Beyblade N. G. von KradNibeid (Aktuell: Kapitel 15 - Garys Galzzly) ================================================================================ Kapitel 13: Kais dunkle Vergangenheit ------------------------------------- - 5. Mai, Moskau – Unschlüssig blickte Kenny in den Rucksack, der halb gepackt vor ihm auf dem Bett lag. Vor etwa zwei Stunden hatte Kai die Planbesprechung beendet, und er selbst, Ian und Tala waren sofort aus dem Raum marschiert, um Vorkehrungen zu treffen und ihre Ausrüstung zusammen zu suchen. Die drei wussten, was sie für ihr Vorhaben brauchten, wie sie sich kleiden mussten, welche Ausrüstung und Bewaffnung wichtig war. Doch er, Kenny, war niemals auf einer solchen Mission gewesen. Er hatte niemals Teil einer solchen Mission sein wollen. Er wusste nicht einmal sicher, ober er überhaupt Teil dieser Mission sein wollte. Natürlich, er wollte noch immer Tyson finden, und die konkreten Informationen, die er hier bekam (und die sie hoffentlich noch bei ihrer Unternehmung gewinnen würden) waren eine heiße Spur – und die einzige, die er hatte. Auch ihr Vorhaben an sich – so lächerlich es ihm vorkam, dass vier junge Männer alleine gegen die Biovolt ziehen wollten – war wichtig und richtig. Dennoch war er so wütend auf Kai, dass er am liebsten alles abgeblasen hätte um mit dem ersten Flieger zurück nach Tokyo zu fliegen. Bisher hatte sich sein ehemaliger Teamkapitän schon stets sehr nah an der Grenze dessen bewegt, was er noch über sich ergehen ließ; das aber, was Kai sich am Vortag geleistet hatte, war weit jenseits von allem, was er akzeptieren konnte. Schwer seufzte er und ließ sich neben dem Rucksack auf das Bett fallen. Was sollte er nur tun? „Bist du dir sicher, dass deine Ausrüstung schon vollständig ist?“, machte sich da Dizzi bemerkbar, die auf der anderen Seite des Bettes lag. Kenny schüttelte den Kopf. „Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Ich meine, wenn ich jetzt mitgehe, dann bedeutet das für Kai, dass er mit mir machen kann, was er will, und dass ich trotzdem immer wieder angerannt komme. Aber wenn ich nicht mitgehe, dann verzichte ich auf die größte Chance, die ich habe, um Tyson zu finden. Vielleicht sogar auf die einzige.“ „Die Frage ist also, was dir hier wichtiger ist: dein Stolz oder das Leben deines besten Freundes?“ Kenny bedachte Dizzi mit einem verletzten Blick. „Wenn du es so sagst, klingt es so, als wäre es verwerflich, dass ich das Abreisen überhaupt in Betracht ziehe. Es geht hier immerhin nicht nur um meinen verletzten Stolz, sondern um das, was Kai gesagt und getan hat!“ „Also geht es im Grunde doch nur um deinen gekränkten Stolz“, stellte sie nüchtern fest, und aufgebracht gestikulierte Kenny mit den Armen. „Das ist doch keine Frage von Stolz, das ist eine Frage von Respekt vor der Menschenwürde! Denk doch mal an das, was er Max angetan hat!“ „Nun, es fällt mir schwer, das zu beurteilen; immerhin war ich bei dem Gespräch mit Kai, bei dem er sein Geständnis abgelegt hat, selbst nicht anwesend“, entgegnete Dizzi kühl, und innerlich seufzte Kenny auf. Er stand vor einer der wohl schwierigsten Entscheidungen seines ganzen Lebens, und die einzige Person, die ihm hätte helfen können, war wegen eines kleinen Fehltritts beleidigt. Super. „Was mir allerdings aufgefallen ist“, fuhr sie fort, und Kenny horchte auf, „ist, dass du dir womöglich an die eigene Nase fassen solltest, Chef, bevor du vorschnell über Kai urteilst. Er ist immerhin nicht der einzige, den ich kenne, der seine Freunde nur dann eines Blickes würdigt, wenn er sie gerade für seine Arbeit braucht.