Beyblade N. G. von KradNibeid (Aktuell: Kapitel 15 - Garys Galzzly) ================================================================================ Kapitel 12: Alles ist relativ ----------------------------- - 4. Mai, Moskau – Angespannt saß Kenny an der langen Tafel, auf der ihm sein Frühstück serviert worden war (Rührei, Toast mit Marmelade und frische Waffeln – nicht sehr russisch, doch sehr wohlschmeckend, wie er dem Koch zugestehen musste), und warf gelegentlich einen erwartungsvollen Blick auf die Tür. Aktuell befand er sich noch alleine im Raum – abgesehen von Dizzi, die neben ihm auf dem Tisch stand; doch er erwartete Kai jeden Moment im prunkvollen Speisesaal. Es war halb sechs Uhr morgens, und der Himmel draußen war noch dunkel, aber Kenny wollte nicht riskieren, ihn zu verpassen. Nicht nach dem, was er in den vergangenen zwei Tagen herausgefunden hatte. Er hatte mit Kai einiges zu besprechen. Als er in der Nacht gehört hatte, wie der Helikopter auf dem Landeplatz ankam, hatte er für einen kurzen Moment überlegt, seinen ehemaligen Teamkapitän gleich zur Rede zu stellen, sich dann jedoch dagegen entschieden. Bevor Kai einen Grund hatte, ihn wegen der späten Uhrzeit abzuwürgen, oder er selbst vor Müdigkeit kein Durchhaltevermögen mehr besitzen würde, die Sache anzugehen, hatte er sich lieber dazu entschieden, noch bis zum Morgen zu warten. Sein Blick glitt über die reich verzierten Stuckaturen an der Raumdecke, die Akanthusranken und mystische Wesen zeigten, die der Fantasie eines ihm unbekannten Künstlers entsprungen sein mochten. Sämtliche Ornamente waren vergoldet, und verliehen dem Raum in Verbindung mit der karminroten Seidentapete eine majestätische Ausstrahlung. Es war für Kenny immer noch kaum zu glauben, dass ausgerechnet Kai hier wohnte. „Wie kommt es eigentlich, dass du die ganze Zeit diese Besenkammer anstarrst, anstatt dich mit mir zu beschäftigen?“, meldete sich da Dizzi zu Wort. „Überhaupt, in letzter Zeit verbringst du kaum noch Zeit mit mir. Emily hier, Kai da… Ich fühle mich, als wäre ich nur noch ein billiger Laptop für dich, den du ein- und ausschalten kannst, wann du willst!“ Innerlich stöhnte Kenny auf, als er diese Worte hörte. Eine beleidigte Dizzi hatte ihm gerade noch gefehlt – und das, wo er an diesem Morgen ohnehin schon weit über die Grenzen seiner sozialen Kompetenz hinaus Vorhaben für sich gefasst hatte. Kai mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren war die eine Sache – aber nebenher auch noch mit einer beleidigten Dizzi umgehen? Das war ein ganz anderes Kaliber. Gerade setzte er an, um Dizzi zu erklären, dass er sie weder ignorierte noch sie als leblosen Computer betrachtete, den man nach Bedarf an- und abschalten konnte, als sich die Tür des Raumes öffnete und Kai und Tala den Raum betraten; aus Reflex schloss er den Laptop neben sich. Die beiden waren offensichtlich in ein Gespräch vertieft, das sie leise auf Russisch führten, und schienen ihn nicht zu bemerken (oder ihn gezielt zu ignorieren). Kenny nutzte diesen Moment, um einen genauen Blick auf Tala zu werfen – soweit Kai ihn informiert hatte (und soweit das seine eigenen Recherchen getan hatten) war Tala bereits seit acht Jahren vollkommen von der Bildfläche verschwunden gewesen, bevor er nun wieder aus der Versenkung hervorgezaubert worden war. Einige seiner Fans hatten mehrere landesweite und internationale Suchaktionen nach ihm angeleitet, und mehrere TV-Sender hatten sich in Sondersendungen mit der Frage beschäftigt, was aus dem markanten Beyblader mit den flammendroten Haaren geworden war, doch sie alle waren zu dem gleichen Schluss