein Blick fiel auf ein Gesicht mit gebräunter Haut und katzengleichen Augen, das von einer Kapuze eingerahmt war. Eine Haarsträhne in ungewöhnlich kräftigem Magenta lugte unter dem Stoff hervor, und die Frau lächelte ihn an, während sie ein letztes Mal seine Hand drückte und ihn dann losließ. Kennys Blick wanderte noch etwas weiter, und er bemerkte die letzte Person, die außer ihnen im Gang stand: Ein Hüne, ebenfalls im Schneeanzug, der soeben die Hand ausstreckte und einen kleinen, roten Gegenstand auffing, der ihm entgegengeflogen kam. Für einen Moment starrte er ihn an, bevor er begriff, wen er da vor sich hatte. „…die White Tigers?“, frage er ungläubig, und Mariah nickte einmal langsam. Der rote Bär – das musste Garys Bitbeast gewesen sein, Galzzly. Er hatte sie gerettet; doch was die White Tigers mitten in Russland am Baikalsee suchten, das entglitt ihm vollkommen. In dem Moment strich Mariah vorsichtig über seine Stirn, und ein schmerzhaftes Stechen durchzog seinen Kopf. „Scheint so, als hättest du auch einiges abbekommen“, murmelte sie, und Ian, Kevin, Kai und Lee schlossen zu ihnen auf. Verwirrt runzelte Kenny die Stirn; er konnte sich nicht erinnern, in einem der Kämpfe verletzt worden zu sein, doch sein Kopf schmerzte inzwischen höllisch. „Das ist jetzt vollkommen nebensächlich; wir müssen hier raus“, blaffte Kai sie an, und Mariah nickte, bevor sie Kenny stützte und ihm half, weiter zu gehen. Mit jedem Schritt drehte sich die Welt ein wenig, doch insgesamt kam er gut voran. Gary führte die Gruppe durch die Gänge, sein Beyblade bereit zum Abschuss – und nach dem zu urteilen, was das Bitbeast bisher mit den Wachen angestellt hatte, schien ihm das sogar eine effektivere Waffe als ein Gewehr zu sein. Doch entweder hatten sie die übrigen Biovolt-Soldaten endgültig abgewehrt oder sie alle niedergestreckt, denn auf ihrem Weg aus dem Stützpunkt hinaus trafen sie niemanden mehr an. Dennoch beeilten sie sich, das Gebäude zu verlassen – keiner konnte sagen, ob und wann Verstärkung eintreffen würde, und sie alle mussten dringend medizinisch versorgt werden. Schließlich kamen sie wieder an der Tür an, durch die Kenny, Ian und Kai zu Beginn die Basis betreten hatten. Weder Kenny noch Kai noch Ian waren allerdings noch in der Lage, selbstständig zu klettern oder sich durch die unwegsamen Felsen zu kämpfen, daher nahmen Gary, Kevin und Lee sie den ersten Teil des Weges huckepack, während Mariah, die Dizzi an sich genommen hatte, voraus ging. Erschöpft durch die Aufregung und die Verletzung, die er sich offensichtlich zugezogen hatte ohne es zu merken, rutschte Kenny einige Male fast von Kevins Rücken ab; er dankte Ian im Nachhinein, dass er ihn auf dem Hinweg so gut gesichert hatte und ihm somit immerhin diese nervenaufreibenden Momente erspart geblieben waren. Wie durch ein Wunder jedoch (zumindest in Kennys Augen) gelang es den White Tigers schlussendlich, sie unversehrt durch die Felsenkluft zu bringen, und sie kamen wieder an dem Punkt an, an dem sie zuletzt vor ihrem Einstieg in den Stützpunkt Rast gemacht hatten. Außer Atem setzen die White Tigers sie ab, und Lee warf einen kurzen Blick in die Runde; Kenny tat es ihm gleich. Ians linker Arm war blutüberströmt, und an seiner Schulter klaffte eine hässliche Wunde, die man durch ein Loch im Schneeanzug sehen konnte. Sein Gesicht war blass, und im Licht der Abenddämmerung (waren sie wirklich so lange in der Basis gewesen?) konnte Kenny sehen, dass er fürchterlich schwitzte; dennoch war sein Blick entschlossen und klar. Kai atmete schwer, und er hatte seinen rechten Arm an den Körper gepresst – ansonsten schien er unverletzt. Lee nickte kurz und deutete dann am Ufer entlang. „Auch wenn wir erst einmal Zeit geschunden haben werden uns die Wachen mit Sicherheit verfolgen; wir müssen noch ein gutes Stück Weg hinter uns bringen, bevor wir euch versorgen können. Schafft ihr das?“ Sein kritischer Blick ruhte auf Ian, der mit eiserner Miene nickte. „Als hätten wir eine Wahl“, knurrte da Kai, und Lee hob eine Augenbraue, überging die Bemerkung jedoch. Mit einer letzten aufmunternden Geste zu Kenny wandte er sich um und wies ihnen an, ihm zu folgen. „Dann kommt – je früher wir hier weg sind, desto besser.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)