“ Dizzis Ton war scharf, und Kenny starrte sie fassungslos an. „Aber was beklage ich mich – immerhin bin ich ja nur noch ein Programm in einem Laptop und kann mich nicht wehren, wenn man mich ausschaltet.“ Ein paar Mal klappte Kenny seinen Mund auf und wieder zu, doch kein Wort kam heraus. Bereits am Tag zuvor hatte er lange Zeit mit Dizzi über dieses Thema geredet, und er hatte gedacht, er hätte es geschafft, sie davon zu überzeugen, dass er sie nicht als bloßes Werkzeug sah. Er hatte sie seit ihrem Gespräch nicht einmal abgeschaltet! Doch dass sie das Ganze nun nochmal hervor holte zeigte ihm, wie sehr er sie verletzt haben musste; und dass sie ihn sogar auf eine Stufe mit Kai stellte - dieser Vergleich hatte gesessen. Und sie hat gar nicht so unrecht, meldete sich eine kleine, schuldbewusste Stimme in seinem Hinterkopf zu Wort. Erneut setzte er an, um etwas zu sagen, als es an der Tür klopfte, und Ian den Raum betrat, bevor er auch nur die Chance hatte, ihn hereinzubitten. „Hey“, grüßte er knapp und nickte Kenny zu, dann ging er zum Bett und ließ eine Tasche vor Kennys Füßen auf den Boden fallen. „Ich weiß, dass ich störe, aber ich habe hier deine Ausrüstung und muss selbst noch genug vorbereiten, deswegen muss das jetzt sein.“ Etwas hilflos hob Kenny die Hände, während Ian damit begann, den Inhalt der Tasche neben Dizzi auf dem Bett auszubreiten. „Der Frühling ist aktuell zwar schon an vielen Orten eingekehrt, aber am Baikalsee noch nicht. In diesem Jahr halten sich die Minusgrade dort besonders hartnäckig, und wir müssen wohl mit einer Schneedecke von zehn bis zwanzig Zentimetern rechnen, und die Temperatur liegt knapp unter Null. Im Vergleich zu dem, was der Winter dort zu bieten hat, ist das zwar nichts, aber es behindert uns dennoch“, erklärte er mit einem Blick, der Kenny bewusst werden ließ, dass die einzige Behinderung auf dieser Mission er selbst sein würde – wie aufbauend. „Nachdem du zu Beginn deiner Reise nicht damit gerechnet hattest, in Russland zu landen, bin ich davon ausgegangen, dass du keine vernünftige Winterkleidung dabei haben wirst – also habe ich dir etwas herausgesucht.“ Mit diesen Worten legte Ian einen dunkelgrauen Pullover aus einem dichten Lodenstoff mit passender Hose auf das Laken. „Das hier ziehst du als Basiskleidung an. Die Sachen werden dich warmhalten, selbst wenn sie irgendwie durchnässt werden sollten. Die gedeckte Farbe gibt uns außerdem einen Tarn-Vorteil – gesetzt den Fall dass das Versteck, in das wir einsteigen, vom gleichen Innenarchitekten wie die Abtei ausgestattet wurde“, murmelte er und rieb sich über seinen Arm, an dem Kenny einen Verband erkennen konnte, der unter dem hochgekrempelten Ärmel hervorlugte. Ian bemerkte seinen Blick und grinste schief. „Das Kratzen ist so ein Tic von mir, wenn ich über bestimmte Dinge nachdenke. Nachdem ich das in letzter Zeit ziemlich oft tun muss, ist meine Haut entsprechend strapaziert – und vorhin bin ich mehr oder minder auf Grund gestoßen.“ „Igitt. Na dann Glück auf“, mischte sich da Dizzi in das (bisher recht einseitige) Gespräch mit ein, und Ian schnaubte. „Du kannst froh sein, dass du eine Dame bist, und dass ich zumindest ein paar Grundzüge an guter Erziehung behalten habe, Diz, sonst müsste ich dich jetzt mit ein paar Worten bedenken, die wahrscheinlich alle deine Kindersicherungen kurzschließen würden.“ „Vergiss nicht, dass ich dauerhaft mit dem Internet verbunden bin, junger Mann“, konterte sie postwendend, „in ebendieser Sekunde habe ich Zugriff auf Milliarden Dateien, deren Inhalt dich weinend nach deiner Mami rufen lassen würde.“ Kurz blickte Ian den Laptop mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck an, dann schüttelte er seufzend den Kopf und rieb sich erneut über seinen Arm. „Lassen wir das einfach.