gekommen: Tala war wie vom Erdboden verschluckt, und seine Spur endete abrupt an einem milden Frühlingstag vor acht Jahren. Nicht einmal Kai hatte gewusst, wo sich Tala befunden hatte (was Kenny sehr erstaunt hatte), doch aus unerfindlichen Gründen war gerade Ian das fehlende Kettenglied gewesen, um den verschollenen Teamkapitän der Demolitionboys wiederzufinden. In der Nacht hatte er keinen Blick auf Tala werfen können, doch er hatte sich nicht davon abhalten können, sich Gedanken zu machen, wie er nun aussehen würde; ob er nach so langer Zeit einen Bart tragen würde, oder ob das Leben jenseits der Bildfläche sonstige Spuren hinterlassen haben würde… …doch Kenny wurde bitter enttäuscht. Der Tala, der gemeinsam mit Kai zum Tisch gelaufen kam, hatte sich optisch kaum verändert, seit er ihn nach der Niederlage der BEGA zuletzt gesehen hatte – glatt rasiert, blasse Haut, ein furchtbar androgynes Gesicht (wenn auch seine Schultern inzwischen breiter geworden waren); sogar die Haare hatte er wieder zu den klassischen Hörnern hochgestylt, die während all seiner Jahre als Beyblader sein Markenzeichen gewesen waren. Er sah aus, als wäre er keinen Tag weg gewesen. Die beiden setzten sich am anderen Ende der Tafel auf zwei Stühle und setzten ihre Unterhaltung unbeirrt fort, während einige Bedienstete herbei geeilt kamen, um für die beiden aufzudecken. Nervös schluckte Kenny. Jetzt oder nie. „Kai“, brachte er mühsam hervor, und seine Stimme quäkte fürchterlich; er klang bemitleidenswert. Kai setzte unbeirrt seine Ausführungen fort und ignorierte ihn. Verärgert ballte Kenny die Hand zur Faust und versuchte es erneut. „Kai!“ Diesmal war seine Stimme kräftiger; sie zitterte etwas, doch ihr Klang war klar und fordernd. Sei es, dass Kai ihn nun endlich gehört hatte oder einfach akzeptierte, dass er ihn heute nicht ignorieren konnte, doch er unterbrach sein Gespräch mit Tala, der Kenny mit berechnendem Blick betrachtete, und wandte sich ihm zu. „Ja?“ „Wir müssen reden“, begann Kenny, und für einen Moment fürchtete er, dass Kai ihm das Wort verbieten würde; doch mit einer klaren Handbewegung gab er ihm zu verstehen, dass er fortfahren sollte. „Ich habe einige Nachforschungen angestellt, während ihr unterwegs wart - und zwar solche, die nichts mit den Cyber-Bitbeasts oder den Bladern zu tun haben. Ich spreche von dem Zwischenfall mit Max.“ Während dieser Worte wandelte sich Kais Ausdruck von neutral zu offen-abweisend, und Kenny spürte, dass er einen Nerv getroffen hatte. „Dieser Zwischenfall war nicht von Bedeutung. Max spielt für unser weiteres Vorgehen keine Rolle. Du solltest deine Zeit nicht mit so unwichtigen Dingen verschwenden.“ Mit diesen Worten richtete Kai seine Aufmerksamkeit zurück auf Tala, der ihn verblüfft ansah; Kenny stand der Mund offen. „Unwichtigen Dingen? Du bezeichnest Max als ein unwichtiges Ding?!“ Wütend stand Kenny auf und baute sich vor Kai auf. „Du hast mit seiner Mutter geschlafen!“ Aufgebracht gestikulierte er mit beiden Armen, doch Kais Miene blieb versteinert. „Ich habe mit vielen Menschen geschlafen, Kenny“, entgegnete er kühl, als sich ein boshaftes Grinsen auf sein Gesicht schlich. „Hilary lässt übrigens schön grüßen.