“ Unbehaglich trat Kenny auf der Stelle. Zum einen erleichterte es ihn, dass Dizzis Laune immerhin noch gut genug schien, um mit Ian zu scherzen – auf der anderen Seite graute es ihm davor, was er sich später noch von ihr würde anhören müssen. Zudem war deutlich zu spüren, dass Dizzi sich mit ihrem letzten Kommentar direkt in Ians persönliches Minenfeld begeben hatte. Noch hatte sie lediglich die Warnsysteme aktiviert; doch Kenny wollte nicht in der Nähe sein, wenn tatsächlich eine dieser Minen in die Luft ging, und Dizzis (nicht vorhandenes) Taktgefühl rückte diese Möglichkeit in bedrückend greifbare Nähe. Für den Moment jedoch schien sie Ians Bitte zu akzeptieren, und schwieg wieder. Ian selbst dagegen kramte weiter in der Tasche und zog schließlich einen weißen Overall mit Kapuze hervor, der aus einer matt glänzenden Synthetikfaser gefertigt war. „Nachdem Dunkelgrau vor weißem Schnee keine allzu gute Tarnung abgibt haben wir diese hier; das sind spezielle Schneeanzüge, die du über die anderen Sachen ziehst. Eigentlich sind sie auf Temperaturen im zweistelligen Minusbereich ausgelegt, weshalb es sein kann, dass dir morgen darin etwas warm wird; allerdings sind wir auf die Tarnfarbe angewiesen, und wir wissen noch nicht sicher, wie lange wir draußen bleiben müssen, daher ist es wichtig, dass wir im Zweifelsfalle nicht sofort erfrieren.“ Etwas zögerlich nickte Kenny. Nachdem er keinerlei Erfahrungen mit Unternehmungen dieser Art hatte schreckte ihn der Gedanke, dass sie längere Zeit in der Schneewüste des Baikalsees verbringen mussten, sehr; doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als dieses Risiko einzugehen und darauf zu vertrauen, dass ihn die anderen drei sicher wieder nach Hause bringen würden. Er schauderte. „Und ihr seid sicher, dass ihr mich wirklich bei dieser Mission braucht? Ich meine, wenn ihr das Equipment installiert, dann kann ich die Datenbanken bestimmt auch von hier aus hacken“, begann er in einem schwachen Versuch, sich selbst und Ian davon zu überzeugen, dass es womöglich doch einen einfacheren Weg gäbe, die Sache über die Bühne zu bringen, doch Ian schüttelte den Kopf. „Du weißt genau so gut wie ich, dass das so nicht läuft. Dabei würden zu viele neue Risiken in Kauf genommen werden – wenn das Equipment versagt oder sie ein Störsignal haben das stärker ist als unser Sender, dann wäre die ganze Tour zwecklos. Außerdem habe ich seit Jahren keine wirkliche Übung mehr mit Ausrüstung, die nicht dazu gedacht ist, letzten Endes in die Luft zu fliegen, also… musst du wohl oder übel mit.“ Er schenkte Kenny ein schiefes Grinsen. „Aber keine Sorge, wir bringen dich da heile rein und auch wieder raus.“ Krampfhaft versuchte Kenny, die aufmunternde Geste zu erwidern, doch es wollte ihm nicht gelingen; stattdessen machte sich leichte Übelkeit in seiner Magengegend breit. Er las nicht oft Belletristik, und er sah sich auch nicht oft Filme an, doch immer, wenn in den Werken, die er kannte, jemand einen solchen Satz aussprach, dann passierte letzten Endes etwas Furchtbares. Und in Anbetracht ihrer Situation hatte er das ungute Gefühl, dass diese Regel auch auf ihr Vorhaben zutreffen würde. Schließlich holte Ian die letzten Teile aus der Tasche: Ein Paar dunkler Socken, drei Paar Handschuhe (eines aus Latex, eines aus dunkelgrauem Loden, eines aus dem gleichen Material wie der Overall), eine Mütze und ein Paar weißer Stiefel, das mit Fell gefüttert war. „Damit ist erst einmal deine Grundausstattung komplett. Eine geeichte Uhr, eine Schneebrille und ein Funkgerät wirst du morgen im Flugzeug bekommen, und ein paar Sachen, die zum Hacken ganz praktisch sind – wenn mich meine Erinnerung nicht trügt – habe ich auch schon zusammensuchen lassen. Hier hast du eine Liste“, meinte er und drückte Kenny einen Zettel in die Hand, den er aus seiner Hosentasche hervorgekramt hatte, „Wenn noch was fehlt, dann melde dich einfach bei Kai, oder Tala, oder mir… am besten gleich bei mir.“ Etwas unschlüssig sah sich Ian im Raum um, bevor er mit den Schultern zuckte. „Ansonsten, wenn du noch letzte Fragen hast, ist das der Moment, um zu fragen, schätze ich.“ Unglücklich blickte Kenny auf die Ausrüstung, die Ian auf dem Bett ausgebreitet hatte, dann zu Dizzi und dann zu Ian. „Bist du dir wirklich sicher, dass ich der Richtige für euer Vorhaben bin? Ich meine… ihr seid alle für solche Missionen ausgebildet, ihr wisst genau, was ihr zu tun habt, und ihr wisst, was auf euch zu kommt… ich habe fast mein gesamtes Leben nur hinter PCs und in Laboren verbracht. Was, wenn ich die Alarmanlage auslöse, oder wenn ich zu langsam bin, oder-“ „Kenny“, unterbrach Ian seinen Redeschwall mit ernster Miene und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter, „wenn wir uns nicht sicher wären, dass du das packst, dann hätten wir dich nicht mit ins Boot geholt. Du hast die Fähigkeiten, die Datenbanken zu knacken, und Dizzi, die dir dabei hilft, und das ist das einzige, was dich kümmern muss. Alles andere ist unser Job – und wir geben unser Bestes.“ Durchdringend sah er Kenny an, der den Blick etwas verzweifelt erwiderte. „Damit das morgen funktioniert gibt es allerdings eine wichtige Regel, die du zwingend befolgen musst – sonst ist alles verloren. Verstanden?“ Kenny schluckte hart. „Und- und die wäre?“ „Du musst aufhören, an dir – und uns – zu zweifeln.“ Überraschung machte sich auf Kennys Gesicht breit, und Ian ließ seine Schulter los. „Wenn wir morgen da draußen sind, dann ist da kein Platz für Zweifel, Reue oder Selbstmitleid. Alles, woran du denken darfst, ist die Mission, und wie du sie am besten beenden kannst. Jede deiner Entscheidungen muss auf dieses Ziel gerichtet sein. Ist das klar?“ Ian bedachte Kenny mit einem strengen Blick, und Kenny zögerte kurz, nickte dann aber. Zufrieden brummte Ian, dann wandte er sich zur Tür. Bevor er das Zimmer verließ drehte er sich jedoch nochmals um. „Nur noch eine Sache, Kenny. Mir ist bewusst, dass wir dir hier viel abverlangen, und dass das hier nicht deine Welt ist. Aber ich bin dir dankbar dafür, dass du uns trotzdem unterstützt – und Kai und Tala sind das auch, auch wenn sie es nicht zeigen. Deswegen… wenn etwas ist, oder du etwas brauchst, dann komm einfach zu mir. Du weißt ja, wo du mich findest.“ Mit diesen Worten trat er auf den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich. Kaum waren Kenny und Dizzi wieder alleine im Raum, sackte Kenny in sich zusammen und ließ sich auf das Bett fallen. „Was habe ich mir da nur eingebrockt…“ „Was hast du uns da nur eingebrockt, meinst du wohl eher“, kommentierte Dizzi missbilligend seine Aussage, und erschöpft blickte Kenny sie an, bevor er seufzte. „Hör mal, Dizzi… Es tut mir wirklich Leid, dass ich mich in letzter Zeit so daneben benommen habe.“ „Aha“, antwortete das Bitbeast kühl, und Kenny richtete sich etwas auf. „Auch, wenn ich es in letzter Zeit nicht gezeigt habe, du bist mir sehr wichtig, und weitaus mehr für mich als nur irgendeine Erweiterung an meinem Laptop. Du bist meine beste Freundin, und du bist immer für mich da, und ich brauche dich – nicht, um meine Arbeiten zu schreiben oder um zu recherchieren, sondern um mit dir zu reden und um dein Freund zu sein. Deshalb: Verzeih mir bitte, Dizzi.