“ Geschockt schnappte Kenny nach Luft – doch kein Ton verließ seinen Mund. Mit grimmiger Zufriedenheit wandte sich Kai erneut von Kenny ab und Tala zu, der ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Missbilligung musterte. Ein Dienstmädchen betrat den Speisesaal und schob einen Wagen mit dampfenden Köstlichkeiten in den Raum: gerösteter Toast, Rührei, frische Waffeln und eine Kanne mit duftendem Kaffee für Kai und Tala. Schweigend deckte sie auf und zog sich dann wieder zurück, während die drei Männer unbewegt verweilten. Schließlich stieß Kenny langsam den Atem aus, den er angehalten hatte ohne es zu bemerken, und zwang sich, ruhig zu bleiben. „Du magst mich für schwach halten, Kai, und denken, dass du mit mir alles machen kannst, was du willst, ohne dass es irgendwelche Folgen für dich hat; aber du irrst dich. Dir mag es egal sein, was du Max angetan hast, doch mir ist es das nicht, und ich erwarte eine Erklärung! Wenn du weiterhin willst, dass ich für dich arbeite, dann will ich, dass du mit offenen Karten spielst – und dazu gehört auch, dass ich weiß, was du den Menschen angetan hast, mit denen wir in dieser Sache zusammenarbeiten könnten.“ Kai schnaubte. „Du tust fast so, als würde es ihn umbringen, dass ich es seiner Mutter besorge“, kommentierte er belustigt, doch seine Stimme klang belegt. „Er hat versucht sich umzubringen“, fuhr Kenny ihn da an, „und du hast es seiner Mutter nicht nur besorgt, du hast gezielt dafür gesorgt, dass sie Max fallen lässt!“ Abrupt stand Kai auf und stellte sich so dicht vor Kenny, dass sich ihre Nasen fast berührten. „Du hast keine Ahnung, was damals wirklich los war, also halt dich gefälligst da raus!“ „Das kannst du vergessen, Kai“, konterte Kenny, „diesmal nicht. Diesmal bist du zu weit gegangen. Und ich weiß, was passiert ist, denn ich habe Emily gefragt – und sie hat mir dankbarerweise alles erzählt. Wie du deine Affäre mit Judy benutzt hast, um deine Firma voran zu bringen, und wie du dafür gesorgt hast, dass sie dir geglaubt hat, dass die Sache mit Max ja nur halb so schlimm sei. Du hast sie gezielt gegen Max aufgebracht, damit du ihre Beziehungen für deine Geschäfte nutzen konntest! Und das, als Max seine Mutter am meisten gebraucht hätte!“ Er schrie schon fast, so sehr hatte er sich in Rage geredet, und Kais Augen sprühten geradezu vor Zorn. „Ach, du willst mir das also vorwerfen, ja?! Dann hör zu, Kenny, denn ich erzähl dir jetzt was! Ich habe nicht nur Judy geknallt und ihr gesagt sie soll ihren jämmerlichen Sohn endlich aufgeben – nein! Dieser Versager hatte auch noch den Nerv, zu mir zu kommen, und mir vorzujammern, wie schrecklich doch seine Situation sei. Dass er Hilfe braucht, dass ich mit seiner Mutter reden soll.“ Kai lachte boshaft. „Und weißt du, was ich ihm erzählt habe? Die Wahrheit! Dass er ein elendes Nichts ist, dass er in dem Loch verschwinden sollte, aus dem er gekrochen war, und dass er sich am besten von seinem Liebhaber totschlagen lassen sollte, damit die Welt endlich von ihm erlöst ist! Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, dass ich ihn hasse, dass alle ihn hassen!“ Seine Stimme überschlug sich geradezu, als er die letzten Worte in Kennys Gesicht schrie, und schwer atmend standen sich beide gegenüber. Entsetzen stand in Kennys Gesicht geschrieben, vermischt mit Verachtung und Zorn. Ohne ein weiteres Wort zu sagen drehte er sich um, ging zu seinem Platz zurück, nahm Dizzi vom Tisch und verließ den Raum. Noch einen Moment blieb Kai stehen, dann ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Das hast du super hinbekommen, Hiwatari…“, murmelte er, dann blickte er missmutig zu Tala, der ihn mit schief gelegtem Kopf ansah. „Weißt du, Kai“, begann er nach einer Weile vorsichtig, „als du mir die Geschichte damals erzählt hast, klang das alles ein wenig anders. Dein Bericht über die Prügelei mit Max, den du eben abgeliefert hast, übrigens auch.“ Kai seufzte schwer und strich sich durch die Haare. „Ich weiß“, murmelte er und spielte an der Spitzenborte der Tischdecke herum, bevor er schließlich das Gesicht verzog. „Ich schätze, ich habe mich eben wie ein totaler Idiot aufgeführt.