“ Für einige Zeit herrschte Schweigen im Raum, und Kenny fürchtete beinahe, dass er seine beste Freundin verloren hätte – als Dizzi endlich antwortete. „Ach, Chef“, meinte sie mit versöhnlichem Ton, „trotz allem kann ich dir nicht lange böse sein. Vergeben und vergessen, wenn du Besserung gelobst.“ Ein breites Lächeln schlich sich auf Kennys Gesicht. „Versprochen.“ „Na dann“, entgegnete Dizzi mit munterem Ton, „Lass uns gemeinsam die Biovolt hacken! Und damit uns das gelingt, zeig mal diese Liste, die Ian dir gegeben hat – ich bin mir sicher, dass er das Wichtigste vergessen hat.“ - 6. Mai, Insel Olchon – Unruhig knirschte Kai mit den Zähnen, während er über Talas Schulter hinweg auf die Schneelandschaft blickte, durch die sich ihr Quad kämpfte. Mit den Schneeketten kamen sie relativ gut voran, und sie hielten sich im Zeitplan; an sich gab es an diesem Punkt noch keinen Grund für ihn, nervös zu werden. Ihr Flug nach Irkutsk war ohne Zwischenfälle verlaufen, und auf dem Flug hatte er die anderen mit In-Ear-Funk, Schneebrillen, Nachtsichtgeräten und geeichten Uhren versorgt. Ian und Tala hatte er außerdem mit Handfeuerwaffen ausgestattet, und auch er selbst trug eine Halbautomatik bei sich (nachdem Kenny keinerlei Waffenerfahrung hatte, waren sie übereingekommen, dass es gefährlicher als hilfreich gewesen wäre, ihn mit einer Pistole auszurüsten, weshalb er unbewaffnet blieb). In Irkutsk hatte sie bereits ein Transporter erwartet, beladen mit zwei für schneebedecktes Gelände ausgestatteten Quads, der sie zum Baikalsee auf die Insel Olchon in den Ort Khuzhir gebracht hatte. Von dort aus waren sie mit den Quads in die scheinbar unberührte Wildnis der Insel aufgebrochen – in dem Wissen, dass am nördlichsten Ende des Eilandes der Biovolt-Stützpunkt verborgen lag, auf den sie es abgesehen hatten. Ihre Fahrt dauerte nun schon knapp vierzig Minuten, und bald würden sie den Checkpoint erreichen, an dem sie die Quads abstellen und zu Fuß weitergehen würden. „Wenn du nicht bald damit aufhörst, dann werf‘ ich dich ab“, brummte da auf einmal Tala und riss Kai aus seinen Gedanken. Irritiert runzelte er die Stirn. „Aufhören womit?“, fragte er verständnislos, und Tala schnaubte. „Du knirschst mit den Zähnen, seit wir hier sind. Das ist auf Dauer echt nervtötend“, entgegnete er nüchtern, und mit einem Mal wurde Kai die Kraft bewusst, mit der er seine Kiefer aufeinanderpresste. Langsam ließ er locker und bemerkte mit Unwillen, dass seine Gesichtsmuskeln schmerzten. „Irgendeinen Grund, warum du so zerknirscht bist?“, hakte Tala nach, doch Kai zuckte mit den Schultern. „Nichts Besonderes. Generelle Anspannung“, log Kai, doch er wusste, dass er Tala damit nicht überzeugen konnte, genau so wenig wie sich selbst. Er wusste sehr wohl, warum sein Tic wieder ausgebrochen war, denn er spürte es, seit sie am See angekommen waren: Ein Huschen in den Schatten um sie herum, eine brennende Kälte, die sich um sein Herz legte, und eine betörende Stimme, die in seinen Gedanken die süßen Verlockungen von Macht und Ruhm versprach. Black Dranzer. Vor so vielen Jahren hatte er das Bitbeast in den Tiefen des Sees versenkt, um sich von ihm zu lösen, doch es war ihm nie gelungen. Er würde immer mit dem schwarzen Phönix verbunden bleiben, immer von ihm versucht werden, immer den kalten Griff nach seiner Seele spüren. „Wir sind bald am Checkpoint angekommen, drossle deine Geschwindigkeit um vierzig Prozent“, meldete sich da Tala über Funk zu Wort, und Ian auf dem Quad hinter ihnen bestätigte die Anweisung knapp. Nach weiteren fünf Minuten hielten sie bei einer Felsformation und stiegen von den Fahrzeugen; der Himmel über ihren Köpfen färbte sich bereits im Zuge des hereinbrechenden Abends. Kenny hatte etwas wackelige Knie und klammerte sich an die Tasche, in der sich sein Equipment befand (zumindest der Teil, der nicht von Ian getragen wurde), doch kein Klagelaut kam über seine Lippen. Kurz nickte Kai und wies dann zu einem felsigen Hügel, der sich in einiger Entfernung von ihnen erstreckte; unter den Felsen ruhte das Wasser des Sees, das noch immer von einer Eisschicht überzogen war. „Der Biovolt-Stützpunkt befindet sich in dieser Formation. Der Zugang über die Felsen am Ufer ist nicht so stark gesichert wie der von der Inselseite aus, aber wir müssen dennoch vorsichtig sein. Ab hier dürfen wir uns keine Fehler oder Unsicherheiten mehr erlauben. Verstanden?“ Er warf einen letzten Blick in die Runde, und alle nickten zur Bestätigung, dann wandte sich Kai um und begann den Weg zu Fuß durch den Schnee; die anderen folgten ihm (zuerst Tala, dann Kenny, dann Ian als Schlusslicht, um zu verhindern, dass sie ihren Techniker unterwegs verloren). Sie kamen relativ zügig voran, und selbst Kenny konnte mithalten, auch wenn er schnell außer Atem war. Je weiter sie sich jedoch dem Versteck näherten, desto unruhiger wurde Kai. Die Umgebung kam ihm zunehmend bekannter vor, und er spürte immer deutlicher Black Dranzers eisigen Griff. Jeder Schatten wirkte, als berge er ein gefährliches Raubtier, und im Wind konnte er das bedrohliche Flüstern der süßen Stimme des Bitbeasts hören. Angespannt begann er wieder damit, mit den Zähnen zu knirschen, und nervös betrachtete er sich jede Unregelmäßigkeit im Gelände, als würde der schwarze Phönix jederzeit daraus hervorbrechen können. Tala schloss zu ihm auf und warf ihm einen Seitenblick zu. „Die Sache mit der Unsicherheit gilt übrigens auch für dich, furchtloser Truppenführer“, meinte er trocken, und Kai verzog das Gesicht. „Irgendetwas stimmt hier nicht, Tala. Ich kann es spüren.“ „Du wusstest, dass Black Dranzer hier auf dich wartet“, entgegnete Tala kühl, doch Kai schüttelte den Kopf. „Es ist nicht nur das. Mit jedem Schritt, den wir weiter gehen, habe ich das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein… Da ist dieses ungute Gefühl, das nicht verschwinden will.“ Misstrauisch spähte Kai zwischen ein paar Findlingen hindurch, bevor er sie umrundete, und Tala folgte ihm. „Wenn dich das zu sehr mitnimmt, Kai, dann lass den Einsatz lieber sein.“ Talas Tonfall war sachlich, während er sich mit einem Blick über die Schulter versicherte, dass Kenny und Ian ihnen folgen konnten. „Wie du gesagt hast, wir können uns keine Patzer erlauben. Und aktuell bist du ein Nervenbündel.“ „Ich krieg das hin“, knurrte Kai unwillig, und Tala schüttelte resigniert den Kopf. „Wenn du das meinst. Ich hoffe nur, du irrst dich nicht“, fügte er leise hinzu, und ein Schauer rann über seinen Rücken. Ian und Kenny schlossen schließlich zu ihnen auf, und sie legten den Rest der Strecke weitestgehend schweigend zurück. Kai wurde mit jedem Schritt sichtlich nervöser, und Tala warf ihm immer wieder vielsagende Blicke zu, die Kai jedoch ignorierte. Der Fußweg dauerte noch etwa eine Stunde, und als sie an ihrem Ziel angekommen waren, war es bereits dunkel um sie herum. Mit einigen Zeichen gab Kai zu verstehen, dass sie am Fuß des Felsens, in dem das Versteck befindlich war, kurz Rast machten, und dankbar ließ sich Kenny auf den Boden fallen und trank in begierigen Schlucken aus seiner Thermosflasche, während die anderen Nachtsichtgeräte aus ihrer Ausrüstung hervorholten. Ian machte sich auf den Weg, um die nähere Umgebung auszuspähen, und als er nach einiger Zeit zurück kam wechselte er einige leise Worte mit Kai und Tala, bevor er sich an Kenny wandte. „Ich habe einen Einstieg gefunden, durch den wir unbemerkt hinein kommen sollten“, flüsterte er, „Aber er ist nicht ganz einfach, und ich weiß nicht, ob du ihn packst. Deswegen werde ich dich ab hier Huckepack nehmen. Verstanden?