“ „Kai, du magst es nicht bemerkt haben, aber du benimmst dich immer wie ein Idiot“, entgegnete Tala kühl, doch sein Gesicht verriet, dass er es nur halb so vorwurfsvoll meinte, wie es klang, und Kai reckte ihm halbherzig seinen Mittelfinger entgegen. Er hatte Tala (und vor allem die Gespräche mit ihm) vermisst. Gerade setzte Kai an, um etwas zu sagen, als sich die Tür des Speisesaals öffnete, und Ian den Raum betrat. Seine Haare waren zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden, und abgesehen von einer abgetragenen Jogginghose war er unbekleidet. Unwillig zog Kai die Augenbrauen zusammen, während Tala missbilligend mit der Zunge schnalzte. Ian nahm beides mit einem Schulterzucken hin und ließ sich dann neben Tala auf einen Stuhl fallen. „Morgen“, murmelte er, griff nach einer der beiden Tassen, die auf dem Tisch standen, und goss sich etwas Kaffee ein. „Ich bewundere, mit welcher Selbstverständlichkeit du in diesem Aufzug hier auftauchst – und in welchem Zustand“, entgegnete Tala mit tadelndem Blick. „Wenn du noch nicht wach bist, dann bleib in deinem Zimmer; wenn du aber wach bist, dann hab wenigstens den Anstand, dich ordentlich anzuziehen.“ Mit demonstrativem Gleichmut gähnte Ian einmal langgezogen und nahm dann einen Schluck Kaffee, bevor er sich Tala zuwandte. „Diese Predigt war schon alt, als du noch nicht die Tarzan-Nummer in der russischen Wildnis durchgezogen hast; erwarte nicht, dass sie mich heute stört.“ Er kratzte sich müde am Arm, bevor er sich Kai zuwandte. „Außerdem wollte ich dich was fragen, Hiwatari. Mir kam eben Kevin – oder war es Kanye? – entgegen, der so laut vor sich hin geflucht hat, dass ich nicht umhin kam, mitzuhören, dass er vorhat, von hier zu verschwinden. Ist das Absicht, oder hast du vor, ihn dir weiter als Haustier zu halten? Je nachdem sollte nämlich jemand zu ihm gehen und ihn davon abhalten, das einzig Vernünftige zu tun und hier abzuhauen.“ Abschätzend musterte er Kai, der seinen Blick kurz nachdenklich erwiderte und dann ergeben mit dem Kopf schüttelte. „Wir können nicht auf ihn verzichten. Sein Know-How ist unverzichtbar, wenn wir eine Chance gegen Boris haben wollen.“ Wieder kratzte sich Ian am Arm, bevor er noch einen Schluck Kaffee nahm. „Nun, dann sollte jemand mit ihm reden. Am besten jemand, dessen soziale Kompetenz sich nicht auf dem Niveau einer Tränengasgranate befindet.“ „Das lässt die Auswahl hier am Tisch allerdings drastisch sinken“, entgegnete da Tala, während Kai verärgert schnaubte. „Nicht mein Problem“, murmelte Ian, während er einen weiteren Schluck Kaffee nahm; als er sich von seiner Tasse ab- und den anderen wieder zuwandte, bemerkte er, dass beide ihn erwartungsvoll ansahen. Kurz setzte er an, um zu protestieren, hob dann aber die Hände zur Kapitulation. „Na schön, na schön, ich geh ja schon. Ehrlich, warum muss ich eigentlich immer euren Mist ausbaden?“, fragte er pikiert, bevor er seine Tasse mit einem großen Schluck leerte und diese dann vor Kai auf den Tisch stellte. „Ehrlich, Hiwatari, dafür schuldest du mir was. Aber dann geh ich eben zu deinem Keiji und versuch, ihn doch noch umzustimmen.“ „Er heißt Kenny, Papov“, knurrte Kai nur, während Ian ihn mit spöttischem Blick ansah. „Ich dachte, das sei völlig nebensächlich?