“ Zögerlich nickte Kenny, und noch ehe er fragen konnte, wie genau sich Ian das nun vorstellte, begann dieser, ihn mit Expertise mit einigen Gurten, die er aus seiner Tasche zog, zu sichern; nach nur wenigen Minuten war Kenny auf Ians Rücken verschnürt wie ein übergroßer Rucksack (und er kam sich dabei ziemlich unnütz und dämlich vor), und sie brachen auf. Mit schlafwandlerischer Sicherheit fanden die drei ehemaligen Demolitionboys den Weg durch die Felsen, bis sie in eine Spalte hinein kletterten, die tief in das Gestein führte. Kenny kam es so vor, als würde sie gar kein Ende mehr nehmen wollen, als sie schließlich an einer rostigen Metalltür ankamen. Mit geschickten Griffen machte sich Tala am Schloss zu schaffen, während Ian Kenny absetzte, der sich nervös in der Dunkelheit umsah. Schließlich gab die Tür mit einem leisen Klicken nach, und Ian, Tala und Kai wechselten einen vielsagenden Blick, ehe Ian mit routinierter Vorgehensweise einen Blick durch den Türspalt warf und sich dann vorsichtig in den Raum dahinter schob. Für einige Augenblicke, die Kenny wie Stunden vorkamen, blieb Ian verschwunden, bis er schließlich die Tür öffnete und sie hereinwinkte. Schnell folgten sie ihm in einen tristen Gang, der so wirkte, als sei er direkt aus dem Fels geschlagen worden. Das helle Gestein wirkte kalt und unfreundlich, und Kenny schauderte es, während er sich bemühte, mit den anderen Schritt zu halten, die sich mit bewundernswerter Präzision den spärlich beleuchteten Korridor entlang bewegten (der unvorsichtigerweise nicht videoüberwacht zu sein schien). Nach einigen Biegungen kamen sie an einer weiteren Tür an, die mit einem elektronischen Schloss gesichert war, und erwartungsvoll blickten Tala, Kai und Ian auf Kenny, der schluckte und dann Dizzi und einige Werkzeuge hervor holte. Wie soll eine Dame bei dieser Kälte denn bitte ordentlich arbeiten?, erschien als Textnachricht auf ihrem Bildschirm, doch sonst blieb das Bitbeast stumm. Es kostete ihn einige Minuten, doch schließlich gelang es ihm, das Schloss zu knacken ohne den Alarm auszulösen, und er packte seine Ausrüstung wieder ein. Wieder ein vielsagender Blick, den sie sich zuwarfen, und wieder war Ian die Vorhut, um die Umgebung zu sichern. Nach einer Weile kam er zurück und gab ihnen das Okay, und so leise und schnell wie möglich folgten sie ihm in den nächsten Korridor, dessen Wände, Decke und Fußboden komplett aus blankem Stahl zu bestehen schienen. Zielstrebig führte Ian sie an Überwachungskameras vorbei zu einer Kreuzung, an der ein weiterer Gang in den Korridor einmündete, auf dem sie sich befanden, und an dem sich ein Datenknotenpunkt in der Wand befand. Ohne seine Umgebung eines Blickes zu würdigen zog Kenny Dizzi hervor und begann damit, sich an der Konsole zu schaffen zu machen, während die anderen drei die Umgebung sicherten. Kai warf einen Blick in den abzweigenden Flur, und sein Blick fiel auf ein Mosaik, das die gesamte Rückwand des angrenzenden Ganges bedeckte und einen gewaltigen schwarzen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen, umgeben von lodernden Flammen, zeigte – und mit einem Mal fügten sich die Teile zusammen. Er war bereits hier gewesen – der Damm brach, und die Erinnerung kam zurück. An alles. Kai begann, zu schreien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)