“, konterte Ian, bevor er sich streckte und den Raum verließ. Kai warf ihm noch eine rüde Bemerkung hinterher, doch er überging sie einfach; es war zu früh, als dass ihn ein längeres Wortgefecht reizen würde, und Kai hatte trotz allem Recht – sie brauchten Kenny. Und je früher Ian ihn davon überzeugen konnte, hier zu bleiben, desto besser. Während er die Gänge zu Kennys Zimmer entlang lief fiel ihm auf, dass er ganz vergessen hatte, zu fragen, was eigentlich passiert war – andererseits war es vielleicht ohnehin geschickter, zuerst die Seite der Geschichte zu hören, die nicht von Kai (oder Tala) erzählt wurde. Gedankenverloren rieb er sich über seinen Arm. Wenn diese Aktion schon so anfing – wie sollten sie dann jemals Erfolg haben? - 05. Mai, Moskau – Angespannt saß Kenny auf seinem Stuhl im Konferenzsaal des Hiwatari-Anwesens und blickte Ian mit vorwurfsvollem Blick an, was von diesem mit einem Schulterzucken quittiert wurde. Er konnte immer noch nicht so recht glauben, dass Ian es tatsächlich geschafft hatte, ihn davon zu überzeugen, dem ganzen Unternehmen eine neue Chance zu geben. Nachdem Kenny am Vortag aus dem Speisesaal gestürmt war hatte er sich zunächst in den Garten der Villa zurückgezogen, um etwas frische Luft zu schnappen und sich bei Dizzi über Kai zu beschweren – eine fatale Idee, wie sich herausgestellt hatte, nachdem sein Bitbeast alles andere als angetan davon war, dass er sie schon wieder einfach ausgeschalten hatte. Die Diskussion mit ihr hatte zwei volle Stunden in Anspruch genommen, doch schließlich hatte er es geschafft, sie zu beruhigen und ihr seine Entschuldigung glaubhaft zu machen. Nachdem er sich dann doch noch bei ihr über seinen ehemaligen Teamchef hatte beklagen können und zurück zu seinem Zimmer gegangen war, um seine Sachen zu packen, hatte er überraschenderweise Ian getroffen, der (nur halb bekleidet) vor seiner Zimmertür gesessen hatte. Nachdem Ian ihm bisher noch nichts getan hatte (außer seinen Namen zu vergessen), hatte er zugestimmt, ihm zuzuhören – und inzwischen ärgerte er sich darüber, denn Ian konnte verdammt überzeugend sein, wenn er es denn wollte. Sie hatten etwa vier Stunden miteinander geredet (und es war eine anstrengende Unterhaltung gewesen, da Kenny um des Friedens Willen darauf verzichtet hatte, Dizzi abzuschalten), in denen Ian ihm unter anderem erklärt hatte, wie die Problematik mit Max zustande gekommen war, und in denen er Kenny auch erzählt hatte, warum er trotz aller Widrigkeiten mit Kai zusammenarbeitete. Im Grunde hatte er ihrer aller Lebensgeschichte in der Abtei erzählt: wie sie gelernt hatten, dass nur physische Stärke und Grausamkeit ihr Überleben sichern konnten; wie sie immer und immer wieder gegeneinander ausgespielt worden waren, um ihr Vertrauen ineinander zu brechen; wie der einzige Weg, sich selbst zu schützen, gewesen war, alle anderen von sich weg zu stoßen. Er hatte nicht versucht, Kai in Schutz zu nehmen, und Kenny deutlich gezeigt, dass er dessen Verhalten ebenso verabscheute wie alles andere an ihm. Doch er hatte ihm geholfen, zu verstehen, warum Kai so war, wie er war – und dass sein Charakter nichts über die ethische und moralische Qualität seiner Ziele aussagte. Er hatte Kenny geraten, seine Entscheidung danach zu fällen, wie er ihr Vorhaben beurteilte, und nicht nach dem, was er von Kai hielt – und so hatte sich Kenny dazu entschieden, zu bleiben. Und nun saßen sie hier, zu viert, und es kam ihm alles so lächerlich vor: vier Männer alleine gegen den Rest der Welt – und sie konnten sich noch nicht einmal leiden. Leise stieß er ein trockenes Lachen aus, was ihm einen fragenden Blick von Ian einhandelte, doch er gab keine Erklärung ab. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf Kai, der gerade damit fertig geworden war, seinen Laptop an die Beamer-Anlage anzuschließen, um ihnen einen Gesamtüberblick darüber zu geben, wie sie von nun an vorgehen würden (wofür er extra eine digitale Präsentation vorbereitet hatte, was der Situation eine fast schon komödiantische Absurdität zuteilwerden ließ). Er räusperte sich kurz, dann begann er mit seinen Ausführungen: „Seit mehreren Jahren verschwinden Beyblader auf der ganzen Welt – vor allem solche, die mit Cyber-Bitbeasts oder der Biovolt zu tun hatten. Nach meinen Informationen weiß ich sicher, dass dies auf das Team Psykick zutrifft, einschließlich Zagart und seine ehemaligen Laboranten. Ebenfalls verschwunden sind die Justice 5, und auch von F Dynasty hat man lange nichts mehr gehört.“ Auf der Leinwand erschienen verschiedene Fotos der Teams, sowie verschiedene Zeitungsartikel, die sich mit verschwundenen Wissenschaftlern beschäftigten. „Seitdem die Teams verschwinden tauchen außerdem immer mehr fehlerhafte Cyberbitbeasts im Untergrund auf, die verheerende Schäden bei ihren Partnern anrichten. Ich hatte von Anfang an befürchtet, dass die Biovolt dahinter steckt“, erläuterte er mit einem Seitenblick auf Kenny, der überrascht die Stirn runzelte, „als jedoch das Cyber-Mind-Signal der PPB aufgetaucht ist, war ich mir nicht mehr so sicher; also habe ich mich auf den Weg gemacht, um das zu überprüfen.“ Die nächste Folie zeigte verschiedene Hüllkurven von verschiedenen Signalen, und Kenny erkannte die Signatur, die Emily in den Datenströmen der PPB gefunden hatte. „Mit Kennys Hilfe konnte die Möglichkeit, dass die amerikanische BBA ihre Finger mit im Spiel hatte, jedoch getilgt werden. Und das wiederum bedeutet, dass unsere schlimmsten Befürchtungen wahr sind.“ Kai warf einen bedeutungsvollen Blick in die Runde, ehe er die nächste Folie erscheinen ließ. Zu sehen waren Bilder von Boris, der mit verschiedenen Personen an unterschiedlichen Orten sprach; einige waren mit Datum versehen – mit einem Datum des laufenden Jahres. Kenny sog erschrocken die Luft ein. Boris‘ Tod war vor elf Jahren durch alle Medien gegangen: Bryan, sein eigener Sohn, hatte ihn mit mehreren Schüssen in die Brust getötet, und war dafür acht Jahre lang in Jugendhaft gekommen. Ein Blick auf Tala und Ian verriet ihm, dass die anderen wohl bereits seit längerem wussten, was man ihm eben erst offenbart hatte, denn beide blieben ruhig, als Kai seine Enthüllung machte. Lediglich Ian kratzte sich geistesabwesend am Arm, der inzwischen einen ungesunden Rotton an der Stelle angenommen hatte, die immer von ihm bearbeitet wurde. Bevor Kenny sich entscheiden konnte, ob es ihn ärgerte oder nicht, dass man ihn als letzten der Runde informiert hatte, sprach Kai weiter. „Die Biovolt ist, wie ich befürchtet hatte, zurück; meine Informanten, die ich seit einiger Zeit im Untergrund beschäftige, bestätigen das. Und sie haben noch mehr herausgefunden“, während er dies sagte, schaltete er in der Präsentation weiter, und ein Foto von einer Gebirgslandschaft mit einem zugefrorenen See erschien, die Kenny nur allzu gut kannte, „denn es ist ihnen gelungen, eine Basis der Biovolt ausfindig zu machen, deren Sicherheitsvorkehrungen überwindbar scheinen. Mit entsprechender Vorbereitung – die ich schon in die Wege geleitet habe – sollte es uns möglich sein, in das Gebäude einzudringen und Zugriff auf die Datenbanken zu erhalten, was uns die entscheidenden Informationen verschaffen wird, um einen effektiven Plan zu entwickeln, der die Biovolt ein für alle Mal aufhalten wird.“ Wieder bedachte Kai alle mit einem bedeutungsschwangeren Blick, bevor er fortfuhr. „Packt also eure Ausrüstung zusammen, denn wir fliegen zum Baikalsee.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)